• Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Schuld: Eine mächtige Kategorie

    Johann Heinrich Füssli: Lady Macbeth, schlafwandelnd, (um 1783). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

    Der Dichter und Maler Johann Heinrich Füssli war derart fasziniert von den Werken des William Shakespeare, so daß er sich schon in jungen Jahren an Übersetzungen versuchte. — Als Maler schuf er einen ganzen Bilder–Zyklus mit berühmten Szenen, in denen die phantastische Stimmung eingefangen ist.

    So inszenierte er auch die dramatische Szene: Lady Macbeth V,1 von William Shakespeare. Die tragische Heldin wird von Alpträumen geplagt und findet einfach keine Ruhe mehr. Sie träumt mit offenen Augen und beginnt zu schlafwandeln. — Und es scheint, als wollte sie sämtliche Plagegeister vertreiben, die Zeugen ihrer Untaten, von denen sie verfolgt und um den Schlaf gebracht wird.

    Die Szenerie führt das schlechte Gewissen der Lady Macbeth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treuergeben. Aber drei Hexen prophezeien ihm, selbst zum König zu werden. Um dem verheißenen Schicksal nun aufzuhelfen, schrecken Macbeth und seine Lady selbst vor einem heimtückischen Königsmord nicht zurück.

    Beide sind von blindem Ehrgeiz getrieben und verlieren im Verlauf der Ereignisse aufgrund ihrer Verbrechen zuerst ihre Menschlichkeit, dann ihr Glück und schließlich auch noch den Verstand, von ihrem Seelenheil ganz zu schweigen. — Dabei wirkt die Frau skrupelloser als der Mann. Ähnlich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel entschiedenere Frau wirklich alles aufs Spiel, während der Mann eher zaghaft erscheint. Dahinter dürfte die Problematik stehen, daß Frauen lange Zeit nicht direkt aufsteigen konnten, nur über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter.

    Es kommt im fünften Akt zu der im Bild von Füssli dargestellten Szene. Während sich Macbeth auf Burg Dunsinane mehr und mehr zum verbitterten, unglücklichen Tyrannen wandelt, wird Lady Macbeth immer heftiger von Gewissensbissen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Duncan ist ungesühnt. — Alpträume kommen auf, sie beginnt im Schlaf zu wandeln und die Phantasie nimmt Überhand, bis sie schließlich den Verstand verliert und sich das Leben nimmt.

    Das Gefühl, sich womöglich gleich am ganzen Kosmos versündigt zu haben, durch eine Freveltat, dürfte sehr früh aufgekommen sein. Es gibt viele Beispiele dafür, daß durch ein Sakrileg eine ›heilige Ordnung‹ gestört wird, was nicht so bleiben kann. — Beispiele sind Sisyphos, ein Trickster, der nicht sterben will und den Tod immer wieder hinters Licht führt, oder Ixion, der erstmals einen Mord an einem Verwandten beging.

    Es gibt eine Klasse von Mythen, die sich als Urzeitmythen klassifizieren lassen. Väter verschlingen ihre Kinder, die Welt bleibt im Chaos, sie gewinnt gar keine Gestalt. Titanen herrschen, wobei der Eindruck entsteht, als wären sie die Verkörperung jener Geister, mit denen die Schamanen der Vorzeit noch umgehen konnten. — Die klassischen Mythen sind insofern auch ein Spiegel der Zivilisation, weil sie die angeblich barbarischen Zeiten zuvor als absolut brutal in Szene setzen.

    Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

    Francisco de Goya: Saturn verschlingt seinen Sohn (1820f). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Das sind auch Ammenmärchen der Zivilisation, die Rede ist dann von finsteren Zeiten. Zugleich setzen sich Mythen damit als Aufklärung in Szene, schließlich künden sie von der Überwindung dieser Schrecklichkeiten. Nicht nur der technische, zivilisatorische Fortschritt spielt bei alledem eine beträchtliche Rolle, sondern auch die Psychogenese. — Vermutlich kommt Individualismus erst allmählich auf, ebenso wie das Bedürfnis, sich selbst zu beobachten.

    Die klassischen Mythen inszenieren nicht nur das Sakrileg, sie errichten zugleich auch die Tabus dagegen, indem man die Ereignisse in eine viel frühere Urzeit abschiebt und zugleich demonstriert, wie entsetzlich die Folgen möglicher Tabubrüche tatsächlich sind.

    Wenn etwas Ungeheuerliches geschehen ist, dann treten bald schon Ungeheuer auf den Plan. Als würde die Welt selbst darum ringen, in den Zustand der ›vormaligen Harmonie‹ wieder zurückzukehren. — Aber irgendwie muß das Vergehen gesühnt werden. Es muß erst wieder aus der Welt geschafft werden durch Buße, weil erst dann die ›heilige Ordnung‹ wieder hergestellt werden kann.

    Zugleich sind die Götter selbst im Prozeß der Theogenese. Eine Götterdynastie folgt auf die nächste. — Interessant sind die Reflektionen darüber. So hat Kronos durch fortgesetzte Kindstötung der Gaia vorenthalten, was Mütter wollen, die Kinder aufwachsen sehen.

    Der Mythos schildert in dieser Vorstufe einen Zustand, in dem nicht wirklich Entwicklung statthaben konnte. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Menschheit zentriert. Dann treten die glücklichen Götter Athens sogar freiwillig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Menschheit die Welt zu überlassen.

    Die Entstehung des Gewissens

    François Chifflart: Das Gewissen. 1877, Maisons de Victor Hugo, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist vermutlich der aus Ägypten durch den Tempelpriester Moses beim Auszug der Juden mit auf den Exodus genommene monotheistische Gott, der bereits bei den Ägyptern mit einem allsehenden Auge symbolisiert wurde. Auch die Idee vom Jenseitsgericht stammt aus Ägypten, was zur bemerkenswerten Tradition der Ägyptischen Totenbücher geführt hat, das Leben als Vorbereitung auf den Tod zu betrachten.

     

    Mit der Bedrohung durch das Jüngste Gericht des Lebens kommt eine Psychogenese in Gang, die eine systematische Selbstbeobachtung erforderlich macht. — Wenn ein allgegenwärtiger und allwissender Gott ohnehin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts verbergen kann, dann scheint es angeraten zu sein, sich ein Gewissen zuzulegen, um sich genau zu beobachten und ggf. zu kontrollieren.

    Dementsprechend ist Kain auf der Flucht vor dem ›allsehenden Auge‹, weil er ›vergessen‹ hat, sich beizeiten ein Gewissen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weniger anspruchsvolle Deutung des vermeintlichen Brudermords. Aus Gründen der Ethnologie können Ackerbauern und Hirten keine ›Brüder‹ sein. Offenbar hat sich der hier verehrte Gott, der das Opfer des Bauern ›ablehnt‹, noch nicht damit arrangiert, daß die Tieropfer seltener und die Opfer von Getreide und Früchten zunehmen werden.

    Kain auf der Flucht

    Erst mit der Urbanisierung erhält der Prozeß der Zivilisation seine entscheidende Dynamik. Der alles entscheidende Impuls geht mit dieser Gottesidee einher, mit der ganz allmählich aufkommenden Vorstellung eines Gottes, der alles ›sieht‹. — Dementsprechend illustriert Fernand Cormon die Flucht des Kain unmittelbar nach der Tat. Das Werk ist durch Victor Hugo inspiriert und schildert die Szene auf groteske Weise.

    Der Plot selbst ist zutiefst paradox: Kain ist Bauer. Er lebt von den Früchten der Erde, fürchtet sich jedoch schrecklich vor dem neuen transzendenten Gott, der im Himmel über den Wolken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er verliert im Opferwettstreit, erschlägt seinen Kontrahenten, ist aber von diesem missionarischen Hirten offenbar längst bekehrt worden, denn er fürchtet sich fortan wie wahnsinnig vor diesem Gott. Darauf beginnt er eine halsbrecherische Flucht, um sich dem allsehenden, allwissenden, allgegenwärtigen Auge dieses Gottes doch noch zu entziehen.

    Fernand Cormon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Psyche und Seele

    Über Unterschiede, die wieder das Ganze in den Blick nehmen

    Man glaubt, die Naturwissenschaften an die Stelle der Kirche setzen zu können und “alles” ist gut. Wissenschaft kann aber Religion gar nicht ersetzen. Außerdem gehörten dann auch die Geisteswissenschaften dazu.

    Da man dann aber selbst denken und sich bilden müßte, bleibt man lieber auf der “sicheren” Seite, bei “den” Fakten und verpaßt letztlich alles, was Wert wäre, gelebt, empfunden, gefeiert, geliebt und sogar geheiligt zu werden.

