• Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Leib,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Seele,  Theorien der Kultur,  Traum

    Was ist Bewußtsein?

    Beobachtung, Bewertung und Beurteilung 

    Unsere Sprache macht uns vieles möglich: Wir können einander durch Erzählen mitteilen, was wir erlebt und erfahren haben. — Allein durch Zuhören läßt sich bereits manches lernen.

    Gastón Charó: Obras sobre papel (2020). Via: Wikimedia.

    Wir können vieles zum Objekt unserer Beobachtungen machen. Es zählen dabei nicht nur die gemachten Erfahrungen, sondern auch die Art und Weise, wie etwas in Erfahrung gebracht wurde. 

    Darüber hinaus lassen sich nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Selbstwahrnehmungen zur Sprache bringen. Wir arbeiten dabei mit Übertragungen, um uns beim Verstehen an die Stelle anderer versetzen zu können. — Der Dialog ist die Königsdisziplin solcher Begegnungen, die tiefgreifend sein können.

    Sobald neue Erfahrungen ins Spiel gebracht werden, tun sich auch neue Differenzen auf. — Phänomene werden „von innen“ ganz anders erlebt, als wenn wir sie nur „von außen“ betrachten. Dann wird uns bewußt, daß wir den Standpunkt wechseln müssen, um zu verstehen. 

    Es ist ein großer Unterschied, anderen nur zuzuschauen oder aber selbst aktiv zu werden. Wer nur beobachtet, hat zwar eher einen unvoreingenommenen Blick, aber keine wirkliche Vorstellung davon, wie es ist, selbst zu handeln. — Zu handeln bedeutet, einen Entschluß zu fassen, der dann aber auch kritisiert werden kann. 

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    Im Dialog

    Schwebendes Denken

    Sprache erlaubt uns, einzelne Sichtweisen und Urteile der Reihe nach durchzuspielen. Jede einzelne Hinsicht soll ihren großen Auftritt haben. — Verstehen ist eine besondere Weise des Miteinanderseins. 

    Paul Klee: Abenteurerschiff (1929).

    Im Dialog zelebrieren wir unsere Einfühlungsvermögen, jeder einzelnen Perspektive ihre Eigenart zuzugestehen. — Aber Verstehen ist mit Aufwand verbunden, daher fragen wir uns oft, ob es aussichtsreich sein kann, uns auf neue Perspektiven näher einzulassen. 

    Entscheidend sind umfassende Einblicke in die Hintergründe. Wir erwarten schließlich von uns einen hohen Grad an Aufmerksamkeit, um dann souverän darauf zu reagieren. — Unser Bewußtsein erlaubt uns, von uns selbst zu wissen, daß und was wir wissen.

    Daher spielt Sprache eine außerordentliche Rolle. In Dialogen und Diskursen verständigen wir uns darüber, wie sich Wahrnehmungen machen lassen, was sie bedeuten und wie mit möglichen Widersprüchen umgegangen werden kann. — Jedes Bewußtsein lebt in einer eigenen Welt und manche davon sind eigentümlich. 

    Das Durchspielen von Möglichkeiten und das Erwägen entscheidender Hintergründe ist eine anspruchsvolle Kunst, die ihre Anregungen von weit herholt. Aber dazu verfügen wir über Mythen, Symbole und Geschichten, so daß es möglich ist, jede davon als eigene Innenwelt zu erleben.

    Allerdings haben neue Perspektiven oft auch etwas Ketzerisches. Sie nehmen nicht die gebotene Rücksicht auf etablierte Standards und gehen stattdessen unvoreingenommen vor. — Sie möchten sich bewähren, was oft zu Überraschungen führt, mit denen niemand rechnen konnte. 

    Dazu müssen mitunter fundamentale Ängste überwunden werden, weil mancher Gedanke an etwas rührt, das vielleicht noch nie zur Sprache gebracht wurde. — Das wiederum können jedoch viele gar nicht ertragen. Sie möchten bei einem möglichst einfachen, oft auch beim bereits gefällten Urteil bleiben. 

    In neuem Licht betrachtet wirkt manches höchst bedrohlich. Deshalb ist es so bedeutend, sich auf den Weg zu begeben, um die neuen Erfahrungen nicht nur zu machen, sondern auch zu verstehen. — Wir können ganze Welten in Erfahrung bringen und erläutern, warum sie sich wie verhalten. Aber diese Vielfalt bringt auch Unsicherheit mit sich.

    Hinter den Kulissen steht das „Selbst”, es sorgt sich um Integrität. Wir sind in Geschichten verstrickt und setzen sie auch wie Masken auf, weil wir ins selbst anhand unserer Geschichten verstehen. — Wir identifizieren uns mit unserem Selbst und seiner Geschichte. Mithilfe dieser Instanz versuchen wir uns auf Selbstkonzepte, die im Dialog gesucht werden.

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    EPG II a

    Oberseminar

    EPG II a – Online

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2023 | donnerstags | 14:00-15:30 Uhr | online 

    Beginn: 20. April 2023 | Ende: 27. Juli 2023

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden.

    Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

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    EPG II b

    EPG II b (Online und Block)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2023: 5 Seminare online | freitags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Workshops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
    jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91-012.
     
    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

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    Was soll man(n) tun, wenn “die” Frau wütend ist?

    Wer zu “woke” ist, den bestraft das Leben

    Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der ehrenwerte und letzte Staatspräsident der Sowjetunion, hatte bekanntermaßen ein äußerst inniges Verhältnis zu seiner Frau Raissa Maximowna Gorbatschowa.

    Man hat ihn später hier in Münster desöfteren am Aasee spazieren gesehen, als seine Frau, übrigens eine Philosophin, mit dem Krebs kämpfte.

    Jean-Léon Gérôme: Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen (1896).

    Beide kannten sich lang und waren, wie es nur wenige Paare fertig bringen, wirklich ein Team. In ihr hatte er eine unbestechliche Ratgeberin, so wie es Platon idealisiert hat. Er stellt die Philosophenkönige vor wie welche, die einfach deswegen nicht bestechlich sind, weil sie schon “alles” haben, was nicht mit Geld zu bezahlen ist.

    Gorbatschows Verzweiflung über ihren Tod dürfte nicht minder groß gewesen sein, wie die angesichts der schier unlösbaren Aufgabe, den Saurier Sowjetunion mit einem heimtückisch taktierenden Westen im Nacken dennoch wieder auf Kurs zu bringen. Von wegen keine Osterweiterung der NATO, von wegen “gemeinsames Haus Europa”.

    Ein Putsch machte alle Hoffnungen zunichte und brachte einen Trunkenbold wie Jelzin ans Ruder und Oligarchen, die sich das ehemalige Volksvermögen unter den Nagel gerissen haben. Im Windschatten dieser Verwerfungen fand Putin als Nachfolger seinen Weg zur Macht, der das alles natürlich als demütigende Katastrophe empfunden hat.

    Aber nun zur Frage: Was hat Gorbatschow gemacht, wenn Raissa Maximowna Gorbatschowa wütend war? Er hat es in einem Interview selbst ausgeplaudert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Empfehlung, was denn nun männlicherseits zu tun sei in solchen Fällen, wenn “die” Frau außer sich ist vor Wut.

    Er habe sie in seine Arme genommen und fest umschlossen, um sie auch bei Gegenwehr ganz nahe bei sich fest zu halten, bis alles wieder gut war. — Das scheint in der Tat hilfreich zu sein, denn ich habe gesehen, daß es insbesondere bei Kindern und Menschen in psychischen Ausnahmezuständen positiv wirken kann. Einfach nur halten, bis wieder gut ist.

    Der Grund dürfte darin liegen, daß die Wut hier selbst zum Ausdruck gebracht werden darf. Sie wehrt sich anfangs gegen den äußeren Widerstand der Umklammerung und wird immer stärker, bis sie sich wie durch ein Ventil endlich wieder abbauen kann, weil sie ja nun ihren Ausdruck gefunden hat.

    Aber wie es in diesen desorientierten Zeiten üblich ist, werden manche ganz gewiß jetzt Zeter und Mordio schreien: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau? — Oh je.

