• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Lüge,  Moral,  Politik,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Wahrheit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der amerikanische Pragmatismus ist unethisch

    „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“

    (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werke. Bd. VI; S. 245.)

    Kant ist ebenso berühmt wie berüchtigt für seinen Rigorismus. Das läßt sich sehr gut illustrieren anhand des Beispiels vom unschuldig Verfolgten, der sich bei mir versteckt. Ich soll, ich muß den Verfolgern verraten, daß er sich bei mir aufhält.

    Diese beinharte Prinzipientreue erscheint zunächst völlig weltfremd, wenn das Lügenverbot derart absolut gesetzt wird, ohne jede Ausnahme. Aber bei Kant kommt es nicht auf die Folgen an, sondern einzig und allein auf den persönlichen Entschluß zum Guten Willen als Grundlage jeglicher Moral. – Es wird ein tätiges Vertrauen eingefordert, sich nicht über das Gesetz zu stellen, sich nicht für klüger zu halten als alle anderen. Entscheidend ist, ob man in der eigenen Person den eigenen Pflichten gerecht geworden ist oder nicht. Alles Weitere muß und wird  sich dann schon zeigen.

    Das sieht der Amerikanische Pragmatismus völlig anders. Ihm zufolge ist einzig und allein das Ziel entscheidend, und die Mittel zum Zweck sind dann „gut“, wenn sie erreichen, was man sich nun einmal in den Kopf gesetzt hat.

    Allerdings geht es in der Philosophie stets ums Grundsätzliche, daher wird es interessant, die möglichen Alternativen bewußt durchzuspielen. Und da wird Sokrates beispielhaft mit seinem Verhalten, den Giftbecher zu schlucken, obwohl die Wächter bereits bestochen sind und eigentlich von ihm sogar erwartet wird, daß er sich dem Urteil durch Flucht entzieht. – Aber Sokrates bleibt, trinkt und stirbt, wobei sehr deutlich beschrieben wird, wie das Gift des Schierlings seine Wirkung zu entfalten beginnt.

    Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787).

    Wenn man nun darauf spekuliert, Sokrates habe, wie Protagoras rund 10 Jahre zuvor, ebenfalls die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, dann wird deutlich, daß Sokrates nicht hätte weiterhin Sokrates sein und bleiben können nach dieser Flucht. Er hätte durch sein Verhalten seiner ganze Philosophie eine Narrenkappe aufgesetzt, er wäre zu Recht zum Gespött geworden. Und Platon hätte ihn mitnichten so in Szene setzen können, wie er es getan hat. – Mit diesem Opfertod wurde der Philosophie ein unumstößliches Denkmal gesetzt, gegen das kein Pragmatismus und auch kein Utilitarismus ankommen kann.

    Genau das kommt auch heraus, wenn man das Lügen verallgemeinert. Wenn nämlich alle lügen würden und niemand sicher sein kann, daß nicht doch gelogen worden ist, dann gibt es keine Wahrheit mehr und auch kein Vertrauen. Alles wäre ruiniert. Der Lügner spekuliert ja darauf, daß ihm geglaubt wird, obwohl er weiß, daß er kein Vertrauen verdient hat. – Also wieviel Zynismus, wieviel Eigenmächtigkeit, wieviel Selbstherrlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Geheimhaltung braucht man eigentlich, wenn man sich so über alles hinwegsetzen will, was angeblich allgemein verbindlich gilt?

    Das wirft ein anderes Schlaglicht auf die Situation mit dem unschuldig Verfolgten. Wir nähmen der Gemeinschaft und auch den Verfolgern durch unseren eigenmächtigen Eingriff in das Geschehen jede Gelegenheit, selbst hinter die Unschuldsvermutung zu kommen. – Auch wer aus angeblich guter Absicht lügt, stört die moralische Entwicklung der ganzen Menschheit für die Verfolgung niedriger Zwecke. Das Recht auf die Wahrheit haben Kinder gegenüber ihren leiblichen Eltern und Kranke gegenüber Ärzten und Angehörigen.