    Die Naturwissenschaften haben die Welt nur entzaubert und eine leere Welt geschaffen, in der dann ein nihilistischer Naturalismus die Leute erschreckt. Wichtig wäre, daß Naturwissenschaftler nicht über Sachen reden, für die sie nicht zuständig sind. – Wie Juri Gagarin, der erste Kosmonaut, der getreu seiner Partei verlautbaren ließ. Er wäre nach ein paar Erdumrundungen nun schon ziemlich weit im Kosmos herumgekommen, Gott habe er jedoch nicht gesehen. – Heilige Einfalt!

    Es gibt nicht nur Materie, sondern auch Geist, und wie man sieht, auch die Disziplin der Geistlosigkeit. – Es gibt nicht nur naturwissenschaftliche Fakten, sondern auch Narrative. Das ist übrigens das, was in anderen Kulturen als der “Geist der Ahnen” bezeichnet wird. Es sind die Narrative, in denen dieser “Geist” aufbewahrt wird, so daß man ihn jederzeit zu Rate ziehen kann, in den alten Geschichten.

    Es gibt nicht nur Körper und Psyche, sondern auch Leib und Seele. Und dann gibt es auch noch den Geist.

    Vor allem der Unterschied zwischen Psyche und Seele hat es mir in letzter Zeit angetan. Um die Corona-Krise überhaupt noch verstehen zu können, habe ich gute alte Begriffe wieder reaktiviert, so daß ich sie nun aktiv verwende. Es sind die Begriffe “Leib, Seele” und “Geist”.

    Ich vermute nämlich, daß die Psyche wohl eher ein Teil unseres Maskenspiel ist. Sie ist also nicht so authentisch, wie wir glauben.

    Die Psyche ist eher wie das “schlechte Pferd” in Platons Seelenwagen. – Wenn diese Hypothese stimmt, dann wäre die Psyche ein Teil der “Maske”, wie wir sie tragen, um uns selbst und anderen etwas vorzumachen.

    Während die Psyche viel Wert legt auf Äußerlichkeiten, ob die Inszenierung stimmt und den Vorbildern aus maßgeblichen Filmszenen “gerecht” werden kann. Legt die Seele, wenn man wiederum Platon folgt, großen Wert auf das, was der Psyche oft nur nachgesagt wird, echte Gefühle, wirkliche Verbundenheit, wahre Authentizität, tiefes Verstehen.

    Das ist alles nicht schlimm sondern völlig in Ordnung: Wir brauchen alles, Mechanik, Materie, Naturwissenschaften, Fakten, Narrative, Psyche, Seele und Geist. – Man sollte nur eben immer auch wenigstens ahnen, worauf es jeweils ankommen könnte, auf welcher Ebene ein Phänomen angesprochen werden muß.

    Wenn man in diesen Angelegenheiten etwas besser unterscheiden möchte, dann empfehle ich Platon. – Es ist berückend, wenn er im “Phaidros” erklärt, was mit der Seele ist.

    Das wird einmal veranschaulicht durch einen Seelenwagen, der von zwei Pferden gezogen und von einem Wagenlenker geführten wird. Dabei wird die Bedeutung von Schönheit und Liebe für die Seele und deren Wiedergeburt zur Darstellung gebracht.

    Einmal in tausend Jahren brechen die Götter zum Triumphzug über das Firmament, über die Milchstraße, auf, um bis an die Grenzen dieser Welt vorzudringen, um im Jenseits vom Jenseits die Ideen zu schauen. Mit dabei sind auch Menschen, die aber Mühe und Not haben, gewisse, schwierige Himmelspassagen zu meistern, mit einem guten und einem schlechten Pferd. – Das ist der Plot.

    Ich habe schon oft darüber philosophiert, geschrieben und Vorträge gehalten, aber das Original ist eben Platon. – Es ist schön zu sehen, was er gesehen hat.

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    Theodor Lessing und die Grenzen der Kritik

    Pierre Mignard: Clio (1689). Die Muse der Geschichtsschreibunng mit Griffel, Buch und Trompete. Keine der Musen dürfte es schwieriger haben, denn was sie sieht, ist derart himmelschreiend, so daß man den Eindruck bekommt, als wollte sie bedauern, als hätte sie ihren Blick zum Himmel gerichtet, weil sie um Vergebung bitten möchte.

    Über den Dreiklang der Zivilisation: Zivilisierung, Kolonisierung, Vernichtung.

    Von Gerhard Hauptmann wird berichtet, er habe zeitlebens an Schlaflosigkeit gelitten und die Wände um sein Bett in seinem Haus auf Hiddensee nächtens mit Inschriften versehen.  Es versteht sich, daß nur einige wenige dieser nur zum Teil lesbaren Sentenzen erhalten sind, eine davon lautet wie folgt:
     
     
    Kritik wertet meistens nur negative Leistung, nicht positive.
    (Inschrift lt. Fotographie, Gerhart-Hauptmann-Haus, Hiddensee 2003.)
     
    Es ist schon bezeichnend, bei dieser Bemerkung, die keineswegs auf ihn gezielt war, doch unmittelbar an Theodor Lessing denken zu müssen, denn als einer der unerbittlichsten unter den zeitgenössischen Kritikern dürfte Lessing zweifelsfrei gelten.  Selbst wenn allzu viele seiner Anklagen berechtigt sind, selbst wenn ihm mitunter zu Recht Visionäres unterstellt wird, seine Angriffe sind äußerst verletzend, so verletzend, daß man sich in der Tat fragen muß, warum eigentlich?
     
    Der stets angespannte Ton bei Lessing könnte allerdings auch Ausdruck einer Hilflosigkeit sein, die seinerzeit viele seiner Zeitgenossen empfunden haben dürften, ein Ungenügen am eigenen Sprach- und Ausdrucksvermögen angesichts des aufkommenden Ungeistes.  Man mochte noch so sehr am eigenen Ausdrucksvermögen arbeiten, allzu Vieles schien bereits ausgemacht, als wäre ein jeder Artikulationsversuch zum Scheitern verurteilt und müßte sich notorisch als nicht hinreichend erweisen.  Den Wenigen unter den Zeitgenossen, die sich nicht beirren ließen, die keinesfalls und zu keinem Zeitpunkt mit einstimmen sollten, die neue Tonlage zu treffen, dürfte derweil das eigene Scheitern im Ausdruck um so heftiger bewußt geworden sein.
     
    Was sich im Nachhinein auch als Vorzeichen aufkommender Verzweiflung deuten läßt, wird inmitten gewählter Ausdrucksweisen ganz besonders offenkundig:  So verwendet Ernst Bloch zu jener Zeit durchaus bewußt Motive aus der Fäkalsprache, was er ansonsten nie tut. Gerade die Wahl der Kraftausdrücke aber ist untrüglicher Ausdruck einer Hilflosigkeit, die sich darin zeigt, daß die Grenzen der Sprache hinlänglich erreicht, wenn nicht bereits überschritten wurden; schlimmer noch, daß so etwas wie Sprachabbau, Sprachrückgang, Entdifferenzierung, Verlust von Worten und Ausdrucksmöglichkeiten um sich greifen in jener Zeit:  Zuerst wandern Worte aus, dann folgen Menschen.
     
    Mit seiner Geschichtsphilosophie kritisiert Theodor Lessing Geschichtsschreibung per se als Mythen–Bildung auf eine gleichwohl sachlich berechtigte wie diskursiv äußerst prekäre, weil kaum anschlußfähige Art und Weise.  Das eigentlich Provozierende dabei ist der systematische Verzicht auf jedwede Entlastung, unverblümt soll Wahrheit ausgesprochen werden, so das Selbstverständnis Lessings, aber es sind Wahrheiten, die nicht frei machen.
     
    Bemerkenswert ist der notorisch eingehaltene Sicherheitsabstand, den Zeitgenossen stets einhalten, wenn von und über Theodor Lessing die Rede ist.  “Im Jahr 1919,” notiert Egon Friedell in seiner zweibändigen Kulturgeschichte der Neuzeit, “erschien ein sehr merkwürdiges Buch von Theodor Lessing:  ‘Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen’, ein luziferisch kühner Versuch, ergreifend in seiner bleichen Nachtschönheit und eisklaren Logizität, vielleicht der erste, die Frage, was denn eigentlich Geschichte sei, zu Ende zu denken; mit jener Schärfe, aber auch Zweischneidigkeit vollzogen, die solchem ehrfurchtslosen, sich zum Selbstzweck setzenden Beginnen anhaftet, ..” (Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. 2. Bde, Nördlingen 1976.  Bd. 2.  S. 949.)
     
