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Anthropologie, Diskurs, Emanzipation, Identität und Individualismus, Kunst, Künstler, Leib, Motive der Mythen, Philosophie, Psyche, Psychosophie, Schönheit, Seele, Theorien der Kultur, Traum
Was ist Bewußtsein?
Beobachtung, Bewertung und Beurteilung
Unsere Sprache macht uns vieles möglich: Wir können einander durch Erzählen mitteilen, was wir erlebt und erfahren haben. — Allein durch Zuhören läßt sich bereits manches lernen.
Wir können vieles zum Objekt unserer Beobachtungen machen. Es zählen dabei nicht nur die gemachten Erfahrungen, sondern auch die Art und Weise, wie etwas in Erfahrung gebracht wurde.
Darüber hinaus lassen sich nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Selbstwahrnehmungen zur Sprache bringen. Wir arbeiten dabei mit Übertragungen, um uns beim Verstehen an die Stelle anderer versetzen zu können. — Der Dialog ist die Königsdisziplin solcher Begegnungen, die tiefgreifend sein können.
Sobald neue Erfahrungen ins Spiel gebracht werden, tun sich auch neue Differenzen auf. — Phänomene werden „von innen“ ganz anders erlebt, als wenn wir sie nur „von außen“ betrachten. Dann wird uns bewußt, daß wir den Standpunkt wechseln müssen, um zu verstehen.
Es ist ein großer Unterschied, anderen nur zuzuschauen oder aber selbst aktiv zu werden. Wer nur beobachtet, hat zwar eher einen unvoreingenommenen Blick, aber keine wirkliche Vorstellung davon, wie es ist, selbst zu handeln. — Zu handeln bedeutet, einen Entschluß zu fassen, der dann aber auch kritisiert werden kann.
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Anthropologie, Diskurs, Emanzipation, Ethik, Identität und Individualismus, Lehramt, Lehre, Leib, Moderne, Motive der Mythen, Philosophie, Platon, Politik, Professionalität, Psyche, Religion, Schule, Seele, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Utopie, Wahrheit, Wissenschaftlichkeit, Zeitgeist, Zivilisation
EPG II a
Oberseminar
EPG II a – Online
Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II
SS 2023 | donnerstags | 14:00-15:30 Uhr | online
Beginn: 20. April 2023 | Ende: 27. Juli 2023
Zwischen den Stühlen
Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden.
Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.
Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.
Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.
Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.
Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.
Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.
„Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“
Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.
Ausbildung oder Bildung?
Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.
Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.
Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.
So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.
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Anthropologie, Diskurs, Emanzipation, Ethik, Identität und Individualismus, Lehramt, Lehre, Leib, Melancholie, Moderne, Moral, Philosophie, Politik, Professionalität, Psyche, Religion, Seele, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Utopie, Wissenschaftlichkeit, Zeitgeist, Zivilisation
EPG II b
EPG II b (Online und Block)
Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II
SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
Ab 30. Juni 2023: 5 Seminare online | freitags: 14:00–15:30 Uhr, sowie3 Workshops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91-012.Zwischen den Stühlen
Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.
Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.
Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.
Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.
Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.
Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.
„Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“
Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.
Ausbildung oder Bildung?
Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.
Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.
Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.
So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.
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Anthropologie, Diskurs, Emanzipation, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Ironie, Kunst, Lüge, Melancholie, Moderne, Moral, Motive der Mythen, Philosophie, Platon, Politik, Psyche, Religion, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Utopie, Wissenschaftlichkeit, Zeitgeist, Zivilisation
Sprache, Macht und Hintersinn
Am Anfang war das Wort
Es spricht einiges für die mythisch motivierte Spekulation, daß am Anfang und noch vor Erschaffung der Welt, bereits das Wort vorhanden gewesen sein muß.
Tatsächlich läßt sich die Hypothese nur schwer abweisen, daß Affen, die sich aus welchen Gründen auch immer, in der Kopf setzen, auszuwandern aus dem Affenparadies, bereits über Kompensationsmöglichkeiten verfügen mußten. — Während Instinkte auf Lebensräume adaptieren, ist eines der Merkmale für die Sonderstellung des Menschen eine spezifische Umweltoffenheit.
Philosophie beginnt mit Staunen, daher ist es angebracht, auch angebliche Selbstverständlichkeiten generell in Frage zu stellen: Seit wann verfügen wir über Sprache? Warum ›haben‹ wir eigentlich Sprache oder ›hat‹ die Sprache nicht vielmehr uns? — Was geschieht, wenn wir das Wort ergreifen oder auch, wenn uns Worte ergreifen? Wie ist es überhaupt möglich, daß wir sogar über imaginären Welten reden können, die nicht wirklich sind?
Es ist erstaunlich, daß wir mit Worten auch Dinge ›repräsentieren‹ können, die gar nicht vorhanden sind. Selbst wenn Vorstellungen an sich irreal sind, erscheinen sie gleichwohl im Nu vor dem inneren Auge. Daher wird Staunen in der Philosophie zur Methode. Es gilt, sich erst einmal vorstellen zu können, was wir verstehen möchten. Der Umgang mit dem Fiktiven ist daher von ganz erheblicher Bedeutung.
Allein diese Formulierung ›nicht wirklich‹ hat es in sich. Man könnte fragen: Also was jetzt, wirklich oder nicht wirklich? Aber genau das, etwas in der Schwebe lassen zu können, macht Inspiration erst möglich.
Banal ist das alles nicht. Sprache als solche verstehen zu wollen bedeutet, den Menschen als solchen verstehen zu müssen. Denn wir sind nur, weil wir Sprache haben und die Sprache hat uns. Zugleich sind da nämlich auch Grenzen, wie Ludwig Wittgenstein konstatiert:
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. (Ludwig Wittgenstein: Tractatus. Satz 5.6.)
Es ist nicht einfach, ausgerechnet in wichtigen Momenten, die wieder und wieder vorkommen, die richtigen Worte zu finden. — Also wird bei Wittgenstein süffisant anempfohlen:
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.(Ludwig Wittgenstein: Tractatus. Ebd. Satz 7.
Wenn Adam und Eva im Paradies den Auftrag erhielten, für alles Namen zu finden, dann kann das nur der Anfang gewesen sein. — Menschliche Sprache ist weit mehr als einfache Nomenklatur , sie erzeugt ganze Vorstellungsweisen für Wirklichkeiten, Wahrnehmungen, Empfindungen und Sehnsüchte. Sie kann mit Tabus auch eingeschränkte Wirklichkeiten erzeugen, die nicht zur Sprache gebracht werden dürfen.