    Das Geheimhalten selbst ist also bereits ein Indiz für potentielles Unrecht. Genau das aber tun die Geheimdienste aller Staaten, vor allem aber die der US-Amerikaner. Die Liste der geheimen Kommandosachen, die durchaus denen von James Bond entsprechen, läßt sich offen bei Wikipedia nachschlagen. Und der Amerikanische Pragmatismus segnet das üble Tun und Treiben auch noch ab.

    Darin liegt der entscheidende Unterschied zur kontinental-europäischen Philosophie, die auch den englischen Utilitarismus nicht wirklich mittragen kann. – Daß ein gekapertes Passagier-Flugzeug mit Kurs auf ein besetztes Fußballstadion nicht auf Geheiß des Verteidigungsministers abgeschossen werden darf, weil dieser dazu das Recht gar nicht hat, ist ein einschlägiges Grundsatzurteil in solchen Angelegenheiten. – Menschenleben werden nicht gezählt, es wird nicht gerechnet und schon gar nicht wird aufgerechnet. Vielmehr ist es dem europäischen Denken fremd, so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen.

    Ginge es wirklich um das “größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl”, dann wäre zuletzt nicht einmal mehr ausgeschlossen, daß man Menschen hernimmt, um sie auszuweiden. Ein Einzelner könnte wirklich sehr viele andere Organempfänger überaus „glücklich“ machen.

     

    Die Frage Cui bono?

    Es spricht nicht viel dafür, daß Putin höchstselbst die Bomben in großer Tiefe an den Pipelines hat platzieren lassen. Wenn dem so wäre, dann würde das geschehen sein in der Absicht, es den USA in die Schuhe zu schieben. – Vielversprechender scheint aber die Vermutung zu sein, daß es die USA waren, die schon vor Monaten diese Möglichkeit erwogen und auch in Aussicht gestellt haben.

    Ein Unding, was da passiert ist, als der amerikanische Präsident Biden in Anwesenheit von Bundeskanzler Scholz genau das offen ausgesprochen hat, daß die USA im Zweifelsfall schon über “Mittel und Wege” verfügen würden. – Der Augenblick der Zündung dieser mutmaßlich bereits vor Monaten installierten Bomben kann selbst als Indiz genommen werden dafür, daß die USA nicht nur diesen Krieg, sondern auch den Rückweg in den Frieden verbauen wollen.

    Wenn es nämlich gar nicht so gut steht um die Kriegsziele von Putin, dann könnte dieser ja erwägen, eventuell doch auf Verhandlungen einzugehen. Wenn diese dann fruchten würden, dann könnte ja alsbald auch wieder Gas durch die Leitungen fließen. – Genau das ist jetzt unmöglich gemacht worden.

    Die Maximen US-Amerikanischer Außenpolitik waren und sind niemals wirklich am Wohl der Menschheit ausgerichtet worden, es ging und geht immer nur um oft sehr kurzfristige Interessen und dazu ist dann jede Mittel recht, also auch Lügen, Betrügen, Hintergehen und Vortäuschen falscher Tatsachen. – Genau das aber macht alle Geheimdienste zu einem Stein des Anstoßes, weil sie im Sinne von Kant per se unrecht sind und Unrecht tun.

    Bereits die Tatsache, daß sie ihr Tun und Treiben nicht öffentlich machen können, diskreditiert sie alle, wirklich alle. Es kann keine guten Geheimdienste, keine gute Geheimpolitik im ethischen Sinne geben. Es kann sie schon deswegen nicht geben, weil sie dem Prinzip der Demokratie widersprechen. – Wenn das „Volk“ der Souverän sein soll, dann muß dieser auch erst einmal informiert werden, wer, weshalb, wozu und warum solche Aktionen geboten sein sollen.

    Geheimdienstaktionen wie die Sabotage an Pipelines erweisen der vielberufenen Demokratie einen Bärendienst. Es geht zuletzt auch nur um die Macht-Gelüste ganz kleiner Eliten, die ihre Glasperlenspiele betreiben. Und dabei verspielen sie genau das, worauf es ankäme, worauf Kant und Sokrates unerbittlich gesetzt haben: Vertrauen.

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Die Urbanisierung der Seele

    Die Urbanisierung der Seele.