    Dann ruft Egon Friedell in seiner Rolle als Moderator der Kulturgeschichte sich selbst mit auf den Plan, “ein Werk, von dem das Wort jenes anderen Lessing gilt:  ‘groß und abscheulich’, voll von giftigen Tiefgasen und nur in der Hand eines vorsichtigen Abschreibers, wie ich es bin, ohne ernste Gefahren.” (Ebd.)
     
    Das Problem mit Lessing ist, daß man ihm nicht wird verweigern können, sich berechtigterweise zu echauffieren über viele aktuelle aber auch zeitübergreifende Attitüden seiner Zeit.  Lessing ist ein Abrechner, sein Stil ist der eines unerbittlichen Anklägers.  Dennoch versteht er sich doch auch als Pädagoge, so daß man fast erschreckt anfragen möchte, was macht seine Rede denn häufig so giftig?
     
    Derweil sagt er seiner Zeit, was nicht einmal die unsere unumwunden bereit wäre, zu akzeptieren.  Die Theorie seiner Geschichtsphilosophie ist ein ausgemachter Konstruktivismus, sein Kulturrelativismus und seine Zivilisationskritik ist ein postmodernistischer Konstruktivismus. Sinn in der Geschichte, so ließe sich die Botschaft schließlich zusammenziehen, gibt es überhaupt keinen, außer dem, den wir ihr beigeben.  Die Leserschaft wird mit derartigen Negativauskünften durchweg allein gelassen.
     
    Keineswegs, so konstatiert Lessing bereits in den Vorbemerkungen, werde durch Geschichte ein verborgener Sinn, ein Kausalzusammenhang oder eine Entwicklung offenbar, sondern vielmehr sei Geschichtsschreibung erst die Stiftung dieses Sinns. (Theodor Lessing:  Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.  [Erstausg., München 1919] München 1983.  Vgl. S. 15.) Sobald wir Wissenschaft nicht mehr bloß beschreibend, sondern erklärend betrachteten, seien wir unweigerlich auf Sinngebung angewiesen. (Ebd.  Vgl.  S. 36.)
     
    Daher werde sich die Geschichtsschreibung niemals in den Rang einer beschreibenden Wissenschaft erheben, sie könne nicht phänomenologisch arbeiten, vielmehr müsse sie immerzu Wirklichkeit für andere Wirklichkeiten unterstellen. (Ebd. vgl.  S. 36f.) Es sei eine große Erdichtung des Menschen, so zu verfahren, als sei Kausalität das Normale, als ließe sich Naturkausalität übertragen auf die Menschengeschichte. (Ebd. vgl.  S. 37f.) Motivation sei nicht die Handlung als solche, sondern das Bild, welches die Handlung ins Bewußtsein wirft. (Ebd. vgl.  S. 42.)
     
    Dann setzt Lessing mit seiner gleichwohl nicht unberechtigten Suada ein, und es ist bemerkenswert, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, hier läge womöglich gar nicht der Text einer Geschichtsphilosophie vor, vielmehr die Rede eines Agitators, vielleicht in einem Bühnenstück, in einem politischen Stück selbstverständlich.  Es scheint, als müsse man den Text akklamieren, vielleicht sogar herausbrüllen, auf jeden Fall aber sollte man ihn beim Vortrag inszenieren:
     
    “Wo denn eigentlich liegen die Motive der Geschichte?  Wer hat sie? Wer trägt sie empor?  Ich meine jene Motive, von denen der Historiker faselt, indem er etwa schreibt:  ‘Der Handelsneid Englands verschuldete den Krieg von 1914.’ ‘In edlem Zorne erhob sich das gesamte Deutschland.’ ‘Der Ruf der Rache durchzitterte ganz Frankreich.’ ‘Ganz Italien war von Begeisterung durchglüht’ usw.” (Ebd. S. 43.)
     
    “Nun aber wird Geschichte bekanntlich von Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm.  Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d.h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann.  Immer schreiben Sieger die Geschichte von Besiegten, Lebendgebliebene die von Toten.” (Ebd.  S. 63.)
     
    “Jedes Blatt Geschichte, von der frühesten Ahnenzeit bis zur Gegenwart, predigt immer und immer wieder neu, daß historisch-politische Ideale Umschreibungen für praktische Absichten sind und nie etwas andres sein können, wenn auch freilich jedes Volk das andere totzuschlagen oder zu begaunern sucht in der heiligsten und reinsten Überzeugung, die Kultur, den Weltfrieden, die Sittlichkeit, das Recht und ich weiß nicht was alles zu verwirklichen.” (S. 67.)
     
    Der Anlaß zur forcierten Philippika ist eine Beobachtung, die sich in der Tat immer wieder von Neuem machen läßt, daß es ganz offenbar in Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein nur ein ganz bestimmtes maßgebliches Prinzip zu geben scheint, wonach bemessen wird, ob und wie eine Handlung Eingang findet in die Annalen der Geschichte:  Es ist einzig und allein ihr ‘Erfolg’.  In diesem Sinne schreiben dann eben stets die Sieger die Geschichte der Besiegten, diese aber sind stumm.
     
    Es scheint, als legitimiert der ‘Erfolg’ schlußendlich auch noch jedwede Perfidie und rechtfertigt post eventum mit der Zeit auch vor der Geschichte, denn allmählich verbreitet sich allgemein der Eindruck, auch der verwegenste und offenkundigste Rechtsbruch sei schlußendlich doch legitimiert, denn wer Erfolg hat, hat Recht und wird daher zumeist auch geläutert in die Annalen der Geschichte eingehen, – eine wahrhaft ernüchternde Beobachtung, die Theodor Lessing hier zur Anklage bringt.
     
    In diesem Sinne, so Lessing, sei der historische Erfolg immer das Erste, der Werthaltungsaspekt aber das Zweite.  Erfolge ziehen demnach das Wirksamwerden dementsprechender Werte erst nach sich, nicht umgekehrt verbürgen Werte den Erfolg.  Lessing, ohnehin ein erklärter Gegner des Entwicklungsdenkens im Sinne von Darwin und Spencer, konstatiert demzufolge, daß sich nicht das Wertvolle in der Geschichte durchsetzt, sondern daß sich eben als wertvoll durchsetzt, was sich durchsetzt, weil es sich durchsetzt.  Zu Beginn seiner Untersuchungen kündigt Lessing an, was sich zeigen werde:
     
    “daß Einheit der Geschichte nirgendwo besteht, wenn nicht in dem Akte der Vereinheitlichung; – Wert der Geschichte nirgendwo, wenn nicht im Akte der Werthaltung.  Sinn von Geschichte ist allein jener Sinn, den ich mir selbst gebe, und geschichtliche Entwicklung ist die Entwicklung von Mir aus und zu Mir hin.” (Ebd.  S. 19.) Keineswegs werde in der Geschichte ein verborgener Sinn, ein Kausalzusammenhang, eine Entwicklung offenbar, sondern Geschichte sei Geschichtsschreibung, eben {\it Stiftung dieses Sinnes, die Setzung dieses Kausalzusammenhangs, die Erfindung dieser Entwicklung.” (Ebd.  S. 15.)
     
    Allerdings:  Nicht erst die Geschichtsdarstellung, sondern bereits die Berichterstattung hebt Ereignisse hervor, setzt sie in Relation zu anderen Ereignissen und verschafft ihnen damit erst ihre Geschichte, indem sie die Story zum Stoff liefert, die Geschichten hinter der Geschichte.  Die reinen Daten besagen fast gar nichts, es kommt darauf an, was man daraus macht.  Insofern wird eine jede philosophische Befassung mit Geschichtsschreibung dieses notwendig Zusätzliche betrachten, in seiner Notwendigkeit und in seiner Zusätzlichkeit zugleich.
     
    Sollte die Beobachtung zutreffen, die zuletzt in der Schlüsselschrift von Theodor Lessing über Geschichte, Geschichtsschreibung und Sinngebung doch nur angedeutet ist, so muß ein solcher Befund in der Tat verstören. Angesichts dessen, was Lessing hier so vehement vor Augen führt, scheint auch der letzte verzweifelte Ausweg verschlossen, sich doch noch von diesem Skandalon zu distanzieren, daß etwas Entscheidendes an unserer Geschichts–Orientierung sehr wahrscheinlich generell nicht stimmt. Zugleich dürfte es allerdings ebenso schwer fallen, Beweise für diese Theorie anzutreten, denn Geschichte ist immer schon geschrieben.  Die Frage, wie anders sie denn hätte geschrieben worden sein müssen, ließe sich dagegen kaum thematisieren.  – Man wird allerdings manches von dem, was Lessing noch hatte fordern müssen, der heutigen Geschichtsschreibung inzwischen zugute halten, wie etwa die Sozialgeschichte oder auch die ‘Geschichte von unten’.