Es gilt, mit den Mitteln der Sprache über die Grenzen unseres Artikulations– und Differenzierungsvermögens hinauszugehen. — Aber das ergriffene Wort muß getragen sein von einer Weltauffassung, von Weltanschauungen, Kultur, Lebenswelt, Philosophie, Dichtung, Kunst und Wissenschaft, ansonsten werden die Worte sang– und klanglos einfach nur verklingen.
Reden über Abwesendes
Entscheidend ist, daß die Worte oft selbst wie Repräsentanten fungieren. Wo etwas tabuisiert ist, werden Worte stumm. Damit verschwinden aber auch die von diesen Worten repräsentierten Phänomene. Sie geraten außer Reichweite unserer Wahrnehmungen und verschwinden jenseits unseres Vorstellungsvermögens. — Man wird ohne Sanktionen nicht einmal mehr nach ihnen fragen.
Sie sind dann nicht mehr wahrnehmbar und auch nicht mehr mitteilbar. Es sind bemerkenswerte dialogische und diskursive Anforderungen, die wir tagtäglich erfüllen, um im inneren Theater unseres konsensual koordinierten Vorstellungsvermögens die Kulissen solange zu verschieben, bis wir einsichtsfähig werden. — Wie anspruchsvoll diese Kunst eigentlich ist und worauf es dabei ankommt, läßt sich an einem interessanten Beispiel demonstrieren:
Francine Patterson, Forschungs–Direktorin der Kalifornischen Gorilla Foundation, hatte in rund 25 Jahren ein Gorillaweibchen namens Koko mit einer Zeichensprache im Umfang von etwa tausend Zeichen vertraut gemacht, nebst einiger englischer Lautwörter, um sich auf diese Weise mit ihr verständigen zu können.
Ein Internetprovider inszenierte daraufhin als Werbegag die Möglichkeit, mit Koko via Internet zu kommunizieren. Die Fragen sollten in die Zeichensprache übersetzt, Kokos Antworten von Mitarbeitern am Terminal ins Internet eingegeben werden.
“Der Chat begann, Talika faßte sich als erste Mut: ›Hallo Koko, es ist eine Ehre, dich zu treffen.‹ Kokos Antwort war erstaunlich: ›Gut hier.‹ Und als der Moderator die ersten Fragen einsammelte, huschte ein entschiedenes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bildschirme. (…) Ob sie Vögel mag, wollte einer wissen. Koko ging zum Fenster, schaute hinaus, und meinte plötzlich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Dingen die Rede ist, die nicht hier und jetzt präsent sind, erklärte Dr. Patterson.” (Dieter Grönling: ›Koko liebt Essen!‹ Fragestunde mit einem Flachlandgorilla im Internet. In: die tageszeitung, 30. April 1998. S. 20.)
Man spricht offenbar als Gorilladame nicht über Abwesendes, schon gar hinter dem Rücken der Dinge, über Sachen und Lebewesen, die im Augenblick nicht ›da‹ sind. — Offenbar fehlt das Vorstellungsvermögen, so daß ein Fake deklariert wird, wenn Sachen nicht vorhanden sind.
Da nun die Grammatik zuständig ist für die Ontologie, wird bereits im Vorfeld darüber befunden, ob etwas ›existent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder? — Es ist, als würde die Grammatik bei Koko streiken und jeden Versuch vereiteln, etwas zur Sprache zu bringen, das nicht wirklich, sondern nur in der Vorstellung ›ist‹.
Dabei können Imaginationen zugleich vorhanden und nicht vorhanden sein, nämlich in unserer Phantasie, die bei Bedarf auch fliegende rosarote Elefanten zur Verfügung stellt. Insofern haben wir es bei Koko mit einem begrenzten Vorstellungsvermögen zu tun; Grenzen, die wir als Menschen anstandslos überschreiten. — Aber es ist nicht einfach, sich Phantasie als solche überhaupt vorzustellen.
Bewußtsein läßt sich als System beschreiben, das mit einer großen Vielfalt von unterschiedlichen Beobachtungsbeobachtungen operiert. Dabei geht es um Blickwinkel, Perspektiven und Differenzen, die gegeneinander und miteinander ins Verhältnis oder auch in Kontrast gesetzt werden. — Dieses Beobachten von Wahrnehmungswahrnehmungen kann ad Infinitum immer komplexer werden, vom einfachen Bewußtsein über das Selbstbewußtsein, bis hin zum Geist.
Demnach gibt es stets ein Bewußtsein, das aus anderer Warte ein anderes in seiner Wahrnehmung beobachtet. Erst dadurch wird diese Wahrnehmung ihrerseits ›bewußt‹. — Ich weiß dann nicht einfach nur, sondern ich weiß, daß ich etwas weiß, dessen ich mir bewußt bin.
Darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zu den Tieren: Es ist uns durch Erleben im eigenen Vorstellungsvermögen möglich, so zu verfahren, als wären wir ›mittendrin‹, inmitten der Ereignisse. — Dabei wissen wir zugleich, daß alles ›nur‹ imaginiert ist, daß es reine Phantasiewelten sind.
Allerdings können wir in und mit diesen imaginären Welten unseren geistigen Horizont ganz beträchtlich erweitern. Wir können alle erdenklichen Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen machen, die von erheblicher Bedeutung sein können.
Phantasie ist eine erstaunliche Fähigkeit, die nicht genug gewürdigt werden kann. Derweil liegt die eigentliche Kunst darin, einigermaßen ›konstruktiv‹ zu imaginieren, um dann möglichst genau darüber zu sprechen.
Diese Illustration bewußt mirakulös. Unschwer ist zu erkennen: Es ist ein ‘Magritte’. Aber nicht dieser ist hier das Thema oder sein Surrealismus, auch dieser steht nicht im Zentrum. Tatsächlich handelt es sich um den Ausschnitt aus dem Katalog einer Kunstausstellung über René Magritte in Barcelona. Die Gemälde–Beschriftung liefert dazu einen sicheren Anhaltspunkt. — Dieses ganze Arrangement soll illustrieren, daß wir hochkomplexen Zusammenhänge ›lesen‹, ›interpretieren‹, ›deuten‹ und ›verstehen‹ können.
Daher rührt aber auch eine bis heute nachwirkende Urangst, weil unsere Altvorderen auf ›frevelhafte‹ Weise die Autorität der Instinkte mißachtet und durch Sprache und Imagination die Grenzen der tierischen Lebenswelten übertreten und überwunden haben.
