Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Theorien der Kultur

Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Pyg­ma­li­on, ein Künst­ler in Zypern, ist maß­los ent­täuscht von den Frau­en und lebt nur noch für sei­ne Bild­haue­rei. Unbe­wußt erfüllt er sich sei­nen Traum durch eine von ihm erschaf­fe­ne Elfen­bein­sta­tue, die wie eine leben­di­ge Frau aus­sieht und dabei sei­nem Ide­al ent­spricht. Das Abbild behan­delt er mehr und mehr wie einen ech­ten Men­schen und schließ­lich ver­liebt er sich in sei­ne Kunstfigur.

Zypern ist die Hei­mat von Venus, daher fleht der Künst­ler die Göt­tin der Lie­be an ihrem Fest­tag inbrün­stig an, wenn schon sei­ne Sta­tue nicht zum Men­schen wer­den kön­ne, so sei ihm wenig­stens ver­gönnt, daß sei­ne künf­ti­ge Frau so sei wie diese.—Als er dann aber von den Fei­er­lich­kei­ten für die Göt­tin wie­der nach Hau­se zurück­kehrt und die Elfen­bein­sta­tue zu lieb­ko­sen beginnt, erwacht die­se lang­sam zum Leben.

***

Es ist aus­schließ­lich das Pri­vi­leg der Göt­ter, dem was leben soll, die See­le ein­zu­hau­chen. Im Sin­ne der magi­schen Welt­auf­fas­sung kön­nen See­len aller­dings beein­flußt wer­den. Gleich­wohl zielt der hin­ter alle­dem ver­bor­ge­ne Wunsch­traum zielt genau dar­auf ab, die­se Dif­fe­renz­zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit immer klei­ner wer­den zu lassen.—Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ulti­ma­ti­ves Künst­ler­glück, wenn die Wer­ke tat­säch­lich täu­schend echt wir­ken oder viel­leicht sogar zum Leben erwachen.

Dar­auf zie­len letzt­lich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Phi­lo­so­phie: Es gilt, das abso­lu­te Wort, das ulti­ma­ti­ve Werk oder die voll­kom­me­ne Ein­sicht zu fin­den, zu schaf­fen oder zu rea­li­sie­ren. Die­ser nicht sel­ten mit Hybris ein­her­ge­hen­de Wil­le zum Werk legt es tat­säch­lich dar­auf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewe­gen‹ und tat­säch­lich zu leben begin­nen. Auch der Traum des Phä­no­me­no­lo­gen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu spre­chen begin­nen, so daß wir nicht mehr mit Unter­stel­lun­gen, Annah­men und Ver­mu­tun­gen arbei­ten müs­sen, son­dern ein­fach nur zuhö­ren, zuse­hen und mit­er­le­ben können.

ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Hybris, das bedeu­tet Grenz­über­schrei­tung und zwar in einem über­aus magi­schen Sin­ne, etwa wenn eine eigent­lich unbe­seel­te Pup­pe wie Pinoc­chio, eine Skulp­tur wie die Gala­tée des Pyg­ma­li­on oder wenn ein Kunst­werk wie Das Bild­nis des Dori­an Gray zum Leben erwacht. Auch das ent­ge­gen­ge­setz­te Ver­fah­ren ist hoch pro­ble­ma­tisch, etwa wenn die See­le in ihrer emo­tio­na­len Beweg­bar­keit, in der sie eben ›gerührt‹ wer­den kann, ein­fach aus­zu­schal­ten, wenn sie durch einen kal­ten Stein ersetzt wird, wie in Das kal­te Herz von Wil­helm Hauff—Mit alle­dem gehen größ­te Befürch­tun­gen ein­her, die kos­mi­sche Ord­nung könn­te fun­da­men­tal gestört und viel­leicht sogar zer­stört wer­den. Es sind womög­lich bald schon kei­ne Ein­zel­fäl­le mehr, wenn so etwas auch nur ein ein­zi­ges Mal unge­straft mög­lich gewor­den ist.

Die Fas­zi­na­ti­on bei der Vor­stel­lung über die Macht magi­scher Wor­te ver­kehrt sich in gera­de Gegen­teil ange­sichts der Hor­ror­vor­stel­lun­gen, die sich sogleich ankün­di­gen, wenn auch nur einen Augen­blick dar­an gedacht wird, so etwas könn­te tat­säch­lich und wirk­lich mög­lich sein. Nicht nur die Gren­ze zwi­schen Wunsch und Wirk­lich­keit wäre dann nicht mehr von Bedeu­tung. Damit aber wür­den fun­da­men­ta­le Ori­en­tie­rungs­wei­sen unmög­lich gemacht, so daß sich zeigt, wor­um es bei sol­chen Hor­ror­vor­stel­lun­gen wirk­lich geht: Wo Arte­fak­te leben­dig wer­den, wo Sachen selbst zu spre­chen begin­nen, wo fun­da­men­ta­le Gren­zen nicht mehr gel­ten, dort wür­de die Ord­nung der Din­ge bis in die Fun­da­men­te erschüttert.

Es geht dabei aller­dings weit weni­ger um die Natur der Sachen selbst, als viel­mehr um den Bestand der Kul­tur. Alle rele­van­ten Ori­en­tie­rungs­mu­ster set­zen auf sol­che Unter­schei­dun­gen, daher kann es gar nicht denk­bar sein, daß die Gren­zen zwi­schen dem Leben­den und dem Toten, dem Unbe­seel­ten und dem Beseel­ten oder zwi­schen dem Künst­li­chen und dem Natür­li­chen nach Belie­ben über­schrit­ten wer­den. Das ist dann auch der Grund für das Grau­en, den Abscheu aber auch die Fas­zi­na­ti­on und das heim­li­che Inter­es­se an der Magie als schwar­ze Wis­sen­schaft oder auch ein­fach nur als Zauberkunst.

Aus­zug aus: https://​www​.nen​nen​-online​.de/​e​m​p​a​t​h​ie/


Ökologie im Diskurs

Ökologie im Diskurs.
Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie
und zur Ethik der Wissenschaften

Drei mög­li­che Begrün­dungs­ebe­nen las­sen sich unter­schei­den, auf die sich Moti­ve für Natur­schutz zurück­füh­ren las­sen: natur­wis­sen­schaft­li­che–, ästhe­ti­sche– und ethi­sche Begrün­dun­gen. Die­se drei mög­li­chen Per­spek­ti­ven wer­den aller­dings, anders als zu erwar­ten wäre, weder gleich­be­rech­tigt noch gleich­ran­gig ange­nom­men; es läßt sich ein Hang zur erste­ren, der natur­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on beob­ach­ten, wenn Moti­ve fur Natur­schutz begrün­det wer­den sol­len. Gleich­falls ist eine gewis­se Scheu vor ästhe­ti­schen oder ethi­schen Kri­te­ri­en zu beob­ach­ten; letz­te­re ver­küm­mern gera­de­zu, wenn ihnen aus Grün­den, die wir prü­fen wol­len, allen­falls noch der Sta­tus von Hilfs­ar­gu­men­ten ein­ge­räumt wird.

In der Tat sind die­se drei Begrün­dungs­ebe­nen nicht gleich­ran­gig. Die allein mit ästhe­ti­schen und ethi­schen Sät­zen for­mu­lier­ba­ren Kri­te­ri­en qua­li­ta­ti­ver Natur sind, sofern sie tat­säch­lich qua­li­ta­ti­ve Momen­te aus­for­mu­lie­re, immer schon dem natur­wis­sen­schaft­li­chen und quan­ti­fi­zie­ren­den Zugriff ent­zo­gen; sie sind nicht gleich­ran­gig, weil sie auf ver­schie­de­nen Erkennt­nis­ebe­nen ope­rie­ren, aber sie sind gleichberechtigt.—Begründungen, war­um etwa ein Baum, eine Tier­art, eine bestimm­te Land­schaft oder z.B. die Wäl­der des Ama­zo­nas zu schüt­zen sei­en, las­sen sich bei­spiel­haft für alle drei Ebe­nen ange­ben: Weil der Baum z.B. Sau­er­stoff pro­du­zie­re oder weil Abhol­zen der Amazonas–Wälder das glo­ba­le Kli­ma gefähr­de, weil der Baum und sei­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Land­schaft dem Men­schen Erleb­nis­se äuße­rer und inne­rer Erfah­rung ermög­li­che, die unwie­der­bring­lich ver­lo­ren wären, und schließ­lich, weil es dem Men­schen nicht erlaubt sei ohne Not zu töten, weil jedes Lebe­we­sen ein allein durch sei­ne Exi­stenz ver­brief­tes Recht auf art­ge­rech­tes Leben habe und weil im Fal­le der Zer­stö­rung der Ama­zo­nas­wäl­der den dort leben­den India­nern die Exi­stenz­grund­la­ge genom­men wäre.