     

     

     

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    Wenn Worte sich enthalten

    Erlösung gibt es nur durch Sprache, aber was, wenn die Worte fehlen?

    Wenn Worte fehlen, suchen wir stammelnd nach Beispielen: Es ist wie…, es ist wie…, es ist wie… – Ja wie denn?

    Wenn etwas gesagt werden soll, aber eigentlich gar nicht klar ist, was denn jetzt und vor allem wie, dann stehen die, die sich jetzt mal äußern sollen wie Lehrer vor einer Klasse von Schülern, die den Teufel tun werden, sich jetzt zu melden. 

    Keines der bekannten Worte wird sich bereit erklären für ein solches Himmelfahrtskommando, darstellen zu sollen, wie es denn so ist, ein Impfgegner zu sein und gegen den Strom zu schwingen. Ein Student sagte mal im Seminar, da müsse man aufpassen, nicht blaue Augen zu bekommen, wenn man gegen den Strom schwimmt. Auf Nachfrage erklärte er dann das köstliche Bild, die blauen Augen entstünden durch Zusammenstöße mit entgegenkommenden Fischen. 

    Gustave Doré: Die babylonische Sprachverwirrung (1865ff.).

    Im Corona-Diskurs ist Verstehen aus vielerlei Gründen ganz besonders schwierig, weil im Hintergrund tiefe religiöse Traumata das Orchester der Gefühle dirigieren und tagtäglich neue Ängste geschürt werden. Die meisten “Rechtgläubigen” bemerken nicht einmal, daß sie sich angepaßt haben und tunlichst nur angepaßte Worte verwenden aber gar nicht die eigenen. Viele beten nur nach und kommen dann auch sehr schnell ins Stammeln, wenn sie ihrerseits begründen sollen, was sie warum für richtig halten. 

    Tatsächlich ist es ungeheuer schwer, etwas zu verstehen, in dem man sich gerade befindet. Man kann in einer Höhle nicht erklären, daß man sich in einer Höhle befindet, ohne daß die, denen man das gern mitteilen möchte, schon mal davon gehört haben, daß es auch ein Außerhalb gibt. Das ist die berühmte Allegorie in Platons Höhlengleichnis  mit dem sich Platon an den Athenern bis in aller Ewigkeit revanchiert, daß sie seinen geliebten Lehrer zum Tode verurteilt haben, weil er den Mainstream gestört hat beim Nichtdenken. 

    Die Sprache ist das Haus des Seins, sagt Heidegger und in der Tat ist diese der “Weinberg”, von dem die Christen so gern reden. Die Erweiterung des Ausdrucksvermögens ist alles entscheidend.

    Das ist ja gerade das Schlimme an einem Trauma, es lastet auf der Seele, ohne daß man sich davon erleichtern könnte. Das würde nur gehen, wenn man es mit-teilen würde. Aber dazu sind Worte nötig, die sich freiwillig melden und sagen: Ich versuche das jetzt mal.  Aber die meisten dieser mutigen Worte kommen dabei um. Mutig sein allein genügt nämlich nicht.

    Außerdem ist da noch die Grammatik, und die ist weit mehr, als nur das, was man im Deutschunterricht zu hören bekommt. In der Philosophie gibt es “Ontologien”, das sind “Seinslehren”, die zu anderen Zeiten ernsthaft vertreten und auch geglaubt wurden, wo dann eben so Nebensächlichkeiten drin stehen, wie etwa die “Natur des Menschen, des Mannes oder auch der Frau”.

    Man sollte nicht zu hart mit anderen Epochen ins Gericht gehen, denn diese hatten auch ihre Problem, nur andere als wir. – Man hat das eben geglaubt, daß es so etwas wie eine fixierte Natur gibt und das war wohl auch gut so, weil einem die Welt ohnehin bereits über den Kopf gewachsen war. 

    Nun nimmt im Zuge der Kulturgeschichte das sprachliche Differenzierungsvermögen immer weiter zu. Daher braucht es ständig neue, bessere, tiefere Worte, aber auch die Grammatik muß sich öffnen für die neuen Fälle des Lebens. Sie darf und soll neuen Lebens- und Empfindungsformen nicht ihre Existenzberechtigung aberkennen, indem sie gar nicht zuläßt, das so etwas überhaupt gesagt werden kann. – Wenn die Worte falsch sind, führen sie in die Irre, wenn die Grammatik nicht mitspielt, dann bleibt nur Stammeln, das keiner versteht. 

    Daher müssen wir mit dem, was wir zu sagen hätten, aber noch gar nicht wirklich mit-teilen können, ziemlich lange hadern. Wir müssen mit der Schulklasse unserer Worte viele Diskussionen führen, bis einige sagen, ich kenne da wen, der das kann, den hole ich mal.  – Wir brauchen die Musen dazu, denn erst sie schenken uns die nötigen Inspirationen, etwas Unsägliches doch zur Sprache zu bringen. 

    Einer der Anklagepunkte im Prozeß gegen Sokrates, neben dem ehrenwerten Vorwurf, er würde die Jugend (zum Denken) verführen, bestand darin, er würde “fremde Götter” einführen. Man sollte hier nicht auf der Überholspur denken, sondern das Ganze erst einmal auf sich, wie auf ein Kind wirken lassen. Was kann das bedeuten, fremde Götter nicht einführen zu dürfen? – Das ist das Schöne am Denken, sich selbst dabei zusehen zu können, wie man “dahinterkommt”. 

    Also, die Griechen hatten den Polytheismus und das muß man wiederum auch betrachten als ziemlich kostspielige Angelegenheit. Man kennt das noch in der Debatte über die Feiertage, wo doch damals die evangelische Kirche einen Feiertag abgetreten hat, nur um der armen Wirtschaft zu helfen. Ja, an Feiertagen wird in vielen Sektoren nicht gearbeitet, sondern gezahlt, vor allem von denen, die sonst immer kassieren. 

    Sokrates sprach von seinem “Daimonion”, einer Art Geist, eine innere Stimme, die er hört. Sie würde ihm nie etwas anraten zu tun, sondern sich nur melden, sobald er etwas Ungutes zu tun beabsichtigen würde. – Wenn ich damals vom Athener Gericht mit einem Gutachten betraut worden wäre, hätte ich darzustellen versucht, daß es sich bei dieser Instanz nicht um einen neuen, fremden Gott handeln würde, der unerlaubterweise eingeführt worden sei, sondern um eine Ausdifferenzierung in der Psyche und in der Seele des Sokrates, die wegweisend werden sollte, die sich hier nur ausnahmsweise schon einmal melden würde. 

    Ich stelle mir also vor, daß es so etwas wie eine Einfuhrbehörde für Götter gegeben haben muß. Wenn da also mit einer neuen Unterwerfung auch die neu unterworfenen Götter eingeführt werden müssen, dann wird man sich gefragt haben, also, haben wir die nicht schon, wer unsere Götter könnte das machen? So hat Zeus an die hunderte zusätzlicher Namen, das sind alles Götter aus einverleibten Häuptlingstümern oder Königreichen mit ihren höchst spezifischen Zuständigkeiten. 

    Es ist unerläßlich, den Göttern und zwar allen das Ihrige zu geben, wo nicht, droht Ärger. Etwa als, kurz bevor die Athener in den Krieg zogen, irgendwelche Jugendlichen an den Hermesstauetten, die an den Straßen zu Hunderten standen, mal so eben die erigierten Penisse abgeschlagen haben. 

    So ist etwa die Aphrodite mit rotem Haar, weil sie eben aus Zypern kommt, wo auch das Kupfer herstammt. Wenn man also die Aphrodite ungebührlich behandeln würde, verdirbt man es sich nicht nur mit der Schönheit, sondern auch mit den Frauen, mit der Rolle der Frau als solcher und dann auch noch mit den Zyprioten. – Daher muß allen Ernstes eine Kommission darüber entscheiden, was man denn mit einem konkreten Gott, der da neu aufgetreten ist, anstellen soll. Und man hat die neue Kompetenz des Sokrates einfach völlig falsch gedeutet und gar nicht verstanden. 