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben. — Die Formulierung stammt übrigens nicht von ihm, sondern von einem seiner Sprecher. Das geflügelte Wort wurde zum Orakelspruch. Es fiel auf einem informellen Treffen mit Pressevertretern beim Staatsbesuch von “Gorbi” in Ostberlin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

    Damit ist auch etwas daüber gesagt, was das Leben ausmacht. Es bietet Gelegenheiten, die vertan sind, wenn sie nicht ergriffen werden. – Wir sollten Möglichkeiten für unsere Sehnsüchte daraus machen, die tief in uns schlummern, um wachgeküßt zu werden.  

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    Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

    Narzißmus als Selbst–Konzept 

    Der Umgang mit der Figur des Narziß läßt zu wünschen übrig. Oft werden Diagnosen vorgebracht, wie sie üblich sind von Liebenden, die sich verschmäht sehen. Dann ist auch noch von toxischen Beziehungen die Rede, um die Fehler beim Geliebten zu finden. Aber zuletzt täuscht nichts darüber hinweg, daß Besitz-Ansprüche oft als Ausdruck von Liebe kaschiert werden.  

    Schönheit mag erstrebenswert sein, zu viel davon kann wird aber zu einem ganz großen Problem werden. Narziß hat dieses Handikap schon seit frühester Kindheit und daß ist der dramatische Kern dieser mythischen Figur. — Er ist einfach zu schön.

    Er ist derart schön, daß alle außer sich sind und ihn berühren, besitzen und sich vor allem mit ihm zeigen wollen. Aber niemand interessiert sich für ihn als Person.  Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

    Diese Schwierigkeit hat er weder in Kindheit, noch in der Jugend bewältigt könne. Und jetzt, wo er ein junger Mann ist, in den sich alle unentwegt unsterblich verlieben und ihn verfolgen wie einen Superstar, ist es eigentlich zu spät. — Narziß hat sich inzwischen eine äußerst schroffe Art der Zurückweisung zu eigen gemacht. 

    Er wehrt Verliebte nicht einfach nur ab, sondern versucht sie mit heftigsten Worten zu verletzen.  Mit möglichst schroffen Reaktionen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schuldig ist, sie alle einfach nur abzuwehren. — Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie kennen gelernt, weil ihm immer andere dazwischen kamen. 

    Insofern wird man als Außenstehender fragen, ob das denn nun wahre, ehrliche, echte Liebe sein kann, was da an einnehmenden Begehrlichkeiten an den Tag gelegt wird. Er ist schließlich einer, der darunter leidet, daß er an Aufmerksamkeit zu viel hat und nichts davon will. — Also stößt er die ihn vermeintlich Liebenden der Reihe nach regelmäßig heftig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, warum sollte er sich lieben lassen? Er muß die enttäuschen, die ihn erklärtermaßen lieben. Er will nicht geliebt werden, weil er Liebe als Vereinnahmung empfindet. 

    Ein Verehrer will ihm ein Schwert schenken. Narziß weist ihn derart heftig zurück, so daß dieser die Götter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit diesem Schwert tötet. — Und tatsächlich machen es sich die Götter zu eigen, den Verschmähten in seiner Liebeskrankheit zu rächen. 

    Die Begegnung mit der Nymphe Echo ist bereits Teil des göttlichen Plans.— Hera hatte ihr die Stimme genommen, weil diese sie damit täuschen wollte, um Zeus ein Alibi zu verschaffen, als dieser in Liebesangelegenheiten unterwegs war. — Echo kann also nur noch wiederholen, was bereits gesagt worden ist. 

    Narziß verirrt sich auf der Jagd und trifft auf die Stimme der Nymphe, die sich augenblicklich verliebt und sehr bald voller Hoffnung ist. Ihr ganzes Auftreten läßt an ein Groupie denken, das bei einer Begegnung mit ihrem Star völlig außer sich ist und nur noch stammeln kann. — Aber sie täuscht sich, stattdessen kommt nur eine schroffe Abweisung des unter seiner eigenen Attraktivität leidenden jungen Mannes: Lieber würde er sterben, als sich von ihr auch nur umarmen zu lassen. 

    John William Waterhouse: Echo und Narcissus, 1903.

    Nun fragt man sich schon, ob so heftige Reaktionen wirklich notwendig sind. Aber man sollte nicht vergessen, daß Narziß nichts anderes kennt, als dauernd wegen seiner äußeren Vorzüge begehrt zu werden, während sich für ihn selbst in seiner Person niemand interessiert. — Er hat sich in seiner eigenen Person gar nicht entwickeln und entfalten können. Es wurde ihm alles geschenkt, aufgedrängt, aufgenötigt, nur weil er schön und begehrenswert ist. 

    Darauf passiert, was der blinde Seher Teresias dessen Mutter bereits prophezeit hatte, als diese wissen wollte, ob er ein langes und glückliches Leben vor sich habe. — Solange er sich selbst nicht kennen lernt, ja, so lautete die rätselhaften Auskunft. 

    Genau das sollte jedoch geschehen. Er sollte sich kennen lernen, weil die Götter ihre Hände bereits im Spiel hatten. Er verliebte sich aber nicht einfach in sich selbst, das ist nur die kindliche Variante in der Deutung des Mythos. Als würde er den Spiegeltest nicht bestehen und nicht einmal sich selbst erkennen können. — Das Drama ist tiefgründiger, weil Narziß offenbar etwas tut, was “die Jugend” seinerzeit erstmalig zeigte. Von einem neuen Wahn ist die Rede, sich fortan auf sich selbst zu konzentrieren, aber die alten und ehrenwerten Sitten und Gebräuche links liegen zu lassen. 

    Narziß weigerte sich, den üblichen Weg eines jungen Mannes zu gehen. Er will nicht mit einem erfahrenen Mann als sein Mentor für einige Zeit in die Wildnis gehen, um dort vom Jungen zum Mann zu werden. — Denn was brauchte es, um ein “vortrefflicher Mann” zu werden? Doch wohl urbane Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Reden, Verhandeln und Verträge aushandeln können. Man braucht Erfahrungen in der Länderkunde aber weit weniger solche in der Natur. 

    Narziß beginnt also, sich nicht mehr im Äußeren zu suchen, sondern im eigenen Inneren. Und er trägt den Namen einer Narzisse, weil auch diese ihren Kopf so hängen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst versunken, um sich zu “bespiegeln”. — Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Narzißmus ist insofern eine Diagnose, die auf diejenigen zutrifft, die aus einer solchen Selbstversenkung nicht wieder herauskommen. 

    Michelangelo Merisi da Caravaggio: Narziss, 1594ff.

    Tatsächlich hat dieser tragische Mythenheld aber erstaunliche Potentiale, die ihn dieser Tage zum Leitbild einer Diagnose über den Zeitgeist werden lassen, die es in sich hat: Wir haben einen Paradigmenwechsel zu verzeichnen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

    Das Über–Ich ist, der Terminologie von Sigmund Freud zufolge, eine Repräsentation des “Vaters” im Sinne einer autoritären Welt, in der Tradition und Sitte noch ganz strenge Grenzregime bewachten und sanktionierten. Wehe denen, die da aus irgendwelchen Rollen fallen und aus der Reihe tanzten! Und genau solche Diagnosen folgen dann auch: Narzißmus. 

    Das Über–Ich hat mit der Figur des autoritären Gottes, Königs, Ehegatten und Vaters vor allem eine Ausprägung, es ist eine unerbittliche höchst richterliche Instanz, die andersartige Identitäten gar nicht erst aufkommen läßt. Alle erdenklichen Wünsche und Traumgespinste sind sanktioniert und allein der Wunsch danach kann zu katastrophalen Selbstbestrafungen führen, die sich in unterschiedlichen Symptomen äußern.

    Das war solange der Fall, wie Sittenstrenge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbstverständlich zu sein schienen und die, die sie hatten, sich lieber selbst etwas antaten, als dazu auch öffentlich zu stehen. 

    Aber eigentlich wird diese Geschlechterordnung schon mit dem 1. Weltkrieg ganz erheblich gestört. Viele Männer zogen freudig in den Krieg, wie Hooligans, die sich verabredet haben, ihre Kräfte zu messen. Aber der Krieg war inzwischen hoch technisiert worden, man landete in den Schützengräben und verlor ganz und gar, was Männer bis dato noch glaubten für sich beanspruchen zu dürfen, diesen gewissen Schneid, der gern vorgeführt wird, dem die Uniformen dienen sollen und der angeblich bei Frauen sehr gut angekommen sein soll. 