Cha­rak­te­ri­stisch für die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Begrün­dungs­ebe­ne sind Argu­men­te, die einen bestimm­ten Zweck als not­wen­dig vor­aus­set­zen (Vor­der­satz) und dann im Rah­men einer Wenn–dann–Folge die Gefähr­dung oder mög­li­che Zer­stö­rung eines als zweck­ra­tio­nal aner­kann­ten lebens­not­wen­di­gen Zusam­men­hangs begrün­den (Schluß­satz). Ein der­ar­ti­ges Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster insi­stiert stets auf die zwin­gen­de Not­wen­dig­keit uner­wünsch­ter Fol­gen. Weit­aus schwie­ri­ger las­sen sich Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge unter ästhe­ti­schen oder ethi­schen Gesichts­punk­ten gestal­ten, wenn erwar­tet wird, sie soll­ten eben­falls Schluß­fol­ge­run­gen ermög­li­chen, die zwin­gend not­wen­dig sind. Es kann aber von Sinn­zu­sam­men­hän­gen gera­de nicht ohne wei­te­res erwar­tet wer­den, daß sie zweck­ra­tio­na­le Schluß­sät­ze begrün­den, dazu sind sie nicht prä­de­sti­niert, denn sinn­haf­te und sinn­vol­le Argu­men­te wer­den mit­un­ter gera­de durch ein Rela­ti­vie­ren von Zwecken erst möglich.

An der Not­wen­dig­keit öko­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen in den Natur­wis­sen­schaf­ten scheint nie­mand mehr ernst­haft zwei­feln zu wol­len, es kommt nun­mehr dar­auf an, auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten mit ein­zu­be­zie­hen. Was ange­sichts anthro­po­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen gelang, muß auch in der Öko­lo­gie gelin­gen; not­wen­dig ist der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Dis­kurs der Öko­lo­gie, wobei die Zahl der hier zu betei­li­gen­den Wis­sen­schaf­ten aller­dings bedeu­tend gro­ßer wäre. Dabei muß es den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen zunächst im Rah­men ihrer jewei­li­gen Zustän­dig­keit selbst über­las­sen blei­ben, ihre je eige­nen Kri­te­ri­en zur Bestim­mung des Öko­lo­gi­schen zu ent­wickeln. Im Vor­feld der Dis­kur­se muß die Möglich­keit zur Selbst­be­stim­mung gewähr­lei­stet sein, Über­grif­fe oder vor­schnel­le Ver­bin­dun­gen sind abzu­leh­nen; eine Begren­zung des­sen was Öko­lo­gie ist, kann nur in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Fra­ge­stel­lung, also von Fall zu Fall rat­sam sein, im Grun­de aber ist die­ser Dis­kurs als mul­ti­dis­zi­pli­nä­rer offe­ner denn je. Wenn zudem noch öko­lo­gi­sche Dis­zi­pli­nen den Men­schen mit ein­be­zie­hen sol­len, und sie wer­den nicht umhin kön­nen die­ses zu tun, so tre­ten neben die Kri­te­ri­en der phy­si­schen Natur zusätz­lich sol­che der psychischen–.

Zur psy­chi­schen Natur des Men­schen gehört die Mög­lich­keit ästhe­ti­scher Erfah­rung, eine Fähig­keit, die unter bestimm­ten Umstän­den auf­tritt, die unter den Erschwer­nis­sen ent­frem­de­ter Lebens­ver­hält­nis­se die per­so­na­le Inte­gra­ti­on durch das Erle­ben von Ganzheits–Erfahrungen gewähr­lei­sten kann. So wie das Indi­vi­du­um sei­ner­seits sei­ne Ent­ste­hung einem bestimm­ten histo­ri­schen und topo­gra­phi­schen Ort ver­dankt, so ist auch die Wahr­neh­mung des Natur­schö­nen ihrer­seits an Vor­aus­set­zun­gen gebun­den, die bedingt erfüllt sein müs­sen, bevor eine Land­schaft in Abse­hung vom Zweck als schön emp­fun­den wer­den kann…

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Philosoph mit Wohnmobil

Ein Karlsruher Hochschul–Dozent
studiert an Münsters Hafen das Leben

Die­ser Mann lehrt als Dozent an der Uni­ver­si­tät im baden-würt­tem­ber­gi­schen Karls­ru­he. Aber den Phi­lo­so­phen zieht es immer wie­der ins west­fä­li­sche Mün­ster. Dort lebt Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen in einem Wohn­mo­bil direkt am Ufer des alten Indu­strie­ha­fens. „Sonn­tags gehen die Men­schen hier anders“, sagt er. Dann fla­nier­ten sie – wäh­rend sie in der Woche hetz­ten. Aber das ist nur ein Bei­spiel des Hafen­le­bens, das Nen­nens Vor­le­sun­gen schreibt.

Mor­gens, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zieht sich Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Er hat Fami­lie und Woh­nung in Unna und einen Lehr­auf­trag in Karls­ru­he. Aber sein Zuhau­se steht hier: Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“.

Ein Wohn­wa­gen Bau­jahr 1988, 11,20 Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der Hafen-Gastro­no­mie. „Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein. Man kann zuschau­en, wie sie geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te poin­tiert betont.

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dunk­len, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. Den Tag über war er auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er zuhau­se. Schick in schwarz geklei­det sitzt er am Schreib­tisch. Auf dem Fuß­bo­den Lami­nat, an den Wän­den Schrän­ke in Eiche mas­siv. „Hier füh­le ich mich daheim“, sagt er, kocht sofort einen Tee und erzählt.

Auf dem Tisch steht noch das Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. An den Wän­den hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. „Ich will auf kei­nen Luxus ver­zich­ten“, sagt er. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Früh tauch­te der Rhei­nen­ser in Mün­ster auf, ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp 20 Jah­ren – „mit sum­ma cum lau­de“ – an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. Er dach­te, die Arbeits­welt reißt sich um ihn, wenn er sich bewirbt. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn wei­ter. Die erste Zeit war er arbeits­los, dann unter­rich­te­te er ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re in einem Stutt­gar­ter Insti­tut rund um die Fol­gen der Atomkraft.

Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te. Nen­nen: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert.“ Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Sei­ne Vor­le­sun­gen an der Uni Karls­ru­he schreibt er jede Woche neu – oft nachts am mün­ster­schen Hafen­ufer. Sei­ne The­men: „Empa­thie“, „Psy­che“ oder „Selbst­ver­stän­di­gung“.

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­wa­gen beob­ach­tet er sie, stu­diert sie und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal wacht man auf, da ist Tri­ath­lon. Mal kommt doch noch ein Güter­zug.“ Und mal erhö­hen die Tanz­jün­ger im Hea­ven den Beat. Das erin­ne­re ihn immer an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Sie suchen das Band, viel­leicht auch einen Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

Nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­wa­gen: „Ich brau­che Rum­mel. Der inspi­riert mich.“ Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand und krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Erschie­nen in: Mün­ster­sche Zei­tung (20. Sep­tem­ber 2008)


Der Hafen–Philosoph

Gedanken aus einem
indianischen Winnebago an Münsters Hafenufer

Von Tobi­as Wink­ler, wink­ler­wir­red

Der Karls­ru­her Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie, Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, steht regel­mä­ßig mit sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Wohn­mo­bil in Mün­sters Hafen. Denn das Leben dort schreibt sei­ne Vor­le­sun­gen. In den Pau­sen lädt er als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ zur klei­nen Den­ker­run­de übers Denken.

In den frü­hen Mor­gen­stun­den, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen klei­nen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zie­he er sich seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen arbei­tet als Hoch­schul­leh­rer an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he. Aber sein mobi­les Büro steht immer wie­der an Mün­ster Hafenufer.

Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“. Es ist ein groß­räu­mi­ges, sil­ber­nes Wohn­mo­bil: Bau­jahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der bun­ten Gastro- und Fla­nier­mei­le des alten Mün­ste­ra­ner Indu­strie­ha­fens. Es ist ein schö­nes, statt­lich aus­ge­bau­tes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier kom­plett hei­misch füh­len und auf nichts ver­zich­ten“, erklärt Heinz-Ulrich Nen­nen. „Ich habe lan­ge nach die­sem Wohn­mo­bil gesucht. Es ist das ein­zi­ge Modell, das die­sen Luxus bie­tet.“ Nun ist der Win­ne­bago sein „klei­nes Denk­bü­ro“, wie er ihn lie­be­voll nennt. Er ist sein mobi­les Schneckenhaus.