Das Imaginationsvermögen erlaubt uns, auch Abwesendes zur Sprache zu bringen, als Kompensation für die verlorene Instinktsicherheit. — So sind wir uns in der Vorstellung selbst immer einen Schritt voraus, aber auch nur selten ›eins mit uns selbst‹.
So wurden neue Möglichkeiten eröffnet, sich selbst orientieren zu können, etwa durch Erfahrungsaustausch und durch Weitergabe von Wissen. Kultur wurde als etwas völlig Neues erschaffen, als Gegenwelt zur Natur. — Dabei wurden die Voraussetzungen geschaffen für ein Vorstellungsvermögen, mit dem es möglich wurde, sich in der ganzen Welt selbst orientieren zu können.
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Anthropologie, Ausnahmezustand, Emanzipation, Ethik, Feminismus, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Ironie, Leib, Moral, Motive der Mythen, Philosophie, Platon, Professionalität, Psyche, Psychosophie, Religion, Schönheit, Schuld, Seele, Theorien der Kultur, Traum, Urbanisierung der Seele, Wahrheit, Zeitgeist
Was soll man(n) tun, wenn “die” Frau wütend ist?
Wer zu “woke” ist, den bestraft das Leben
Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der ehrenwerte und letzte Staatspräsident der Sowjetunion, hatte bekanntermaßen ein äußerst inniges Verhältnis zu seiner Frau Raissa Maximowna Gorbatschowa.
Man hat ihn später hier in Münster desöfteren am Aasee spazieren gesehen, als seine Frau, übrigens eine Philosophin, mit dem Krebs kämpfte.
Beide kannten sich lang und waren, wie es nur wenige Paare fertig bringen, wirklich ein Team. In ihr hatte er eine unbestechliche Ratgeberin, so wie es Platon idealisiert hat. Er stellt die Philosophenkönige vor wie welche, die einfach deswegen nicht bestechlich sind, weil sie schon “alles” haben, was nicht mit Geld zu bezahlen ist.
Gorbatschows Verzweiflung über ihren Tod dürfte nicht minder groß gewesen sein, wie die angesichts der schier unlösbaren Aufgabe, den Saurier Sowjetunion mit einem heimtückisch taktierenden Westen im Nacken dennoch wieder auf Kurs zu bringen. Von wegen keine Osterweiterung der NATO, von wegen “gemeinsames Haus Europa”.
Ein Putsch machte alle Hoffnungen zunichte und brachte einen Trunkenbold wie Jelzin ans Ruder und Oligarchen, die sich das ehemalige Volksvermögen unter den Nagel gerissen haben. Im Windschatten dieser Verwerfungen fand Putin als Nachfolger seinen Weg zur Macht, der das alles natürlich als demütigende Katastrophe empfunden hat.
Aber nun zur Frage: Was hat Gorbatschow gemacht, wenn Raissa Maximowna Gorbatschowa wütend war? Er hat es in einem Interview selbst ausgeplaudert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Empfehlung, was denn nun männlicherseits zu tun sei in solchen Fällen, wenn “die” Frau außer sich ist vor Wut.
Er habe sie in seine Arme genommen und fest umschlossen, um sie auch bei Gegenwehr ganz nahe bei sich fest zu halten, bis alles wieder gut war. — Das scheint in der Tat hilfreich zu sein, denn ich habe gesehen, daß es insbesondere bei Kindern und Menschen in psychischen Ausnahmezuständen positiv wirken kann. Einfach nur halten, bis wieder gut ist.
Der Grund dürfte darin liegen, daß die Wut hier selbst zum Ausdruck gebracht werden darf. Sie wehrt sich anfangs gegen den äußeren Widerstand der Umklammerung und wird immer stärker, bis sie sich wie durch ein Ventil endlich wieder abbauen kann, weil sie ja nun ihren Ausdruck gefunden hat.
Aber wie es in diesen desorientierten Zeiten üblich ist, werden manche ganz gewiß jetzt Zeter und Mordio schreien: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau? — Oh je.
Wer zu woke ist, den bestraft das Leben. — Die Formulierung stammt übrigens nicht von ihm, sondern von einem seiner Sprecher. Das geflügelte Wort wurde zum Orakelspruch. Es fiel auf einem informellen Treffen mit Pressevertretern beim Staatsbesuch von “Gorbi” in Ostberlin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Damit ist auch etwas daüber gesagt, was das Leben ausmacht. Es bietet Gelegenheiten, die vertan sind, wenn sie nicht ergriffen werden. – Wir sollten Möglichkeiten für unsere Sehnsüchte daraus machen, die tief in uns schlummern, um wachgeküßt zu werden.
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Anthropologie, Corona-Diskurs, Diskurs, Emanzipation, Ethik, Identität und Individualismus, Lehramt, Moderne, Moral, Philosophie, Politik, Professionalität, Psyche, Religion, Schule, Seele, Theorien der Kultur, Wissenschaftlichkeit, Zeitgeist, Zivilisation
Menschenbilder
Für eine neue Pädagogische Anthropologie
Die Aufgaben für Lehrkräfte steigen seit Jahren, weil Gesellschaft und Staat keine Vorstellung mehr haben, worauf es ankommt. — Aus Bildung ist Ausbildung geworden und das vor dem unmenschlichen Bild einer “natürlichen” Auslese, als lebten wir noch im Tierreich.
Die Zahl der Lehrkräfte wird immer geringer, weil es kaum noch ein belastbares, positives Menschenbild gibt und Überzeugungen, dafür auch eintreten zu können. — Und die Gesellschaft gefällt sich darin, alles einfach nur abzuwälzen.
Im Zuge der Corona–Krise ist deutlich geworden, daß etwas faul ist mit dem misanthropischen Menschenbild. Die Zeiten sind vorbei, als religiöse oder politische Ideologien noch die Vorstellungen von der “Bildung des Menschengeschlechts” beherrschten. Nur der Misanthropismus ist noch geblieben.
Aber den miesen Menschenbildern kann man beikommen. Es gilt, eine allgemeine Ratlosigkeit, die nicht selten in tiefe Verzweiflung führen, durch neue Zuversicht zu überwinden.
Dazu braucht es wieder ein standfestes Auftreten von Philosophen, Erziehungswissenschaftlerinnen, Pädagogen und Pädagoginnen. Aber diese müssen sich erst einmal ihrerseits neu überzeugen von der Bedeutung ihres Tuns und von der Legitimität ihrer Professionen.
