• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Schule,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Amok und Nihilismus

    Über transzendentale Obdachlosigkeit

    Ich habe Amok nie verstanden. Bei Charles Bukowski, durch den man ebenso hindurch muß, wie durch Niklas Luhmann, geschieht das so nebenher. Irgendwer hat mal so richtig schlechte Laune, legt sich dann irgendwo auf die Lauer, nimmt sich ein Gewehr, wird Heckenschütze und ballert irgendwelche Leute ab, die einfach nur das Unglück haben, gerade in diesem Augenblick vor Ort zu sein.

    Nun, mir geht es ums Verstehen, nicht unbedingt um Verständnis. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

    Man legt sich dann irgendwelche Erklärungen zurecht, so etwas die bei Schulmassakern, daß da jemand mit narzisstischer Störung zutiefst verletzt worden sein muß, der darauf “Rache” ausübt. Das ist auch dürftig, weil es nicht die tieferen Gründe erklärt. Wir alle sind schon mal so richtig mies verletzt worden und waren ernstzunehmend sauer, haben aber in der Regel nicht einmal daran gedacht, auf diese Weise damit umzugehen, um die Sache wieder “aus der Welt zu schaffen”.

    Edvard Munch: Melancholie (1894f).

    Einmal habe ich, um besser zu empfinden, in meiner Vorlesung einen Amoklauf aus der Perspektive desjenigen Schülers versucht zu beschreiben, der nun mit seiner Waffe durch den Flur läuft, während die ihm persönlich bekannten und doch vielleicht auch ehedem freundschaftlich verbunden Mitschüler vor ihm fliehen.

    Darauf bin ich auf die Idee gekommen, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir nämlich so vor, als würde mancher Täter sich womöglich den Flüchtenden anschließen, gewissermaßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eigenen Horror.

    Aber bei dem Anschlag in Heidelberg waren es Studenten, die zumeist persönlich einander gar nicht bekannt sein dürften. Hier entfällt also ein zentrales Argument, persönliche Rache aufgrund persönlicher Demütigungen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leute zu “bestrafen”, die so rein gar nichts mit irgendetwas zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

    Mir tut es leid für alle die, die da in diesem Hörsaal waren, für die Verletzten und noch mehr für die Toten, ihre Angehörigen, Freunde und Freundesfreunde. Sie alle haben mein Mitgefühl.

    Dennoch will man immer etwas über die Motive hören, als ob es doch irgendwelche zureichende Gründe gäbe. Fast schon entlastend wirkt da, wenn diese Motive religiöser oder politischen Natur sind. Dadurch wird die Absurdität nicht geringer, aber irgendwie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich halten kann.

    Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amokläufer an der Uni in Heidelberg hörte. Er soll per Whatsapp kurz zuvor mitgeteilt und angekündigt haben, nachdem er sich die Waffen zuvor im Ausland beschafft hatte, „daß Leute jetzt bestraft werden müssen“. Dieses “Motiv” hat weiter gearbeitet in mir. Irgendwie scheint das ein Schlüssel zu sein für ein tieferes Verstehen ohne Verständnis.

    Dabei ist mir aufgefallen, daß diese Formel vom “Bestrafen” häufig verwendet wird, nicht nur von religiös motivierten Amoktätern, sondern auch von solchen, die eigentlich nicht religiös motiviert sein dürften, weil ihnen dazu jeder Backround fehlt. Dann bin ich heute beim Verfassen eines Textes auf den Zeitgeist der Moderne zu sprechen gekommen und darauf, daß mit der Entzauberung der Welt, mit dem Verlust eines Glaubens und einer transzendentalen Obdachlosigkeit diese grundverzweifelten Leute zunächst in Russland aufkommen, wie sie Dostojewski so eindringlich zur Darstellung bringt.

    Das hilft nun den Opfern und allen Betroffenen nicht wirklich, weil ihnen das die gesuchte und nicht zu findende Erklärung nicht geben kann. Und dennoch, es hat mit dem “Bestrafen” eine eigene Bewandtnis. Strafe, Sühne und Buße sind nämlich als Motive zutiefst religiös in einem tiefenpsychologischen Sinne. Das bedeutet, man muß nicht unbedingt auf irgendeine Weise gläubig sein, diese Archetypen sind einfach vorhanden im kollektiven Unbewußten.

    Edvard Munch: Der Schrei.

    Also, in der Moderne, wo nicht einmal mehr die Idee vom großen Ganzen noch möglich scheint, dort zerspringt die Welt in tausend Stücke und alle diese Fragmente erscheinen nur noch profan. Darauf wird dann die unselige Profanität selbst zum Skandal und zum verzweifelten Anlaß für Selbstverletzung, sei es am eigenen Leib oder auch am ›Körper‹ der Gemeinschaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die Seele der Akteure in der von ihnen verachteten Welt seit geraumer Weile keine Nahrung mehr findet, zumal der Blick für Seelennahrung entweder gar nicht entwickelt oder eingetrübt ist.

    Auf diese Weise läßt sich nachvollziehen, warum es unter psychologisch prekären Umständen in den völlig entzauberten und profanisierten Fragmenten moderne Welten immer wieder zu diesen äußerst spektakulären und demonstrativen Terrorakten kommt, und woher die vielen religiösen Motive vor allem doch bei eigentlich religiös gar nicht motivierten Tätern rühren.

    Es läßt sich spekulieren, ob das Unvorstellbare nicht doch vorstellbar wird, wenn wir ernst nehmen, was viele dieser Täter als Motiv bekunden, sie wollten ›strafen‹. Als würde da ein geistig vollkommen entwurzeltes Prophetentum exerziert. Tatsächlich läßt sich aber annehmen, daß die Verletzungen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sollen, nur, in einem Kontinuum, das selbst völlig verirrt ist.