Fertighaus auf Rädern

Oft steht die­ses nahe­zu sta­tio­när wie ein Fer­tig­haus auf Rädern auf den aus­ge­dien­ten Glei­sen neben einem alten Hafen­kran, der längst demon­tiert ist und an ein reges Leben der Hafen­ar­bei­ter erin­nert. Oder im Wohn­mo­bil­ha­fen eines benach­bar­ten Cam­ping­plat­zes. Denn das mäch­ti­ge Gefährt frisst zu viel Sprit, um dar­in stän­dig unter­wegs zu sein. Will Nen­nen wirk­lich mobil sein, steigt er auf ein ande­res Ver­kehrs­mit­tel um. In Mün­ster selbst ist er oft mit dem Fahr­rad oder dem Auto unter­wegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hin­zu. Geht es wei­ter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins süd­li­che Karls­ru­he sind es immer­hin mehr als vier­hun­dert Kilo­me­ter, die Nen­nen – zumin­dest in der war­men Jah­res­zeit – nahe­zu jede Woche zurück­legt. Die Hälf­te der Woche phi­lo­so­phiert er mit sei­nen Stu­den­ten, die ande­re Hälf­te sucht er neu­es phi­lo­so­phi­sches Fut­ter am mün­ster­schen Kanalufer.

„Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein“, führt er fort. „Man kann zuschau­en, wie sie kommt, vor­bei­läuft, vom ande­ren Ende wie­der zurück­kommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te mit sei­ner tie­fen, ein­fühl­sa­men Stim­me poin­tiert betont vor­trägt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nen­nen mit sei­nen Fin­gern gefühl­voll eini­ge Töne in die Luft. Es scheint als diri­gie­re er sei­ne Gedan­ken, es scheint als spie­le er auf sei­nem Luft­kla­vier die Melo­die des mün­ster­schen Hafenlebens.

Sehnsucht nach Stille

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dun­kel­grü­nen, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. An die­sem Tag kommt er gera­de vom Haupt­bahn­hof. Er war den gan­zen Tag über auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er „zuhau­se“. Er sitzt an sei­nem klei­nen Schreib­tisch. Den Fuß­bo­den unter ihm ziert echt anmu­ten­des Buchen-Lami­nat. Zwi­schen den Fen­stern hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen, dane­ben bau­meln klei­ne Stoff-Gar­di­nen und an den Wän­den hän­gen Schrän­ke in Eiche mas­siv. Ein biss­chen US-gelei­te­ter Bie­der­mei­er, ein wenig moder­ne Spät­ro­man­tik oder doch deut­sche Hoch­klas­sik? Der Ein­rich­tungs­stil ist nicht gleich klar.

„Die Wohn­mo­bi­le wer­den von den Nach­kom­men der India­ner gebaut“, berich­tet Nen­nen. „Eigent­lich bin ich kein Eiche-Mas­siv-Typ. Ich ste­he eher auf unter­kühl­te Moder­ne mit Selbst­iro­nie.“ Auch wenn die Innen­ein­rich­tung durch­aus ande­res erah­nen lässt, äußer­lich hat Nen­nen offen­bar das per­fek­te Heim gefun­den: Der india­ni­sche Win­ne­bago erin­nert in sei­ner Form an ame­ri­ka­ni­sche Kühl­schrän­ke. Die­se klo­bi­gen, bun­ten oder metall-far­be­nen, rund­lich-abge­run­de­ten, quad­er­för­mi­gen Exem­pla­re, die nicht für die Mon­ta­ge in der gut bür­ger­li­chen west­fä­li­schen Ein­bau­kü­che geeig­net sind. Sie müs­sen frei ste­hen. Und damit das Bild voll­ends per­fekt ist, müss­ten Magne­te an allen Sei­ten haf­ten. Mit Notiz-Zet­tel­chen, Fotos und Erin­ne­run­gen der schnelllebi­gen Welt dort drau­ßen. Aber, so Nen­nen: „Ent­schei­dend für den ame­ri­ka­ni­schen Auto­mo­bil­bau war die Eisen­bahn und für die­se wie­der­um der Schiffs­bau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kut­sche, son­dern aus dem Wag­gon­bau ent­wickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen brei­ter und grö­ßer als in Alt-Europa.“

„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“

Nen­nen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepfleg­te Erschei­nung. Das ist das erste, was auf­fällt. Der Hafen-Phi­lo­soph trägt aus­schließ­lich schwarz. Aus dem Aus­schnitt des wol­li­gen Knopf-Pul­lis suchen sich dunk­le Brust­haa­re ihren Weg ans Tages­licht. Mit weit geöff­ne­ten Augen schaut er über sei­nen grau-melier­ten Voll­bart hin­weg. Auch in sei­nem dunk­len Haar schim­mern immer wie­der hel­le­re, manch­mal dün­ne­re, manch­mal dicke­re Sträh­nen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohn­mo­bil durch­aus gro­ßen Tisch steht noch das letz­te, nicht ganz aus­ge­trun­ke­ne Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. Es war eine der län­ge­ren Näch­te. Die kom­men häu­fi­ger vor.

Dann sitzt der Phi­lo­soph immer an sei­nem schwar­zen IBM-Lap­top und beob­ach­tet durch die gut geputz­ten Fen­ster­schei­ben die Welt außer­halb sei­nes mobi­len Denk­bü­ros. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Satel­li­ten-TV, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage lang aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Partygänger am anderen Ufer

Aus die­sen eige­nen vier, siche­ren und mobi­len, Wän­den beob­ach­tet er in dunk­len Näch­ten die Par­ty­gän­ger auf der ande­ren Ufer­sei­te des Kanal­ha­fens. Er schaut, wie die Men­schen an ver­schie­de­nen Wochen­ta­gen gehen oder wie sie in Gesprä­chen gesti­ku­lie­ren. Dann denkt er sich Geschich­ten dazu aus. „Die Men­schen gehen jeden Tag anders“, berich­tet er. „Am Sonn­tag fla­nie­ren sie gelas­sen an den Cafés und Knei­pen vor­bei. Sehen und gese­hen wer­den – das ist wie auf der Pro­me­na­de in Vene­dig.“ Wochen­tags hin­ge­gen sei der Gang hek­ti­scher. Die Leu­te sei­en dann gar nicht dort, wo sie gera­de sind, son­dern in Gedan­ken bereits sehr viel wei­ter. „Sie neh­men die Umge­bung gar nicht rich­tig wahr, weil sie nur Distan­zen über­win­den. Das ist beim Fla­nie­ren ganz anders.“

Sein phi­lo­so­phi­sches Denk­werk hat Heinz-Ulrich Nen­nen an der West­fä­li­schen-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Mün­ster gelernt. Bereits im Teen­ager-Alter tauch­te der gebür­ti­ge Rhei­nen­ser in der Dom­stadt auf, er ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp zwan­zig Jah­ren an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. „Mit sum­ma cum lau­de“, betont er nicht arro­gant oder prot­zend, aber durch­aus wis­send. Wohl wis­send und bedacht um den gesell­schaft­li­chen Dok­to­ren-Sta­tus, aber durch­aus mit der Lebens­er­fah­rung, dass ein „Dr.“ im Lebens­lauf nicht all­mäch­tig macht. Nach sei­ner Pro­mo­ti­on dach­te er, die Arbeits­welt reißt sich um ihn. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn weiter.

Atomkraftwerke und Klimawandel

Die erste Zeit war er arbeits­los und auf der Suche. Dann unter­rich­te­te er an der Dort­mun­der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re für die Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung rund um die Aus­wir­kun­gen der Atom­kraft und des Kli­ma­wan­dels. Zwei The­men, die den gesell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs bis heu­te prä­gen. „Sie waren bereits in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ein bren­nen­des phi­lo­so­phi­sches The­ma“, erzählt Nen­nen. Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert. Ein phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment, um zu zei­gen, dass so etwas mög­lich ist.“

Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Es sind immer wie­der klei­ne Momen­te und win­zi­ge Augen­blicke des All­tags und deren Men­schen, die ihn inspi­rie­ren. Sie sind ein klei­ner Teil eines phi­lo­so­phi­schen Ana­ly­se-Patch­works. „Ich schrei­be mei­ne Vor­le­sun­gen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gera­de treibt – und um das, was sich um ihn her­um in Mün­sters Hafen treibt. Wis­sen­schaft­lich aus­ge­drückt: „Empa­thie“, „Psy­che“, „Selbst­ver­stän­di­gung“, „Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie“ oder „Psy­cho­ge­ne­se“. Das sind die Berei­che, die Nen­nen in For­schung und Leh­re der Karls­ru­her Uni haupt­säch­lich übernimmt.

„Der Hafen ist unberechenbar.“

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­mo­bil beob­ach­tet er das Trei­ben, kommt ins Den­ken und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal sind Schwim­mer im Was­ser, dann sind Tri­ath­lon-Wett­be­wer­be. Mal ist Hafen­fest, dann legt die ‚MS Wis­sen­schaft‘ an, um Baum­stäm­me zu ver­la­den. Mal setzt die Hal­le Mün­ster­land still­ge­leg­te Gleis­ma­schi­nen für eine Aus­stel­lung auf die alten Schie­nen, dann kommt plötz­lich doch noch ein Güter­zug.“ Dabei sind die Glei­se neben dem alten Hafen­kran seit Jah­ren längst ver­waist. Als grün ver­wach­se­ne, rostig-röt­li­che Lini­en zie­hen sie sich unter Nen­nens Wohn­mo­bil her. Sie füh­ren die Spa­zier­gän­ger und ihre Hun­de und wei­sen ihnen einen gerad­li­ni­gen, par­al­le­len Weg zum wel­li­gen Was­ser im Hafenbecken.