    Im Grunde war das Ende des martialischen Männlichkeitsgehabe eigentlich schon mit dem Ersten Weltkrieg eingeläutet. Aber die Lektion mochte nicht wirklich verfangen, also “brauchte” es noch einen Zweite Weltkrieg, bis endlich ein anderer Geist zugelassen wurde, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hippies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glaubens legitimierte.  

    Tatsächlich kam es nur zum Bruch mit dem Überkommenen, aber nicht zu einem alternativen Weg. Das Autoritäre war verpönt, das Patriarchale wurde immer verpönter und dennoch kam nicht wirklich so etwas wie eine Alternative zum Über–Ich auf, das die Geschicke bisher so restriktiv gelenkt und geleitet hatte. 

    Man sollte sich etwas Zeit nehmen und auf sich wirken lassen, was da zu diagnostizieren ist über diesen Paradigmenwechsel im Zeitgeist. — Die Patriarchen stehen schon seit geraumer Weile nicht mehr wie die Legionsführer in ihren Überwachungskanzeln, von denen sich alles überblicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabriken, diese Chef–Büros mit großen Fenstern nach überallhin und mit Blick auf den Hof. Aber heute sind dort die Werkstätten von Künstlern.  

    Interessanterweise wurde ein Großteil der Überwachung nicht nur ins Innere, also in die Psyche verlegt, sondern auch individualisiert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu überwachen, unser eigener Chef zu werden, dauernd an uns zu arbeiten, um ein anderer, besserer, erfolgreicherer Mensch zu werden und dann auch zu sein. — So erklärt sich auch, warum die Selbstausbeutung jeder Ausbeutung den Rang abläuft. 

    Die “Generation Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Privatleben für sich beansprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kontrolle zu haben, denn das ist mitnichten der Fall. Wir sind zu unseren eigenen Ausbeutern geworden und das Planziel ist nicht mehr das, was sich gehört. — Es geht vielmehr um das Erfüllen von Zielen, die vom Ideal–Ich ausgehen. Nicht wenige sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

    Der Narzißmus ist eine gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: “Du mußt mehr werden, als du bist, du mußt zu deinem Ideal werden.” Allerdings ist das Prinzip dahinter höchst unsozial, es geht nur noch um den persönlichen Erfolg, um das Erringen von äußerlichem Status und mondäne Luxus-Symbole, wie sie die Werbung als Ersatzdrogen längst parat hält.

    Wir sind in eine neue Phase der Prädestinationslehre geraten. Max Weber hat darauf seine Theorie des Kapitalismus entwickelt, daß der Erfolg des bürgerlichen Kaufmanns selbst ein Zeichen sein sollte dafür, von Gott auserwählt worden zu sein, weil ja jetzt schon, im irdischen Leben einiges an Erfolg offensichtlich geworden ist. 

    Jetzt machen sich viele selbst unglücklich mit Zielen, die nicht wirklich zu erreichen sind. Und der Gott, der da die Zeichen gibt, daß man zu den von ihm Auserwählten gehört, ist die narzißtische Variante eines Ideal-Ichs, dem es vor allem darum geht, daß die Show stimmt. 

    Der neue Paradigmenwechsel in der Selbstkontrolle ist einerseits zu begrüßen, aber eine wirkliche Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genügen, ist nicht wirklich geringer, sondern sogar sehr viel größer geworden. Jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr, nicht zu genügen, weil man Idealen entsprechen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt. — Das Über–Ich wurde abgelöst vom Ich–Ideal, das viel radikaler beschaffen ist, weil es keine Ausflüchte mehr duldet.

    Es ist gar nicht so einfach, dem tragischen Helden eines klassischem Mythos gerecht zu werden.  Zur Not kommt er uns zur Hilfe, auf daß wir uns selbst besser verstehen. 

    Siehe hierzu: Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Paul Zsolnay Verlag, 2022.

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    Burnout der Gesellschaft

    Über die Macht der Medien und das
    Unbehagen in der Kultur

    Seit Jahrmillionen erklären, verständigen und deuten Menschen sich mithilfe von Sprache, in Dialogen und Diskursen, vor dem Hintergrund spiritueller, religiöser oder und später auch philosophischer Weltanschauungen. — Vor etwa 6000 Jahren kommt zuerst die Schrift auf, dann der Buchdruck und schließlich die Digitalisierung.

    Die Schrift macht potentiell alle Menschen zu Lesern, verbunden mit dem Anspruch auf Bildung, Geschmacks- und Urteilsfähigkeit.  Und mit dem Internet werden nun prinzipiell alle Menschen zu  Autoren. — Eine neue Medienrevolution, die dem des Buchdrucks in nichts nachsteht, hat soeben erst begonnen…

    Wir erleben nur den Anfang dieser Zeitenwende und sind jetzt schon maßlos überfordert.  Das alles führt zum Burnout der Gesellschaft, zum Verlust der Dialogfähigkeit und zum Rückfall in längst überwundene Zeiten. Die neuen Herausforderungen könnten nicht größer sein:  Wir müssen den Umgang mit der neuen Vielfalt, mit den vielen neuen Möglichkeiten erst entwickeln, wir müssen uns weiter entwickeln.

    Gustave Doré: Die
    babylonische Sprachverwirrung, 1865ff.

    Das ist der heimliche Hintersinn solcher Krisen und Wendezeiten: Die Menschheit wird sich angesichts dieser neuen globalen Verbundenheit entweder weiter entwickeln oder im Chaos untergehen und dann zumindest einige Stufen herunterfallen in ihrer Entwicklung vom Tier zum quasi göttlichen Wesen.

    Derzeit verhält es sich wie mit der babylonischen Sprachverwirrung: Alle wollen reden und Gehör finden, aber niemand will mehr zuhören, um vom Verstehen ganz zu schweigen, denn dazu haben die meisten gar nicht mehr die Nerven.

    Bei alledem ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die offenbar von Anfang an hinter der Anthropogenese steht:  Es geht um immer mehr Individualität, Autonomie und Selbstorientierung, also um mehr Bewußtsein, Empathievermögen, Selbstbewußtsein und Geist.

    Die Natur hat im Menschen ein Auge aufgeschlagen, um sich selbst in den Blick zu nehmen. Dabei spielt Religion nach wie vor eine ganz bemerkenswerte Rolle, nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne. — Aber als Gespür für Höheres, insbesondere für Aufklärung und Humanismus, werden religiöse Motive noch über lange Zeit erforderlich sein. Denn was der Psyche gut tut, muß nicht unbedingt auch gut sein für die Seele.

    Die nächsten Stufen in dieser geistigen Höher-Entwicklung des Menschengeschlechts zeichnen sich bereits ab. Es geht um mehr Selbstbewußtsein, Geist und Selbstorientierung. Dazu aber sind sehr viel mehr Narrative erforderlich und sehr viel mehr Dialoge, in denen diese Narrative erst noch entwickelt werden müssen. — Jeder Mensch braucht seine individuelle Geschichte, um sich selbst erklären zu können. Das wesentliche dabei ist allerdings, in dieser Individualität auch verstanden zu werden.

    Der Eingang ins Verstehen läßt sich finden, indem wir unter den vielen Mythen diejenigen auswählen, die vielversprechend erscheinen, weil ähnliche Probleme verhandelt werden. — Das ›passende‹ Narrativ einer mythischen Begebenheit wird dann ›übertragen‹ auf unseren individuellen Sachverhalt.

    Wir verstehen nur auf dem Umweg über Analogien, in denen überzeitliche Erfahrungen niedergelegt worden sind, die dann im persönlichen Gespräch übertragen werden auf die eigene Individualität, den eigenen Individualismus als Konzept.

    Richard Geiger: Ariadne und Theseus, 1900.

    In diesem Fall scheint Ariadne hilfreich zu sein, weil sie sich generell mit Labyrinthen auskennt. Die Prinzessin von Kreta war Theseus dabei behilflich, sich im eigens für den stierköpfigen Minotaurus geschaffenen Labyrinth zu orientieren.