    Das hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der ganzen seelischen Dramatik vor Augen geführt. Er war ein Seismograph der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. In seinen Werken spiegelte er die irrlichternde menschliche Seele, ihre Sehnsüchte, Regungen und Träume, dann aber auch die Zwänge und Befreiungsversuche bis hin zum Verbrechen.

    Seit die Welt nur noch in Fragmenten erscheint, die allesamt nur noch profaner Natur sein können, konzentriert man sich ersatzhalber auf Äußerlichkeiten, spricht allenfalls von ›Werten‹ und verliert jede Vorstellung von Geist und Vernunft in ihrem Bezug zum Schönen, Erhabenen und daher auch zum Göttlichen. — Folgerichtig führt Friedrich Nietzsche dieser Befund zu einer verheerenden Diagnose: Nihilismus.

    Der junge Nietzsche selbst verwarf bereits in jungen Jahren diese Weltsicht der Haltlosigkeit und wandte sich der Philosophie von Arthur Schopenhauer zu, die nicht nur die Verzweiflung auf eine sehr konstruktive Weise deutet, sondern die auch eine Philosophie des Mitleids entwickelt und dabei bedeutende Gemeinsamkeiten mit fernöstlichem Denken entwickelt. — Es gäbe also schon philosophische Alternativen, die vor allem eigenes Handeln wieder möglich machen und nicht nur die aktive Weltverneinung und noch dazu die völlig unberechtigte “Bestrafung” zufällig anwesender Menschen, die dann zu Opfern werden. Kein Gott, kein Geist und nicht einmal ein Ungeist wird ein solches Opfer akzeptieren.

    Das ist keine Erklärung, die Trost spenden kann, es ist allerdings eine beunruhigende Einsicht in die seelische Kälte unserer Welt, die manche einfach nicht ertragen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hilfe nicht einmal mehr vorstellen können sondern meinen, sie könnten durch solche Taten irgendetwas bewirken, was alten Wunden heilt. – Stattdessen werden neue aufgerissen.

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    Die Urbanisierung der Seele

    Die Urbanisierung der Seele.

    Über Zivilisation und Wildnis

    Das Ewig-Weibliche als Motiv aller Motive ist weit weniger biologischer Natur, als gemeinhin angenommen wird, denn gerade die Geschlechterrollen sind eine Folge der Zivilisation. Zuvor waren die Verhältnisse der Geschlechter stets anders arrangiert.

     

    Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele.
    Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele. Über Zivilisation und Wildnis; (ZeitGeister 2). tredition, Hamburg. 312 S. – Paperback 18,99 €, ISBN: 978-3-7482-1319-2. Hardcover 28,99 €, ISBN: 978-3-7482-1320-8. Erscheinungsdatum: 07.03.2019

    Wildbeuter sind nicht sesshaft, daher wäre es unsinnig, Besitztümer anzuhäufen und vererben zu wollen. Insofern ist auch nicht das Haben, sondern das Sein entscheidend, wenn und wo es um Anerkennung geht. – Unter den Bedingungen der Zivilisation geht es jedoch um Besitz und Status, vor allem in Bezug auf Frauen, was sich anhand von Allegorien über Weiblichkeit demontrieren läßt. Pandora steht symbolisch für die Verlockungen, Folgen und Nebenfolgen im Prozess der Zivilisation. Aphrodite verkörpert als Göttin der Liebe den Verdrängungs-Wettbewerb unter Frauen und die Entschiedenheit, im Zweifelsfall alles einzusetzen. Derweil steht die schöne Helena für das Schicksal, im Spiel der Mächte zum willenlosen Opfer und zur schönen Beute gemacht zu werden, um als Trumpf, Trophäe, vielleicht sogar im Triumph gewaltsam genommen zu werden. Es gibt eine Fotografie, die minutiös von Friedrich Nietzsche gegen den Einspruch der Beteiligten arrangiert worden ist. – Lou Andreas-Salomé hat Friedrich Nietzsche und Paul Rée vor ihren Karren gespannt. So könnte eine Interpretation lauten, zumal die Begehrte kurz zuvor die Heiratsanträge beider Männer abgelehnt hatte. – Es mag sein, dass Nietzsche sich von dieser enttäuschenden Liebe inspirieren ließ. Aber neben der biographischen Interpretation ist eine andere noch tiefgründiger, es geht um das Motiv aller Motive. Das berühmte Foto spottet jeder landläufigen Interpretation des gemeinen Spruchs: »Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht«. Gerade dieser Satz hat Nietzsche in Verruf gebracht. Betrachtet man aber das Foto genauer, so zeigt sich, wer hier die Peitsche führt: Es ist das Weib.  


    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben. 

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

  • Götter und Gefühle,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theographien,  Vorlesung

    Persiphaé

    Pasiphae-Gustave-Moreau
    Gustave Moreau: Pasiphaé. Musée Gustave Moreau, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Götter als Allegorien menschlicher Belange

    Die Nähe zum pandämonischen, panpsychischen oder auch zum polytheistischen Weltbild liegt fast schon auf der Hand: Stets werden wir nämlich ergriffen von fremden Mächten und von überpersönlichen Motivationen. Daher ist die Vorstellung so naheliegend, als würden wir eingenommen von dämonischen Mächten, die Besitz von uns ergreifen, um ihre Motive zu den unseren zu machen. — Insofern sind wir wohl nicht wirklich Herr unserer selbst, denn wer sucht sich schon die eigene Grundstimmung, die Grundgefühle und vor allem auch die Gefühlsschwankungen selbst aus. Götter verkörpern nicht nur Emotion, von denen wir uns bewegen lassen, sie geben sie mitunter auch ein.