Es ist wohl die Abwechs­lung, das stän­dig Neue, was der Phi­lo­soph braucht. Vor allem ist es aber das Unvor­her­seh­ba­re und das Unvor­her­ge­se­he­ne. Das scheint ihn in sei­ner Phi­lo­so­phie anzu­trei­ben. Dazu gehört auch der gewohn­te, aber nicht zwangs­läu­fi g gleich­mä­ßi­ge Takt der Tanz­jün­ger im „Hea­ven“, einem Sze­ne­club, der eini­ge Dut­zend Meter Luft­li­nie ent­fernt am ande­ren Ufer des Kanals liegt. Wenn Nen­nen am Wochen­en­de oder nach Mün­sters stu­den­ti­schem Par­ty­mitt­woch spät nachts in sei­nem Denk­bü­ro hockt, hört er wie sie den Beat zur frü­hen Tages­stun­de erhö­hen. Unwill­kür­lich denkt er an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Die­ser Sound wirkt, als such­ten sie das Band als Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

„Ich brauche den Rummel.“

Aller­dings nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­mo­bil: „Ich brau­che den Rum­mel um mich her­um. Der inspi­riert mich“, bestä­tigt Nen­nen. Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgend­wann ist es dann wie­der fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem klei­nen Fen­ster sei­nes Win­ne­bagos. Irgend­wann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Sie kommt, läuft vor­bei, kehrt vom ande­ren Ende wie­der zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem klei­nen Hafen­kos­mos Leben ein. Nen­nen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Szenenwechsel

Es ist nicht ganz zwölf Mona­te spä­ter. Dies­mal ver­ab­re­den wir uns am ande­ren Ufer des Hafens gegen­über von Nen­nens Wohn­mo­bil. Bes­ser gesagt: gegen­über vom gewohn­ten Platz des Win­ne­bagos. Denn der steht an die­sem Tag nicht dort. Nen­nen hat an die­sem Tag im nahen Fues­trup am Kanal­über­gang einen ande­ren Hafen für sein Denk­bü­ro gefun­den. Die­ser klei­ner Umstand hält ihn aller­dings kei­nes­wegs vom Den­ken ab. Ganz im Gegenteil.

An einem Gelän­der schließt Heinz-Ulrich Nen­nen sein gemüt­li­ches Fahr­rad ab. Der Rah­men hat eine äußerst außer­ge­wöhn­li­che Form. Das ele­gant, leich­te Modell erin­nert an Omas altes Hol­land­rad, aber irgend­wie hat es auch etwas von einem die­ser moder­nen Crui­ser-Bikes. Der Rah­men aus gera­dem, schwar­zen Rohr ist mehr­fach ver­strebt. Sei­ne Win­kel bil­den die Sil­hou­et­te eines schwe­ben­den Dra­chens, der wäh­rend der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Die­ses Modell ist bereits Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gebaut wor­den“, erklärt Nen­nen. Das gilt zwar nicht für sein Exem­plar, aber zumin­dest für das Patent: „Das Peder­sen ist ein um 1890 von dem Dänen Mika­el Peder­sen ent­wickel­tes Rad, das drei Jah­re spä­ter zum Patent ange­mel­det und spä­ter in Chri­stia­nia, einer alter­na­ti­ven Wohn­sied­lung in Kopen­ha­gen, wie­der­ent­deckt wur­de. Man hat damals über­legt, ob es mög­lich ist, Fahr­rä­der aus Bam­bus zu bau­en, was fast funk­tio­niert hätte.“

Unscheinbare Augenblicke

Auch bei die­sem sei­ner Ver­kehrs­mit­tel weiß Nen­nen um die Histo­rie. Der Win­ne­bago als india­ni­sches, groß­räu­mi­ges Lebens­do­mi­zil und eine däni­sche, geschichts­träch­ti­ge Lee­ze – für Phi­lo­soph Nen­nen sind sie nicht nur Gebrauchs‑, son­dern auch Luxus­ge­gen­stän­de. Sie unter­schei­den den land­strei­chen­den Glo­be­trot­ter, den gril­len­den Lam­pi­on-Cam­per und Heinz-Ulrich Nen­nen ein­mal mehr ganz deut­lich von­ein­an­der. Geklei­det ist er wie beim ersten Tref­fen: Wie­der trägt er einen schwar­zen, ele­gan­ten Woll­pul­li zu einem dezent gestreif­ten Sak­ko. Der Bart sieht nicht bedeu­tend grau­er aus, die Haa­re auch nicht. Nen­nen schrei­tet über die alten Güter­schie­nen, die ihn gera­de­aus mit Blick in Rich­tung der bun­ten Leucht­re­kla­me des Kinos führen.

„Wir sind sehr mäch­tig im Kulis­sen­schie­ben“, mur­melt er durch sei­nen Voll­bart. „Es sind unschein­ba­re Augen­blicke, die wir schnell über­se­hen. Augen­blicke, die eine ent­schei­den­de Wei­che im Leben stel­len. Beson­ders span­nend sind Irr­tü­mer“, sagt der Phi­lo­soph. „Wir irren uns in Momen­ten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bau­en dar­auf unser kom­plet­tes Leben auf. Wir bau­en unse­re Büh­ne so, wie wir es wol­len. Das birgt eine gewal­ti­ge Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nen­nen hält kurz inne und über­legt. Etwa wir selbst? Das gan­ze Leben ein Thea­ter? „Aber es eröff­net zugleich eine rie­si­ge Chan­ce“, fährt er fort. Aller­dings unter einer sehr ent­schei­den­den, wenn nicht not­wen­di­gen Bedin­gung: „Wir müs­sen unse­re Sou­ve­rä­ni­tät behal­ten! Nur dann kann man sagen: Es sind mei­ne ganz per­sön­li­chen Erfah­run­gen, die ich mache, nicht irgend­wel­che. Ich lass’ das jetzt erst mal so lau­fen – und schaue ein­fach mal zu, was mit mir passiert.“

Philosophisches Café

Man merkt schnell, was er bereits vor die­sem Gespräch ange­kün­digt hat: Heinz-Ulrich Nen­nen hat sein phi­lo­so­phi­sches Schaf­fen in Mün­ster aus­ge­wei­tet. Er arbei­tet hier nun auch als lebens­phi­lo­so­phi­scher Weg­wei­ser. Das ein­sti­ge Phan­tom des Indu­strie­ha­fens ist zu einem Rat­ge­ber in Mün­sters all­tags­phi­lo­so­phi­scher Oper gewor­den. Denn Nen­nen hat im ver­gan­ge­nen Jahr ein neu­es Betä­ti­gungs- und Denk­feld ent­deckt. Er lädt inzwi­schen gemein­sam mit der Volks­hoch­schu­le zum sonn­täg­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Café“ und zieht als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ durch die west­fä­li­sche Dom­stadt. Soll hei­ßen: Der Phi­lo­soph kommt zu Besuch oder man kann ihn besu­chen – in sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Winnebago-Wohnmobil.

In einem benach­bar­ten Café bestellt er einen Pro­sec­co und plau­dert. „Ich will den Men­schen gedank­li­che Impul­se mit auf den Weg geben und das Den­ken über das eige­ne Den­ken und Tun för­dern“, erklärt er. Die Ter­min­ver­ein­ba­rung lau­fe modern per E‑Mail und an Ambu­lanz möge er die „Iro­nie des Not­dürf­ti­gen”. Denn die Phi­lo­so­phie sei gar nicht so aka­de­misch, wie vie­le Men­schen den­ken. „Sie ist in ihren Ursprün­gen vor allem eine Lebens­kunst, die auch mit Hei­ter­keit zu tun hat und die uns zum Schmun­zeln bringt. Erkennt­nis muss doch nicht weh tun. Gera­de Selbst­er­kennt­nis soll­te berei­chern!“ Der ambu­lan­te Phi­lo­soph selbst habe bereits in sei­ner revo­lu­tio­när-auf­müp­fi­gen Zeit der Puber­tät ange­fan­gen, übers Den­ken nach­zu­den­ken. „Ich habe ange­fan­gen, in Even­tua­li­tä­ten zu den­ken”, erklärt er. Er habe damals wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen mit sei­ner Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­chen Idea­len und mora­li­schen Regeln nicht in die­ses System und die­se Welt gepasst.