    Wenn die Worte sich drücken, wenn die Grammatik die Arme verschränkt und bei so etwas nicht mitmachen will, dann gibt die Sprache mit Bedauern zu verstehen, daß sie da jetzt auch nicht weiterhelfen könnte. Dann hat man ein Problem mit sich und den Anderen. Man versteht sich selbst nicht wirklich, weil die Worte fehlen, man wird nicht verstanden, weil die Grammatik streikt für solche Fälle und zugleich spuken da noch tiefe religiöse Traumata, von denen die meisten nicht einmal etwas ahnen. 

    Und dann wird zu Vergleichen gegriffen, die einfach schräg rüberkommen müssen. Historische Vergleiche sind immer problematisch, weil es ja konkrete Verhältnisse, Ereignisse und Folgen sind, die sich so, auf dieselbe Art und Weise, ganz gewiß nicht wiederholen. Andererseits sind wir darauf angewiesen, mit Analogien zu arbeiten, wenn kein Wort sich traut, überhaupt Stellung zu nehmen. 

    Wir sollten das, was die Sprache ist und was sie ausmacht, was sie kann, wo sie ihre Grenzen hat und was wir tun können, uns mehr Ausdruck zu verschaffen, endlich anders sehen. Dieses nachrichtentechnische Modell von Sender, Empfänger und Botschaft ist grottenschlecht und absolut unangemessen.

    Es ist vielmehr so, daß wir miteinander im Dialog kooperieren müssen, wenn wir etwas vorstellbar machen wollen, um dann erst das Urteil eines Freundes oder einer Freundin zu erbitten. Andere können uns erst dann wirklich etwas anraten, wenn sie uns ver-stehen, das heißt, wenn sie aus unserer Position heraus ihre Stellungnahme abgeben. – Zu hoch? Da kann ich dann auch nicht mehr helfen. 

    Man achte bitte einmal darauf, wie viele “Regieanweisungen” da einander gegeben werden: “Nein, so ist das nicht. Du mußt Dir das anders vorstellen, etwa wie, wenn…” – Verstehen ist Arbeit, auch wenn das unter Freunden nicht so gesehen wird. Denken ist ähnlich, es ist ein Dialog der Seele mit sich selbst.

    Und dieses Bohren ganz dicker Bretter, wie Max Weber die Politik charakterisiert, um Gesinnungstäter, Tugendwächter und Hitzköpfe von irgendeine Propaganda durch die Tat abzubringen, ist genau das. Politik ist, wenn sie wirklich etwas leistet, der Versuch, neue Zugänge zu finden, durch Sprache, Verstehen und neue Gemeinsamkeiten.

    Das macht dann in der Tat den Jargon der Diplomatie so interessant. Was macht man, wenn man nicht einmal “Beziehungen” zueinander hat? Man besucht sich, spricht miteinander, sucht nach “Gemeinsamkeiten”, bis man dann eine “gemeinsame Gesprächsgrundlage” findet, auf der weitere “Konsultationen” stattfinden können. Und das wäre nur der alleranfänglichste Anfang.

    Impfgläubige wollen immer gleich mit den Beitrittsverhandlungen beginnen. Sie sprechen den Ungläubigen einfach ab, daß es so etwas wie sie überhaupt geben könne.  – Es ist aber naiv zu erwarten, daß es in der Corona-Krise nur einen einzig richtigen Glauben gibt.

    Corona ist nur so stark, weil viele unserer Systeme erstaunlich schwach sind. Es ist gut zu wissen, dann wird man in Zukunft weit weniger vertrauen, sondern sehr viel mehr kritisch sein und bleiben müssen. – Aber auch das muß erst einmal zur Sprache gebracht werden, mit den richtigen Worten und einer Grammatik, die neuen Gedanken aufgeschlossener ist als die Angstrhetorik unserer Tage.  

    Es bleibt nur, mit dem Kopf immer wieder gegen die Grenzen der Sprache anzurennen und derweil die Musen darum zu bitten, das Gespür für die richtigen Metaphern zu schenken. 

     

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    Mangel an Denken, Geist und Kultur

    Über Traumata, die aus ganz anderen Zeiten stammen

    “Weil Harald Schmidt seinen Impfstatus offenlässt, wird gemutmaßt, daß er ein Corona–Leugner sei.”, konstatiert RND, das Redaktionsnetzwerk Deutschland, geflissentlich darum bemüht, blitzgescheit zu wirken. 
     
    Geht es noch? So einfach ist also inzwischen die Mainstream-Logik geworden. — Ist er getauft und ein “Kind Gottes” oder verweigert er den Glauben an die Lehre der heiligen Mutter Kirche, daß nur die “Taufe” gegen die Versuchungen des Teufels Corona immun macht?

    Diese verschwurbelte Logik geht zurück auf ein uraltes religiöses Trauma, das über Generationen geschlummert hat im Unbewußten derer, die wenig oder gar nicht über die Tiefen der eigenen Seele nachdenken. — Die Kirche hat über Jahrhunderte die Menschen eingeschüchtert und in psychotische Angstzustände versetzt, so daß viele wirklich krank daran wurden, gegen Gott gesündigt zu haben.

    Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste, Ausschnitt (1480ff).

    Eine besondere Rolle dabei spielten hochtraumatisierte Mütter, wie die von Augustinus, Albrecht Dürer, Immanuel Kant oder auch Max Weber und viele andere Geistesgrößen mehr, von denen unbekannten Namens mal zu schweigen, obwohl doch diese sich gerade mangels Intellekt noch am wenigsten zur Wehr setzen konnten.

    Die Folgen sind Depressionen, Schuldgefühle, Melancholie und das Gefühl, nicht würdig zu sein, überhaupt nicht würdig. 

    Eine Politik der Angst muß nicht unbedingt mit äußerlicher, also militärischer, polizeilicher, psychiatrischer, sozialarbeiterischer oder pädagogischer Mißhandlung einhergehen.
     
    Es genügt auch eine Bedrohung von Seele und Leib durch elementare Ängste, um Menschen gefügig zu machen und in Lämmer zu verwandeln, die sich von den selbsternannten Hirten bewachen und führen lassen. Die christliche Missionierung der Kelten war auch erst erfolgreich, als man ihnen die Übel der Hölle vor Augen führte.
     
    Ähnlich verhielt es sich auch mit den unethischen Fernseh-Bildern aus Bergamo. Über Nacht war ein Großteil des Mainstreams “überzeugt”. Dabei waren sie nur eingeschüchtert und total verängstigt, weil da uralte Ängste heraufbeschworen wurden.
     
    Dabei wissen wir doch eigentlich inzwischen, daß einer ein Mensch sein kann, sogar ein guter Mensch, der nicht getauft ist. Und, die Erkenntnis des Tages: Es ist sogar auch möglich, die “Existenz” von Corona NICHT in Zweifel zu ziehen und dennoch kein Vertrauen zu haben, in die Impfpropheten dieser Tage. – Die Impfgläubigen begehen einen Fehler, wenn sie nicht den “ganzen Menschen” sehen, der eben mehr ist als die Summe seiner Organe im biologischen Sinne.

    Eines der Motive, sich nicht impfen zu lassen, liegt auch darin, einen individuellen seelisch-leiblichen Widerstand zu empfinden. Wer sich bisher nie gegen die neuesten Grippeviren hat impfen lassen, vielleicht gerade aufgrund von mangelndem Vertrauen in diese unsere viel zu käuflichen Wissenschaften, wird auch bei der Corona–Impfung, nach allem, was inzwischen bekannt wird, sich bestärkt fühlen in der eigenen Skepsis. Und viele werden sich ganz gewiß nicht einer Zwangstaufe beugen.

    Das mag in den Ohren derer, die an die Naturwissenschaften “glauben” und das dann auch noch für die ganze Wissenschaft halten, “esoterisch” klingen. Dabei ist es nur der Wunsch und Wille auf “Ganzheitlichkeit”. Wir haben nicht nur Körper und Psyche, sondern auch Leib und Seele. Wir haben mit der Entzauberung der Welt den Zugang zu vielem verloren, was andere Kulturen noch hatten, so etwas wie das Gefühl einer kosmischen Geborgenheit. 
     
    Die transzendentale Obdachlosigkeit führte im 19. Jahrhundert zum Nihilismus, eine der gefährlichsten Demütigungen, die dann zu vielen Verzweiflungstaten führt. Das zu leugnen, daß wir auch Wesen sind, mit großen transzendentalen Wünschen, ist die Schwäche der szientistischen Konfession. Es ist ein haltloser, substanzloser, absolut inhaltsleerer Glaube daran, daß die Banalisierung von allem, was mal heilig war, der Wissenschaft letzter Schluß sein soll.
     