Zunächst ist in der Pädagogik selbst ein wieder motivierendes Menschenbild erforderlich. — Die Theorien dazu sind da. Es kommt nun darauf an, eine zeitgemäße Praxis und ein neues Selbstverständnis auf diesen Fundamenten zu errichten.
Auf das Menschenbild kommt es an
Seit Jahren gebe ich Seminare für angehende Lehrer und Lehrerinnen am KIT in Karlsruhe. — Aber jetzt möchte ich nicht mehr nur exklusiv dort wirken, sondern Seminare zur Supervision, zum Atemholen, Überlegen, Nachdenken und zu neuem Mut anbieten. Denn mir ist immer wieder aufgefallen: Die Motivation kann nur von innen kommen, von einem Menschenbild, das von einer inneren Wärme erfüllt ist.
In der Theorie gibt es diese Perspektiven bereits seit 1928, als mit der Anthropologischen Wende die ersten Diskurse aufkamen darüber, welche wissenschaftlich gesicherten Aussagen gemacht werden können über das vermeintliche “Wesen des Menschen”.
Damals entstand die Anthropologie als transdisziplinärer Diskurs über die “Conditio humana”. — Inzwischen ist daraus ein beeindruckendes Ensemble aus einer Vielzahl aller erdenklicher Wissenschaften aus Natur–, Kultur– und Geisteswissenschaften geworden.
In Zweifelsfällen können wir diese Diskurse wie ein Orakel anrufen, um Fragen zu beantworten, deren Antworten oft nur voreingenommen sind. In solchen Streitfragen wirkt die Anthropologie wie ein wissenschaftliches Orakel.
Wichtig ist nicht nur, was ausgesagt wird, sondern auch wie und auf welche Fragen wir tatsächlich erschöpfende Antworten erhalten. So läßt sich manches sehr klar entscheiden, weil es um belegbare Fakten und rekonstruierbare Zusammenhänge geht, die sich erörtern lassen.
Aber noch interessanter wird es, wenn wir von der Anthropologie gar keine oder nicht erschöpfende Antworten erhalten, sondern nur noch die Auskunft, es würde ein Prinzip zugrunde liegen. So ist die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen in etwa so zu beantworten, daß es darin liegt, sich selbst zu kultivieren, sich selbst zu “bilden”. Dann wird deutlich, wie sehr das menschliche Wesen davon geprägt ist, “offen” zu sein.
Wir sind nicht vordefiniert wie Tiere, wir sind zur Freiheit geboren, was aber auch mit Freiheitsschmerzen verbunden ist. — Daher brauchen wir Mentoren in der Funktion von Hebammen, Begleitern und Ratgeberinnen bereits bei den ersten Schritten und auch später noch auf dem Weg in eine ganz individuelle Zukunft, in der es glücklich macht, sich selbst bei er eigenen Entfaltung über die Schulter zu sehen.
Die “Unbestimmtheit” des menschlichen Wesens ist das, was die “Würde des Menschen” ausmacht. Darin liegt das eigentliche Geheimnis des Erfolgs in der Menschheitsgeschichte.
Wir stehen auf den Schultern von Riesen. -
Anthropologie, Diskurs, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Ironie, Kunst, Künstler, Moderne, Philosophie, Professionalität, Psyche, Religion, Schönheit, Seele, Theorien der Kultur, Zeitgeist, Zivilisation
Hermeneutik
Verstehen ist kreativ
Nicht nur auf der Bühne, auch im Publikum wird man sich einiges einfallen lassen müssen, um zu verstehen. Wer sich dabei selbst auf der Leitung steht, hat das Nachsehen. — Wer sich dabei aber über die eigene Schulter schaut, betreibt die Kunst des Verstehens: Hermeneutik.
Es kommt beim Verstehen darauf an, nicht einfach nur zu hören oder zu schauen, sondern der eigenen Vorstellung dabei zuzusehen, wie sie von uns selbst zustande gebracht wird. Wir können das!
Wir können allen Ernstes protokollieren, was man in welcher Reihenfolge gesehen, gefühlt und gedacht hat. — Es gibt tatsächlich Logbücher im Hirn, in denen alles aufgezeichnet ist. Wer mag, kann sogar darin blättern.
Unser Bewußtsein ist ein Netzwerk von Beobachtungsbeobachtungen. Da wird nicht einfach irgend etwas nur gesehen, sondern dieses Sehen muß wiederum “gesehen” werden. Nur dann kann es überhaupt als “wirklich” empfunden werden, nur dann zählt es überhaupt. — Ansonsten könnten wir uns alles Mögliche einfach nur einbilden.
Es ist mit etwas Übung möglich, sich selbst beim Verstehen über die Schulter zu sehen. Man kann sogar den “Betriebsfunk” abhören und sich einklinken in die Routinen der inneren Verständigungsprozeduren.
Verstehen ist selbst ein kreativer Prozeß. Etwas Bedeutungsvolles nur wahrnehmen und auf Anhieb verstehen, das können nur Götter. — Was Göttern mühelos zufällt, dazu müssen wir uns allerdings auch erst auf den Weg machen.
Dazu haben wir sie schließlich kreiert, um uns Ideale zu bieten, in denen wir uns spiegeln können, um zu sehen, wie weit wir schon sind, wenn wir wissen wollen, ob und inwiefern wir ihnen als Ideal–Selbst schon das Wasser reichen können.
Wer also Wert legt auf ein besonderes Urteilsvermögen, wer etwas Eigenes sein und sagen möchte, sollte sich darauf einlassen, beim Verstehen lange Wege mit vielen Stationen zu nehmen. Das “Heureka” mag am Ende stehen und in einem einzigen Augenblick ausgerufen werden, es ist aber die Krönung für einen ganzen Prozeß.
Verstehen ist weit mehr als nur das Lösen eines Rätsels, entscheidend sind Selbstbegegnungen. Wir erfahren sehr viel über uns selbst, sobald wir uns beim Wahrnehmen, Deuten und Verstehen selbst beobachten und begegnen.
Es ist erstaunlich, dem eigenen Empfinden, Verstehen und Reflektieren bei der Arbeit zuzusehen. Man kommt sich dann vor wie der Eigentümer einer Fabrik, in der Wahrnehmungen produziert werden, die auf Sinn hin ausgelegt sind.
