Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

Nur wer die Sehnsucht kennt

Goethe-Lotte-Werther
Goe­the Lot­te Wert­her. Stadt– und Indu­strie­mu­se­um, Wetz­lar 2014. — Quel­le: 3StepsCrew, Gie­ssen, Ger­ma­ny via Wiki­me­dia, Lizenz: CC-BY-SA‑2.0.

Mit sei­nem Wert­her trifft Goe­the das epo­cha­le Lebens­ge­fühl jun­ger Leu­te im Span­nungs­feld zwi­schen der neu­en Emp­find­sam­keit und einer über­kom­me­nen Moral, die eigent­lich alles Per­sön­li­che im Keim erstick­te. Dage­gen grün­de­te sich die sei­ner­zeit als Lese­sucht bezeich­ne­te Suche nach den Moti­ven einer neu­en Sehn­sucht auf Indi­vi­dua­li­tät und auch auf Nar­ziss­mus. So ent­stand der neue Zeit­geist mit einem Hang zum sen­ti­men­ta­li­schen Cha­rak­ter, der erst in der Roman­tik ganz zum Aus­druck kom­men und auch sei­ne Schat­ten­sei­ten ent­wickeln sollte.

Das neu her­an­brau­sen­de Zeit­al­ter der Emp­find­sam­keit war selbst­ver­ständ­lich höchst umstrit­ten, denn damit wur­de ein ganz bedeu­ten­der Schub in der Psy­cho­ge­ne­se aus­ge­löst. Anstel­le der stets so tugend­haft und alter­na­tiv­los hin­ge­stell­ten Füg­sam­keit, sich den Anfor­de­run­gen eines über­kom­me­nen Kon­ven­tio­na­lis­mus klag­los zu über­ant­wor­ten, wur­de nun der Aus­druck eines neu­en Indi­vi­dua­lis­mus mög­lich, der Welt­schmerz und Melan­cho­lie zum Aus­druck brach­te und dabei bis zum Nar­ziss­mus füh­ren konn­te. — Die Figur des Wert­her war dabei der Pro­to­typ eines neu­en Zeit­ge­nos­sen, der mit sei­ner unstill­ba­ren Sehn­sucht, sei­nem über­bor­den­dem Nar­ziss­mus und mit sei­ner Melan­cho­lie an der herr­schen­den Moral ein­fach scheitert.

Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugend­be­we­gung‹. Wei­te­re Reak­tio­nen in Kunst und Lite­ra­tur lie­ßen nicht auf sich war­ten. Mas­si­ve Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis und im Selbst­ver­hält­nis gin­gen damit ein­her. Es kam zur Vor­bild­funk­ti­on, zur Iden­ti­fi­ka­ti­on, zur Nach­ah­mung der Haupt­fi­gur und schließ­lich zum Werther–Kult mit einer Rei­he von Sui­zi­den oder Sui­zid­ver­su­chen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tra­di­ti­on der Fremd­be­stim­mung, son­dern eine Demon­stra­ti­on des Anspruchs auf Indi­vi­dua­li­tät jen­seits der her­kömm­li­chen Moral. Und so wur­de dann auch der Selbst­mord die­ses tra­gi­schen Hel­den nicht mehr als Sün­de tabui­siert, son­dern als ›Frey­tod‹ betrach­tet, als Aus­druck einer indi­vi­du­el­len Frei­heit, sich gegen gesell­schaft­li­che Zwän­ge zu behaup­ten, indem man sich dem Wei­ter­le­ben ›ent­zieht‹.

