Wenn Worte sich enthalten

Erlösung gibt es nur durch Sprache, aber was, wenn die Worte fehlen?

Wenn Wor­te feh­len, suchen wir stam­melnd nach Bei­spie­len: Es ist wie…, es ist wie…, es ist wie… – Ja wie denn? 

Wenn etwas gesagt wer­den soll, aber eigent­lich gar nicht klar ist, was denn jetzt und vor allem wie, dann ste­hen die, die sich jetzt mal äußern sol­len wie Leh­rer vor einer Klas­se von Schü­lern, die den Teu­fel tun wer­den, sich jetzt zu melden. 

Kei­nes der bekann­ten Wor­te wird sich bereit erklä­ren für ein sol­ches Him­mel­fahrts­kom­man­do, dar­stel­len zu sol­len, wie es denn so ist, ein Impf­geg­ner zu sein und gegen den Strom zu schwin­gen. Ein Stu­dent sag­te mal im Semi­nar, da müs­se man auf­pas­sen, nicht blaue Augen zu bekom­men, wenn man gegen den Strom schwimmt. Auf Nach­fra­ge erklär­te er dann das köst­li­che Bild, die blau­en Augen ent­stün­den durch Zusam­men­stö­ße mit ent­ge­gen­kom­men­den Fischen. 

Gust­ave Doré: Die baby­lo­ni­sche Sprach­ver­wir­rung (1865ff.).

Im Coro­na-Dis­kurs ist Ver­ste­hen aus vie­ler­lei Grün­den ganz beson­ders schwie­rig, weil im Hin­ter­grund tie­fe reli­giö­se Trau­ma­ta das Orche­ster der Gefüh­le diri­gie­ren und tag­täg­lich neue Äng­ste geschürt wer­den. Die mei­sten “Recht­gläu­bi­gen” bemer­ken nicht ein­mal, daß sie sich ange­paßt haben und tun­lichst nur ange­paß­te Wor­te ver­wen­den aber gar nicht die eige­nen. Vie­le beten nur nach und kom­men dann auch sehr schnell ins Stam­meln, wenn sie ihrer­seits begrün­den sol­len, was sie war­um für rich­tig halten. 

Tat­säch­lich ist es unge­heu­er schwer, etwas zu ver­ste­hen, in dem man sich gera­de befin­det. Man kann in einer Höh­le nicht erklä­ren, daß man sich in einer Höh­le befin­det, ohne daß die, denen man das gern mit­tei­len möch­te, schon mal davon gehört haben, daß es auch ein Außer­halb gibt. Das ist die berühm­te Alle­go­rie in Pla­tons Höh­len­gleich­nis mit dem sich Pla­ton an den Athe­nern bis in aller Ewig­keit revan­chiert, daß sie sei­nen gelieb­ten Leh­rer zum Tode ver­ur­teilt haben, weil er den Main­stream gestört hat beim Nichtdenken. 

Die Spra­che ist das Haus des Seins, sagt Heid­eg­ger und in der Tat ist die­se der “Wein­berg”, von dem die Chri­sten so gern reden. Die Erwei­te­rung des Aus­drucks­ver­mö­gens ist alles entscheidend. 

Das ist ja gera­de das Schlim­me an einem Trau­ma, es lastet auf der See­le, ohne daß man sich davon erleich­tern könn­te. Das wür­de nur gehen, wenn man es mit-tei­len wür­de. Aber dazu sind Wor­te nötig, die sich frei­wil­lig mel­den und sagen: Ich ver­su­che das jetzt mal. Aber die mei­sten die­ser muti­gen Wor­te kom­men dabei um. Mutig sein allein genügt näm­lich nicht.

Außer­dem ist da noch die Gram­ma­tik, und die ist weit mehr, als nur das, was man im Deutsch­un­ter­richt zu hören bekommt. In der Phi­lo­so­phie gibt es “Onto­lo­gien”, das sind “Seins­leh­ren”, die zu ande­ren Zei­ten ernst­haft ver­tre­ten und auch geglaubt wur­den, wo dann eben so Neben­säch­lich­kei­ten drin ste­hen, wie etwa die “Natur des Men­schen, des Man­nes oder auch der Frau”. 

Man soll­te nicht zu hart mit ande­ren Epo­chen ins Gericht gehen, denn die­se hat­ten auch ihre Pro­blem, nur ande­re als wir. – Man hat das eben geglaubt, daß es so etwas wie eine fixier­te Natur gibt und das war wohl auch gut so, weil einem die Welt ohne­hin bereits über den Kopf gewach­sen war. 

Nun nimmt im Zuge der Kul­tur­ge­schich­te das sprach­li­che Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen immer wei­ter zu. Daher braucht es stän­dig neue, bes­se­re, tie­fe­re Wor­te, aber auch die Gram­ma­tik muß sich öff­nen für die neu­en Fäl­le des Lebens. Sie darf und soll neu­en Lebens- und Emp­fin­dungs­for­men nicht ihre Exi­stenz­be­rech­ti­gung aberken­nen, indem sie gar nicht zuläßt, das so etwas über­haupt gesagt wer­den kann. – Wenn die Wor­te falsch sind, füh­ren sie in die Irre, wenn die Gram­ma­tik nicht mit­spielt, dann bleibt nur Stam­meln, das kei­ner versteht. 

