Der Corona-Diskurs als Katharsis
Erscheint im Herbst 2021
Seit Urzeiten waren Menschen fast immer auf Wanderschaft. Aber vor 12.000 Jahren kam die Seßhaftigkeit auf, also Städte, Kriege, Reichtum, Armut, Hochkultur, Luxus, Elend und Epidemien.
Innerhalb weniger Monate hat sich ein Virus weltweit ausbreiten können. Fast überall wurde der Ausnahmezustand ausgerufen mit tiefen Eingriffen in Grundrechte. Der Shut–Down schien vielen als einzig mögliche Konsequenz, ein Diskurs fand gar nicht erst statt.
Eine Riege auserwählter Virologen und Epidemiologen insinuierte die Richtlinien der Politik und diese betätigte darauf den Not–Aus–Schalter. Ganze Länder sind seither in Agonie, mit immensen Folgen für die Existenz, die Kultur und nicht zuletzt für die Psyche.
Dieses Buch wurde Mitte März 2020 in der Absicht begonnen, dem Zeitgeist eine Nasenlänge voraus zu sein, anfangs noch in der Erwartung, die Corona–Krise sei zwar eine lehrreiche Episode, aber bald schon wieder vorüber. Es galt, die Entwicklung im großen Ganzen zu verstehen, was war und sein würde, welche Verluste zu beklagen, welche sozialen, persönlichen, psychologischen und seelischen Katastrophen zu bewältigen sind. Dazu zählen neue Ängste, die bleiben, Traumata, die akut wurden und solche, die neu geschaffen worden sind. — Wie werden wir mit den vielen persönlichen Schicksalen umgehen in der Welt, die nach Corona kommt?
85% eines Eisbergs liegen unter Wasser, so verhält es sich hier auch. Unsere Diskurse sind oberflächlich, bei weitem nicht umfassend und sie gehen nicht in die Tiefe. Wir haben nur den sichtbaren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, worauf zu achten wäre. Nicht minder entscheidend sind alle erdenklichen weiteren Folgen, kulturelle, existentielle und vor allem auch die psychischen und sozialen Nebenwirkung sämtlicher Maßnahmen.
Man bekommt das Ganze gar nicht erst in den Blick. Die herrschende Strategie wird wie üblich als alternativlos hingestellt. Weil viele Ängste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schicksalsergebenheit hingenommen, die gar nicht angebracht ist. — Auch wird immer wieder konstatiert, man dürfe Menschenleben nicht aufrechnen, aber genau das geschieht die ganze Zeit. Es werden andauernd heikle Entscheidungen in Ziel– und Wertkonflikten gefällt aber nicht offengelegt.
Es fehlt das Gespür für die angemessene Art, ergebnisoffene Debatten zu führen. Unsere Gesprächskultur hat sich im Zuge der Krise weiter verschlechtert. Mehr denn je wird Gesinnungskontrolle betrieben, Verunglimpfungen sind fast schon salonfähig geworden. Viele sind eingeschüchtert und wagen gar nicht mehr, sich überhaupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phantasie und Diversität in den Debatten, weil ständig mit Exkommunikation bedroht wird, wer auch nur Anstalten macht, in Alternativen zu denken. — Man kann allerdings die Maßnahmen kritisch sehen, ohne Corona zu leugnen. Die Kurzformel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidioten, Aluhut–Trägern und die Diffamierung jedweder Kritik ist zutiefst undemokratisch. Das alles sind keine Anzeichen für einen moralischen Fortschritt, ganz im Gegenteil.
Die monatelange Engführung der Debatten ist verheerend, so kann gar keine Vernunft in den Diskursen aufkommen. Nur bestimmte Perspektiven sind überhaupt zugelassen. Wer anderes anspricht, läuft Gefahr, exkommuniziert zu werden. Es ist ein Klima der Einschüchterung entstanden, dabei käme es darauf an, alle erdenklichen Alternativen offen und öffentlich zu diskutieren. — Das gilt insbesondere für Restaurants und Kultureinrichtungen, die längst bewiesen haben, daß sie es können. Man läßt sie nicht, warum?
›Sorge‹ ist oft gar nicht so selbstlos, wie sie sich gibt. Sie spiegelt sich gern selbst und glaubt, unverzichtbar zu sein. Dabei steht sie der tatsächlichen Entwicklung nur im Wege. Die Politik möchte ganz offenbar nichts von der neu hinzugewonnenen Macht wieder abgeben. Dagegen spricht neben der Gewaltenteilung ein weiteres Prinzip, die Gewalt staatlicher Macht einzuschränken, die Subsidiarität. — Demnach wird ein Problem generell zunächst auf der untersten Ebene gelöst, also individuell, familiär oder in der Gemeinde. Erst dann, wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, sollen, dürfen und müssen staatliche Institutionen eingreifen.
Für viele gibt es ausschließlich die Kategorien Richtig und Falsch. Was bedeutet diese Polarisierung für das Funktionieren der Gesellschaft? Das Beharren auf diese Unterscheidung entspricht einer bestimmten Entwicklungsstufe bei Kindern. Das Differenzierungsvermögen ist dann noch nicht so weit entwickelt. Tatsächlich ist aber erst dann die Übernahme persönlicher Verantwortung möglich. Je weniger Regeln vorgegeben sind, sondern nur noch Prinzipien, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils angemessen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.
Die schwarze Pädagogik setzte da noch ganz auf Strafen, was nur dazu führt, die Intelligenz herauszufordern. Dann werden Regeln nicht aus eigenen Motivation eingehalten, sondern nur, weil man nicht erwischt werden möchte. So wird genau derjenige Untertanengeist erzeugt, den wir eigentlich hatten überwinden wollen. Schwarze Pädagogik, die mit Zwang und Strafe operiert, ist seit Jahrzehnten passé. Aber in Politik und Staat sind die alten Zöpfe aus dem Kaiserreich offenbar noch immer nicht abgeschnitten. — Selbstverantwortung ist eine Frage der Kultur, sie muß eingeübt und dann ausgeübt werden, weil man ganz gewiß immer mal an Grenzen stößt, über die die Entwicklung hinausführen muß.
Viel halten es aber nervlich nicht aus, sich selbst zu orientieren und das Denken in der Schwebe zu halten. Manche sehen sogar eine Schwäche darin, wenn nicht sofort entschieden und gehandelt wird, egal wie. Aber die, die das eilige Handeln versprechen, verfolgen oft ganz andere Interessen. — Noch immer herrscht die Vorstellung vor, beim Diskutieren ginge es ums Hauen und Stechen. Dabei fehlt das Lächeln der Weisen und die Freude daran, gemeinsam ein neues Denken zu entwickeln, um damit sehr viel mehr zu verstehen als jemals zuvor.