    Götter können sich rächen, indem sie unwiderstehliche Neigungen eingeben: König Minos von Kreta hatte einen eigens von Poseidon geschaffenen Stier mit außergewöhnlich herrlicher Gestalt dem Meeresgott auf dessen ausdrücklichen Wunsch nicht geopfert, sondern zur Veredlung der eigenen Herde verwandt. Darauf ließ Poseidon die Ehegattin des Minos Pasiphae in heißem Begehren zu jenem Stier entbrennen. Der sagenumwobene Erfinder Dädalus wurde gerufen, der eine hölzerne Kuh konstruierte. Die Königin kriecht hinein, läßt sich von diesem Stier begatten und gebiert darauf den Minotaurus, der später dann im Labyrinth gefangen gehalten und von Theseus unter Mithilfe von Ariadne getötet wird.

    Weil Minos dem Neptun einen Ochsen nicht opferte, welchen er ihm doch versprochen hatte, so habe sie sich in denselben verlieben müssen. Ihre Brunst wurde auch eher nicht gestillet, als bis Dädalus eine Kuh von Holze verfertigte, solche mit einer Kuhhaut überzog, und die Pasiphae hinein steckete. (Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770. S. 1899.)

    Manches spricht dafür, die Götter des Pantheon zu sehen als das, was sie von Anfang an waren, Allegorien für alle erdenklichen menschlichen Belange. In ihrer Gesamtheit verkörpern sie alles, was an Motiven, Interessen, an Schicksalsschlägen, Schwächen oder auch Stärken, Fertigkeiten und Talenten eine Rolle spielen kann.

    Wenn dementsprechend genauer gefragt wird, etwa, was denn eigentlich hinter der Empathie steht, und was denn dann die Sehnsucht der Sehnsucht ausmacht, dann könnten wir weiterkommen in dieser Frage, wenn uns ein Gott dazu einfiele, der zuständig zu sein scheint. — Die Kunst, mit der verwirrenden Vielfalt eines Götterhimmels umzugehen, liegt eben darin, hinter den Allegorien der Götter ihre Zuständigkeiten zu eruieren. Die Frage wäre also: Welcher Gott verkörpert eigentlich die Sehnsucht der Sehnsucht und wie gehen Götter ihrerseits damit um, Träume zu haben, die sie womöglich selbst nicht leben können, etwa weil es zu ihrer Rolle und zu ihrem  Selbstverständnis einfach nicht paßt.

  • Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

    Nur wer die Sehnsucht kennt

    Goethe-Lotte-Werther
    Goethe Lotte Werther. Stadt– und Industriemuseum, Wetzlar 2014. — Quelle: 3StepsCrew, Giessen, Germany via Wikimedia, Lizenz: CC-BY-SA-2.0.

    Mit seinem Werther trifft Goethe das epochale Lebensgefühl junger Leute im Spannungsfeld zwischen der neuen Empfindsamkeit und einer überkommenen Moral, die eigentlich alles Persönliche im Keim erstickte. Dagegen gründete sich die seinerzeit als Lesesucht bezeichnete Suche nach den Motiven einer neuen Sehnsucht auf Individualität und auch auf Narzissmus. So entstand der neue Zeitgeist mit einem Hang zum sentimentalischen Charakter, der erst in der Romantik ganz zum Ausdruck kommen und auch seine Schattenseiten entwickeln sollte.

    Das neu heranbrausende Zeitalter der Empfindsamkeit war selbstverständlich höchst umstritten, denn damit wurde ein ganz bedeutender Schub in der Psychogenese ausgelöst. Anstelle der stets so tugendhaft und alternativlos hingestellten Fügsamkeit, sich den Anforderungen eines überkommenen Konventionalismus klaglos zu überantworten, wurde nun der Ausdruck eines neuen Individualismus möglich, der Weltschmerz und Melancholie zum Ausdruck brachte und dabei bis zum Narzissmus führen konnte. — Die Figur des Werther war dabei der Prototyp eines neuen Zeitgenossen, der mit seiner unstillbaren Sehnsucht, seinem überbordendem Narzissmus und mit seiner Melancholie an der herrschenden Moral einfach scheitert.

    Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugendbewegung‹. Weitere Reaktionen in Kunst und Literatur ließen nicht auf sich warten. Massive Veränderungen im Selbstverständnis und im Selbstverhältnis gingen damit einher. Es kam zur Vorbildfunktion, zur Identifikation, zur Nachahmung der Hauptfigur und schließlich zum Werther–Kult mit einer Reihe von Suiziden oder Suizidversuchen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tradition der Fremdbestimmung, sondern eine Demonstration des Anspruchs auf Individualität jenseits der herkömmlichen Moral. Und so wurde dann auch der Selbstmord dieses tragischen Helden nicht mehr als Sünde tabuisiert, sondern als ›Freytod‹ betrachtet, als Ausdruck einer individuellen Freiheit, sich gegen gesellschaftliche Zwänge zu behaupten, indem man sich dem Weiterleben ›entzieht‹.

    Im Wilhelm Meister wird diese träumende Sehnsucht weiter zum Ausdruck gebracht, aber auch eine Naivität, die zustande kommt, wo Empathie ohne Theorie einfach nur auf eine neue Sehnsucht zielt, von der nicht inhaltlich gesagt werden kann, was denn nun die Sehnsucht dieser Sehnsucht sein soll:

    Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit
    seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mi-
    gnon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herz-
    lichsten Ausdrucke sangen:

     

    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich ans Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite.
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!

    (Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre.

    In: Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

    So träumt dann Wilhelm Meister noch in träumender Sehnsucht, kommt aber aus dem Leiden am Leiden nicht heraus. Es bleibt bei der Sehnsucht nach dem, was der Sehnsucht wert ist. Und so geht Goethes Faust weit darüber hinaus: Er greift wirklich nach den Sternen und macht dabei diejenigen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu angetan sind, für sich selbst besser wahrnehmen zu können, was denn gewollt werden sollte.