    Daß es sich beim Ariadnefaden aber um ein banales Wollknäuel gehandelt haben soll, ist nicht wirklich überzeugend. — Selbstverständlich steht es uns frei, im Zweifelsfall unzufrieden zu sein, insbesondere mit dem, was uns die kindsgerechten Lesarten bieten.

    Die Mythen sind von einer Kultur auf die nächste übergegangen, so daß wir über viele Möglichkeiten verfügen, in den Feinheiten zwischen den Varianten genauer zu lesen, um den darin verborgenen Sinn herauszulesen: Ariadne ist Schülerin der Circe, die wiederum auf die Isis zurück geht, einer überaus mächtigen ägyptischen Göttin der Zauberkunst.

    Wie Medea ist auch Ariadne bestens mit dem Zaubern vertraut, die Wege blockieren aber auch öffnen können. Dabei wird das Labyrinth bald zum Symbol für den Lebensweg, der oft in ausweglose Lagen führt aber nicht wieder heraus. — Die eigentliche Bedeutung von Ariadne liegt also darin, Orientierung zu bieten, gerade in Konstellationen, die etwas von einem Labyrinth haben.

    Der Zauber, mit dem Ariadne ganze Labyrinthe zu bewältigen hilft, liegt jedoch rätselhafterweise im Geheimnis von Schönheit. — Das Prinzip lautet: Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit.

    Auf diese geheimnisvolle Formel kommt der württembergische Bildhauer Johann Heinrich von Dannecker aufgrund seiner Studienreise nach Rom. Damit bringt er seine Inspiration auf den Begriff. — Der Geist seiner vorzeiten überaus populär gewordenen Skulptur: Ariadne auf dem Panther, offenbart eine philosophische Spekulation von ganz besonderer Bedeutung.

    Der Panther ist das Wappentier für den Wein– und Rauschgott Dionysos, der im übrigen nicht nur der Vorläufer von Jesus Christus in vielen Aspekten seiner Symbolik ist, sondern der dabei auch noch tiefer blicken läßt in die Tiefen einer bipolaren Psyche.

    Dionysos auf dem Rücken eines Panthers; links ein Papposilenus, der ein Tamburin hält; ca. 370 v. Chr., gefunden in Paestum.

    Dieser Gott der Ekstase hat selbst eine überaus komplizierte Vergangenheit, die macht ihn zum Borderliner macht. Sobald er auch nur den geringsten Verdacht spürt, er könnte eventuell auch nur schief angeschaut worden sein, greift er zu drakonischen, unerbittlichen und scheußlichen Racheakten, die völlig unverhältnismäßig sind.

    Da wird dann das, was diese Skulptur zu sagen versteht, zur frohen Botschaft über die Potentiale einer notwendigen heiligen Handlung: Ariadne bewältigt das Wilde, Rohe und Unmenschliche solcher Rachsucht durch Schönheit! Dieser Gedanke ist vor allem philosophisch von derartiger Brisanz, so daß ich sagen würde, versuchen wir es doch!

    Immerhin hat sich bereits Hannah Arendt an diesem Projekt nicht ganz vergeblich versucht, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln. — Wir sollten endlich wieder nach den Sternen greifen!

    Es gibt inzwischen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Vernunft als Meisterin der Multiperspektivität mit Ästhetik vorgeht, wenn es gilt, in irgendeiner Angelegenheit ›das Ganze‹ zu verstehen. — Erst dann kommen Dialoge und Diskurse wirklich zur Entfaltung, wenn alle, die nur Rechthaben wollen, endlich ergriffen werden und sich zu fassen versuchen.

    Es kann nämlich in der Ästhetischen Urteilskraft gar nicht mehr ums Rechthaben gehen. — Wir können nur noch an den Anderen appellieren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimmtes so empfinden wie wir, um dann auf die tieferen Beweggründe zu sprechen zu kommen, die sich einstellen, wenn man es versteht, sich endlich für Höheres zu öffnen.

    Im Mittelalter wurde die Höfische Gesellschaft auf ähnliche Weise geschaffen, als man die rauhbeinigen Warlords von Raubrittern auf ihren zugigen Burgen abbringen wollte, von ihrem lukrativen Tun und Treiben, nach eigenem Gesetz auf Beutezug zu gehen.

    Sie wurden nachhaltig ›gezähmt‹ im Minnesang, also durch Schönheit. — Für ihre Dame ihres Herzens opferten sie ihre Wildheit, ihr Ungestümtsein und wohl auch einen nicht unbeträchtlichen Teil einer Männlichkeit, die inzwischen manchen Frauen bei Männern fehlt.

    Es kommt darauf an, die Multiperspektivität mit allen ihren Zumutungen und Herausforderung zu würdigen in einer Welt, die immer mehr zum Amoklaufen neigt. — Irgendwas muß den ständig drohenden Irrsinn im Zaum halten. Und genau das macht sie, die Göttin der ästhetischen Urteilskraft: Ariadne.

    MP3 – Mittschnitt des Vortrags.

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    ‘Habitus’ bedeutet Charakter

    Bildung braucht eine Grundlage

    Ich habe noch immer den Eindruck, seit Beginn der Corona–Hysterie in einem Paralleluniversum gelandet zu sein.

    Im Nachgang verschieben sich die Bewertungen dieser Panther–Zeit, in der man die Gitterstäbe der Angst–und–Moral–Republik ständig vor Augen hatte. — Viel zu viele haben sich in diesen Jahren um Kopf und Kragen geredet.

    Aber meine Bewertungen dieser Massenpsychose verschieben sich inzwischen nicht mehr so stark, und ich muß zugeben: Das Resultat dieser kollektiven Angstkampagne war für mich verheerend, denn ich mußte einen Gutteil meines Idealismus aufgeben.

    Meine Enttäuschung über den kollektiven Verrat an Werten wie Freiheit, Toleranz, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Würde, hat mich zutiefst verstört. Das hätte ich nicht für möglich gehalten!

    Aber die Panter–Zeit hatte auch ihr Gutes, wir haben alle das Zoomen erlernt, konnten einander tief in die Seele schauen und haben gesehen, mit wem wir es wirklich zu tun haben.

    Und die Diagnose fällt kritisch aus: Den meisten fehlt so etwas wie Persönlichkeit, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Theorie “Die feinen Unterschiede” als “Habitus” bezeichnet, beschrieben und näher ausgeführt hat.

    Ich hätte es wissen können, weil ich ihn schon im Studium gelesen und mir zu Herzen genommen hatte. Aber ich wollte nicht, daß der Groschen auch fällt, wohl aus Idealismus wollte ich es nicht.

    Das Erziehungsziel einer “Bildung der Persönlichkeit” ist und bleibt elitär, weil es um einen Habitus geht, den man sich auch herausnehmen können muß. — Manche nehmen sich das einfach heraus, wenn und weil es ja nun mal “standesgemäß” für sie ist.

    Andere stehen sich selbst dabei bereits auf der Leitung und noch andere, die Vielzahl der nichtdenkenden Mitmenschen, sieht das Problem nicht einmal.

    “Gebt dem Volk Brot uns Spiele”. Ja, den meisten Zeitgenossen mangelt es nicht nur an Selbstbewußtsein, Selbstbestimmungs– und Selbstorientierungsvermögen, sie haben auch keinen Zugang zu ihrem eigenen Leib. Sie sehen nur den Körper, den sie dann checken, bearbeiten oder auch reparieren lassen.

    Der Unterschied besteht eben, wie Helmuth Plessner gesagt hat, “zwischen Körper haben und Leib sein”. — Daher lassen sich die Vielen auch so tief verängstigen.

    Franz von Stuck: Tilla Durieux als Circe, 1931.

    Sie sehen nur ihren Körper und ihre Psyche, sehen aber nicht auch den Geist, den Leib und die Seele. Sie wollen auch nur Sex und keine Erotik. — Ach, es ist erbärmlich.

    „Der Mensch will über den Menschen hinaus“, — eigentlich ja. Man denke doch nur an Platon und Nietzsche, die das so eindrucksvoll und eindringlich vor Augen geführt haben.