Daher müs­sen wir mit dem, was wir zu sagen hät­ten, aber noch gar nicht wirk­lich mit-tei­len kön­nen, ziem­lich lan­ge hadern. Wir müs­sen mit der Schul­klas­se unse­rer Wor­te vie­le Dis­kus­sio­nen füh­ren, bis eini­ge sagen, ich ken­ne da wen, der das kann, den hole ich mal. – Wir brau­chen die Musen dazu, denn erst sie schen­ken uns die nöti­gen Inspi­ra­tio­nen, etwas Unsäg­li­ches doch zur Spra­che zu bringen. 

Einer der Ankla­ge­punk­te im Pro­zeß gegen Sokra­tes, neben dem ehren­wer­ten Vor­wurf, er wür­de die Jugend (zum Den­ken) ver­füh­ren, bestand dar­in, er wür­de “frem­de Göt­ter” ein­füh­ren. Man soll­te hier nicht auf der Über­hol­spur den­ken, son­dern das Gan­ze erst ein­mal auf sich, wie auf ein Kind wir­ken las­sen. Was kann das bedeu­ten, frem­de Göt­ter nicht ein­füh­ren zu dür­fen? – Das ist das Schö­ne am Den­ken, sich selbst dabei zuse­hen zu kön­nen, wie man “dahin­ter­kommt”. 

Also, die Grie­chen hat­ten den Poly­the­is­mus und das muß man wie­der­um auch betrach­ten als ziem­lich kost­spie­li­ge Ange­le­gen­heit. Man kennt das noch in der Debat­te über die Fei­er­ta­ge, wo doch damals die evan­ge­li­sche Kir­che einen Fei­er­tag abge­tre­ten hat, nur um der armen Wirt­schaft zu hel­fen. Ja, an Fei­er­ta­gen wird in vie­len Sek­to­ren nicht gear­bei­tet, son­dern gezahlt, vor allem von denen, die sonst immer kassieren. 

Sokra­tes sprach von sei­nem “Dai­mo­ni­on”, einer Art Geist, eine inne­re Stim­me, die er hört. Sie wür­de ihm nie etwas anra­ten zu tun, son­dern sich nur mel­den, sobald er etwas Ungu­tes zu tun beab­sich­ti­gen wür­de. – Wenn ich damals vom Athe­ner Gericht mit einem Gut­ach­ten betraut wor­den wäre, hät­te ich dar­zu­stel­len ver­sucht, daß es sich bei die­ser Instanz nicht um einen neu­en, frem­den Gott han­deln wür­de, der uner­laub­ter­wei­se ein­ge­führt wor­den sei, son­dern um eine Aus­dif­fe­ren­zie­rung in der Psy­che und in der See­le des Sokra­tes, die weg­wei­send wer­den soll­te, die sich hier nur aus­nahms­wei­se schon ein­mal mel­den würde. 

Ich stel­le mir also vor, daß es so etwas wie eine Ein­fuhr­be­hör­de für Göt­ter gege­ben haben muß. Wenn da also mit einer neu­en Unter­wer­fung auch die neu unter­wor­fe­nen Göt­ter ein­ge­führt wer­den müs­sen, dann wird man sich gefragt haben, also, haben wir die nicht schon, wer unse­re Göt­ter könn­te das machen? So hat Zeus an die hun­der­te zusätz­li­cher Namen, das sind alles Göt­ter aus ein­ver­leib­ten Häupt­lings­tü­mern oder König­rei­chen mit ihren höchst spe­zi­fi­schen Zuständigkeiten. 

Es ist uner­läß­lich, den Göt­tern und zwar allen das Ihri­ge zu geben, wo nicht, droht Ärger. Etwa als, kurz bevor die Athe­ner in den Krieg zogen, irgend­wel­che Jugend­li­chen an den Her­mes­stau­et­ten, die an den Stra­ßen zu Hun­der­ten stan­den, mal so eben die eri­gier­ten Penis­se abge­schla­gen haben. 

So ist etwa die Aphro­di­te mit rotem Haar, weil sie eben aus Zypern kommt, wo auch das Kup­fer her­stammt. Wenn man also die Aphro­di­te unge­bühr­lich behan­deln wür­de, ver­dirbt man es sich nicht nur mit der Schön­heit, son­dern auch mit den Frau­en, mit der Rol­le der Frau als sol­cher und dann auch noch mit den Zyprio­ten. – Daher muß allen Ern­stes eine Kom­mis­si­on dar­über ent­schei­den, was man denn mit einem kon­kre­ten Gott, der da neu auf­ge­tre­ten ist, anstel­len soll. Und man hat die neue Kom­pe­tenz des Sokra­tes ein­fach völ­lig falsch gedeu­tet und gar nicht verstanden. 