    Faust ist rastlos, unerfüllt, umtriebig und voller Sehnsucht nach einer Sehnsucht, deren Beweggründe ihm selbst aber unbekannt sind. Er täuscht sich darüber, was und wo denn nun das Land seiner Träume liegt, was das Ziel aller Sehsüchte sein soll. — Im Dialog mit der Sorge, die sehr melancholische Züge trägt, erläutert er die zunehmende Ruhe der Weisheit, die mit der Erfahrenheit einhergeht:

    FAUST.
    Ich bin nur durch die Welt gerannt;
    Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
    Was nicht genügte, ließ ich fahren,
    Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
    Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
    Und abermals gewünscht und so mit Macht
    Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
    Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
    Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
    Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
    Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
    Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
    Er stehe fest und sehe hier sich um;
    Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
    Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
    Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
    Er wandle so den Erdentag entlang;
    Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang,
    Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück,
    Er, unbefriedigt jeden Augenblick!
    SORGE.
    Wen ich einmal mir besitze,

    Dem ist alle Welt nichts nütze;
    Ewiges Düstre steigt herunter,
    Sonne geht nicht auf noch unter,
    Bei vollkommen äußern Sinnen
    Wohnen Finsternisse drinnen,
    Und er weiß von allen Schätzen
    Sich nicht in Besitz zu setzen.
    Glück und Unglück wird zur Grille,
    Er verhungert in der Fülle; …

    (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Hamburger Ausgabe
    Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

    Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfahrung bringen und braucht dafür einen Teufelspakt mit dem genialen Mephisto, der das allumfassende Probieren und Studieren ihm erst möglich macht. — In der Faustwette geht es schließlich um die Lösung der Frage nach der Sehnsucht der Sehnsucht:

    FAUST.
    Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
    Verweile doch! du bist so schön!
    Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
    Dann will ich gern zugrunde gehn!
    Dann mag die Totenglocke schallen,
    Dann bist du deines Dienstes frei,
    Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
    Es sei die Zeit für mich vorbei! (Ebd. S. 57.)

    Derweil wirkt Mephisto stets so, als habe er das alles längst hinter sich und wüßte um das Wesen des Menschen, um Träume und Schäume. Dieser Dämon spricht wie ein Nihilist, der sich längst zum Zyniker gewandelt hat, und in der Tat ist Mephisto bar jeder Sehnsucht, so daß man sich fragen muß, woher er dann noch seine Energie nimmt.

     

    Auszug aus: Heinz-Ulrich Nennen: Empathie. S. 148ff.

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    Blick und Gegenblick

    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.
    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Jean Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts eine Blickanalyse vorgeführt, die das Erblicken und das Erblicktwerden zur Darstellung bringt und dabei demonstriert, wie der Blick auf den Anderen diesen zum Objekt degradiert, selbst wenn das womöglich gar nicht beabsichtigt ist.

    Das ist wieder einer dieser konstitutiven Brüche, die mit dem Bewußtsein in die Welt gekommen sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir werden nicht nur gesehen, sondern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt geworden ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt worden sind.

    Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn gleichzeitig als einen Gegenstand und als einen Menschen. Was bedeutet das? Was will ich sagen, wenn ich von diesem Gegenstand behaupte, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Hamburg 1993.  S. 457.)

    Der Blick, der den anderen erfaßt, ist weit mehr als nur einfaches Sehen, denn er nimmt dem Anderen die Eigenheit, seine Subjektivität und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degradiert den Anderen in seinem Subjektstatus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begehrenden oder taxierenden Blick geht, denn dann ist es ein abschätzender, vielleicht auch abschätziger Blick. Interessanterweise geschieht das mit jedem Blick, der unbedacht auf Jemanden fällt, der vielleicht in diesem Augenblick selbst unbedacht sein mag. Sobald dieser Blick aber selbst wiederum erblickt und mit einem Gegenblick erwidert wird, sobald das Sehen als Gesehenwerden gewahr wird, als Erblicken des Erblicktwordenseins, geschieht diese seltsame Überwältigung: Das vormalige Subjekt des Blicks wird vom vormaligen Objekt nunmehr selbst zum Objekt eines weiteren Blicks. Nicht nur unsere Sprache hat daher Magie, sondern auch unser Blick hat irgendeine seltsame magische Macht.

    Kulturen geben sich viel Mühe, diese Kraft, die im Blick liegt, zu zähmen, um die Kräfte auf ihre Mühlen zu lenken. Blicke werden geführt, gelenkt, gerichtet und sie werden wiederum gedemütigt, umerzogen oder auch abgelenkt. Der Blick, der bezeichnende Ausdruck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Politik, ohne daß überhaupt irgendetwas gesagt werden müßte. — Kultur politisiert jeden Blick, denn sie legt es darauf an, vorzuschreiben, wer gewisse Einblicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Verdacht, daß es neben der exoterischen– noch eine esoterische Lehre geben müssen, daß es eben Wahrheit gibt, die nicht für die Allgemeinheit, sondern die nur für Auserwählte bestimmt sind.

    Dabei bringen Taschenspieler, Zauberkünstler, eben ›Illusionisten‹ genau diese Wahrheit stets wieder aufs Neue hervor. Blicke lassen sich lenken, führen, verführen, ablenken und völlig verwirren. Also werden nicht selten freimütig Einblicke gewährt, nicht selten um zu verbergen und zu verschleiern, was nicht gesehen werden soll, was andere nicht nur nicht begehren, sondern gar nicht erst zu Gesicht bekommen sollen. — Die vielen und nicht selten mit drastischen Strafen belegten Blickverbote, den Gottkönigen und Priestergöttern, insbesondere aber den Göttern gegenüber, zeugen davon, daß man immer schon versucht war, die ungebändigte Magie des freien, ungezwungenen, ungezügelten und vielleicht auch begehrlichen Blicks zu  bezähmen.