Im Wil­helm Mei­ster wird die­se träu­men­de Sehn­sucht wei­ter zum Aus­druck gebracht, aber auch eine Nai­vi­tät, die zustan­de kommt, wo Empa­thie ohne Theo­rie ein­fach nur auf eine neue Sehn­sucht zielt, von der nicht inhalt­lich gesagt wer­den kann, was denn nun die Sehn­sucht die­ser Sehn­sucht sein soll:

Er ver­fiel in eine träu­men­de Sehn­sucht, und wie ein­stim­mend mit
sei­nen Emp­fin­dun­gen war das Lied, das eben in die­ser Stun­de Mi-
gnon und der Harf­ner als ein unre­gel­mä­ßi­ges Duett mit dem herz-
lich­sten Aus­drucke sangen:

Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh’ ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwin­delt mir, es brennt
Mein Ein­ge­wei­de.
Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Wil­helm Mei­sters Lehrjahre.

In: Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

So träumt dann Wil­helm Mei­ster noch in träu­men­der Sehn­sucht, kommt aber aus dem Lei­den am Lei­den nicht her­aus. Es bleibt bei der Sehn­sucht nach dem, was der Sehn­sucht wert ist. Und so geht Goe­thes Faust weit dar­über hin­aus: Er greift wirk­lich nach den Ster­nen und macht dabei die­je­ni­gen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu ange­tan sind, für sich selbst bes­ser wahr­neh­men zu kön­nen, was denn gewollt wer­den sollte.

Faust ist rast­los, uner­füllt, umtrie­big und vol­ler Sehn­sucht nach einer Sehn­sucht, deren Beweg­grün­de ihm selbst aber unbe­kannt sind. Er täuscht sich dar­über, was und wo denn nun das Land sei­ner Träu­me liegt, was das Ziel aller Seh­süch­te sein soll. — Im Dia­log mit der Sor­ge, die sehr melan­cho­li­sche Züge trägt, erläu­tert er die zuneh­men­de Ruhe der Weis­heit, die mit der Erfah­ren­heit einhergeht:

FAUST.
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genüg­te, ließ ich fahren,
Was mir ent­wisch­te, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und aber­mals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durch­ge­stürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es wei­se, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drü­ben ist die Aus­sicht uns verrannt;
Tor, wer dort­hin die Augen blin­zelnd richtet,
Sich über Wol­ken sei­nes­glei­chen dichtet!
Er ste­he fest und sehe hier sich um;
Dem Tüch­ti­gen ist die­se Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewig­keit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wand­le so den Erden­tag entlang;
Wenn Gei­ster spu­ken, geh’ er sei­nen Gang,
Im Wei­ter­schrei­ten find’ er Qual und Glück,
Er, unbe­frie­digt jeden Augenblick!
SORGE.
Wen ich ein­mal mir besitze,

Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewi­ges Düst­re steigt herunter,
Son­ne geht nicht auf noch unter,
Bei voll­kom­men äußern Sinnen
Woh­nen Fin­ster­nis­se drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er ver­hun­gert in der Fülle; …

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Ham­bur­ger Ausgabe
Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfah­rung brin­gen und braucht dafür einen Teu­fels­pakt mit dem genia­len Mephi­sto, der das all­um­fas­sen­de Pro­bie­ren und Stu­die­ren ihm erst mög­lich macht. — In der Faust­wet­te geht es schließ­lich um die Lösung der Fra­ge nach der Sehn­sucht der Sehnsucht:

FAUST.
Werd’ ich zum Augen­blicke sagen:
Ver­wei­le doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fes­seln schlagen,
Dann will ich gern zugrun­de gehn!
Dann mag die Toten­glocke schallen,
Dann bist du dei­nes Dien­stes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zei­ger fallen,
Es sei die Zeit für mich vor­bei! (Ebd. S. 57.)

Der­weil wirkt Mephi­sto stets so, als habe er das alles längst hin­ter sich und wüß­te um das Wesen des Men­schen, um Träu­me und Schäu­me. Die­ser Dämon spricht wie ein Nihi­list, der sich längst zum Zyni­ker gewan­delt hat, und in der Tat ist Mephi­sto bar jeder Sehn­sucht, so daß man sich fra­gen muß, woher er dann noch sei­ne Ener­gie nimmt.

Aus­zug aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. S. 148ff.