    Über Zivilisation und Wildnis

    Das Ewig-Weibliche als Motiv aller Motive ist weit weniger biologischer Natur, als gemeinhin angenommen wird, denn gerade die Geschlechterrollen sind eine Folge der Zivilisation. Zuvor waren die Verhältnisse der Geschlechter stets anders arrangiert.

     

    Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele.
    Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele. Über Zivilisation und Wildnis; (ZeitGeister 2). tredition, Hamburg. 312 S. – Paperback 18,99 €, ISBN: 978-3-7482-1319-2. Hardcover 28,99 €, ISBN: 978-3-7482-1320-8. Erscheinungsdatum: 07.03.2019

    Wildbeuter sind nicht sesshaft, daher wäre es unsinnig, Besitztümer anzuhäufen und vererben zu wollen. Insofern ist auch nicht das Haben, sondern das Sein entscheidend, wenn und wo es um Anerkennung geht. – Unter den Bedingungen der Zivilisation geht es jedoch um Besitz und Status, vor allem in Bezug auf Frauen, was sich anhand von Allegorien über Weiblichkeit demontrieren läßt. Pandora steht symbolisch für die Verlockungen, Folgen und Nebenfolgen im Prozess der Zivilisation. Aphrodite verkörpert als Göttin der Liebe den Verdrängungs-Wettbewerb unter Frauen und die Entschiedenheit, im Zweifelsfall alles einzusetzen. Derweil steht die schöne Helena für das Schicksal, im Spiel der Mächte zum willenlosen Opfer und zur schönen Beute gemacht zu werden, um als Trumpf, Trophäe, vielleicht sogar im Triumph gewaltsam genommen zu werden. Es gibt eine Fotografie, die minutiös von Friedrich Nietzsche gegen den Einspruch der Beteiligten arrangiert worden ist. – Lou Andreas-Salomé hat Friedrich Nietzsche und Paul Rée vor ihren Karren gespannt. So könnte eine Interpretation lauten, zumal die Begehrte kurz zuvor die Heiratsanträge beider Männer abgelehnt hatte. – Es mag sein, dass Nietzsche sich von dieser enttäuschenden Liebe inspirieren ließ. Aber neben der biographischen Interpretation ist eine andere noch tiefgründiger, es geht um das Motiv aller Motive. Das berühmte Foto spottet jeder landläufigen Interpretation des gemeinen Spruchs: »Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht«. Gerade dieser Satz hat Nietzsche in Verruf gebracht. Betrachtet man aber das Foto genauer, so zeigt sich, wer hier die Peitsche führt: Es ist das Weib.  


    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben. 

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  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nennen: Der Mensch als Maß aller Dinge? Über Protagoras, Prometheus und die Büchse der Pandora (ZeitGeister 1); tredition Hamburg 2018. 232 S. – Paperback 16,99 €, ISBN: 978-3-7439-0090-5. Hardcover 26,99 € ISBN: 978-3-7439-0091-2. Erscheinungsdatum: 11.12.2018.

    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.

    Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.

    Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.

    Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Downloads freigegeben.

     

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Lehramt,  Lehre,  Leib,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Schuld,  Schule,  Seele,  Technikethik,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Vorlesung,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

  • Anthropologie,  Ironie,  Moderne,  Zeitgeist

    Philosophie in Echtzeit

    Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse

    Am 17. Juli 1999 hielt Peter Sloterdijk im oberbayerischen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Menschenpark“ – eine in Inhalt und Form überaus provokante Auseinandersetzung mit Fragen der Gentechnik im allgemeinen und des Klonens im besonderen. In über 1000 Artikeln und Rundfunkbeiträgen sowie zahllosen Leserbriefen artikulierte sich das Unbehagen an Sloterdijks unbequemen, schnell unter Faschismusverdacht gestellten Überlegungen.

    Gerade dieser Skandal hielt sich beträchtlich lang in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Eskalation der Debatte begann, wie so viele zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, verlief dann aber doch anders und endete eben nicht mit der Exkommunikation. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreichte seinen Kulminationspunkt mit dem Philosophen–Kongreß in Konstanz und endete, als die Frankfurter Buchmesse eröffnet wurde.

