Philosophie als Lebenskunst

Die Sonderrolle der Philosophie

Weil wir gern das große Ganze in den Blick nehmen, sind einige Attitüden der Gegenwart nicht gerade hilfreich. — Rationalismus, Materialismus und Szientismus verfügen über eine Autorität, die ihnen nicht zusteht. Sie weisen uns in unserem Ansinnen auf Hintergründe in der Regel einfach nur ab. 

Allenfalls bestimmte Erklärungsmuster werden anerkannt. So entsteht der Eindruck, alles andere sei nichtssagend. Aber das täuscht, denn die Angst vor der Metaphysik ist spürbar, ebenso wie die Dürftigkeit der Erklärungen, die so gar nichts mehr vom Entdecker–Geist der großen naturwissenschaftlichen Epochen haben. 

Tatsächlich werden unsere Fragen nicht beantwortet, allenfalls abgefunden, abgelenkt und nicht selten sogar als „unwissenschaftlich” zurückgewiesen. Derweil inszeniert sich der Szientismus als allgemein verbindliche Weltanschauung. — Als wäre eine bestimmte Vorstellung von Wissenschaft inzwischen an die Stelle der Kirche getreten, wird inzwischen mit ähnlichen Sanktionen operiert, etwa wenn Exkommunikation gegen Andersdenkende und Kritiker verhängt wird. 

Auch manche Philosophen versuchen, solchen Erwartungen zu entsprechen und verspielen, was Philosophie eigentlich ausmacht, was sie immer sein und bleiben wird: Philosophie läßt sich nicht einschränken, weder auf politische, gesellschaftliche, noch auf wissenschaftliche Ideologie. — Sokrates hat das demonstriert, als er den Schierlingsbecher nahm.

François Xavier Fabre: Der Tod des Sokrates (1802).

Alles war zur Flucht vorbereitet. Der Wächter war bestochen, die Pferde standen bereit, aber Sokrates floh nicht. — Wäre er geflohen, um sein Leben zu bewahren, er hätte allem widersprochen, was ihm zeitlebens lieb und teuer war.

Sokrates wäre zur Witzfigur verkommen, die nur redet, im Zweifel aber einzig um den persönlichen Vorteil besorgt wäre. — Aber Sokrates entschied im Sinne seiner Lebenskunst. Er hat alles gegeneinander abgewogen und ist dann zum Entschluß gekommen, lieber zu sterben, als sich selbst zu demütigen. 

Lebenskunst ist die Praxis der Philosophie, entscheidend sind konkrete Fragen der richtigen Lebensführung. Dabei geht es um Anerkennung, Glück, Selbstsorge, Werte und Askese. — Gerade Werte spielen eine bedeutende Rolle, denn es kommt immer darauf an, was, wogegen abgewogen werden soll. Und bei alledem geht es um eine Urteilsfähigkeit, die in der Lage sein soll, gerade auch in heiklen Fragen noch begründet und nachvollziehbar persönlich zu entscheiden. 

Philosophie ist wandlungsfähig. Sie kann als Wissenschaft, Geschichte, als Literatur oder auch Kunst auftreten. Derweil verfügt sie über direkte Zugänge ins Zentrum jeder erdenklicher wissenschaftlichen Disziplin. Sie hat diesen Zugang, weil sie gewissermaßen bei der Geburt aller Wissenschaften nicht unbeteiligt war. — Aber auch weit darüber hinaus, etwa in Bereichen von Kunst,  Ästhetik, Meditation oder auch Trance kann sie heimisch werden.   

Philosophie als Lebenskunst verfolgt eigene Ziele und geht eigene Wege. Es wird immer wichtiger, Alternativen in der Expertokratie zu bieten. Sich wirklich gut beraten zu lassen, ist selbst eine Frage der Lebenskunst. — Weniger unser Körper oder gar unsere Materie sind entscheidend, wesentlicher sind unsere Psyche mit Leib und Seele. 

Wenn eine glückliche Existenz unser Ziel ist, dann sollten wir uns auch des Ästhetischen bedienen. Schönheit ist keine Nebensächlichkeit, sondern die heimliche Seele dessen, was uns begeistern und beseelen kann. Dann entwickeln sich so anspruchsvolle, ganz besondere Qualitäten wie Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Authentizität zwanglos und fast schon wie von selbst.