Wer solche Wagnisse unternimmt, wird belohnt mit Erfahrungen auf der Meta–Ebene. Es sind Selbsterfahrungen, die persönlicher, intensiver und tiefer nicht sein könnten.
Ich bin soeben im Netz der Netze auf Fotos von einem Kunstwerk gestoßen, das ich vorzeiten besprochen habe. — Die Begegnung fand rein zufällig statt, auf einer Ausstellung in der Kunstakademie Münster.
Und im Seminar über “Die Schönheit der Seele” ging es am letzten Freitag um “Hermeneutik” und die “Kunst des Verstehens”. Das hat mich darauf gebracht, diesen alten Spuren noch einmal nachzugehen. — Das hat wiederum dazu geführt, daß ich den Text aus dem Jahre 2011 überarbeitet und vor allem mit den damals noch nicht öffentlich erhältlichen Fotos versehen habe.
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Anthropologie, Diskurs, Emanzipation, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Kunst, Leib, Melancholie, Moral, Motive der Mythen, Philosophie, Psyche, Psychosophie, Religion, Schönheit, Schuld, Seele, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Utopie, Wahrheit, Zeitgeist, Zivilisation
Vom Über–Ich zum Ideal–Ich
Narzißmus als Selbst–Konzept
Der Umgang mit der Figur des Narziß läßt zu wünschen übrig. Oft werden Diagnosen vorgebracht, wie sie üblich sind von Liebenden, die sich verschmäht sehen. Dann ist auch noch von toxischen Beziehungen die Rede, um die Fehler beim Geliebten zu finden. Aber zuletzt täuscht nichts darüber hinweg, daß Besitz-Ansprüche oft als Ausdruck von Liebe kaschiert werden.
Schönheit mag erstrebenswert sein, zu viel davon kann wird aber zu einem ganz großen Problem werden. Narziß hat dieses Handikap schon seit frühester Kindheit und daß ist der dramatische Kern dieser mythischen Figur. — Er ist einfach zu schön.
Er ist derart schön, daß alle außer sich sind und ihn berühren, besitzen und sich vor allem mit ihm zeigen wollen. Aber niemand interessiert sich für ihn als Person. Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren.
Diese Schwierigkeit hat er weder in Kindheit, noch in der Jugend bewältigt könne. Und jetzt, wo er ein junger Mann ist, in den sich alle unentwegt unsterblich verlieben und ihn verfolgen wie einen Superstar, ist es eigentlich zu spät. — Narziß hat sich inzwischen eine äußerst schroffe Art der Zurückweisung zu eigen gemacht.
Er wehrt Verliebte nicht einfach nur ab, sondern versucht sie mit heftigsten Worten zu verletzen. Mit möglichst schroffen Reaktionen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schuldig ist, sie alle einfach nur abzuwehren. — Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie kennen gelernt, weil ihm immer andere dazwischen kamen.
Insofern wird man als Außenstehender fragen, ob das denn nun wahre, ehrliche, echte Liebe sein kann, was da an einnehmenden Begehrlichkeiten an den Tag gelegt wird. Er ist schließlich einer, der darunter leidet, daß er an Aufmerksamkeit zu viel hat und nichts davon will. — Also stößt er die ihn vermeintlich Liebenden der Reihe nach regelmäßig heftig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, warum sollte er sich lieben lassen? Er muß die enttäuschen, die ihn erklärtermaßen lieben. Er will nicht geliebt werden, weil er Liebe als Vereinnahmung empfindet.
Ein Verehrer will ihm ein Schwert schenken. Narziß weist ihn derart heftig zurück, so daß dieser die Götter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit diesem Schwert tötet. — Und tatsächlich machen es sich die Götter zu eigen, den Verschmähten in seiner Liebeskrankheit zu rächen.
Die Begegnung mit der Nymphe Echo ist bereits Teil des göttlichen Plans.— Hera hatte ihr die Stimme genommen, weil diese sie damit täuschen wollte, um Zeus ein Alibi zu verschaffen, als dieser in Liebesangelegenheiten unterwegs war. — Echo kann also nur noch wiederholen, was bereits gesagt worden ist.
Narziß verirrt sich auf der Jagd und trifft auf die Stimme der Nymphe, die sich augenblicklich verliebt und sehr bald voller Hoffnung ist. Ihr ganzes Auftreten läßt an ein Groupie denken, das bei einer Begegnung mit ihrem Star völlig außer sich ist und nur noch stammeln kann. — Aber sie täuscht sich, stattdessen kommt nur eine schroffe Abweisung des unter seiner eigenen Attraktivität leidenden jungen Mannes: Lieber würde er sterben, als sich von ihr auch nur umarmen zu lassen.
Nun fragt man sich schon, ob so heftige Reaktionen wirklich notwendig sind. Aber man sollte nicht vergessen, daß Narziß nichts anderes kennt, als dauernd wegen seiner äußeren Vorzüge begehrt zu werden, während sich für ihn selbst in seiner Person niemand interessiert. — Er hat sich in seiner eigenen Person gar nicht entwickeln und entfalten können. Es wurde ihm alles geschenkt, aufgedrängt, aufgenötigt, nur weil er schön und begehrenswert ist.
Darauf passiert, was der blinde Seher Teresias dessen Mutter bereits prophezeit hatte, als diese wissen wollte, ob er ein langes und glückliches Leben vor sich habe. — Solange er sich selbst nicht kennen lernt, ja, so lautete die rätselhaften Auskunft.
Genau das sollte jedoch geschehen. Er sollte sich kennen lernen, weil die Götter ihre Hände bereits im Spiel hatten. Er verliebte sich aber nicht einfach in sich selbst, das ist nur die kindliche Variante in der Deutung des Mythos. Als würde er den Spiegeltest nicht bestehen und nicht einmal sich selbst erkennen können. — Das Drama ist tiefgründiger, weil Narziß offenbar etwas tut, was “die Jugend” seinerzeit erstmalig zeigte. Von einem neuen Wahn ist die Rede, sich fortan auf sich selbst zu konzentrieren, aber die alten und ehrenwerten Sitten und Gebräuche links liegen zu lassen.
Narziß weigerte sich, den üblichen Weg eines jungen Mannes zu gehen. Er will nicht mit einem erfahrenen Mann als sein Mentor für einige Zeit in die Wildnis gehen, um dort vom Jungen zum Mann zu werden. — Denn was brauchte es, um ein “vortrefflicher Mann” zu werden? Doch wohl urbane Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Reden, Verhandeln und Verträge aushandeln können. Man braucht Erfahrungen in der Länderkunde aber weit weniger solche in der Natur.
