Philosophischer Salon: Die sieben Todsünden. Zur Aktualität eines alten Konzepts.

Philosophie und Kunst

Dieser Philosophische Salon unter dem Titel „Schattenblick und Lichtmomente“, fand am 26. August 2023, in der Villa Kampschulte in Essen statt.

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen erläuterte darin die überraschende Aktualität des alten Konzepts der Todsünden, das weit mehr ist als eine reine Glaubenssache. Dahinter stehen vielmehr ganz entscheidende kollektive Erfahrungen aus der gesamten Menschheitsgeschichte.

 

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Ein Konzept kollektiver Erfahrungen 

Unsere Vorfahren haben viele dieser Fehler begangen und die Mythen berichten uns darüber, wie es sich zugetragen hat. Man muß nur zu lesen und zu deuten verstehen, was sie uns mitzuteilen haben. – Die Kirche hat das Ganze nur aufgegriffen und für ihre Zwecke umgewidmet. 

Greift man dieses Konzept nun philosophisch auf, so läßt es sich aktualisieren und auf die Orientierungslosigkeit in der Gegenwart übertragen. – Das Fazit dürfte allerdings überraschen: Der Kern aller Todsünden ist immer derselbe: Einzelne stellen sich mit ihren Überzeugungen und Interessen über alles und genau das wird der Kritik unterzogen. 

Es geht immerzu um “Hybris”, um die Anmaßung göttlicher Würden und Kompetenzen, wie insbesondere Allwissenheit und Allmacht. – Dieses Fazit wird in weiteren Veranstaltungen und in einem demnächst erscheinenden Buch näher erläutert.

Es soll vor allem auch im Rahmen weiterer Philosophischer Salons, insbesondere in Kirchen debattiert werden.

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen ist Hochschullehrer in Karlsruhe und betreibt eine Philosophische Praxis in Münster.  

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Die Hände erschaffen das Gesicht

Der Satz fällt in einer Lebensbeichte, die alles andere als gut ausgeht:

Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich.          (Albert Camus: Der Fall. Hamburg 1968. S. 18.)

Wie einer der mythischen Gerichtsgötter, so versteht sich auch der französische Philosoph Albert Camus auf Fragen, wie sie in Alpträumen schon immer befürchtet wurden: Schlußendlich kommt doch alles an Licht.

Entscheidend ist der Charakter unserer Handlungen, wie sie aus der Perspektive des eigenen Gewissens beobachtet worden sind. Und das, was man bislang glaubte, sich selbst und anderen vormachen zu dürfen, zählt plötzlich nicht mehr.

Wer hätte gedacht, daß unsere Hände weit mehr sind, als nur ausführende Organe. Sie handeln nicht nur, sondern verhandeln miteinander. Eine versucht die andere zu bestärken oder auch von etwas abzuhalten. Mitunter ist der einen auch peinlich, was die andere zu tun sich einfach nicht verkneifen kann.

Eine ›Sünde‹ ist eine Handlung, von der wir bereits wissen, daß eigentlich ›nicht geht‹ was wir zu tun beabsichtigen. Eine ›Todsünde‹ geht noch darüber hinaus. Sie ist der Ausdruck einer Haltung, die sich selbst Ausnahmen erteilt und sich damit über alles erhebt. — Geradezu alarmierend wirkt der Befund, daß sich da jemand ausklinkt, aus dem großen Ganzen.

Alle unsere Handlungen entstehen im Zuge von Abwägungen, die uns von einer Dialektik ermöglicht werden, so daß wir immer wieder neu abwägen, beurteilen und entscheiden können, für die  eine oder auch für die andere Hand.

Die sieben Todsünden: Mehr als eine Frage des Glaubens

Nach heutigem Verständnis geht es um Religion. Aber darüber hinaus geht es um Psychologie und vor allem um den Bestand von Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften.