Student mit Selbstversorger–Hof

Als er als Teen­ager nach Mün­ster kam, hau­ste er zunächst in einer Wohn­ge­mein­schaft. Spä­ter mie­te­te er sich ein altes Bau­ern­haus in Asche­berg – rund fünf­und­zwan­zig Kilo­me­ter ent­fernt der Dom­stadt. Nen­nen: „Das muss­te damals ein­fach sein!” Schließ­lich war es die Zeit der länd­li­chen Kom­mu­nen, Aus­stei­ger und Selbst­ver­sor­ger. Nen­nen selbst war für hun­dert­fünf­zig Deut­sche Mark Mie­te aller­dings ganz bewusst allein zu Haus. Mög­lichst viel lesen, medi­tie­ren und dis­ku­tie­ren stand auf dem Pro­gramm. Wenn der klei­ne Kot­ten im Win­ter ein­ge­schneit war, hol­te er sich sei­ne Post auch schon mal aus einem Baum an der Stra­ße. Nen­nen: „Ganz wich­tig war die täg­li­che Ber­li­ner Tages­zei­tung. Die war damals ein Muss!” Nur im tief­sten Win­ter zog es ihn von sei­nem klei­nen Selbst­ver­sor­ger-Hof in das mün­ster­län­di­sche Dom­zen­trum: „Wenn die Toi­let­ten zuge­fro­ren waren, dann hat­te man ver­lo­ren und muss­te in die Stadt.”

Heinz-Ulrich Nen­nen spielt mit einer gol­de­nen Flie­ger-Son­nen­bril­le, die er auf dem Tisch vor sich pla­ziert hat. Nach der Zeit des „pro­gram­ma­ti­schen Aus­stei­ger­tums” habe er dann den Weg in „die­se Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mysti­schen Welt­an­schau­un­gen der Hip­pie-Gene­ra­ti­on.” Mit sei­ner Hand ver­treibt er immer wie­der die Flie­gen vom süßen Kaf­fee des Inter­view­ers. Die eine oder ande­re Dro­ge habe er damals pro­biert. „Nicht zum weg­schä­deln, son­dern zur Bewusst­seins­er­wei­te­rung”, betont er in gelas­se­nem Ton­fall, aber durch­aus mit einem stimm­lich erho­be­nen Zei­ge­fin­ger. Man kön­ne schließ­lich nur solan­ge gesund phi­lo­so­phie­ren, wie man nicht psy­cho­ti­sche Züge annimmt und aus der eige­nen Umge­bung und Wirk­lich­keit davon fliegt. So hat er irgend­wann in Büchern die Welt und in der Welt wie­der­um vie­les an Phi­lo­so­phie ent­deckt. Denn Phi­lo­so­phie­ren ist eine Fra­ge der Perspektiven.

Viele verschiedene Kameraperspektiven

So hat er sich gesetz­ten Alters offen­bar gut mit die­ser Welt arran­giert – mög­li­cher­wei­se gar ver­söhnt: „Wir kön­nen uns aus vie­len ver­schie­de­nen Kame­ra­per­spek­ti­ven betrach­ten. Der gesell­schaft­li­che Dis­kurs betont immer wie­der, dass wir ein­stim­mig sein sol­len. Dabei besitzt jeder Mensch doch so man­nig­fal­ti­ge Per­spek­ti­ven auf sich selbst, dass er auch unter­schied­li­chen Stim­men fol­gen kann.” Da kom­me es dar­auf an, „Herr der eige­nen Viel­falt” zu sein. Das bedeu­te nicht, sich an vagen Lia­nen durch den sozia­len Groß­stadt­dschun­gel zu han­geln, son­dern viel­mehr, die rich­ti­ge Lia­ne zu suchen, bevor man auf die wei­te­re Lebens­rei­se geht. Nen­nen: „Wir soll­ten in jeder Situa­ti­on ganz genau aus­lo­ten, wel­cher Stim­me wir bewusst fol­gen wol­len. Zunächst kommt es aber dar­auf an, alle die­se Stim­men wirk­lich zu vernehmen.”

Das bewusst­seins­er­wei­tern­de Hilfs­mit­tel der Dro­gen war ihm dabei immer schon suspekt. Das glei­che gilt sowohl für die Schul­me­di­zin, als auch die Arbeit mit Pati­en­ten, Kli­en­ten oder Kran­ken. So ist Nen­nen bewusst nicht Heil­prak­ti­ker gewor­den. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph will er nicht hei­len, son­dern der eige­nen Sou­ve­rä­ni­tät zum Auf­trieb ver­hel­fen. „Im inspi­rie­ren­den Dia­log“, betont er. Er habe die Dro­gen bewusst für sein Bewusst­sein ein­ge­setzt. Aber er habe immer dar­über nach­ge­dacht, wie sie ihn ihrer­seits beein­flus­sen, ihn hin­ters Licht füh­ren und an sei­nen Strip­pen zie­hen, um ihn mög­li­cher­wei­se aufs Kreuz zu legen. „Vie­le Men­schen han­deln wie Mario­net­ten, die sich in Erwar­tun­gen und Idea­len ver­wickelt haben”, gibt er zu beden­ken. Weil sie nicht über ihr Den­ken nach­den­ken, sei­en vie­le Mit­men­schen ver­strickt und gefan­gen in Erwar­tun­gen, Idea­len und sozia­len Net­zen, die sich häu­fig als ver­fehlt her­aus­stel­len, sobald das Den­ken dar­über in Gang kommt.

Weniger Antworten als Fragen

Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psy­cho-Doc. Oder ist es eine typi­sche Semi­nar­si­tua­ti­on, wie Nen­nen sie regel­mä­ßig mit sei­nen Stu­den­ten teilt? Die Wahr­heit bewegt sich wohl irgend­wo dazwi­schen. Ganz trenn­scharf sind die Lini­en zwi­schen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie ohne­hin nicht immer, gibt auch der Phi­lo­soph zu. Der Unter­schied zwi­schen bei­den ist wohl der Grad an Frei­heit. Ein Psy­cho­lo­ge behand­le eher Stö­run­gen, die einen Men­schen in sei­nem Leben ein­schrän­ken, dif­fe­ren­ziert Nen­nen. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph hin­ge­gen will er im Men­schen selbst das Hand- und Denk­werk­zeug wecken, sich in sei­ner sozia­len Umwelt zu fin­den und zu ver­or­ten: „Das ist Selbst­pro­gram­mie­rung”, sagt Nen­nen. „Phi­lo­so­phie­ren kostet Zeit. Wer es aus­ge­las­sen tut, ent­la­stet sich nicht, son­dern bela­stet sich zusätz­lich.” Denn die Phi­lo­so­phie beher­ber­ge weni­ger kon­kre­te Ant­wor­ten als immer mehr Fra­gen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesell­schaft stel­len kann. Nen­nen: „Daher braucht es den Phi­lo­so­phen als Rat­ge­ber in die­sen Fra­gen. Wie einen Pfad­fin­der, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedan­ken, Idea­le und Gefüh­le hin­durch führt.”

So müs­sen sei­ne Gesprächs­part­ner auch die Kosten für die ein­stün­di­ge Win­ne­bago-Den­ker­run­de von fünf­zig Euro selbst bezah­len. Einen Psy­cho­lo­gen zahlt im Regel­fall die Kran­ken­kas­se. Davon, dass das deut­sche Gesund­heits­sy­stem auch die phi­lo­so­phi­sche „Ori­en­tie­rung zur Selbst­ori­en­tie­rung”, wie Nen­nen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stück­chen ent­fernt. Der gesell­schaft­li­che Trend zum Nach­den­ken übers Den­ken sei Jahr­tau­sen­de nach Pla­ton aller­dings wie­der auf dem Weg zurück ins all­ge­mei­ne Bewusst­sein, stellt er fest: „War­um bekommt Richard David Precht sonst eine eige­ne Fern­seh­sen­dung?” Die Phi­lo­so­phie scheint gera­de in der Kri­se und in einer Über­gangs­zeit an Bedeu­tung zu gewin­nen. Denn gera­de dann suchen die Men­schen nach etwas Neu­em, wor­an sie sich fest­hal­ten kön­nen. Dabei soll­ten sie doch viel bes­ser dar­über nach­den­ken, wie sie sich selbst vor allem auch von neu­en Sei­ten ken­nen ler­nen und selbst ori­en­tie­ren kön­nen, mahnt Nennen.

Postmoderne Zersplitterung

Nur all­zu­oft sieht der ambu­lan­te Phi­lo­soph unse­re Idea­le mehr als nur zwie­späl­tig. „Ich habe den begrün­de­ten Ver­dacht, vie­le unse­re Idea­le könn­ten gar falsch sein”, streut er auf ein­mal und ein wenig plötz­lich ein. „Wir tref­fen Ent­schei­dun­gen ohne dar­über nach­zu­den­ken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spie­len Rol­len, ohne zu wis­sen, war­um wir sie so und nicht anders spie­len. Und das Schlimm­ste ist: Die mei­sten Men­schen glau­ben, sie wüß­ten, was sie den­ken und tun!” Kurz­um: Wir machen frem­de Idea­le zu unse­ren eige­nen – ohne zu wis­sen, war­um. Ein­fach so. Ohne jemals dar­über nach­ge­dacht zu haben. Es ist die sozia­le Ent­frem­dung und post­mo­der­ne Frag­men­ti­sie­rung, die der Phi­lo­soph beklagt.