Narziß beginnt also, sich nicht mehr im Äußeren zu suchen, sondern im eigenen Inneren. Und er trägt den Namen einer Narzisse, weil auch diese ihren Kopf so hängen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst versunken, um sich zu “bespiegeln”. — Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Narzißmus ist insofern eine Diagnose, die auf diejenigen zutrifft, die aus einer solchen Selbstversenkung nicht wieder herauskommen.
Tatsächlich hat dieser tragische Mythenheld aber erstaunliche Potentiale, die ihn dieser Tage zum Leitbild einer Diagnose über den Zeitgeist werden lassen, die es in sich hat: Wir haben einen Paradigmenwechsel zu verzeichnen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt.
Das Über–Ich ist, der Terminologie von Sigmund Freud zufolge, eine Repräsentation des “Vaters” im Sinne einer autoritären Welt, in der Tradition und Sitte noch ganz strenge Grenzregime bewachten und sanktionierten. Wehe denen, die da aus irgendwelchen Rollen fallen und aus der Reihe tanzten! Und genau solche Diagnosen folgen dann auch: Narzißmus.
Das Über–Ich hat mit der Figur des autoritären Gottes, Königs, Ehegatten und Vaters vor allem eine Ausprägung, es ist eine unerbittliche höchst richterliche Instanz, die andersartige Identitäten gar nicht erst aufkommen läßt. Alle erdenklichen Wünsche und Traumgespinste sind sanktioniert und allein der Wunsch danach kann zu katastrophalen Selbstbestrafungen führen, die sich in unterschiedlichen Symptomen äußern.
Das war solange der Fall, wie Sittenstrenge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbstverständlich zu sein schienen und die, die sie hatten, sich lieber selbst etwas antaten, als dazu auch öffentlich zu stehen.
Aber eigentlich wird diese Geschlechterordnung schon mit dem 1. Weltkrieg ganz erheblich gestört. Viele Männer zogen freudig in den Krieg, wie Hooligans, die sich verabredet haben, ihre Kräfte zu messen. Aber der Krieg war inzwischen hoch technisiert worden, man landete in den Schützengräben und verlor ganz und gar, was Männer bis dato noch glaubten für sich beanspruchen zu dürfen, diesen gewissen Schneid, der gern vorgeführt wird, dem die Uniformen dienen sollen und der angeblich bei Frauen sehr gut angekommen sein soll.
Im Grunde war das Ende des martialischen Männlichkeitsgehabe eigentlich schon mit dem Ersten Weltkrieg eingeläutet. Aber die Lektion mochte nicht wirklich verfangen, also “brauchte” es noch einen Zweite Weltkrieg, bis endlich ein anderer Geist zugelassen wurde, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hippies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glaubens legitimierte.
Tatsächlich kam es nur zum Bruch mit dem Überkommenen, aber nicht zu einem alternativen Weg. Das Autoritäre war verpönt, das Patriarchale wurde immer verpönter und dennoch kam nicht wirklich so etwas wie eine Alternative zum Über–Ich auf, das die Geschicke bisher so restriktiv gelenkt und geleitet hatte.
Man sollte sich etwas Zeit nehmen und auf sich wirken lassen, was da zu diagnostizieren ist über diesen Paradigmenwechsel im Zeitgeist. — Die Patriarchen stehen schon seit geraumer Weile nicht mehr wie die Legionsführer in ihren Überwachungskanzeln, von denen sich alles überblicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabriken, diese Chef–Büros mit großen Fenstern nach überallhin und mit Blick auf den Hof. Aber heute sind dort die Werkstätten von Künstlern.
Interessanterweise wurde ein Großteil der Überwachung nicht nur ins Innere, also in die Psyche verlegt, sondern auch individualisiert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu überwachen, unser eigener Chef zu werden, dauernd an uns zu arbeiten, um ein anderer, besserer, erfolgreicherer Mensch zu werden und dann auch zu sein. — So erklärt sich auch, warum die Selbstausbeutung jeder Ausbeutung den Rang abläuft.
Die “Generation Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Privatleben für sich beansprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kontrolle zu haben, denn das ist mitnichten der Fall. Wir sind zu unseren eigenen Ausbeutern geworden und das Planziel ist nicht mehr das, was sich gehört. — Es geht vielmehr um das Erfüllen von Zielen, die vom Ideal–Ich ausgehen. Nicht wenige sind also bereit, sich selbst zu versklaven.
Der Narzißmus ist eine gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: “Du mußt mehr werden, als du bist, du mußt zu deinem Ideal werden.” Allerdings ist das Prinzip dahinter höchst unsozial, es geht nur noch um den persönlichen Erfolg, um das Erringen von äußerlichem Status und mondäne Luxus-Symbole, wie sie die Werbung als Ersatzdrogen längst parat hält.
Wir sind in eine neue Phase der Prädestinationslehre geraten. Max Weber hat darauf seine Theorie des Kapitalismus entwickelt, daß der Erfolg des bürgerlichen Kaufmanns selbst ein Zeichen sein sollte dafür, von Gott auserwählt worden zu sein, weil ja jetzt schon, im irdischen Leben einiges an Erfolg offensichtlich geworden ist.
Jetzt machen sich viele selbst unglücklich mit Zielen, die nicht wirklich zu erreichen sind. Und der Gott, der da die Zeichen gibt, daß man zu den von ihm Auserwählten gehört, ist die narzißtische Variante eines Ideal-Ichs, dem es vor allem darum geht, daß die Show stimmt.
Der neue Paradigmenwechsel in der Selbstkontrolle ist einerseits zu begrüßen, aber eine wirkliche Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genügen, ist nicht wirklich geringer, sondern sogar sehr viel größer geworden. Jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr, nicht zu genügen, weil man Idealen entsprechen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt. — Das Über–Ich wurde abgelöst vom Ich–Ideal, das viel radikaler beschaffen ist, weil es keine Ausflüchte mehr duldet.
Es ist gar nicht so einfach, dem tragischen Helden eines klassischem Mythos gerecht zu werden. Zur Not kommt er uns zur Hilfe, auf daß wir uns selbst besser verstehen.
Siehe hierzu: Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Paul Zsolnay Verlag, 2022.