    Aber viele folgen nicht ihrer Seele, sondern nur den viel zu oberflächlichen Interessen einer Psyche, die “Haben mit Sein” miteinander verwechselt. Viel zu viele lassen sich bereitwillig leiten von den ästhetisch–moralischen Konsumwelten der angeblich „Schönen und Reichen“.

    Wenn darin ganz offenbar die allermeisten Zeitgenossen ihre Lebensziele sehen und sogar finden, dann kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.

    Als ich vor langer Zeit noch Ethik–Unterricht für Polizeibeamte an der FH für öffentliche Verwaltung in Dortmund gab, hatte ich irgendwann bereits dieses Konzept für mich als Arbeitsgrundlage: Ich hole die Menschen ab, wo sie stehen, aber ich fahre nicht bis unter die Erde!

    Wer unterirdisch ist und es auch sein und bleiben will, soll es sich wohl ergehen lassen in der Höhle. Und kein Philosoph wird sie bei ihren heiligen Handlungen in der Konsumhölle stören.

    Die Basis für einen eigenen Habitus, so daß man selbstverständlich einen Menschen ernst nehmen kann, muß sich schon jeder selbst schaffen. — Die Seele macht das Spiel.

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    Harry und Meghan

    Über die Sprengkraft einer Lovestory

    Der Liebesgott Amor ist ein Sohn der Göttin der Liebe und dem Gott des Krieges, also Venus und Mars. — Mythische Figuren sind immer auch Allegorien, was bedeutet, daß sie etwas abbilden, was eigentlich alle vor Augen haben, sich aber nur schwer sagen läßt. Also bringt man es auf eine dieser Götterfiguren und hat dann auch noch einen Charakter dazu.

    Michelangelo Merisi da Caravaggio: Amor als Sieger, 1601.

    Cupido, wie er bei den Römern genannt wird, hat immer einen Köcher mit Pfeilen bei sich. Schnell wie der Wind, taucht er urplötzlich auf, und nach der Tat ist er ebenso schnell auch schon wieder weg.

    Er ist ein Heckenschütze, so daß seine Opfer, ob sie wollen oder nicht, in Liebe entflammen. Dabei schießt er mit zweierlei Pfeilen, mit goldenen– für die erwiderte, mit bleiernen Pfeilen für die unerwiderte Liebe.

    Man sollte dabei an den lächerlichen Professor Unrath denken, aus Heinrich Manns “Blauem Engel” und den Film, in dem Marlene Dietrich die Rolle ihres Lebens fand.

    Am Ende wird der Professor sich nützlich machen, um der von ihm Angebeteten feschen Lola nahe zu sein, sich aber vollkommen lächerlich machen. Es ist der Absturz einer allerdings despotischen Autorität, was die ehemaligen Schüler im Publikum mit oberflächlichem Gaudi goutieren, ohne das doch auch Tragische daran überhaupt zu bemerken.

    Alle Details einer Allegorie sind nicht zufällig, sondern mit bedacht gewählt und komponiert. — Amor ist noch ein rechts–unmündiges Kind, was bedeutet, daß er nicht zur Verantwortung gezogen werden kann für das, was er anrichtet. Es sollte sich also bitte hinterher niemand beklagen, der nun einmal in Liebe entbrannt ist und dann wer weiß was gemacht hat…

    Als leicht bekleidete Knabe ist Amor stets mit Lausbubengesicht unterwegs. Caravaggio macht dann mit guten Gründen ein Siegerlächeln daraus. — Ja, die Liebe siegt gewissermaßen immer, selbst wenn sie unglücklich verläuft und schlußendlich alles in Schutt und Asche liegt.

    Wenn Amor mit einem seiner Pfeile trifft, dann werden die Getroffenen nicht nur von einer Liebe ergriffen, der sie sich nicht erwehren können, sondern sie haben dann auch die damit einhergehenden Problem am Hals. — Die Allegorie dieses kindlichen Gottes bringt daher vorzüglich auf den Punkt, was die Liebe gesellschaftlich eigentlich ist: Pure Anarchie!

    Deswegen wird oft nichts dem Zufall überlassen, wobei viel Wert gelegt wird auf “standesgemäße” Hochzeiten etc. pp. — Deswegen wird Sex, von “freier Liebe” ganz zu schweigen, verfolgt wie die Pest. Dabei ist die Erotik selbst eigentlich weniger das Problem, aber die Liebe, die darüber aufkommt, kann Verbindungen stiften, die nie und nimmer hätten sein dürfen.

    Liebe mag immer auch ein Anfang sein, insbesondere für die Liebespaare selbst, aber für Gemeinschaften ist sie womöglich das Ende eines langen Burgfriedens. — Und genau das passiert immer wieder, etwa bei Romeo und Julia, die sich als Abkömmlinge zutiefst verfeindeter Clans ineinander verlieben, was daher ein böses Ende nehmen muß.

    Archetypische Liebhaber Romeo und Julia porträtiert von Frank Dicksee (1884).

    Gestiftet werden solche Verbindungen also durch einen verantwortungslosen Heckenschützen, der Liebespfeile verschießt und sich sonst kaum etwas dabei denkt. — So wie er dreinblickt, wirkt es eher, als wäre Liebe nichts weiter als ein neckisches Spiel.

    Das Symposion von Platon ist diesem Eros, also dem Gott der Liebe gewidmet. Der Text ist einer der wichtigsten der Menschheitsgeschichte, weil er so tief blicken läßt, nicht nur in die Liebe selbst, sondern auch in die Machenschaften, die sich darum herum ranken. — Dazu gehört insbesondere die Vereinnahmung Platons durch Religionsführer, die ernsthaft glauben machen wollen, Platon habe nur die nicht–erotische Liebe geadelt und alle anderen Formen herabgewürdigt.

    Genau das ist nicht der Fall. Wie so oft findet sich bei Platon auch in dieser Angelegenheit wieder das Bild von Stufen, die man schrittweise nehmen sollte, um dann möglichst unter Führung der Philosophie, um zur Wahrheit wie im Höhlengleichnis oder zur Schönheit wie im Symposion aufzusteigen. — Daher steht auch das Gegenteil von dem im Text, was die Religionsfürsten in ihrem Griesgram und nicht selten ohne Doppelmoral seit Jahrtausenden verkünden.

    Wenn Sokrates in seiner Rede ausgiebig von seiner legendären Lehrerin namens Diotima erzählt und deren Philosophie der Liebe sich offenbar selbst zu eigen gemacht hat, dann hören wir das Gegenteil von dem, was die Kirchen so vehement fordern. — Tatsächlich ist Liebe wie eine Droge mit Nebenwirkungen, die einen “heiligen Wahn” auslösen. Das dürfte dann auch das Motiv sein, warum so viele Religionen die Liebe als solche verdrängen, weil sie das Heilige ganz für sich und die eigene Institution allein beanspruchen wollen.

    Dieser Dialog beginnt wie ein jeder sokratischer Dialog, nur diesmal mit vertauschten Rollen. Eigentlich ist Sokrates immer der Held, der über steile Thesen, die kollabieren müssen, wie sodann auch über seine Gesprächspartner lacht. Nun aber ist er in nicht in dieser Position, sondern seine Gesprächspartnerin. Sie weiß einfach mehr, als der offenbar noch junge Sokrates, der ihr dann auch folgt in diesem Dialog.

    Es beginnt sogleich mit einer höchst spektakulären dialektischen Figur: Der Gott der Liebe können gar kein Gott sein, weil er nicht wie diese vollkommen ist, sondern stattdessen mit einem feinen Gespür ausgestattet sei für das, was ihm fehlt. — Liebe zielt demnach auf die Attraktion dessen, was fehlt und daher so anziehend ist.

    Daher sei der Liebesgott auch kein Gott, sondern nur ein Dämon, der übrigens einer beigesteuerten Erzählung zufolge aus einer selbst märchenhaften Verbindung zwischen Fülle und Armut entstanden sein soll.