Das Leben gestal­tet sich zuneh­mend kom­ple­xer. Es ist soviel da, aber alles nur bruch­stück­haft. Die Zivi­li­sa­ti­on und Ver­städ­te­rung habe die Men­schen zu ver­spreng­ten, zer­split­ter­ten Indi­vi­du­en gemacht, sagt Nen­nen. Bei allen posi­ti­ven Facet­ten der Indi­vi­du­li­tät han­del­ten die Men­schen aller­dings bei wei­tem noch nicht genü­gend selb­stän­dig und aus sich selbst her­aus. Denn gera­de das ist eine nicht immer wohl­schmecken­de Pil­le – vor allem für die, die in der Lage sind, sou­ve­rän zu denken.

Denken wie eine freischwebende Feder

Heinz-Ulrich Nen­nen ist ein Frei­den­ker. Er ver­gleicht die Phi­lo­so­phie ger­ne mit einer frei­schwe­ben­den Feder: „Ziel des Phi­lo­so­phie­rens ist es, die Feder stets in der Schwe­be zu hal­ten.” Sie darf nicht her­un­ter­fal­len, aber sie darf sich auch nicht mit dem näch­sten Wind­stoß so ein­fach ver­ab­schie­den. Nen­nen denkt bei die­sem Bild ins­be­son­de­re an die Ur-Phi­lo­so­phie eines Pla­ton: Solan­ge alles in der Schwe­be bleibt, ist der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs, der eige­ne Geist und damit auch das eige­ne Leben in Bewe­gung. Aller­dings offen­bart die Schwe­be-Phi­lo­so­phie – nicht zuletzt in Per­son eines Fried­rich Nietz­sche – gewiss auch ein enor­mes Absturz­po­ten­ti­al. Stän­dig das eige­ne, im unend­li­chen Raum schwe­ben­de Selbst zu suchen und zu fin­den, kann auch eine ewi­ge Jagd zwi­schen Hase und Igel sein. Phi­lo­so­phie kann feder­leicht beflü­geln, aber sie kann auch schwer­mü­tig fes­seln – bis zum Exzess.

Gera­de in Zei­ten einer all­ge­mei­nen sozia­len Ver­un­si­che­rung ist der Schwe­be­zu­stand logi­scher­wei­se beson­ders pre­kär. Men­schen brau­chen Ori­en­tie­rung. Vie­le Jahr­hun­der­te lang waren die Kir­che und der Glau­be an Gott dafür zustän­dig. Es gibt Göt­ter, sie ver­kör­pern unse­re Idea­le aber auch unse­re Äng­ste, das steht auch für den Phi­lo­so­phen außer Fra­ge. Nen­nen: „Sie waren und sind seit Jahr­tau­sen­den das, wonach die Men­schen stre­ben.“ In Zei­ten, in denen es Reli­gi­on und Kir­che schwer haben, über­neh­men aller­dings zuneh­mend ande­re deren Auf­ga­be. Micha­el Jack­son etwa. Nen­nen meint Ido­le, an denen sich die Men­schen aus­rich­ten – ohne dass die­se Ido­le noch ech­te Men­schen wären. Denn sie sind ledig­lich Bil­der, ein „Ima­go”, wie Nen­nen sagt. Sie bil­den das popu­lä­re Image als ver­mensch­lich­ten Lebens­geist ab.

Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler

Bis zur Selbst-Auf­ga­be habe der „King of Pop” den Men­schen etwas dar­bie­ten wol­len. „Dabei hät­te es doch gereicht, wenn er ein­fach nur dage­we­sen wäre”, bedau­ert Nen­nen. „Jack­son muss­te kaum mehr etwas dafür tun, dass die Mas­sen außer sich gerie­ten.” So habe er ein Kon­zert durch minu­ten­lan­ges Still­ste­hen begon­nen, wor­auf die Fans jede noch so gerin­ge ruck­ar­ti­ge Bewe­gung fre­ne­tisch fei­er­ten. „Auch bei der neu­en Tour­nee hät­ten die Fans ihn ver­göt­tert”, denkt Nen­nen. Aber Jack­son habe zu viel gewollt: „Er woll­te bes­ser sein als Micha­el Jack­son und hat damit den glei­chen Feh­ler gemacht wie Nietz­sche.” Wäh­rend der Pop­star im Alter von ein­und­fünf­zig Jah­ren an einer Über­do­sis von Schmerz­mit­teln starb, hielt es Phi­lo­soph Nietz­sche zwar noch eine Hand­voll Jah­re län­ger aus. Aber auch er stürz­te ab.

Er habe sei­ne Feder zu hoch flie­gen las­sen, sagt Nen­nen, sich dar­aus sehr vage Flü­gel gebaut. Er hät­te sich am Rat sei­nes Vaters Daeda­lus ori­en­tie­ren sol­len, stets in der Mit­te zwi­schen dem kal­ten Meer und der hei­ßen Son­ne zu flie­gen. Aber er soll­te bekannt­lich der Son­ne zu nahe kom­men und mit gebro­che­nen Flü­geln abstür­zen. Er ist zu lan­ge zu hoch geflo­gen, um die gött­li­che Son­ne sei­nes eige­nen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewach­sten Trag­flä­chen sei­ner See­le ver­brannt. Er starb schließ­lich im Alter von sechs­und­fünf­zig Jah­ren. „Irgend­wann löst sich bei den Stars unse­rer Tage das pro­mi­nen­te Göt­ter­bild ab und beginnt ein Eigen­le­ben zu füh­ren”, erläu­tert Phi­lo­soph Nen­nen. „Da kommt es auf den Cha­rak­ter hin­ter der Kunst­fi­gur kaum mehr an. Die Leu­te wol­len den Men­schen dahin­ter gar nicht mehr sehen. Sie ken­nen ihn schließ­lich über­haupt nicht, son­dern spie­geln ledig­lich ihre eige­nen Idea­le auf ein uner­reich­ba­res Bild.”

Ergebnisoffene Wege

Sie ver­ehr­ten anstel­le des­sen ein kun­ter­bun­tes Pot­pour­ri ihrer eige­nen Gefüh­le und Sehn­süch­te, wie sie etwa in einem Gott Jack­son deut­lich inten­si­ver zu Tage tre­ten, als sie es jemals in der Per­son hin­ter der Pop-Iko­ne könn­ten. Daher wer­de in den Regen­bo­gen­me­di­en so gern der so genann­te „Mensch dahin­ter” insze­niert, was den Wider­spruch nur noch wei­ter ver­schär­fe. So stellt Nen­nen fest: „Göt­ter müs­sen sich nicht recht­fer­ti­gen. Wir aber müs­sen das.” Dabei sei doch jeder Irr­tum das Größ­te, das man an und in sich ent­decken kann: „Gera­de der Unter­schied zwi­schen Mensch und Gott ist das, wor­auf es ankommt. Wenn ein Irr­tum auf­fliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröh­lich – und sogar über­aus glück­lich.” Kein Irr­tum sei es wert, sich dar­über zu ärgern. Man soll­te nur erken­nen und dar­um wis­sen, dass man eine „syste­ma­tisch fal­sche Metho­de” benutzt hat. Ande­res Denk­in­stru­ment – neue Chan­ce. Was für Nen­nen zählt, ist der „ergeb­nis­of­fe­ne Weg” – nicht eine vor­ei­li­ge Ent­schei­dung oder ein vor­schnel­les Urteil.

Heinz-Ulrich Nen­nen schaut aus dem gro­ßen Fen­ster des Cafès auf das wel­li­ge Was­ser des Kanals und die alten, ver­wai­sten Bahn­schie­nen, die davor durchs wild gewach­se­ne Gras schim­mern. „Wenn wir die Wei­che fin­den, vor der wir noch alle Optio­nen hat­ten, kön­nen wir nur dar­aus ler­nen”, sagt er. Dann ver­ab­schie­det er sich für die­sen Tag. Der ambu­lan­te Phi­lo­soph hat noch einen Ter­min. Er krault noch ein­mal durch sei­nen Bart, steigt auf sein gemüt­li­ches Peder­sen-Dra­chen­rad und fährt über die holp­ri­gen alten Wasch­be­ton­plat­ten davon. Aber schon bald, kommt er wie­der. Das ist sicher. Zum Den­ken übers Den­ken in sei­nem india­ni­schen Winnebago.

Bio

Dr. Heinz-Ulrich Nennen

Bis 1989 stu­dier­te Heinz-Ulrich Nen­nen Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten an der Uni Mün­ster. Er pro­mo­vier­te über „Öko­lo­gie im Dis­kurs“, habi­li­tier­te 2003 über die „Slo­ter­di­jk-Debat­te“ und arbei­tet nun als Hoch­schul­leh­rer an der Uni Karls­ru­he. Zuhau­se aber fühlt er sich noch immer in Münster.