    Wenn jeder Blick mit dieser seltsamen magischen Kraft ausgestattet ist, das Erblickte zum Objekt zu degradieren, dann wären in der Tat auch Kaiser, Heilige und sogar Götter nicht davor gefeit. Also steht darauf der Tod, wie bei der Jagdgöttin Diana, die von Aktaion rein zufällig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nymphen beim Baden erfreut. — Die Göttin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jungen Mann ihre Blöße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so manche andere unter den einschlägigen Göttinnen eiserne Jungfrau. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die Selbständigkeit einer Frau zu diesen Zeiten nur dann überhaupt vorstellbar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

    Die Göttin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will partout keine Liebes–Erfahrungen mit Männern. Der begehrliche Blick des Aktaion macht sie jedoch in einem einzigen Augenblick zum Objekt seiner Begierde. Aber gerade Diana steht dafür ein, Jungfrau zu sein und es auch zu bleiben. Überrascht und überrumpelt versucht sie sich dem begehrlichen Blick zu entziehen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voyeur mit Wasser, worauf diesem augenblicklich ein Hirschgeweih wächst, das Symbol der  Jagdgöttin.

    Dem Jäger werden mehr als nur allegorische Hörner aufgesetzt, sie wachsen ihm wirklich, er wird zum Beutetier seiner eigenen Jagdlust. Ganz im Sinne der Dialektik von Blick und Gegenblick wird der Jäger selbst zum Gejagten. Die eigenen Jagdhunde spüren ihn auf, er will sich ihnen zu erkennen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hirschen und in Ermangelung des Sprachvermögens schwerlich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stelle zerfleischt. Immerhin handelt es sich hier um eine Theophanie. Da muß die Frage aufkommen, nicht nur wie und warum es überhaupt dazu kommt, sondern auch, was eigentlich mit einem Menschen geschieht, der eine solche schicksalhafte Begegnung hat. Wenn wir uns oberflächlich mit dem Märchenhaften dieser Situation abfinden lassen, dann ist es einfach nur eine unglückliche Liebe. Der junge Held verliebt sich eben augenblicklich in die göttliche Schöne, aber er vergeht bereits an und in seiner Liebe. Oder: Die holde Schöne ist so prüde, so eitel, so panisch auf ihre Unberührtheit bedacht, so daß sie einfach alle, die ihr Avancen machen, die womöglich auch noch anzügliche Blicke werfen, augenblicklich töten muß. — Das alles ist viel zu kindlich gedacht, wir wür- den damit lediglich ein wenig auf dem Kamm der märchenhafte Schaumkrone solcher Mythen surfen.

    Der vor allem doch aufgrund seiner erstaunlich modernen Spekulationen über Gott, den Kosmos und über den Menschen, von der Kirche als Ketzer verbrannte Giordano Bruno, gibt nun dieser Begegnung eine sehr viel tiefere Bedeutung. Bei ihm wird alles zur Allegorie: Der Jäger, das ist die Vernunft, die Jagdhunde, das ist der Verstand, die Göttin, das ist, was wir nur zu gern erkennen würden aber nicht wirklich ertragen  könnten.

    Aktaion  steht  hier  für  den  Intellekt,  auf  der  Jagd  nach  göttlicher Weisheit im Augenblick des Erfassens der göttlichen Schönheit. (Giordano Bruno:  Von den heroischen Leidenschaften.  Hamburg  1989.  S. 64.)

    So kommt es dann zu dieser erstaunlichen Wendung, zu einer Allegorese, die sehr viel mehr zu denken gibt, als die Oberflächlichkeiten der märchenhaften Züge dieser Story, wenn Bruno verlauten läßt: Er sah der große Jäger, er begriff, soweit das möglich ist, und ward zur Beute: er ging, um zu jagen und wurde dann selbst die Beute. (Ebd. S. 65.)

    Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in seiner ursprünglichen Vorstellung etwas Besitzergreifendes hat, daß aber, wer den Blick unbedacht schweifen läßt, durchaus auch Gefahr laufen kann, selbst ergriffen zu werden. Wir geben uns hermeneutisch insofern viel zu schnell zufrieden, wenn etwa verlautbart wird,  irgendwer  sei  am  Liebeskummer  zu  Grunde  gegangen,  wir  sollten  uns vielmehr genauer vorstellen, wodurch ein solcher Liebestod  verursacht wird.

    Das Problem ist, daß sich hier ein Mensch unbedachterweise an einer Göttin versucht, was bedeutet, daß ein Intellekt  sich mal eben mit dem Göttlichen mißt. Wir können aber nicht erkennen, wie die Götter, wir müssen alles über einen Intellekt, über die Mühlen einer diskursiven Vernunft, über unser Sprach- vermögen  und qua Empathie  müssen wir dann auch noch alles über unseren Körper als  Medium erst in Erfahrung bringen, was ein Gott eigentlich von einem Moment zum anderen bereits erfaßt haben dürfte.

    Wir müssen uns bei der Empathie, beim Verstehen und ebenso auch beim Verlieben erst in den hermeneutischen Zirkel hineinbegeben und uns anverwandeln, sobald wir uns für Jemanden ernsthaft interessieren. Blick und Gegenblick haben ihre ureigentümliche Dialektik, sie heben sich wechselseitig auf. Die Jagd mag ja eine Allegorie auch für die Liebe sein, aber sie ist eben nicht wechselseitig, wenn schlußendlich dann doch irgendwer der Jäger und irgendwer anderes den Gejagten abgeben muß. — Hier ist es kein menschliches Gegenüber, sondern eine Gottheit, mit der es dieser Jäger aufzunehmen versucht, es ist Diana, die Göttin der Jagd.