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Burnout der Gesellschaft
Über die Macht der Medien und das
Unbehagen in der KulturSeit Jahrmillionen erklären, verständigen und deuten Menschen sich mithilfe von Sprache, in Dialogen und Diskursen, vor dem Hintergrund spiritueller, religiöser oder und später auch philosophischer Weltanschauungen. — Vor etwa 6000 Jahren kommt zuerst die Schrift auf, dann der Buchdruck und schließlich die Digitalisierung.
Die Schrift macht potentiell alle Menschen zu Lesern, verbunden mit dem Anspruch auf Bildung, Geschmacks- und Urteilsfähigkeit. Und mit dem Internet werden nun prinzipiell alle Menschen zu Autoren. — Eine neue Medienrevolution, die dem des Buchdrucks in nichts nachsteht, hat soeben erst begonnen…
Wir erleben nur den Anfang dieser Zeitenwende und sind jetzt schon maßlos überfordert. Das alles führt zum Burnout der Gesellschaft, zum Verlust der Dialogfähigkeit und zum Rückfall in längst überwundene Zeiten. Die neuen Herausforderungen könnten nicht größer sein: Wir müssen den Umgang mit der neuen Vielfalt, mit den vielen neuen Möglichkeiten erst entwickeln, wir müssen uns weiter entwickeln.
Das ist der heimliche Hintersinn solcher Krisen und Wendezeiten: Die Menschheit wird sich angesichts dieser neuen globalen Verbundenheit entweder weiter entwickeln oder im Chaos untergehen und dann zumindest einige Stufen herunterfallen in ihrer Entwicklung vom Tier zum quasi göttlichen Wesen.
Derzeit verhält es sich wie mit der babylonischen Sprachverwirrung: Alle wollen reden und Gehör finden, aber niemand will mehr zuhören, um vom Verstehen ganz zu schweigen, denn dazu haben die meisten gar nicht mehr die Nerven.
Bei alledem ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die offenbar von Anfang an hinter der Anthropogenese steht: Es geht um immer mehr Individualität, Autonomie und Selbstorientierung, also um mehr Bewußtsein, Empathievermögen, Selbstbewußtsein und Geist.
Die Natur hat im Menschen ein Auge aufgeschlagen, um sich selbst in den Blick zu nehmen. Dabei spielt Religion nach wie vor eine ganz bemerkenswerte Rolle, nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne. — Aber als Gespür für Höheres, insbesondere für Aufklärung und Humanismus, werden religiöse Motive noch über lange Zeit erforderlich sein. Denn was der Psyche gut tut, muß nicht unbedingt auch gut sein für die Seele.
Die nächsten Stufen in dieser geistigen Höher-Entwicklung des Menschengeschlechts zeichnen sich bereits ab. Es geht um mehr Selbstbewußtsein, Geist und Selbstorientierung. Dazu aber sind sehr viel mehr Narrative erforderlich und sehr viel mehr Dialoge, in denen diese Narrative erst noch entwickelt werden müssen. — Jeder Mensch braucht seine individuelle Geschichte, um sich selbst erklären zu können. Das wesentliche dabei ist allerdings, in dieser Individualität auch verstanden zu werden.
Der Eingang ins Verstehen läßt sich finden, indem wir unter den vielen Mythen diejenigen auswählen, die vielversprechend erscheinen, weil ähnliche Probleme verhandelt werden. — Das ›passende‹ Narrativ einer mythischen Begebenheit wird dann ›übertragen‹ auf unseren individuellen Sachverhalt.
Wir verstehen nur auf dem Umweg über Analogien, in denen überzeitliche Erfahrungen niedergelegt worden sind, die dann im persönlichen Gespräch übertragen werden auf die eigene Individualität, den eigenen Individualismus als Konzept.
In diesem Fall scheint Ariadne hilfreich zu sein, weil sie sich generell mit Labyrinthen auskennt. Die Prinzessin von Kreta war Theseus dabei behilflich, sich im eigens für den stierköpfigen Minotaurus geschaffenen Labyrinth zu orientieren.
Daß es sich beim Ariadnefaden aber um ein banales Wollknäuel gehandelt haben soll, ist nicht wirklich überzeugend. — Selbstverständlich steht es uns frei, im Zweifelsfall unzufrieden zu sein, insbesondere mit dem, was uns die kindsgerechten Lesarten bieten.
Die Mythen sind von einer Kultur auf die nächste übergegangen, so daß wir über viele Möglichkeiten verfügen, in den Feinheiten zwischen den Varianten genauer zu lesen, um den darin verborgenen Sinn herauszulesen: Ariadne ist Schülerin der Circe, die wiederum auf die Isis zurück geht, einer überaus mächtigen ägyptischen Göttin der Zauberkunst.
Wie Medea ist auch Ariadne bestens mit dem Zaubern vertraut, die Wege blockieren aber auch öffnen können. Dabei wird das Labyrinth bald zum Symbol für den Lebensweg, der oft in ausweglose Lagen führt aber nicht wieder heraus. — Die eigentliche Bedeutung von Ariadne liegt also darin, Orientierung zu bieten, gerade in Konstellationen, die etwas von einem Labyrinth haben.
Der Zauber, mit dem Ariadne ganze Labyrinthe zu bewältigen hilft, liegt jedoch rätselhafterweise im Geheimnis von Schönheit. — Das Prinzip lautet: Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit.
Auf diese geheimnisvolle Formel kommt der württembergische Bildhauer Johann Heinrich von Dannecker aufgrund seiner Studienreise nach Rom. Damit bringt er seine Inspiration auf den Begriff. — Der Geist seiner vorzeiten überaus populär gewordenen Skulptur: Ariadne auf dem Panther, offenbart eine philosophische Spekulation von ganz besonderer Bedeutung.
Der Panther ist das Wappentier für den Wein– und Rauschgott Dionysos, der im übrigen nicht nur der Vorläufer von Jesus Christus in vielen Aspekten seiner Symbolik ist, sondern der dabei auch noch tiefer blicken läßt in die Tiefen einer bipolaren Psyche.
Dieser Gott der Ekstase hat selbst eine überaus komplizierte Vergangenheit, die macht ihn zum Borderliner macht. Sobald er auch nur den geringsten Verdacht spürt, er könnte eventuell auch nur schief angeschaut worden sein, greift er zu drakonischen, unerbittlichen und scheußlichen Racheakten, die völlig unverhältnismäßig sind.