Wenn die Wor­te sich drücken, wenn die Gram­ma­tik die Arme ver­schränkt und bei so etwas nicht mit­ma­chen will, dann gibt die Spra­che mit Bedau­ern zu ver­ste­hen, daß sie da jetzt auch nicht wei­ter­hel­fen könn­te. Dann hat man ein Pro­blem mit sich und den Ande­ren. Man ver­steht sich selbst nicht wirk­lich, weil die Wor­te feh­len, man wird nicht ver­stan­den, weil die Gram­ma­tik streikt für sol­che Fäl­le und zugleich spu­ken da noch tie­fe reli­giö­se Trau­ma­ta, von denen die mei­sten nicht ein­mal etwas ahnen. 

Und dann wird zu Ver­glei­chen gegrif­fen, die ein­fach schräg rüber­kom­men müs­sen. Histo­ri­sche Ver­glei­che sind immer pro­ble­ma­tisch, weil es ja kon­kre­te Ver­hält­nis­se, Ereig­nis­se und Fol­gen sind, die sich so, auf die­sel­be Art und Wei­se, ganz gewiß nicht wie­der­ho­len. Ande­rer­seits sind wir dar­auf ange­wie­sen, mit Ana­lo­gien zu arbei­ten, wenn kein Wort sich traut, über­haupt Stel­lung zu nehmen. 

Wir soll­ten das, was die Spra­che ist und was sie aus­macht, was sie kann, wo sie ihre Gren­zen hat und was wir tun kön­nen, uns mehr Aus­druck zu ver­schaf­fen, end­lich anders sehen. Die­ses nach­rich­ten­tech­ni­sche Modell von Sen­der, Emp­fän­ger und Bot­schaft ist grot­ten­schlecht und abso­lut unangemessen. 

Es ist viel­mehr so, daß wir mit­ein­an­der im Dia­log koope­rie­ren müs­sen, wenn wir etwas vor­stell­bar machen wol­len, um dann erst das Urteil eines Freun­des oder einer Freun­din zu erbit­ten. Ande­re kön­nen uns erst dann wirk­lich etwas anra­ten, wenn sie uns ver-ste­hen, das heißt, wenn sie aus unse­rer Posi­ti­on her­aus ihre Stel­lung­nah­me abge­ben. – Zu hoch? Da kann ich dann auch nicht mehr helfen. 

Man ach­te bit­te ein­mal dar­auf, wie vie­le “Regie­an­wei­sun­gen” da ein­an­der gege­ben wer­den: “Nein, so ist das nicht. Du mußt Dir das anders vor­stel­len, etwa wie, wenn…” – Ver­ste­hen ist Arbeit, auch wenn das unter Freun­den nicht so gese­hen wird. Den­ken ist ähn­lich, es ist ein Dia­log der See­le mit sich selbst.

Und die­ses Boh­ren ganz dicker Bret­ter, wie Max Weber die Poli­tik cha­rak­te­ri­siert, um Gesin­nungs­tä­ter, Tugend­wäch­ter und Hitz­köp­fe von irgend­ei­ne Pro­pa­gan­da durch die Tat abzu­brin­gen, ist genau das. Poli­tik ist, wenn sie wirk­lich etwas lei­stet, der Ver­such, neue Zugän­ge zu fin­den, durch Spra­che, Ver­ste­hen und neue Gemeinsamkeiten. 

Das macht dann in der Tat den Jar­gon der Diplo­ma­tie so inter­es­sant. Was macht man, wenn man nicht ein­mal “Bezie­hun­gen” zuein­an­der hat? Man besucht sich, spricht mit­ein­an­der, sucht nach “Gemein­sam­kei­ten”, bis man dann eine “gemein­sa­me Gesprächs­grund­la­ge” fin­det, auf der wei­te­re “Kon­sul­ta­tio­nen” statt­fin­den kön­nen. Und das wäre nur der aller­an­fäng­lich­ste Anfang.

Impf­gläu­bi­ge wol­len immer gleich mit den Bei­tritts­ver­hand­lun­gen begin­nen. Sie spre­chen den Ungläu­bi­gen ein­fach ab, daß es so etwas wie sie über­haupt geben kön­ne. – Es ist aber naiv zu erwar­ten, daß es in der Coro­na-Kri­se nur einen ein­zig rich­ti­gen Glau­ben gibt. 

Coro­na ist nur so stark, weil vie­le unse­rer Syste­me erstaun­lich schwach sind. Es ist gut zu wis­sen, dann wird man in Zukunft weit weni­ger ver­trau­en, son­dern sehr viel mehr kri­tisch sein und blei­ben müs­sen. – Aber auch das muß erst ein­mal zur Spra­che gebracht wer­den, mit den rich­ti­gen Wor­ten und einer Gram­ma­tik, die neu­en Gedan­ken auf­ge­schlos­se­ner ist als die Angst­rhe­to­rik unse­rer Tage. 

Es bleibt nur, mit dem Kopf immer wie­der gegen die Gren­zen der Spra­che anzu­ren­nen und der­weil die Musen dar­um zu bit­ten, das Gespür für die rich­ti­gen Meta­phern zu schenken.