    Insofern paßt auch die Corona-Politik in diese Weltanschauung, wenn man sich vor Augen führt, was alles geopfert wurde, wie etwa das Seelenheil von Kindern und Jugendlichen, die Grundrechte, die Freiheit und vor allem die Fähigkeiten zur Selbstverantwortung.
     
    Man hat sofort die Entmündigung betrieben und ein dementsprechend geistloses, antihumanes, pädagogisch gestriges Menschenbild in Kraft gesetzt, nur, um zu herrschen. — Geist paßt nicht in die bornierte Weltanschauung szientistischer Naturalisten, die von Kultur überhaupt nichts verstehen und daher meinen, das kann alles weg, wo wir doch jetzt alle Corona haben und der Versucher unter uns weilt.
     
    Daß dabei große Teile der Presse wie Inquisitoren auftreten, ist ein ganz böses Omen – für die Presse selbst. Sie werden damit nicht punkten, stattdessen wird der schon vor Jahrzehnten von Jürgen Habermas in seiner Habilitation diagnostizierte “Strukturwandel der Öffentlichkeit” jetzt geradezu “geboostert”. Die Qualität der Diskurse im Internet steigt rapide, man empfindet es als Erholung, endlich nicht mehr belehrt oder umerzogen zu werden von einer Presse, die sich selbst in ihrer Funktion mißversteht.
     
    Da lobe ich mir die Nachrichten im Fernsehen von “Welt”. Das geht so: “Sack Reis in China umgekippt. Rußland macht die USA verantwortlich, die EU schweigt.”  So möchte ich es. Selig die Zeiten, als es Beschwerden gab, wenn der Nachrichtenspreche Köpke die Nase verzog, vielleicht weil sie kribbelte und viele sich sofort beschwerten.
     
    Es ist verständlich, daß die  bisherigen Medien eine Heidenangst haben vor dem Internet und was es ermöglicht an einer noch weiter sich ausdifferenzierenden Öffentlichkeit. Darüber zu spekulieren, müßte eigentlich dazu führen, daß nur Qualitätsmedien auf der einen und der Boulevard auf der anderen Seite werden überhaupt überleben können.
     
    Da aber ganz offenbar fast allenthalben die Qualität sinkt und immer weniger Diskurs stattfindet, sondern Wertung, Verunglimpfung, Hypermoral und Erziehung, wird sich das, was bisher etabliert war, immer weiter selbst schädigen.  Auch die  bisherige “repräsentative Demokratie” wird in the long run ganz allmählich obsolet, denn wir leben nicht mehr im Postkutschenzeitalter. Es braucht keine Repräsentanten mehr, die für die sprechen sollen, die selbst die richtigen Worte nicht finden. Denn im Internet nimmt das sprachliche Differenzierungsvermögen, die Dialog- und Diskursfähigkeit ganz rapide zu.

    Und natürlich wird es Wettkämpfe in Hate speech geben, bis alles raus ist und wirklich nichts mehr einfällt. Im Jargon der Diplomaten sind das “Anpassungsschwierigkeiten”. — Der Popanz, der da aufgebaut wird, von wegen es drohe Gefahr von Rechts, ist im eigenen Interesse maßlos übertreiben. Es gab immer diese unterirdischen Stammtischparolen, sie sind nur zu anderen Zeiten nicht publik geworden. Und jetzt meinen alle, denen es in den Kram paßt, da würde sich eine neue “rechte” Gefahr auftürmen, für alle, die sich nicht führen lassen, sondern sich selbst orientieren wollen. Und dann wird alles in einen Topf geworfen: Ungeimpft, Coronaleugner, Wissenschaftsfeind, Antidemokrat, Antisemit, rechtsradikal, Verfassungsfeind.

    Was, wenn auf den Montags-Demos so allmählich auch FDP-Wähler auftreten? Was, wenn ein kleiner Regelbruch nun einmal dazu gehört, zu einer Demonstration. Wenn das als Spaziergang verkauft wird, dann sollte es auch ein ebensolcher bleiben. Das ist Kultur und die Polizei sollte gute Miene machen. – Aber vielleicht sind ja auch manche an einer Eskalation interessiert?
     
    Und was die Causa Harald Schmidt anbelangt, so bereitet es mir ein großes Vergnügen, wie er alle an der Nase herumführt, die nicht nachdenken.  Man sollte wissen, daß er, worüber er sich selbst in einer Sendung einmal köstlich amüsant geäußert hat, ein Hypochonder ist. 
     
    Da ist dann dieses Intimverhältnis zwischen Leib und Seele derart aktiv, so daß man nur die Wahl hat zwischen Skylla und Charybdis, Pest oder Cholera.
     
    Man erkrankt also entweder an Corona oder an der Impfung. Es gibt aber noch ein Drittes: Man geht auf Distanz, ganz konsequent, und das macht er. Wo das Problem liegt? Im Mangel an Denken, an Geist, an Kultur.
     
     
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    Amok und Nihilismus

    Über transzendentale Obdachlosigkeit

    Ich habe Amok nie verstanden. Bei Charles Bukowski, durch den man ebenso hindurch muß, wie durch Niklas Luhmann, geschieht das so nebenher. Irgendwer hat mal so richtig schlechte Laune, legt sich dann irgendwo auf die Lauer, nimmt sich ein Gewehr, wird Heckenschütze und ballert irgendwelche Leute ab, die einfach nur das Unglück haben, gerade in diesem Augenblick vor Ort zu sein.

    Nun, mir geht es ums Verstehen, nicht unbedingt um Verständnis. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

    Man legt sich dann irgendwelche Erklärungen zurecht, so etwas die bei Schulmassakern, daß da jemand mit narzisstischer Störung zutiefst verletzt worden sein muß, der darauf “Rache” ausübt. Das ist auch dürftig, weil es nicht die tieferen Gründe erklärt. Wir alle sind schon mal so richtig mies verletzt worden und waren ernstzunehmend sauer, haben aber in der Regel nicht einmal daran gedacht, auf diese Weise damit umzugehen, um die Sache wieder “aus der Welt zu schaffen”.

    Edvard Munch: Melancholie (1894f).

    Einmal habe ich, um besser zu empfinden, in meiner Vorlesung einen Amoklauf aus der Perspektive desjenigen Schülers versucht zu beschreiben, der nun mit seiner Waffe durch den Flur läuft, während die ihm persönlich bekannten und doch vielleicht auch ehedem freundschaftlich verbunden Mitschüler vor ihm fliehen.

    Darauf bin ich auf die Idee gekommen, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir nämlich so vor, als würde mancher Täter sich womöglich den Flüchtenden anschließen, gewissermaßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eigenen Horror.

    Aber bei dem Anschlag in Heidelberg waren es Studenten, die zumeist persönlich einander gar nicht bekannt sein dürften. Hier entfällt also ein zentrales Argument, persönliche Rache aufgrund persönlicher Demütigungen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leute zu “bestrafen”, die so rein gar nichts mit irgendetwas zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

    Mir tut es leid für alle die, die da in diesem Hörsaal waren, für die Verletzten und noch mehr für die Toten, ihre Angehörigen, Freunde und Freundesfreunde. Sie alle haben mein Mitgefühl.

    Dennoch will man immer etwas über die Motive hören, als ob es doch irgendwelche zureichende Gründe gäbe. Fast schon entlastend wirkt da, wenn diese Motive religiöser oder politischen Natur sind. Dadurch wird die Absurdität nicht geringer, aber irgendwie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich halten kann.

    Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amokläufer an der Uni in Heidelberg hörte. Er soll per Whatsapp kurz zuvor mitgeteilt und angekündigt haben, nachdem er sich die Waffen zuvor im Ausland beschafft hatte, „daß Leute jetzt bestraft werden müssen“. Dieses “Motiv” hat weiter gearbeitet in mir. Irgendwie scheint das ein Schlüssel zu sein für ein tieferes Verstehen ohne Verständnis.

    Dabei ist mir aufgefallen, daß diese Formel vom “Bestrafen” häufig verwendet wird, nicht nur von religiös motivierten Amoktätern, sondern auch von solchen, die eigentlich nicht religiös motiviert sein dürften, weil ihnen dazu jeder Backround fehlt. Dann bin ich heute beim Verfassen eines Textes auf den Zeitgeist der Moderne zu sprechen gekommen und darauf, daß mit der Entzauberung der Welt, mit dem Verlust eines Glaubens und einer transzendentalen Obdachlosigkeit diese grundverzweifelten Leute zunächst in Russland aufkommen, wie sie Dostojewski so eindringlich zur Darstellung bringt.