    In der Tat hat sie sich überraschen lassen, denn so, wie sie sich sehen lassen muß, so, wie sie Aktaion zu Gesicht bekommt, so wollte sie sich nie einem Mann zeigen und ›ergeben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in dieser Situation eigentlich zur Jagd–Beute geworden, aber sie wird sich ganz gewiß nicht ergeben. — Es fallen keine Worte, was zwischen Göttern und Menschen ohnehin problematisch zu sein scheint. Diana bespritzt Aktaion mit Wasser und sie wirft einen empörten, strafenden Blick auf den Eindringling, der die Idylle beim Baden so nachhaltig stört. Das jedenfalls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stelle verwandelt.

    Es gilt zu verstehen, was da in diesem Moment zwischen Aktaion und Diana eigentlich vor sich geht. Innerhalb von Sekunden muß sich der Jäger unsterblich in die Jagdgöttin verliebt haben. Es genügt ein einziger Blick, so daß er wie an einer offenen Wunde förmlich verblutet, weil ihm alle Energie einfach vergeht, bis eben das Auge erloschen ist, wobei hier die eigenen Jagdhunde dem Drama ein schnelles Ende bereiten.

    Der Jäger wird durch seinen begehrlichen Blick selbst zur Beute. Er wird zum Opfer seines eigenen Willens, seiner viel zu großen Begierde nach diesem vermeintlichen Objekt seiner Sehnsüchte. Angesichts dieser Göttin verliert er als Subjekt augenblicklich seine Position und schon beginnt er damit, sich anzuverwandeln. Aber er schießt weit über das Ziel hinaus, verliert sich selbst und vergeht in dem, was er sieht. Er wird nicht wieder auf sich selbst zurückkommen können, weil er sich mit diesem einzigen Blick selbst aus den Augen verliert. Die Deutungsmöglichkeiten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giordano Bruno vorgeführt werden, liefern tiefere Einsichten in die allegorischen Abgründe und sie bieten dann auch einen interessanteren Schlüssel zum Verständnis einer solchen Szenerie. Die Göttin mag ihn erbost mit Wasser bespritzt haben, worauf ihm dann Hörner wachsen, das Geweih eines Hirschen. Aber diese Anverwandlung ist nur eine Verzauberung in dem Sinne, als daß der Jäger selbst zum Gejagten, zum Objekt einer Verzauberung wird. So zeigt sich, wie einnehmend mitunter gerade empathische Impressionen sein können.

    Zu Ehren der Jagdgöttin wird der Jäger selbst zu einem Hirschen. Das ist beileibe keine Ebenbürtigkeit mehr, stattdessen wird ein Opfer daraus, ein Selbstopfer. Der Jäger wird selbst zur schönen Beute, weil eben der menschliche Intellekt sich die Dinge auf eigene Weise aneignen muß und weil er dabei überlastet werden kann und dann vergehen, ja förmlich verglühen muß:

    Du weißt ja, daß der Intellekt sich die Dinge auf dem Wege des Intellekts aneignet, d. h. gemäß seiner eigenen Weise. Und der Wille  verfolgt  die  Dinge  deren  Natur  nach,  d. h.  gemäß  der  Art,  wie sie in sich selbst sind. So wurde Aktaion durch jene Gedanken, jene Hunde, die außerhalb von ihm das Gute, die Weisheit, die Schön- heit, das wilde Waldestier suchten, und durch die Art, wie er dieser schließlich ansichtig wurde, über soviel Schönheit außer sich geraten, zur Beute. Er sah sich in das verwandelt, was er suchte, und er merkte, daß er seinen Hunden, seinen Gedanken selbst zur ersehnten Beute wurde. Weil er nämlich die Gottheit in sich zusammengezogen hatte, war es nicht mehr notwendig, sie außerhalb seiner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

    Aus: Heinz-Ulrich Nennen: Empathie. (Kapitel: Blick und Gegenblick)

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Psychodizee

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    Ernst Klimt: Pan tröstet Psyche. Privatbesitz. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Die Rechtfertigung der Gesellschaft und die Belastung des Einzelnen gehen Hand in Hand. Aber das Skandalon bleibt: Die Welt ist schlecht eingerichtet und ungerecht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöpfergott, sondern einzig und allein von Menschen zu verantworten ist. Die Theodizee ist zur Soziodizee geworden und auf diese folgt nun die Psychodizee. Auf die Anklage Gottes und dem Versuch seiner Rechtfertigung, folgte zunächst die Anklage der Gesellschaft und schlußendlich die Belastung der Psyche. — So kehrt die Hölle im Inneren wieder zurück, wir bereiten sie uns fürderhin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahrhunderten kaum etwas wirklich verändert in den Tiefen unseres Selbst. Und so zeigt sich dann, warum die Angst vor dem Jüngsten Gericht und vor der Hölle bis in die Gegenwart hinein noch immer eine so große Rolle spielt.