1. Hochmut, Stolz und Eitelkeit (superbia)
2. Habgier, Geiz und Habsucht (avaritia)
3. Wollust, Begehren und Unkeuschheit (luxuria)
4. Zorn, Rachsucht und Wut (ira)
5. Völlerei, Unmäßigkeit, Gefräßigkeit (gula)
6. Neid, Eifersucht und Mißgunst (invidia)
7. Trägheit, Faulheit, Überdruß (acedia)

Das Philosophieren darüber, ob das Konzept der Todsünden auch heute noch von Bedeutung sein könnte, läßt sich eröffnen mithilfe einer Unterscheidung, die schon dem religiösen Konzept zugrunde liegt. — Demzufolge gibt es ›Sünden‹, die ›nur‹ das individuelle Seelenheil gefährden und solche, die darüber hinaus für ganze Gemeinschaften existenzbedrohend werden.

Auf die Frage, was denn das Tödliche an den Todsünden sein soll, läßt sich anführen, daß sie weit mehr Unheil anrichten. — Aber das alles bedarf zweifelsohne der weiteren Erörterung.
Philosophisch ist es geboten, religiöse Dogmen unmittelbar in Psychologie zu überführen, so daß sie auch ohne Gehorsam im Glauben zwanglos nachvollziehbar werden. — Nur dann läßt sich das System der Todsünden beibehalten, andernfalls wäre es nur noch Glaubensgeschichte.

Kosmische Harmonie

Hinter dem Konzept der Todsünden stehen die Leitbilder einer alles übergreifenden kosmischen Ordnung, die von den Göttern garantiert wird. Das Gleichgewicht wird jedoch immer wieder gestört, vor allem durch die Freveltaten von Einzelnen. — In den Mythen wird darüber dezidiert berichtet.

Demzufolge liegen die Ursachen für massive Störungen in der kosmischen Harmonie in Ungeheuerlichkeiten, die willentlich und wider besseres Wissen verübt worden sind. — Was religiös erscheint, hat jedoch manifeste weltliche Gründe. Es geht um die Muster einer Mustergültigkeit, deren Verbindlichkeit angeblich vom Himmel überwacht wird.

Philosophisch betrachtet, handelt es sich um Projektionen zur Garantie der sozialpsychologischen Grundlagen für die Identität ganzer Kulturen und Lebenswelten. — Deren Zukunft ist schließlich darauf angewiesen, daß gewisse Grenzen gewahrt, gewürdigt und auch respektiert werden.

Ansonsten geraten ganze Gesellschaften in katastrophale Prozesse des unaufhaltsamen Niedergangs. Und sie können sich nicht wieder stabilisieren, solange die ›Himmelsordnung‹ gestört und nicht durch Sühne wieder ausgeglichen worden ist. — Auslöser sind spektakuläre und ungesühnte Freveltaten wie Tempelraub, Mord, Inzest, Vergewaltigung, Schändung und vor allem Hybris, wenn sich Menschen göttliche Würde anmaßen.

In den Augen der Philosophie, ist das durch Kapitalverbrechen gestörte ›Kosmische Gleichgewicht‹ eines der Kultur. — Etwas Ungeheures ist geschehen, was nie hätte sein dürfen.

Wenn aber derart Unvorstellbares offenbar doch möglich ist, dann ist das Vertrauen in die Lebenswelt elementar erschüttert. Damit steht das weitere Zusammenleben, die Zukunft als solche und sogar der Fortbestand der ganzen Kultur auf dem Spiel.

Darüber kommt es zur Krise, denn die ›heilige Ordnung‹ ist offenbar nicht ganz so sicher wie gedacht. Man wird also die aus dem Lot geratene Verhältnisse wieder zum Ausgleich bringen wollen. Aber das Vertrauen in die Legitimität der kulturellen Ordnung läßt sich nur mit großer Mühe wieder herstellen. — Eine Apokatastasis panthon, eben die ›Wiederherstellung des Himmels‹, ist von außerordentlicher Bedeutung.

Danach ist alles wieder so, als wäre nichts geschehen, denn die Katharsis hebt nämlich den Frevel mitsamt seiner Folgen wieder auf. Nur noch die Mythen berichten davon und bewahren die Begebenheit als warnendes Beispiel für alle Zeiten. — Es ist wie bei einer Wunde am eigenen Körper, von der man im nachhinein nicht einmal mehr genau erinnern kann, wo sie eigentlich war.

Essen, Villa Kampschulte