    Das hilft nun den Opfern und allen Betroffenen nicht wirklich, weil ihnen das die gesuchte und nicht zu findende Erklärung nicht geben kann. Und dennoch, es hat mit dem “Bestrafen” eine eigene Bewandtnis. Strafe, Sühne und Buße sind nämlich als Motive zutiefst religiös in einem tiefenpsychologischen Sinne. Das bedeutet, man muß nicht unbedingt auf irgendeine Weise gläubig sein, diese Archetypen sind einfach vorhanden im kollektiven Unbewußten.

    Edvard Munch: Der Schrei.

    Also, in der Moderne, wo nicht einmal mehr die Idee vom großen Ganzen noch möglich scheint, dort zerspringt die Welt in tausend Stücke und alle diese Fragmente erscheinen nur noch profan. Darauf wird dann die unselige Profanität selbst zum Skandal und zum verzweifelten Anlaß für Selbstverletzung, sei es am eigenen Leib oder auch am ›Körper‹ der Gemeinschaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die Seele der Akteure in der von ihnen verachteten Welt seit geraumer Weile keine Nahrung mehr findet, zumal der Blick für Seelennahrung entweder gar nicht entwickelt oder eingetrübt ist.

    Auf diese Weise läßt sich nachvollziehen, warum es unter psychologisch prekären Umständen in den völlig entzauberten und profanisierten Fragmenten moderne Welten immer wieder zu diesen äußerst spektakulären und demonstrativen Terrorakten kommt, und woher die vielen religiösen Motive vor allem doch bei eigentlich religiös gar nicht motivierten Tätern rühren.

    Es läßt sich spekulieren, ob das Unvorstellbare nicht doch vorstellbar wird, wenn wir ernst nehmen, was viele dieser Täter als Motiv bekunden, sie wollten ›strafen‹. Als würde da ein geistig vollkommen entwurzeltes Prophetentum exerziert. Tatsächlich läßt sich aber annehmen, daß die Verletzungen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sollen, nur, in einem Kontinuum, das selbst völlig verirrt ist.

    Das hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der ganzen seelischen Dramatik vor Augen geführt. Er war ein Seismograph der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. In seinen Werken spiegelte er die irrlichternde menschliche Seele, ihre Sehnsüchte, Regungen und Träume, dann aber auch die Zwänge und Befreiungsversuche bis hin zum Verbrechen.

    Seit die Welt nur noch in Fragmenten erscheint, die allesamt nur noch profaner Natur sein können, konzentriert man sich ersatzhalber auf Äußerlichkeiten, spricht allenfalls von ›Werten‹ und verliert jede Vorstellung von Geist und Vernunft in ihrem Bezug zum Schönen, Erhabenen und daher auch zum Göttlichen. — Folgerichtig führt Friedrich Nietzsche dieser Befund zu einer verheerenden Diagnose: Nihilismus.

    Der junge Nietzsche selbst verwarf bereits in jungen Jahren diese Weltsicht der Haltlosigkeit und wandte sich der Philosophie von Arthur Schopenhauer zu, die nicht nur die Verzweiflung auf eine sehr konstruktive Weise deutet, sondern die auch eine Philosophie des Mitleids entwickelt und dabei bedeutende Gemeinsamkeiten mit fernöstlichem Denken entwickelt. — Es gäbe also schon philosophische Alternativen, die vor allem eigenes Handeln wieder möglich machen und nicht nur die aktive Weltverneinung und noch dazu die völlig unberechtigte “Bestrafung” zufällig anwesender Menschen, die dann zu Opfern werden. Kein Gott, kein Geist und nicht einmal ein Ungeist wird ein solches Opfer akzeptieren.

    Das ist keine Erklärung, die Trost spenden kann, es ist allerdings eine beunruhigende Einsicht in die seelische Kälte unserer Welt, die manche einfach nicht ertragen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hilfe nicht einmal mehr vorstellen können sondern meinen, sie könnten durch solche Taten irgendetwas bewirken, was alten Wunden heilt. – Stattdessen werden neue aufgerissen.

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    Die Narrative der Metaphern

    Über die Magie der Sprache und die Macht der Bilder 

    Narrative, immer wieder ist von Narrativen die Rede in letzter Zeit. Es ist eigentlich nur ein anderes Wort für eine Metaphorik, wobei das Narrativ scheinbar oder tatsächlich noch etwas Bekenntnishaftes hat, als wäre es ein Glaubensbekenntnisse. Man kann mitunter tatsächlich auch den Begriff “Weltanschauung” einsetzen. — Narrative sind zunächst einmal nichts weiter als Erzählungen, mustergültige Typen von Erzählungen, die wir einsetzen, um etwas zu verdeutlichen aber auch, um andere über den Tisch zu ziehen. 

    Narrative sind Metaphern, also “Übertragungen” von Sinnzusammenhängen, die zumeist mit der Sache eigentlich nicht das geringste zu tun haben. Nur wir stellen die Verknüpfung her, weil wir das Bild verstehen und glauben, wenn es sich mit der Sache auch so verhält, tatsächlich auch die Sache selbst verstehen zu können. — Man muß sich nicht schämen, so schwer von Begriff zu sein. Das ist typisch menschlich und kommt in den härtesten Naturwissenschaften vor.

    Interessanterweise arbeiten gerade die Natur- und Technikwissenschaften, die sich so viel darauf zu Gute halten, daß sie rechnen und nicht reden, mit erstaunlich vielen Metaphern. Wenn Einstein behauptet, “Gott würfelt nicht”, dann will er keine Theologie betreiben, sondern den universellen Anspruch von Mathematik deutlich machen. — Sollte aber der Schöpfer rein gar nicht gewürfelt haben, dann braucht der Physiker gar keinen Gott mehr, dann ginge alles wie von selbst, eben “evolutionär”. Und schon haben wir das nächste hochwissenschaftlich–literarische Bild vom Prozeß natürlicher Genese, wie Darwin es beschrieben hat.

    Interessant ist nun, daß Einstein, obwohl es ihm um Mathematik ging, zugleich auch Theologie betrieben hat, mit diesem Narrativ. Ob er es wollte oder nicht, der Geist dieser von ihm gewählten Formel besteht darauf, daß er auch das habe gesagt haben wollen soll.  Das ist nun der springende Punkt, Metapher unterschieben uns Aussagen, die konsequenterweise aus dem Narrativ folgen, aber sie unterstellen es in der Sache, also Vorsicht!

    Darwin als Affe, eine Anspielung auf seine Evolutionstheorie, die seinerzeit ungeheuerlich erschien. In: The Hornet magazine, 22. März 1871.

    Wer hat nicht immerzu dieses darwinsche Narrativ im Kopf, das zumeist auch falsch verstanden wird. Aber es ist nicht nur schön, sondern vor allem bequem. Man kann sich damit manches erklären, solange man sich genügend kosmische Zeit nimmt. Aber das Narrativ entstammt dem seinerzeit so rasenden Frühkapitalismus. Dieses dauernde Gerede vom Überleben des Stärksten ist typisch deutsch, weil im Original von “to fit in”, also vom Eingepaßtsein gesprochen wird. Es überlebt also unter Selektionsbedingungen genau dasjenige Individuum, das am besten “angepaßt ist”, nämlich an seine Umwelt. — Es ist schön, über Narrative zu verfügen, so weit die Füße tragen. Interessant wird es, wenn sie aber kollabieren. 

    Die Zeit ist nämlich dankbar, verweist sie doch so gern kapitalistisch auf die als Naturzustand beschriebenen Verhältnisse der freien Wildbahn, was angeblich auf die “freie Wirtschaft” und vor allem auf die “freien Märkte”  zutreffen soll. Dabei wird schnell sichtbar, daß es auch Ammenmärchen sind, die gern erzählt werden, wenn mit solchen Narrativen eine unsolidarische Politik des wirtschaftlichen Freibeutertums als “natürlich” legitimiert werden soll. — Ein russischer Anarchist, Fürst Igor Kropotkin, hat ein anderes Narrativ dagegen gesetzt, das auch mit der Darwinschen Evolutionstheorie kompatibel ist, das Prinzip von der “Gegenseitigen Hilfe”, daß sich eben die Beutetiere zusammentun können, um den Habicht abstürzen zu lassen, eben durch Schwarmintelligenz. 