Da wird dann das, was diese Skulptur zu sagen versteht, zur frohen Botschaft über die Potentiale einer notwendigen heiligen Handlung: Ariadne bewältigt das Wilde, Rohe und Unmenschliche solcher Rachsucht durch Schönheit! Dieser Gedanke ist vor allem philosophisch von derartiger Brisanz, so daß ich sagen würde, versuchen wir es doch!
Immerhin hat sich bereits Hannah Arendt an diesem Projekt nicht ganz vergeblich versucht, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln. — Wir sollten endlich wieder nach den Sternen greifen!
Es gibt inzwischen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Vernunft als Meisterin der Multiperspektivität mit Ästhetik vorgeht, wenn es gilt, in irgendeiner Angelegenheit ›das Ganze‹ zu verstehen. — Erst dann kommen Dialoge und Diskurse wirklich zur Entfaltung, wenn alle, die nur Rechthaben wollen, endlich ergriffen werden und sich zu fassen versuchen.
Es kann nämlich in der Ästhetischen Urteilskraft gar nicht mehr ums Rechthaben gehen. — Wir können nur noch an den Anderen appellieren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimmtes so empfinden wie wir, um dann auf die tieferen Beweggründe zu sprechen zu kommen, die sich einstellen, wenn man es versteht, sich endlich für Höheres zu öffnen.
Im Mittelalter wurde die Höfische Gesellschaft auf ähnliche Weise geschaffen, als man die rauhbeinigen Warlords von Raubrittern auf ihren zugigen Burgen abbringen wollte, von ihrem lukrativen Tun und Treiben, nach eigenem Gesetz auf Beutezug zu gehen.
Sie wurden nachhaltig ›gezähmt‹ im Minnesang, also durch Schönheit. — Für ihre Dame ihres Herzens opferten sie ihre Wildheit, ihr Ungestümtsein und wohl auch einen nicht unbeträchtlichen Teil einer Männlichkeit, die inzwischen manchen Frauen bei Männern fehlt.
Es kommt darauf an, die Multiperspektivität mit allen ihren Zumutungen und Herausforderung zu würdigen in einer Welt, die immer mehr zum Amoklaufen neigt. — Irgendwas muß den ständig drohenden Irrsinn im Zaum halten. Und genau das macht sie, die Göttin der ästhetischen Urteilskraft: Ariadne.
MP3 – Mittschnitt des Vortrags.
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‘Habitus’ bedeutet Charakter
Bildung braucht eine Grundlage
Ich habe noch immer den Eindruck, seit Beginn der Corona–Hysterie in einem Paralleluniversum gelandet zu sein.
Im Nachgang verschieben sich die Bewertungen dieser Panther–Zeit, in der man die Gitterstäbe der Angst–und–Moral–Republik ständig vor Augen hatte. — Viel zu viele haben sich in diesen Jahren um Kopf und Kragen geredet.
Aber meine Bewertungen dieser Massenpsychose verschieben sich inzwischen nicht mehr so stark, und ich muß zugeben: Das Resultat dieser kollektiven Angstkampagne war für mich verheerend, denn ich mußte einen Gutteil meines Idealismus aufgeben.
Meine Enttäuschung über den kollektiven Verrat an Werten wie Freiheit, Toleranz, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Würde, hat mich zutiefst verstört. Das hätte ich nicht für möglich gehalten!
Aber die Panter–Zeit hatte auch ihr Gutes, wir haben alle das Zoomen erlernt, konnten einander tief in die Seele schauen und haben gesehen, mit wem wir es wirklich zu tun haben.
Und die Diagnose fällt kritisch aus: Den meisten fehlt so etwas wie Persönlichkeit, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Theorie “Die feinen Unterschiede” als “Habitus” bezeichnet, beschrieben und näher ausgeführt hat.
Ich hätte es wissen können, weil ich ihn schon im Studium gelesen und mir zu Herzen genommen hatte. Aber ich wollte nicht, daß der Groschen auch fällt, wohl aus Idealismus wollte ich es nicht.
Das Erziehungsziel einer “Bildung der Persönlichkeit” ist und bleibt elitär, weil es um einen Habitus geht, den man sich auch herausnehmen können muß. — Manche nehmen sich das einfach heraus, wenn und weil es ja nun mal “standesgemäß” für sie ist.
Andere stehen sich selbst dabei bereits auf der Leitung und noch andere, die Vielzahl der nichtdenkenden Mitmenschen, sieht das Problem nicht einmal.
“Gebt dem Volk Brot uns Spiele”. Ja, den meisten Zeitgenossen mangelt es nicht nur an Selbstbewußtsein, Selbstbestimmungs– und Selbstorientierungsvermögen, sie haben auch keinen Zugang zu ihrem eigenen Leib. Sie sehen nur den Körper, den sie dann checken, bearbeiten oder auch reparieren lassen.
Der Unterschied besteht eben, wie Helmuth Plessner gesagt hat, “zwischen Körper haben und Leib sein”. — Daher lassen sich die Vielen auch so tief verängstigen.
Sie sehen nur ihren Körper und ihre Psyche, sehen aber nicht auch den Geist, den Leib und die Seele. Sie wollen auch nur Sex und keine Erotik. — Ach, es ist erbärmlich.
„Der Mensch will über den Menschen hinaus“, — eigentlich ja. Man denke doch nur an Platon und Nietzsche, die das so eindrucksvoll und eindringlich vor Augen geführt haben.
Aber viele folgen nicht ihrer Seele, sondern nur den viel zu oberflächlichen Interessen einer Psyche, die “Haben mit Sein” miteinander verwechselt. Viel zu viele lassen sich bereitwillig leiten von den ästhetisch–moralischen Konsumwelten der angeblich „Schönen und Reichen“.
Wenn darin ganz offenbar die allermeisten Zeitgenossen ihre Lebensziele sehen und sogar finden, dann kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.
Als ich vor langer Zeit noch Ethik–Unterricht für Polizeibeamte an der FH für öffentliche Verwaltung in Dortmund gab, hatte ich irgendwann bereits dieses Konzept für mich als Arbeitsgrundlage: Ich hole die Menschen ab, wo sie stehen, aber ich fahre nicht bis unter die Erde!
Wer unterirdisch ist und es auch sein und bleiben will, soll es sich wohl ergehen lassen in der Höhle. Und kein Philosoph wird sie bei ihren heiligen Handlungen in der Konsumhölle stören.
Die Basis für einen eigenen Habitus, so daß man selbstverständlich einen Menschen ernst nehmen kann, muß sich schon jeder selbst schaffen. — Die Seele macht das Spiel.