    Darin stalkt die Armut den Reichtum ganz gezielt am Ort einer opulenten Festivität. Sie hält sich bedeckt, bis der Reiche höchst berauscht ins Freie tritt und unter einem Baum seinen Rausch ausschläft. In dieser Situation macht sich die Armut an ihm so zu schaffen, daß sie Sex mit ihm hat, schwanger wird und den Eros gebiert. — Es ist berückend, wie lyrisch sich Mythen mitunter geben können.

    Das Liebesgift in den Pfeilen des Amor ist überwältigend. Da steht dann nicht selten schon bald alles auf dem Spiel, und genau das ist das Anarchische und so oft Skandalisierte an der Liebe. — Manche beherrschen sich und verleugnen die Liebe aus vielerlei Rücksicht, aber manche haben vielleicht noch eine Rechnung offen.

    Genau das steht im Hintergrund der aktuellen Legendenbildung um Harry und Meghan, angesichts einer Netflix Serie über ihre Liebes– und Leidensgeschichte. — Diese Liebe steht definitiv unter dem Zeichen der Tragödie um Diana. Und die Traumatisierung des jungen Harry seinerzeit durch den Tod seiner Mutter, ist das eigentliche Motiv der Handlung.

    Harry setzt Meghan seiner Mutter gleich und rächt sich nunmehr an allen, die sie seinerzeit in den Tod getrieben haben. Als wäre er es ihr und sich selbst schuldig, endlich erwachsen geworden, endlich mit allen abrechnen zu können.

    Psychologisch ist dieses Manöver übrigens ausgesprochen heikel. Es ist nämlich die Frage, ob Meghan eigentlich sie selbst sein darf, ob sie nicht vielmehr in dieser Projektionsarbeit völlig marginalisiert wird, was sich später einmal rächen dürfte. Wer ist schon gern auf Dauer nur ein Stellvertreter.

    Aber etwas anderes geschieht zugleich. — Es ist eine fällige Generalabrechnung mit dem Britischen Königshaus und dem latenten Rassismus im Empire, das schon lang keines mehr ist. Ohnehin stehts das Vereinigtes Königreich seit dem Brexit ohnehin nicht mehr auf sicheren Säulen.

    Da sieht man, wie sehr die freie Partnerwahl aus Gründen der Liebe dazu angetan ist, Probleme anzuzeigen, die schon immer routiniert überspielt worden sind. Das ist der Anarchismus der Liebe, plötzlich verfängt vieles nicht mehr.

    Irgendwer fängt aus unerfindlichen Gründen plötzlich damit an, öffentlich zu bekunden, daß sich ein Elefant im Raum befindet, über den niemand willens ist, auch nur ein Wort zu verlieren. Das war auch Common Sense bisher. Aber jetzt ist der Elefant nun einmal erwähnt… 

    Wie sagte noch der in Worten stets sparsame Konrad Adenauer: “Die Situation ist da!”

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    Alice Schwarzer zum achtzigsten Geburtstag

    Eine schon lang fällige Glosse

    Für Friedrich Kaulbach

    Als Mann, nunmehr aber auch Philosoph, möchte ich endlich die Gelegenheit ergreifen, dieser Dame den Spiegel vorzuhalten. Sie hat nämlich einfach nur ihr Ding gemacht.

    Es ist mir richtig schlecht ergangen in der wichtigsten Zeit meines Lebens, als noch alles offen war und man sich oft nicht zu erwehren wußte, gegen alle diese Anwürfe. Sie hat über Jahrzehnte die Diskurskontrolle an sich gerissen und viel zu viele folgten ihr blind.

    William Adolphe Bouguereau: Orestes wird von Furien gehetzt, 1862.

    Dieser Geschlechterkampf wurde dramatisch und vor allem agonal inszeniert. Nein, es mußte nicht endlich einmal gesagt werden, was zu sagen war. Das wäre ohnehin gekommen, einfach weil es nach dem Krieg auf der Agenda stand.

    Dabei hätte ich so gern mit den Frauen gemeinsame Sache gemacht. — Noch heute erinnern mich die Schilder vor den Fleischereien mit den kleinen Hunden, die leider nicht hineindürfen, an die damalige Gepflogenheit, Männer auszugrenzen, wo Frauen ihre Weiblichkeit wie eine Monstranz vor sich hertrugen.

    Der Schwarzer–Feminismus ist ein Revanchismus, der Männer zu Tätern gemacht hat, einfach nur, weil uns ein Stückchen am Y–Chromosom fehlt. Man kann das als Degeneration deuten, man kann aber auch zu bemerkenswerten Spekulationen greifen darüber, ob “die Natur” nicht womöglich tatsächlich die Frauen auf dem Schirm hat, wenn es um den weiblichen Orgasmus geht.

    Das ist eine interessante Spekulation, die der idealistische Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in die Welt gesetzt hat, eine etwas wunderliche Spekulation, die aber naturgeschichtlich gar nicht ganz so abwegig erscheint. Wenn wir den Anfang des Lebens im Tümpel betrachten, dann kleben die Weibchen ihre Eier an einen Strauch und die Männchen kämpfen um die Gelegenheit, ihren Samen darüber zu spritzen. — Da fragt man sich schon, wo und wie denn die Lust herkommen soll, beim anonymen Sex.

    Dann wurden die Verhältnisse in diesem Ur–Tümpel nach innen verlegt, als die Gebärmutter entwickelt wurde. Und die Männchen bekamen einen Penis, um möglichst nahe heranzukommen an die Eizelle, die den Spermien durch einen Maiglöckchenduft den richtigen Weg weist. — Demnach sind Frauen einfach näher dran, denn das Maximum der Lusterfahrung findet in ihrem eigenen Inneren statt und Männer sind dabei eher außen vor. Das wiederum läßt an den blinden Seher Theresias denken, der 9 Monate als Frau gelebt hat, um zu bekunden, die Frau habe das 9–fache der Lust im Verhältnis zum Mann.

    Auch das läßt sich nachvollziehen. Frauen brauchen eben die stärkere Motivation, weil sie auch mehr riskieren im Verhältnis zum Mann, nämlich Freiheit, Gesundheit, Leben und auch die soziale Stellung. — Und in der Tat wurde die “Schwäche” von Frauen als Mütter, die ein Kleinkind zu versorgen haben, immer wieder von Gesellschaften schamlos ausgenutzt.

    Aber bei alledem hat die Schwarzer–Welt einen ganz einfachen Schwarz–Weiß–Code. Männer sind demzufolge in Wirklichkeit, als was Frauen schon immer gesehen wurden: minderwertig. Und seither gelten Männer als brandgefährlich. — Während Frauen ihr Schicksal zum Opfersein kaum abwehren können, wird das Mann–Sein seltsam widersinnig dargestellt.

    “Der” Mann hat halt die falsche Natur und kann deswegen nicht einmal sicher sein vor sich selbst, denn das Trieb– und Täterhafte ist angeblich biologisch ganz tief in ihm angelegt. — Empathie wird exklusiv nur Frauen zugeschrieben. Sensibilität steht im Schwarzer–Feminismus den Männer einfach nicht zu, weil sie nichts weiter sind als entartete Frauen.

    Ich bin seinerzeit nicht in Männergruppen gegangen, obwohl ich verstehen kann, daß es einige getan haben. Ich habe mich auch nicht als Emanzipations–Couch angedient, um dann Sex zu erbetteln. Auch bin ich nicht zum Frauen–Versteher oder zum Softie geworden. Mir war das alles zu würdelos, also habe ich meine Männlichkeit lieben gelernt. — Wie heißt doch der Werbe–Spruch einer einschlägigen Industrie: Beton, es kommt darauf an, was man damit macht!

    Aber die Traumatisierungen waren wohl platziert. Ich konnte Mit–Männer beobachten, die des nachts hinter einer Frau herliefen, um ihr zu bekunden, daß man ihr wirklich nichts würde antun wollen. — Und dann diese unsäglichen Bemerkungen: Sagte doch eine dieser so schrecklich oberflächlich emanzipierten Frauen zur anderen, als ich ihnen beim Eintritt zu einer Alumni–Feier im Overberg–Kolleg den Vortritt ließ und die Tür aufhielt: Also das sollten man als Frau immer mitnehmen…

    Ich habe beizeiten das Gedankenlesen entwickelt und kann mühelos in solchen Situationen den unausgesprochenen Satz weiter fortführen, bis hin zum impertinenten Rest: Ansonsten müsse frau die Männer klein machen und auch so halten. — Das Ganze war ja so sicher, weil es die Rachegöttin Alice so und nicht anders verordnet hatte in ihrer gar nicht göttlichen Weisheit. Selberdenken war schon immer etwas, was die meisten sich nicht zumuten mochten, gerade Frauen nicht.