Mit dem Pedersen erobert er die Stadt

Mit seinem Pedersen erobert er die Stadt

11. Juni 2012, von Jana*

Dr. Nennen mit seinem Pedersen

Heu­te tra­fen wir Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, Hoch­schul­leh­rer und Pri­vat­do­zent für Phi­lo­so­phie in Karls­ru­he, vor sei­nem 12m lan­gen Wohn­mo­bil zum Interview. 

Als wir ihn neu­lich im Hafen auf sein Peder­sen-Rad anspra­chen, war er zunächst skep­tisch, dach­te wohl zunächst an einen Ulk, war schließ­lich aber doch zu einem Inter­view bereit. Glück für uns, denn so konn­ten wir bei unse­rem Besuch in sei­ner unge­wöhn­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz“ am Dort­mund-Ems-Kanal in aller Ruhe mehr über ihn und sei­ne Lei­den­schaft zum Peder­sen erfahren.

Herr Dr. Nen­nen, eine Fra­ge vor­weg: Sie haben nicht nur ein unge­wöhn­li­ches Fahr­rad son­dern auch ein unge­wöhn­li­ches Domi­zil. Was hat es mit die­sem Wohn­mo­bil auf sich?

Es ist ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago”, benannt nach einem India­ner­stamm, Bau­jahr 1988, der zuletzt als Mes­se­mo­bil lief und eigens dazu umge­baut wor­den ist. Die­ser Wagen ist seit­dem sehr viel sach­li­cher gewor­den. Fah­ren läßt er sich, es ist aller­dings etwas auf­wen­dig und kostet nicht nur Ner­ven wegen der Län­ge son­dern auch eini­ges an Geld auf­grund eines Ben­zin­ver­brauchs, der nicht mehr wirk­lich zeit­ge­mäß ist. Aber wenn er fährt, dann ist es herr­lich und wenn er steht, dann gibt es nichts, das ich ver­mis­sen wür­de. Vor allem schät­ze ich die Rund­um­sicht, denn die gro­ßen Fen­ster haben wie­der etwas von einem Eisenbahnwaggon.

Und hier woh­nen Sie?

Nein, es ist mei­ne „Denk­werk­statt“, mit­un­ter auch mei­ne „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz“. Ich bin viel unter­wegs, aber wenn ich dann hier bin, genie­ße ich die Nähe zur Stadt, den Tru­bel am Kanal und den Blick zum Was­ser. Ich habe eini­ge Jah­re im Stadt­ha­fen von Mün­ster gestan­den, direkt gegen­über der Fla­nier­mei­le, wo es manch­mal doch etwas laut und hek­tisch wird, hier ist es doch ein wenig beschaulicher.

Wie sind Sie zu Ihrem außer­ge­wöhn­li­chen Rad gekommen?

Ich war damals in Stutt­gart an der „Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung“ beschäf­tigt und hat­te mir eigent­lich in den Kopf gesetzt, ein taz-Rad zu kau­fen – das ist jetzt 15 Jah­re her. Also bin ich zu einem bestimm­ten Fahr­rad­la­den gegan­gen. Dort habe ich mir aber auch ande­re Räder, die für mich in Fra­ge kamen, vor dem Laden auf­bau­en las­sen und die­se dann im flie­gen­den Wech­sel aus­pro­biert. So im direk­ten Ver­gleich läßt sich ein Rad noch am Besten testen – mit Par­füms kann man das so nicht machen. Ab dem drit­ten oder vier­ten Duft ist die Nase nicht mehr bereit, Dif­fe­ren­zie­rungs­ar­bei­ten zu lei­sten. (Er lacht.) Daß es dann ein Peder­sen wur­de, war rei­ner Zufall und doch Lie­be auf den ersten Blick.

Wer­den Sie oft ange­spro­chen, wenn Sie mit Ihrem Rad hier in Mün­ster unter­wegs sind?

Oh ja, die­ses Fahr­rad erregt Auf­se­hen, es ist unge­wöhn­lich, man­che ste­he davor und ver­su­chen, die Kon­struk­ti­on nach­zu­voll­zie­hen. Nor­ma­ler­wei­se sind Draht­esel nicht gera­de ein ästhe­ti­sches Ereig­nis. Das Peder­sen hat etwas beson­de­res und in Mün­ster ist sozu­sa­gen ein­zig­ar­tig, obwohl ich mei­ne, hier schon jeman­den auf einem Peder­sen gese­hen zu haben, es gibt aber nur sehr weni­ge. Ich habe es mir aber nicht zuge­legt um auf­zu­fal­len, son­dern weil es sich so gut fah­ren läßt und auch, weil ich es schön fand. Daß es dann aber der­art auf­fällt, war mir beim Kauf noch nicht bewußt. Man­che hal­ten die­ses Fahr­rad sogar für ein Hoch­rad, weil der Len­ker so hoch gezo­gen ist und fra­gen, ob man das Fah­ren erler­nen müß­te. Der Auf­stieg ist aller­dings eher unge­wöhn­lich, da er, ganz anders als beim Tie­fein­stieg, mehr Kör­per­ge­fühl ver­langt. Man könn­te näm­lich, ähn­lich wie bei einem Pferd auf der einen Sei­te auf­zu­stei­gen und auf der ande­ren wie­der herunterfallen.

Sie ver­glei­chen Ihr Rad mit einem Pferd?

Ja durch­aus, je län­ger ich dar­über nach­den­ke, desto pas­sen­der scheint mir die­ser Ver­gleich. Der Auf­stieg, die Höhe und die Form des Len­kers, das sehr auf­rech­te Sit­zen, dann die­ser Sat­tel, – alles erin­nert an ein Pferd. Und beim Fah­ren kom­me ich mir vor wie ein Cow­boy, der mit sei­nem Pferd die Prä­rie der Städ­te erobert. Da gibt es eine berühm­te Sze­ne in einem ame­ri­ka­ni­schen Western: Die Ver­fol­ger sit­zen sin­ni­ger­wei­se bereits im Eisen­bahn­wag­gon auf ihren Pfer­den und sprin­gen her­un­ter, sobald der Zug hält. Das hat was, so vom Zug zu kom­men um sich eine Stadt syste­ma­tisch von Vier­tel zu Vier­tel erobern zu kön­nen, das ging damals nur mit dem Pferd – heu­te geht das nur mit einem Cruiser.

Der Sattel

Die­se Frei­heit scheint Ihnen viel zu bedeuten!

Es gibt wohl kaum eine Bewe­gungs­wei­se die frei­er aber auch öko­no­mi­scher ist als das Rad­fah­ren. Auf die­sem Rad habe ich den Über­blick. Ich sit­ze, fah­re, wen­de, las­se mich wie­der glei­ten und kann alles betrach­ten, so wie ich möch­te. Es gibt mir Frei­heit, Sou­ve­rä­ni­tät und Unab­hän­gig­keit von aus­ge­tre­te­nen Wegen. Ähn­lich wie zu ande­ren Zei­ten mit einem Reit­pferd, kom­me ich mit dem Rad von A nach B und nicht, wie mit dem Auto, nur bist zum näch­sten Park­platz. Für klei­ne­re Trans­por­te habe ich Fahr­rad-Taschen vor­ne und hin­ten und auch grö­ße­re Kof­fer kann ich mit einem spe­zi­el­len Trä­ger zum Bahn­hof trans­por­tie­ren. Für mich ist es der größ­te Luxus, kein Auto zu brau­chen, denn das ist wirk­li­che Frei­heit, gar kei­nes haben zu müs­sen. Ich bin stol­zer Besit­zer einer Bahn­card 100, damit kom­me ich über­all hin, und im Zwei­fels­fall kann ich mir damit vor Ort auch ein Auto mie­ten. Wenn ich eine Wei­le in einer ande­ren Stadt bin, dann ver­mis­se ich mein Rad schon bald, daher neh­me ich es so oft wie mög­lich mit. Ande­re haben ein Tier, für mich ist das Peder­sen mein stän­di­ger Begleiter.

Koffer-Träger

Naja, Sie haben ja sozu­sa­gen bei­des, Pferd und Rad in einem! Aber auch ein Pferd muß gefüt­tert wer­den, oder?

Ein Fahr­rad kauft man sich fürs Leben. Lie­ber inve­stie­re ich ein­mal in ein wirk­lich gutes Rad, als drei­mal in durch­schnitt­li­che Räder. Da kom­me ich am Ende auf den glei­chen Preis und dabei ist das Peder­sen wirk­lich pfle­ge­leicht. Die­ses Rad besit­ze ich seit 15 Jah­ren und ich muß­te bis­her nicht ein­mal die Ket­te wech­seln. Klar, ab und an muß man mal die Män­tel erneu­ern oder hier und da den Rost aus­bes­sern, aber alles in allem hat mich mein Rad noch nie enttäuscht.