    Die alles entscheidenden Fragen werden inzwischen systematisch übergangen, etwa die, wer uns nach dem Tod Gottes noch unsere ›Sünden‹ vergibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht können. Das wiederum bringt zunehmende Belastungen für die Psyche mit sich, worauf nun verstärkt mit dem Einsatz von Psychopharmaka reagiert wird. Es ist aber verheerend, über diese Höhen und Tiefen einfach hinwegzugehen, denn dann wird fast schon wie im Märchen auch noch die eigene Seele verkauft. — Wo die eigenen Gefühle systematisch manipuliert werden, dort fallen weitere Anpassungsleistungen bis hin zur Gewissenlosigkeit immer leichter. Ungehemmt kommt dann die für so viele Sparten obligatorische Skrupellosigkeit zum Zuge, als Aushängeschild einer negativen Identität, deren Ethos darin besteht, keines zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spekulativen Beschreibungen dieser Tendenzen seinerzeit schon die möglichen Varianten der weiteren Entwicklung einzukreisen verstand. Solche Vorhersagen über langfristige gesellschaftliche Entwicklungen sind sehr wohl möglich und haben nichts mit Prophetie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietzsche gestützt, und wir dürften den beiden Denkern daher erscheinen, wie jene letzten Menschen, von denen im Zarathustra die Rede ist. Es ist die schlechteste aller möglichen Entwicklungsvarianten, mit denen nicht nur Nietzsche sondern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir werden also dem ›letzten Menschen‹ tatsächlich immer ähnlicher? Eines ist jedenfalls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epoche von Friedrich Nietzsche, Max Weber und Sigmund Freud möglich gewesen wäre. Manche der Fortschritte dürften daher in Wirklichkeit eher Rückschritte gewesen sein. — Was bei Weber das stählerne Gehäuse der Hörigkeit ausmacht, schildert Nietzsche als Zukunfts–Diagnose im Zarathustra und Freud sieht die Belastungsgrenzen der Psyche voraus.

    Schlußendlich kommt es zum Zynismus und zur Borniertheit dieser ›letzten Menschen‹, die allen Ernstes von sich behaupten, das Glück erfunden zu haben, wohlgemerkt, nicht ge– sondern erfunden, und genauso sieht es dann auch aus, dieses Glück in aller geistigen Bescheidenheit: »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln, heißt es in Zarathustras Vorrede.

    Körper, Psyche, Seele und Geist, alles scheint aufs bequemste zurecht gerückt worden zu sein. Und man möchte glauben, alles sei dasselbe. Da wird dann die Psyche zum störenden Beiwerk, um von Seele und Geist ganz zu schweigen. Wir sind eine rein technisch unverschämt erfolgreiche Spezies von Raubaffen, die inzwischen nur noch das Körperliche gelten lassen. Woher soll da noch der Geist kommen? — Nietzsche rechnet mit dem Zeitgeist der Moderne ab.

    Die ungeheuerliche Prophetie ist längst zum Klassiker geworden, so daß eine jede Zeit, die spät geworden ist, ihr Spiegel– und Zerrbild darin wiederfinden kann:

    Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:

    aber man ehrt die Gesundheit.

    »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

  • Anthropologie,  Melancholie,  Moderne,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zivilisation

    »Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.
    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus. Holzstich, um 1900, koloriert, nach dem Gemälde von Wilhelm Otto Peters. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons. — Der Daumen als Zeichen des Mitgefühls: Mit dem nach unten zeigenden Daumen signalisiert Nero den Gladiatoren in der Arena »kein Mitgefühl« zu zeigen — ganz im Gegensatz zum nach oben gestreckten Daumen, der »Mitgefühl« signalisiert.

    Bewußtsein kommt nur zustande, wenn das, was bewußt werden soll, auf irgendeine Weise auch repräsentiert werden kann. Spiegelzellen machen derweil die eigene Selbstwahrnehmung zum Medium, der Andere wird teilweise gespiegelt in der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Es scheint dann so, als würde der Beobachter zu dem, was eigentlich nur beobachtet wird. Dabei arbeitet das System der Spiegelneuronen ganz offenbar mit Projektionen, die vom motorischen System ausgehen, um dann über das Nervensystem gewisse Wahrnehmungen zu simulieren.
    Emotionen werden dabei auf Bewegungsmuster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Mapping‹, was eben bedeutet, daß etwas auf etwas anderes gelegt wird. So wird das Radiosignal des Senders auf eine Radiowelle gleichsam ›oben‹ zusätzlich noch ›drauf‹ gegeben. Rein technisch werden solche Verfahren als Modulation beschrieben, und in diesem Sinne läßt sich nachvollziehen, wie auch die Spiegelzellen die eigene Wahrnehmung so modulieren, bis sie sich öffnet für die Wahrnehmung Anderer.
    Es ist allerdings bemerkenswert, daß wir oft nur etwas sehen müssen, um es zu verstehen, zu fühlen und zu mitempfinden. So wird dann die Empathie zur Erfahrung am eigenen Leib und wir können uns vorstellen, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betroffen sind. Das alles ist für die Imagination, für das Erzählen und nicht zuletzt auch für das Lernen von ungeheurer Bedeutung, denn wir können auf diese Weise zu Erfahrungen kommen, ohne sie selbst je erleben zu müssen.
    Was in der Hirnforschung als Mapping beschrieben wird, dem entspricht in der Kulturwissenschaft die Metapher , denn auch hier wird ein zumeist ganz konkreter Sinn ›übertragen‹ und etwas anderem beigelegt. Durch die Wahl und den Einsatz einer angemessenen Metaphorik wird das Verstehen und vor allem die Verständigung oft überhaupt erst ermöglicht. Und hier geht es ganz offenbar darum, daß ein ›höheres‹ Bewußtsein die Routinen eines anderen Bewußtseins jeweils mit ganz bestimmten Sinnmustern belegt. So werden dann Bewegungsmuster mit Emotionen verknüpft, die sich dann ihrerseits wiederum als Bewegtheit identifizieren lassen. Dann können wir uns nicht mehr nur vorstellen, wie wir uns bewegen. Wir können darüber hinaus auch Vorstellungen darüber haben, ›bewegt‹ zu werden — eben durch Empathie, durch Emotionen.
    Die Frage, was eigentlich Bewußtsein ist und wie es zustande gebracht wird, bekommt auf diese Weise ihren einschlägigen Modellcharakter. Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas, daher muß erwartet werden, daß dieses Etwas dann auch in Erscheinung tritt und wahr–genommen werden kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vieles ist uns verborgen und dann versagen auch noch die Worte, weil sie immer sofort alles festlegen. Kein Wunder also, daß das Reden gerade dann besonders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst heikel erscheint, und wenn wir befürchten müssen, gar nicht verstanden zu werden oder uns vorschnell und falsch festzulegen.
    Oft haben wir uns selbst und die Situation noch gar nicht verstanden. Dann fehlen die Worte, so daß es unmöglich erscheint, überhaupt irgendetwas zu sagen, und trotzdem sollen wir uns erklären, bekennen und festlegen. Aber die unterschiedlichsten Motive, Emotionen und Wertvorstellungen liegen im Hader miteinander wie die glücklichen Götter Athens. In ihrer Gesamtheit verkörpern sie die Eigentümlichkeiten der verschiedensten Perspektiven und stehen dafür mit ihrem Charakter ein.
    Die Vielfalt dieser Möglichkeiten, ein– und dieselbe Sache auch ganz anders sehen zu können, macht gelingendes Verstehen so schwierig. Daher ist es nicht einfach, sich selbst zu thematisieren und die Verhältnisse systematisch zu erörtern. Das kann nur gelingen, wenn die unterschiedlichsten Momente zur Sprache gebracht werden, um sich über alle möglichen Motive und Emotionen zu verständigen. — Kultur und Zeitgeist spielen dabei eine ganz große Rolle, denn immerzu herrschen bestimmte Vorbilder, Vorstellungen oder Mustergültigkeiten vor und nicht selten sind Erwartungen oder auch Erwartungserwartungen wie beispielsweise Ideale und Wertvorstellungen im Spiel.
    Erst was zur Sprache gebracht, mitgeteilt und auch verstanden wurde, ist wirklich in der Welt. Alles andere ist und bleibt schemenhaft im Nebel aller Möglichkeiten zurück. Solange die richtigen Worte noch fehlen, besteht noch die Hoffnung, daß sie gefunden und zur Sprache gebracht werden. Wo aber bereits die falschen Worte ausgesprochen worden sind, dort beherrschen Irrtümer die Szenerie wie ein böser Fluch, was oft nicht einmal bemerkt wird. — Dabei ist es geradezu skandalös, was Worte den Phänomenen antun können: Sie spießen die Sachen wie Schmetterlinge auf, kleben ihr Etikett darunter und behaupten, man habe damit wirklich alles im Griff. Tatsächlich ist jedoch das Leben entwichen, die Seele ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

    Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
    Sie sprechen alles so deutlich aus:
    Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

    In diesem Gedicht aus dem Jahre 1897 beschwört Rainer Maria Rilke eine Angst vor dem definitorischen Gebrauch der Wörter, wie ihn nur Poeten und Phänomenologen teilen können. — Worte machen die Dinge verfügbar und verscheuchen den Geist, der uns eigentlich fasziniert. Man glaubt, sich erklären, sich verständlich machen zu müssen und erreicht nicht selten das Gegenteil von alledem, so daß sich Verstehen in Verfehlen verwandelt. — Daher sollte die Empathie im Hintergrund stehen, um zu erfühlen, ob die Worte tatsächlich auch tun, was sie sollen oder ob sie nur eigenmächtig über alles herfallen, was ihnen nicht paßt.
    Während die erste Strophe noch über die Angst spricht, wird in der nächsten die Anklage eröffnet um dann in der dritten den Apell vorzubringen, die Welt der Dinge gegen die Ansprüche des Benennens und Aussprechens in Schutz zu nehmen. — Ohnehin ist die Welt seltsam falsch motiviert durch Wahrnehmungsmuster, die mit der Moderne aufgekommen sind und die seither den Zeitgeist und damit das Sehen, Fühlen und Denken auf seltsame Weise verfälschen, so daß das das Lebendige stumm und das Starre lebendig erscheint.

    Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wissen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

    Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
    Die Dinge singen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Dinge um.

  • Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Empathie

    Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
    Hans Makart: Die fünf Sinne. Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.

    Wer sich mit Äußerlichkeiten zufrieden gibt und glaubt, auf dieser Grundlage bereits umfassende Urteile abgeben zu können, wird nur angepaßtes Denkens zelebrieren. Da ist dieser Hang, sich nie und nimmer persönlich auf die Sachen selbst einzulassen. Es scheint, als würde man bereits ahnen, daß viele Gefahren damit einhergehen, wollte man dem Anspruch auf persönliche Urteile tatsächlich gerecht werden. Aber nichts dergleichen findet wirklich statt: Das Denken wird nicht aufgeschlossen, sondern, noch ehe es überhaupt in Gang gekommen ist, sofort wieder stillgestellt und auf Üblichkeiten fixiert. Eigenes Denken, Aufmerksamkeit, Empathie, — alles was mit hohem, höherem oder höchstem Anspruch daherkommt, ist dann nur noch Attitüde.
    Die Kunst, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, kommt in der Regel nicht einmal im Ansatz zur Anwendung. In den herrschenden Diskursen geht es zumeist nur darum, sich gemeinschaftlich zu erregen, sich an Feindbildern zu orientieren, vor allem an jenen, die ganz gefährlich anders sind. Aber die eigentlichen Gefahren kommen gar nicht von außen, sondern von innen. Es sind Ängste im Spiel, die sich vor den unendlichen Weiten, vor den Unberechenbarkeiten und Ungewißheiten in der eigenen Psyche herrühren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar keine Gewißheiten sind, von denen wir getragen werden. — Wer sich wirklich auf das offene Denken einläßt, wird sich selbst überzeugen, überraschen, ja sogar überholen, wird immer weniger Parteigänger, wird sich stattdessen auf die Ängste im eigenen Inneren einlassen müssen.

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  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Motive der Mythen,  Religion,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Das erschöpfte Selbst

    Lucas Cranach der Ältere: Melancholie. Nationalgalerie,
    Kopenhagen.<fn>Public domain via Wikimedia Commons.</fn>

    Erläuterungen zur Psychogenese