    Ich bin Philosoph geworden, aber so etwas braucht seine Zeit. Anfangs ist es eher so, daß man einfach alles ernst nimmt, auch den größten Unfug, weil man ja nun selbst urteilen lernen will. — Also habe ich mich richtig einmachen lassen von geistlosen MenschInnen, die ihr Vergnügen dabei hatten, irgendwelche Rachegelüste an mir zu exekutieren.

    Philosophie macht erst einmal schwach, weil man gar nichts mehr sicher weiß, wenn alles möglich sein könnte, was denn nun noch gelten darf. Aber es ist unethisch, die Schwäche anderer auszunutzen und nicht dafür zu sorgen, daß sie auf Augenhöhe sind. — Im Zweifelsfall gibt man ihnen bessere Argumente einfach selbst zur Hand. Das ist kein Großmut, das ist nicht gönnerhaft, sondern einfach nur menschlich. Es ist eben keine Demütigung, man will doch, daß das Gegenüber ein ebensolches ist und auch bleiben soll.

    Das wäre Konzilianz und wahre geistige Größe, alles andere ist einfach nur banausenhaft. — Aber in der Welt von Alice Schwarzer, die diesen unerbittlichen Geschlechterkampf in Szene gesetzt hat, war das natürlich verpönt. Und alle ihre Vestalinnen taten, was der Furie ein Wohlgefallen war.

    Ich erinnere mich noch mit Schaudern daran, wie sich dieser Schwarzer–Feminismus allmählich das Format von Rassismus zugelegt hat. Da wurde nämlich die natürliche Bösartigkeit “des” Mannes einfach unterstellt. — Wer da noch in der Identitätsfindung war, konnte glatt von diesen BulldozerInnen überfahren werden. Pardon wurde nicht gegeben, um den unseligen deutschen Kaiser zu zitieren.

    Zwei Rachegöttinnen
    (Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert nach einer antiken Vase)

    Ich erinnere mich mit Entsetzen an die Dogmatik nach Schwarzers Gusto, daß angeblich in jedem Mann ein Gewalttäter, ein Vergewaltiger und zuletzt auch ein Kinderschänder “natürlich” mit angelegt sein soll. — Männer waren als solche eine Gefahr, denn sie könnten jederzeit sehenden Auges außer Kontrolle zu geraten, weil sie eben einfach diese miese männliche Natur haben. Das sind Menschenbilder aus den 50er Jahren, in denen das Wort vom “Trieb” jede Psychologie ersetzt, weil danach gleich das Wort “Täter” kam.

    Dasselbe Argumentationsprinzip habe ich neulich mit Entsetzen in einem meiner Seminare wieder erlebt: Wir müßten als ‘Weiße’ alle Schuld auf uns nehmen, weiß zu sein. Das sagte ein Student, der Lehrer werden will, über Interkulturelle Gerechtigkeit. — Ich habe gesagt: Das stehen Sie nicht durch. Sie übernehmen sich, das können Sie gar nicht bewältigen! Sie können es nur für sich selbst anders machen.

    Die Auswüchse im Geschlechterkrieg waren irre: Es gab doch tatsächlich Männer, die flehentlich um sich blickten, wenn sie mit einem Kleinkind zu tun bekamen. Es könnte sich ja die böse Natur im ungezähmten Inneren des Mannes wider Willen losmachen und außer Kontrolle geraten. — Solche Menschenbilder sind selbst therapiebedürftig. Aber Alice Schwarzer hat jede Gelegenheit genutzt, diese Welle, die sie selbst erzeugt hat, mit Wonne und Zornesröte zu Tode zu reiten. Die Motive dafür liegen im Krieg, der nur mit anderen Mitteln als Geschlechterkrieg fortgesetzt wurde. 

    Ich wäre damals nur zu gern mit den ersten Freundinnen, Liebschaften und Selbstsucherinnen ins Einvernehmen gekommen: Emanzipierst Du mich, emanzipiere ich Dich! Wir wußten doch alle gar nicht, wohin die Reise hingehen soll. Nur weg, aber wohin? — Solche Partnerschaften wären aber Kollaboration mit dem Feind gewesen. Wieviel Drittes Reich steckt eigentlich noch immer hinter alledem?

    Erzählt wird von einer Begebenheit, daß die junge Alice Schwarzer in Paris mit Jean Paul Sartre zum Interview verabredet war. Und ja, dieses undefinierbare Verhältnis zwischen den beiden öffentlichen Intellektuellen wirkte äußerst vorbildlich. — Aber ich fand das alles etwas suspekt. Was wurde da eigentlich verherrlicht? Sie führten eben ein öffentliches Leben und ich denke, daß vieles einfach nur Inszenierung war.

    Jedenfalls soll mittendrin Simone de Beauvoir plötzlich ins Zimmer gepoltert sein, habe die Interviewerin abschätzig angeschaut und sei dann augenblicklich wieder verschwunden. — Und Alice Schwarzer, wie sie später zu Protokoll geben wird, habe sich damals ob der üblichen Kürze ihres Minirocks derart geschämt…

    Die Technik, die Sie im “Kleinen Unterschied” einsetzt, war damals üblich und effekthaschend. Das war auch in der angeblich wirklich wahrhaften Arbeiterliteratur so, mit denen junge Lehrer ihre Schüler traktierten, um sie auf dem Wege zur richtigen Ideologie zu bringen, um ein besserer Mensch zu werden. — Ach die vielen falschen Propheten…

    Was lernen wir daraus, gar nichts! Ich sitze gerade auf dem Flughafen von Teneriffa und mag diese weiblichen Frauen hier. Selbstverständlich machen sie alles mögliche, aber hier muß nicht dauernd hervorgehoben werden, daß sie ja eigentlich ein Handikap haben, nämlich eine Frau zu sein und trotzdem Busfahrerin. — Vor allem sind sie allesamt immer eine Erscheinung. Ich denke dann immer, daß wir das in Deutschland nicht haben, liegt eben am dauerhaften Krampf in der Geschlechterfrage.

    Es gab damals nicht einmal ein Wort für Fakes, weil man noch alles geglaubt hat, was gedruckt wurde. Also mußte, was in angeblichen Interviews, anfangs mit Arbeitern dargestellt wurde, doch auch der Lebenswirklichkeit von Frauen entsprechen. Man kann ja nun in diese Interviews mit “den” Frauen wer weiß was hineinschreiben. — Und bei Alice Schwarzer ging es immer gegen die Kerle. Sie wurden in diesem Geschlechterkrieg systematisch in die Defensive getrieben, mit ihren scheußlichen Angewohnheiten aus Penetrationswut, Brutalität, Orgasm–Gap und grobschlechtigem Unmenschentum.

    Was mich damals schon gestört hat, weiß ich allerdings inzwischen zu vertreten. Der “Pädagogische Eros” ist auch wieder so ein Wort, das nach dem nun wirklich nicht ausgeprägten Sprachgefühl von woken Pamphletisten heute vielleicht überhaupt nicht mehr benutzt werden darf, ist eine heilige Sache, aus Gründen der Pädagogik! — Nur das, was von innen her kommt, was aus eigener Einsicht, also intrinsisch einen Prozeß der Selbstveränderung motiviert, um tatsächlich ein anderer Mensch zu werden, ist einzig, was zählt.

    Alice Schwarzer hat die Diskurse über Emanzipation gekapert und daraus ihr Ding gemacht. Dabei stand diese Auseinandersetzung ohnehin auf der Tagesordnung. Die beiden Kriege hatte bewiesen, wohin das alles führt, einfach nur in den Tod, ins Leid, in die Verzweiflung und lebenslange Traumata. Die meisten Kriegsheimkehrer hatten Dinge gesehen, die kein Mensch sehen sollte.