Also wird Ihre Wahl in Zukunft immer wie­der auf ein Peder­sen fallen?

Ja defi­ni­tiv, ein ande­res Rad käme für mich nicht mehr in Fra­ge. Auf einer Ska­la von 1–10, wenn 10 das höch­ste ist, kommt für mich die Lei­den­schaft zum Peder­sen und dem Rad­fah­ren an sich ganz klar auf eine 9.

Dr. Nen­nen, vie­len Dank für die­sen gemüt­li­chen und auf­schluß­rei­chen Nach­mit­tag und viel Spaß wei­ter­hin beim Erkun­den der Prä­rie in den Städ­ten, mit ihrem ganz beson­de­ren „Reit­pferd“!

Bildschirmfoto 2012-06-19 um 00.08.15

* Der Blog con​rad​.4arts​.info von Fari­na und Jana aus Mün­ster befaß­te sich mit klei­nen Anek­do­ten, Kurz­ge­schich­ten oder Schnapp­schüs­sen rund ums The­ma Fahr­rad, ist aber inzwi­schen off­line. Gleich­wohl soll die­ser Bei­trag hier noch­mals wie­der­ge­ge­ben wer­den, weil es doch schließ­lich dar­um ging, dem Fla­neur ein zeit­ge­mä­ßes Fort­be­we­gungs­mittel auf den Leib zu schneidern.


Anthropologie der modernen Welt

Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia

Wal­ter Cra­ne: Die Ros­se des Nep­tun. Neue Pina­ko­thek Mün­chen, Public Domain @ Wiki­me­dia

Das multible Selbst

Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heu­te. Alle ihre ein­zel­nen Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen, es sind Spu­ren ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die Gei­ster von Clans, Land­schaf­ten und Kul­tu­ren, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. Gera­de Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich selbst dabei doch treu zu blei­ben. Daher beherr­schen sie das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alkmene.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on wird nicht nur die Außen­welt, son­dern auch die Innen­welt immer wei­ter aus­dif­fe­ren­ziert. Mit der Zivi­li­sa­ti­on, Ratio­na­li­tät und Moder­ne geht daher stets auch ein Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se ein­her. Göt­ter haben uns dabei stets etwas vor­aus, sie ver­kör­pern die Idea­le, auf die es ankommt. Dem­entspre­chend läßt sich anhand der außer­or­dent­li­chen Fähig­kei­ten von Göt­ter die Zukunft der Psy­che able­sen. Das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu können.

Die klas­si­schen Ein­wän­de dage­gen, das sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit mehr, son­dern eben Insze­nie­rung, es sei kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern nur Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht mehr ver­fan­gen. Wir haben nicht eine ein­zig wah­re Natur, das ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein wür­de. Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, es kommt dar­auf an, was sich in der Wahr­neh­mung ereig­net. Ent­schei­dend ist das Erle­ben, etwa einem Schau­spie­ler abneh­men zu kön­nen, was er vor­gibt zu sein.

Wir alle spie­len Thea­ter, was eben nicht bedeu­tet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Mas­ken­spiel ist dabei mehr als nur eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pho­rik für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand Ande­ren, wech­selt also die Identität.

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Psychologie in Mythen und Märchen

Gustave Moreau [Public domain], via Wikimedia Commons

Gust­ave Moreau [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

Über die todessehnsüchtige Melancholie der Ungeheuer

Die Plots aus­neh­mend vie­ler Mär­chen und Mythen ran­ken sich immer wie­der um abson­der­li­che Gestal­ten und Figu­ren, um selt­sa­me Wesen. Nicht sel­ten sind es Mon­ster, deren Exi­stenz äußerst pro­ble­ma­tisch ist. Oft sind sie ent­stellt, der Zugang zu ihrer eige­nen Natur ist ihnen genom­men. Eigent­lich dürf­ten sie gar nicht sein, aber es ist etwas Unge­heu­er­li­ches vorgefallen. 

Ein Fluch, ein böser Zau­ber liegt über dem gan­zen Land und läßt sich ein­fach nicht lösen. Irgend etwas hat die­ses Mon­ster auf den Plan geru­fen, das Unge­heu­re ist nicht ein­fach nur da. Es taucht nicht ein­fach nur auf, son­dern ist selbst ver­ur­sacht. Und nun gehen von Stund an ganz erheb­li­che Wir­kun­gen davon aus. Nichts kann so blei­ben wie es ist, aber nichts läßt sich ändern. Die Lage ist aus­sichts­los, zu vie­le haben es bereits ver­sucht, sind kläg­lich geschei­tert und haben dabei ihr Leben verloren.

Es ist bemer­kens­wert, wie erstaun­lich anschluß­fä­hig mär­chen­haf­te Unge­heu­er und mythi­sche Mon­ster eigent­lich sind. Sie sind nicht sel­ten unglück­lich über sich selbst. Aber der Zau­ber einer Untat hat Macht über sie, hat sie ins Leben, in die Wirk­lich­keit geru­fen, hat ihnen zu erschei­nen befoh­len und nun sind sie da, eben­so unge­heu­er­lich wie bere­chen­bar, nach­fühl­bar, in ihrer Exi­stenz nach­voll­zieh­bar, wenn man ihnen nur Gele­gen­heit bie­tet, zu sagen, was es mit ihnen auf sich hat. – Das Mon­ster betritt die Büh­ne stets in dem Augen­blick, von dem ab die Hand­lung ihren unum­kehr­ba­ren Ver­lauf neh­men wird, alles läuft zunächst auf die Kon­stel­la­ti­on abso­lu­ter Aus­weg­lo­sig­keit hin­aus. Der Schlaf der Ver­nunft gebiert die­se Ungeheuer.


Ironie und Ironiker

Stuck-Dissonanz

Franz von Stuck: Dissonanz.<fn>München, Vil­la Stuck via @ www.zeno.org.</fn>

Irrtum verschleiert

Der geläu­fig­ste Vor­wurf gegen Iro­nie dürf­te noch immer der sein, sie der Ver­stel­lung, des Betrugs, ja sogar der Lüge zu bezich­ti­gen. Das aber ist nicht wirk­lich der Fall, zwar ver­schlei­ert sich jede Iro­nie nur zu gern, sie schätzt die Anspie­lung, das­Wort­spiel, den Über­griff, aber im Unter­schied zur Lüge ist sie durch­aus dar­auf anlegt, ent­deckt zu werden.

Bei­de, sowohl die Lüge als auch die Iro­nie ver­let­zen das Wahr­heits­ge­bot, aber sie wäh­len unter­schied­li­che Stra­te­gien, um zu errei­chen, was sie sich zum Ziel gesetzt haben: Die Lüge wird die für sie ent­schei­den­de Dif­fe­renz zwi­schen Sagen und Mei­nen, zwi­schen Behaup­tung und Wirk­lich­keit als per­sön­li­ches und bela­sten­des Geheim­nis mög­lichst dau­er­haft ver­heim­li­chen; sie wird gege­be­nen­falls wei­te­re Schutz­be­haup­tun­gen auf­stel­len, neue Legen­den bil­den, um die tat­säch­lich vor­han­de­ne Dif­fe­renz zwi­schen Wahr­heit und Unwahr­heit nur nicht spür­bar, offen­sicht­lich und offen­bar wer­den zu lassen.

Anders dage­gen die Iro­nie, auch sie arbei­tet auf der Grund­la­ge sol­cher Dif­fe­ren­zen, aber es geht ihr nicht dar­um, eine Täu­schung auf­recht zu erhal­ten, son­dern sie möch­te gera­de von einem Irr­tum befrei­en. Für den Lüg­ner ist die Unwahr­heit ein Zweck, für die Iro­nie ist sie nur ein Mit­tel. Der Lüg­ner ver­spricht sich von der Behaup­tung der Unwahr­heit einen per­sön­li­chen Vor­teil, dem Iro­ni­ker ist dar­an gar nicht gele­gen. Er ver­sucht einen Irr­tum als sol­chen zu ent­schlei­ern, aber aus bestimm­ten Grün­den geht er nicht direkt son­dern nur indi­rekt vor. – Wür­den Iro­ni­ker und Lüg­ner auf­ein­an­der­tref­fen und soll­te der Iro­ni­ker die Lügen durch­schau­en, er wür­de auf die Ver­si­che­run­gen des Lüg­ners nicht mit der übli­chen Ent­rü­stung reagie­ren. Er wür­de viel­mehr ein Spiel mit dem Lüg­ner und mit sei­ner Lüge beginnen.

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Geldhandel als Krieg

Auguste Rodin: Das Höllentor

Augu­ste Rodin: Der Den­ker. Detail aus: Das Höl­len­tor; Musée d’Orsay. Foto: Ste­fan Kühn via @ Wiki​me​dia​.org, Crea­ti­ve Com­mons 3.0 (CC-BY-SA 3.0).