Philosoph mit Wohnmobil

Ein Karlsruher Hochschul–Dozent
studiert an Münsters Hafen das Leben

Dieser Mann lehrt als Dozent an der Universität im baden-württembergischen Karlsruhe. Aber den Philosophen zieht es immer wieder ins westfälische Münster. Dort lebt Dr. Heinz-Ulrich Nennen in einem Wohnmobil direkt am Ufer des alten Industriehafens. „Sonntags gehen die Menschen hier anders“, sagt er. Dann flanierten sie – während sie in der Woche hetzten. Aber das ist nur ein Beispiel des Hafenlebens, das Nennens Vorlesungen schreibt.

Morgens, so gegen fünf Uhr, da findet er es hier am schönsten. „Wenn sich der Hafen im glatten, stillen Wasser spiegelt“, erzählt er verträumt, „da erlebt man diesen Mikrokosmos gleich doppelt.“ In diese „kleine eigene Welt“ zieht sich Dr. Heinz-Ulrich Nennen seit fast vier Jahren gerne zurück. Er hat Familie und Wohnung in Unna und einen Lehrauftrag in Karlsruhe. Aber sein Zuhause steht hier: Ein amerikanischer „Winnebago“.

Ein Wohnwagen Baujahr 1988, 11,20 Meter lang, geparkt direkt am Kanalufer gegenüber der Hafen-Gastronomie. „Gegen halb sechs bringt die erste Welle das Leben zurück. Ganz langsam kommt sie herein. Man kann zuschauen, wie sie geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Worte pointiert betont.

Dabei mag man eine gewisse Sehnsucht nach Stille in seinen dunklen, stets offenen Augen erkennen. Aber Nennen ist keiner, der das Leben scheut. Den Tag über war er auf einer Philosophen-Tagung in Essen. Erst seit wenigen Minuten ist er zuhause. Schick in schwarz gekleidet sitzt er am Schreibtisch. Auf dem Fußboden Laminat, an den Wänden Schränke in Eiche massiv. „Hier fühle ich mich daheim“, sagt er, kocht sofort einen Tee und erzählt.

Auf dem Tisch steht noch das Rotweinglas, direkt daneben die ausgebrannten Teelichter von vergangener Nacht. An den Wänden hängen goldige Lampenhalter mit Faltschirmchen. Schnell erkennt man: Nennen ist kein Camper. Auch nicht der Typ, der romantisch am Lagerfeuer grillt. „Ich will auf keinen Luxus verzichten“, sagt er. Nennen ist vielmehr ein Feldforscher mit mobilem Wohnbüro – ausgestattet mit UMTS-Laptop, Navigations-Touchscreen, Schlafzimmer, Dusche und eigenem Stromgenerator. Außer Spül- und Waschmaschine ist alles an Bord. Nennen: „Ich kann hier zehn Tage autark leben. Dann sind die Wasser-, Gas- und Benzintanks leer.“

Früh tauchte der Rheinenser in Münster auf, ging hier zur Schule, studierte und promovierte vor knapp 20 Jahren – „mit summa cum laude“ – an der philosophischen Fakultät. Er dachte, die Arbeitswelt reißt sich um ihn, wenn er sich bewirbt. Aber sie drehte sich auch ohne ihn weiter. Die erste Zeit war er arbeitslos, dann unterrichtete er angehende Polizisten in Ethik und forschte für zehn Jahre in einem Stuttgarter Institut rund um die Folgen der Atomkraft.

Schließlich habilitierte er über die Sloterdijk-Debatte. Nennen: „Das war Philosophie in Echtzeit. Ich habe alles aus dem Moment heraus analysiert.“ Dieses Prinzip hat er sich bis heute zu eigen gemacht. Seine Vorlesungen an der Uni Karlsruhe schreibt er jede Woche neu – oft nachts am münsterschen Hafenufer. Seine Themen: „Empathie“, „Psyche“ oder „Selbstverständigung“.

Zwischendurch grüßen Spaziergänger und Hafenmeister. Die Leute hier kennen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohnwagen beobachtet er sie, studiert sie und findet den Stoff für seine Studenten. Nennen: „Der Hafen ist unberechenbar. Mal wacht man auf, da ist Triathlon. Mal kommt doch noch ein Güterzug.“ Und mal erhöhen die Tanzjünger im Heaven den Beat. Das erinnere ihn immer an Kinder von Fließbandarbeitern: „Sie suchen das Band, vielleicht auch einen Lebensrhythmus. Um drei Uhr wird immer der Arbeitstakt erhöht.“

Nicht nur bei den Tänzern – auch im Wohnwagen: „Ich brauche Rummel. Der inspiriert mich.“ Nachdenklich stützt er den Kopf auf die Hand und krault durch seinen ergrauten Bart. Da ist sie, die nächste Idee.

Erschienen in: Münstersche Zeitung (20. September 2008)