    Die Karawane öffentlicher Aufmerksamkeit war längst weitergezogen, so daß kaum Jemand ein winziges aber entscheidendes Detail noch hätte zur Kenntnis nehmen können. — Nur wer lange genug vor Ort blieb, einfach mit dem Gefühl, das könne noch nicht alles gewesen sein, sollte belohnt werden durch die Information über eine Begebenheit, auf die nur die Wirklichkeit kommt. Das Fazit ist dann auch überraschend mitten aus dem Leben gegriffen.

    Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EU.
    Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgen-abschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EU
    Dieses merkwürdige Detail war zwar schon frühzeitig bekannt, aber nicht ganz. Die inkriminierte Rede war schon zwei Jahre zuvor im Theater zu Basel auf einer Sonntagsmatinee zu Gehör gebracht und mit Gelächter goutiert worden. Die Ironie des ganzen Arrangements, die Spitzfindigkeit dieser Kritik am Humanismus, das Groteske an der These, der Humanismus habe versagt, man müsse nunmehr unter Einsatz der Gentechnik an die Verbesserung, vulgo, an die Züchtung des Menschengeschlechts herangehen, war unter dem Ausdruck großer Heiterkeit vom Publikum aufgenommen worden. Das alles hatte der Redner selbst zu Protokoll gegeben in den vielen Interviews dieser Tage und Wochen.

    Was er jedoch offenbar nicht ohne Hintersinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein ebenso winziges wie entscheidendes Detail. Darauf hatte niemand kommen können, der nicht dabei gewesen ist oder, der nicht nachrecherchiert hat im Theater zu Basel, was es mit dieser Matinee auf sich gehabt haben könnte. — Sloterdijk hatte höchstselbst berichtet von dieser Veranstaltung, in der er also anwesend gewesen sein muß. Was er aber nicht ausgeplaudert, sondern mutmaßlich ganz bewußt verschwiegen hat, war die nicht unerhebliche Tatsache, daß dieselbe Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Theater zu Basel von einem Schauspieler vorgetragen worden war. Es waren zwar dieselben Worte, aber Redner, Publikum und auch die Kulissen waren wie ausgewechselt. Die Ironie, die Satire und die humane Kritik am Humanismus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Berichterstatter vor Ort, die den Skandal suchten und fanden. Sie mißachteten dann auch die Signale der Ironie, sondern sahen und hörten, was sie gesehen und gehört haben wollen.

    Es wäre ein wünschbarer Nebeneffekt dieser Studie, würde es künftig hin und wieder eine derartige Untersuchung in einem ähnlichen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qualität der Medien und ihrer Vertreter einmal mehr einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei lassen sich große qualitative Unterschiede feststellen: Es gibt durchaus positive Beispiele auch in dieser Debatte, wo Berichterstatter und Kommentatoren mit gutem Gespür, großem Feingefühl und nicht zuletzt auch mit Sachkenntnis vorgegangen sind. Vorentschiedenheit und beflissentliche Parteilichkeit, gepaart mit Unverständnis, sind dagegen häufig die entscheidenden Faktoren für definitiv schlechte, falsche, möglicherweise bewußt falsche Berichterstattung, mit der niemandem und schon gar nicht der Öffentlichkeit gedient sein kann.

    Die vorliegende Chronik der Sloterdijk-Debatte ist zugleich ein philosophisches Experiment, den Fall einer Skandalisierung einmal bewußt systematisch zu rekonstruieren, um zu beobachten, wie sich Information und Desinformation, Inszenierung und Gegeninszenierung zueinander verhalten, wie sich Öffentlichkeit im Zeitalter ihrer Medienförmigkeit konstituiert, wie sich dabei die Alltagsvernunft ausnimmt und wie es um die Idealität idealer Diskurse bestellt ist, — alles wiederum beobachtet unter Anleitung eines Chronisten und bewertet aus den wechselnden Perspektiven eines Zuschauers, von dem angenommen wird, daß dieser sich auf etwas Besonderes versteht: „Die Kunst des Zuschauers“, erst allmählich herauszubekommen, was eigentlich gespielt wird.

    Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit @ Google Books

    Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit @ Königshausen & Neumann Verlag

    Heinz-Ulrich Nennen: Philosopie in Echtzeit. @ Amazon

     

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