    Aber auch die Gurus in den 70ern waren eine Plage, weil sie zwar Glaubenssätze verkündeten, aber keine Anleitung zum Selbstdenken gaben. — Opportunisten oder solche, die nur ihr Süppchen kochen wollten, haben es immer leichter als die, die alles selbst in Erfahrung bringen, sich selbst überzeugen und aus eigener Einsicht handeln wollen.

    Alice Schwarzer hat allerdings nicht nur Männern geschadet, sondern vor allem den Frauen. “Was ziehe ich nur heute Abend zur Frauengruppe an”, das war ein starkes Problem seinerzeit. — Die Kontrolle und Observanz, der geringschätzige Blick auf den Toiletten, der mißbilligende Neid von Frauen untereinander, die bei aller Betulichkeit immer eher im Verdrängungswettbewerb untereinander stehen, wurde als Verhalten eben nicht überwunden. — Da lobe ich mir das Fairplay unter Männern, die ihre Auseinandersetzungen führen, so daß es gut ist. Und im Unterschied zur Rachsucht unter Frauen ist unter Männer vor allem eines völlig verpönt: Nachtreten.

    Eingeübt wurde wieder nur weibliche Unterordnung, nunmehr beim Emanzipieren nach zertifizierter Schwarzer–Methode. Alles ist, bleibt und blieb also immer nur dasselbe. Wie schrecklich. — Aber das war mal wieder typisch.

    Es kam nicht darauf an, wer man/frau ist, wie frau/man sich gerade fühlt und worauf es ankommt, sondern einzig auf Anpassung und Duckmäuschentum kam es an. — Und unsereins durfte als Mann natürlich nichts dazu sagen, von wegen Feind hört mit! Dagegen hatte der soeben erwachende Intellekt sich inzwischen schon ein paar Navigationsmittel zugelegt. Ich plaudere ja nur zu gern aus, was ich gefunden habe, das alles soll doch Menschen stark machen, so daß sie über sich hinauswachsen können.

    Ich habe das entwaffnende Argument zum ersten Mal von einem Kollegen auf einer Tagung in Mannheim gehört. Es stammt von einem Soziologen, der namentlich nicht genannt werden will und wohl im Osten der Republik auf Brautschau gegangen war. Er hob ungefragt, wohl weil er ein Bedürfnis verspürte, durch sein Bekenntnis endlich Stellung zu beziehen, mit Verve hervor, daß die Frauen im Osten ganz anders wären, als die im Westen, denn diese wären doch eigentlich nur Zicken.

    Sorry, da ist etwas dran! Viele Frauen haben bei ihrer Emanzipation bequemlichkeitshalber eine Abkürzung genommen und sich von Frau Schwarzer anleiten lassen. Aber es kommt noch besser: Ich muß gestehen, daß ich die berühmt–berüchtigte klammheimliche Freude nicht verhehlen kann, wenn ich inzwischen dieselbe Aussage vor allem von Frauen hören, die aus anderen Ländern stammen. — Übrigens, es müssen gar nicht gelernte Ossi–Frauen sein, das “vererbt” sich einfach so durch das gelebte Leben an die Töchter. Gut so!

    Kunststück, bei ihren Müttern haben die Töchter im Westen immer dieses Hin und Her des Lamentierens erlebt. Dieser andauernde Kampf für und gegen die Männer und dann der Dauerfrust. — Frau will viel, kann sich aber nicht überwinden, endlich auch mal damit anzufangen.

    Und alles liegt an den Männern, die den Frauen dann ersatzhalber das Atelier finanzieren, damit sie wenigstens auf Kunst machen können. Aber glücklich wird das alles nicht. — Diesen Keil hat Alice Schwarzer in die Seelen heterosexueller Frauen getrieben, zwischen Frauen und Männer, vor allem aber mitten durch das Weibliche hindurch.

    Es gab einige Kritikerinnen, die weggebissen und gecancelt wurden, der Großteil aller ist aber der falschen Prophetin aus Köln gefolgt. Jede Fernsehdiskussion wurde zur Abrechnung. Dabei steckt im Hintergrund eigentlich nur ein geistiges HinterweltlerInnentum. — Auch, wie sie im Verfahren gegen Jörg Kachelmann ausgerechnet für die Bildzeitung das Urteil schon längst gesprochen hatte, als diese unsägliche Geschichte der Rache aus Liebe und Eifersucht ans Licht kam.

    Antonio Tempesta: 
    Die Furie Tisiphone im Palast von Athamas, 1606.

    Hohes Gericht der Diskurse!

    Ich beantrage, daß zum ‘pädagogischen Eros’ noch ein ‘psychologischer Eros’ hinzukommen soll, nämlich einer, der den Leuten ihre Würde läßt, so daß sie wieder aufstehen können. — Was soll all dieser Haß, die Rechthaberei und der dumme Biologismus, mit dem Alice Schwarze in der Geschlechterfrage schon seit Jahrzehnten einen Unfrieden stiftet, der ihr als Geschäftsgrundlage dient.

    Wann wird sie endlich Genugtuung finden? — Aber sollte man sie denn als Rachegöttin überhaupt ernst nehmen? Mit den Göttern verhält es sich nämlich wie mit dem bekannten Werbespruch: Die tun was!

    Wieviel Opfer verlangt sie noch? Sie ist und bleibt erwartbar untröstlich. Würde sie wirklich übergreifende Interessen im Kosmos vertreten, so wie Götter es tun, die eben nicht eher ruhen, bis Ausgleich geschaffen worden ist, man könnte es nachvollziehen. Sie betreibt aber nur ihr Ding nach Gutsherrinnenart.

    Das, genau das wäre eine Frage für den psychologischen Eros. Er soll bitte sagen, ob dieses rostige Kriegsbeil nicht langsam zur Manie geworden ist. — Wenn nur nicht so viele Frauen ihr Leben und ihr Glück darauf verwettet hätten.

    Es ist wie bei den Erinnyen. Das sind Plagegeister, die im selben Augenblick entstehen, wenn Kronos, der jüngste Sohn der Erdgöttin Gaia in der Geschichte der Großgötter, auf Geheiß seiner Mutter den eigenen Vater mit einer Sichel entmannt. — Sobald die Sichel ihre meuchelnde Tat vollführt, spritzt ein Teil des göttlichen Samens ins Meer, woraus Aphrodite, die ‘Schaumgeborene’ entsteht.

    Aber aus dem Blut, das auf Land fällt, entstehen Plagegeister.

    Sandro Botticelli: Die Geburt der Venus, 1485.

    Nun stellt sich immer die Frage in solchen überzeitlichen Angelegenheiten, warum, wann und ob überhaupt sich so etwas wieder beruhigen könnte. Immerhin ist es eine Tat von kosmischem Ausmaß. — Es ist die Frage, was Frau Schwarzer wirklich bewegt. Ist es Vergeltung, ist es Ausgleich, der Wunsch nach Wiedergutmachung oder die Herstellung von Harmonie, auf die sie sich wohl nicht wirklich versteht? Oder hat sie nicht einfach nur den ruinösen Geschlechterkampf zum Geschäftsmodell ihres Lebens gemacht?

    Ich denke an einen meiner wichtigsten Philosophie–Lehrer an der Uni in Münster, dem ich viel zu verdanken habe, weil er im Zuge seiner “Philosophie der Beschreibung” den Perspektivismus zur Methode erhoben hat. Das habe ich übernommen. — Ich will alle Perspektiven würdigen, denn alle sind gleich weit zu Gott. Daher zählen für mich auch immer Positionen, die nicht meine sind. Ich will, daß sie alle eine faire Chancen haben, sich vertreten und durchsetzen zu können. Möge die bessere Theorie gewinnen!

    Aber wie sagte doch dieser Philosoph immer wieder, weil er die Welt schlußendlich offenbar nicht mehr verstand: “Ja, da gibt es jetzt so eine neue Zeitschrift, die Emma.” — Es hat nie jemand darauf geantwortet, ich auch nicht. Heute würde ich es können und ich würde das Wort ergreifen, ganz gewiß.

    Ich danke Friedrich Kaulbach, der wohl nicht gewußt hat, daß er einer meiner wichtigsten Lehrer wurde. Diese Glosse ist ihm gewidmet.