    Nun dürfte klar geworden sein, wie sehr mit Narrativen die Richtlinien der Politik bestimmt werden, durch die Macht der Bilder. Dagegen wiederum kann man sich nur verwahren durch ein wenig humanistische Bildung und durch Metaphorologie. Es macht aber auch Freude, ein solches Bild ernst zu nehmen wie ein Kind, um dann immer weiter zu fragen: Also wenn in der Natur die Zeit reichlich knapp ist wegen der Feinde und der dringend notwendigen Fortpflanzung, wieviel Zeit hat eigentlich eine Orchidee, wenn sie mit einer Innovation herauskommen möchte, um am “Markt” zu bestehen?

    Jean-Baptiste Barla: Flore illustrée de Nice et des Alpes-Maritimes, Iconographie des orchidées. Nice 1868.

    Also, wenn sich eine Orchidee eine Innovation hat einfallen lassen wie die, einen Hummelhintern zu simulieren, nebst dazu passender Pheromone, um Hummelmännchen rasend wild zu machen, so daß sie die Blüte begatten und dabei mißbraucht werden, um Bestäubungsarbeit für die Pflanze zu leisten, dann möchte ich gern wissen, wie lange Zeit die Orchidee hatte, den Hummelhinter doch einigermaßen echt hinzubekommen. Wenigstens fallen die Männchen einmal darauf herein, dann sinkt die Begeisterung statistisch gesehen rapide ab. 

    Genauso verhält sich das mit den Bildern, sie sind wie Zauberkünstler und machen uns was vor. Man sollte aber immer dorthin schauen, wovon man abgelenkt wird durch die Macht der Bilder. Es ist so schön, etwas verstanden zu haben, es ist aber schlimm, auf einem Holzweg zu sein. — Viele derer, die von Narrativen sprechen, meinen vor allem die manipulative Macht, die sie selbst nutzen oder vielleicht auch aufklären helfen. 

    Seit Goethes Zauberlehrling ist es offiziell, daß man die Geister, die man ruft auch wieder loswerden muß. Es ist eine Erfahrung, die jedes Kind macht, daß eine kleine Flamme nur ein wenig Nahrung braucht und schon wächst sie einem über den Kopf. — Man sollte also bei der Wahl der Metaphorik ganz besonders vorsichtig sein. Darum geht es eigentlich, wenn in der Diplomatie so schön verklausuliert von der Suche nach einer “gemeinsamen Gesprächsgrundlage” gesprochen wird, das sind die entscheidenden Narrative.  

    Wenn beispielsweise in der aktuellen Corona–Krise so etwas wie eine “moralische Pflicht” konstatiert wird, sich aus Gründen der “Solidarität” impfen zu lassen, dann steckt ein Narrativ dahinter, das man nicht wirklich teilen muß. Man kann nicht nur, sondern sollte zurückfragen, ob diese, unsere Gesellschaft denn ihrerseits solidarisch ist, oder nicht vielmehr betont lieblos. Nimmt sie denn die Rücksicht auf die Armen und Schwachen, denen es im Verlauf dieser Krise immer schlechter ergeht? Nimmt sie denn Rücksicht auf die Pflegekräfte und nicht vielmehr auf marode Verhältnisse im Gesundheitssystem, die sie selbst zu verantworten hat, als man Kliniken zu Spekulationsobjekten gemacht hat? 

    Der Zaubertrick, den man durchschauen sollte, liegt darin, bewußt die Unterschiede zu verdecken zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft kann und darf Solidarität ihren Mitgliedern abverlangen und sogar erwarten, eine Gesellschaft wie die unsere, kann es, je weniger sie vom Geist der Gemeinschaft beseelt ist, umso weniger. So erklären sich auch die Unterschiede im Staatsvertrauen. Die Nordländer sind nie so verführt, betrogen und mißbraucht worden von ihrem eigenen Staat wie die Deutschen. Da wäre mal Abbitte zu leisten. Die Sonntagsreden an den Kranzabwurfstellen der Republik sind inzwischen nicht mehr statthaft. Wer will das denn noch glauben, daß hier in unserem Lande die Grundrechte gewahrt werden, wenn sie bei der ersten Belastung ausgesetzt werden?

    Ganz anders, wenn es sich um wirkliche Gemeinschaft handelt. In der Afrikanischen Philosophie ist „Ubuntu“, der afrikanische Glaube daran, daß wir das, was wir sind, den Menschen um uns herum verdanken. — Während es hier bei uns nur eine Leihmutter, eine Nanny und eine Privatschule braucht, um ein Kind zu ‘erziehen’, nehmen Afrikaner bekanntlich ganze Dörfer dazu.

    So gesehen ist der ‘freie’ Westen einfach nur geistig–soziales Entwicklungsland. Wir sollten daher die Philosophie der Afrikaner endlich zur Kenntnis nehmen, dann würde es auch bei uns mit der Solidarität funktionieren. — Nur Gemeinschaften können Solidarität zu erwarten, Gesellschaften mitnichten.

    Daher steht in solchen Kulturen der Ausgang eines Rituals oftmals von vornherein fest, Beschlüsse können nur einstimmig gefaßt werden. Alles wird getan, auf daß bloß keine Antagonismen auftreten. Es soll und darf keine Verlierer geben. — Ein in diesem Zusammenhang beliebtes und instruktives Beispiel stammt von dem Ethnologen K. E. Read:
    “Als die Gahuku–Gama auf Neuguinea anfingen, Fußball zu spielen, konnten zwei gegnerische Klans tagelang um den Ausgang spielen — so lange, wie es notwendig war, um ein Unentschieden zu erzielen”. (K. E. Read: Leadership and Consensus in a New Guinea Society. In: American Anthropologist, 1959, N.S., 61 (3). S. 428, zit. n.: Heinz-Ulrich Nennen: Ökologie im Diskurs. Zu Grundfragen der Anthropologie und Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften. Mit einem Geleitwort von Dieter Birnbacher; Opladen 1991. S. 51.)

    ‘Gewinnen’ bedeutet im Symbolismus solcher Kulturen ‘töten’. — Ich frage mich da immer: Wer sind eigentlich die Primitiven? 

    Metaphern sind fremde, eigensinnige aber auch hilfreiche Geister der Sinnstiftung, auf die wir angewiesen sind, weil wir ansonsten “nur Bahnhof verstehen”, wie jene Soldaten, die nur nach Hause wollten, also “Bahnhof” hören wollten. — Da wir nun einmal die Sachen nicht gleich durchschauen, sondern nur mit übertragenen Bildern indirekt deuten können, müssen wir uns behelfen mit Sprachbildern, Dialogen und Diskursen. 

    Der Jargon der Diplomaten in seiner trockenen, übersachlichen, minutiösen Kleinkariertheit läßt durchblicken, worauf es ankommt, wenn man sich auf eine “Formel” als “gemeinsame Gesprächsgrundlage” einigt, so daß bald die “Verhandlungen auf dieser Grundlage” beginnen können. — Die Wahl des Narrativs ist aber auch wie ein Gottesurteil, denn niemand weiß im Voraus genau, ob die gewählte Metapher für die eigenen Interessen die notwendigen Gelegenheiten bieten wird, um möglichst viel herausverhandeln zu können für die eigenen Seite. 

    Unsere Sprache ist ein Wunderwerk, bei dem wir uns zu behelfen wissen, um Sachen zur Sprache zu bringen, für die die Worte versagen. Es hat etwas mit Magie zu tun, dann zu sehen, wie ein Bild die Imagination augenblicklich gefangen nimmt und alles glaubt, urplötzlich zu verstehen. Dabei versteht man vor allem das Bild und glaubt, damit auch in der Sache weiterzukommen. Vorsicht!

    Wenn eine Metaphorik im Verlauf eines Gesprächs aus dem Ruder läuft und immer mehr in eine unerwünschte, nicht mehr konstruktive Richtung verläuft, dann sollte man das sagen und daraufhin vorschlagen, gemeinsam die Richtung zu verändern. Es ist wie im Netzplan einer U-Bahn. Wichtig ist, sich zuvor möglichst offen und höflich und dankbar von der nunmehr zu verlassenden metaphorischen “Linie” zu verabschieden.

    Sie muß offiziell verabschiedet werden, wie ein Geist, der ansonsten ungemütlich werden könnte. Auch kommen Zuhörer, die nicht ganz bei der Sache sind, mit abstrusen Rückfragen, worauf ein heilloses Durcheinander entstehen kann. — Daher trifft das Bild vom “Mitnehmen” solche Prozesse der Verständigung über Verstehen so gut. 

    Immerhin tut man sich da mit mächtigen Geistern zusammen, die erhebliche Probleme bereiten können und schnell eine gewisse Eitelkeit an den Tag legen, wenn sie nicht gewürdigt werden. Metaphern wollen im Geiste ihres Narrativ gewürdigt werden, es darf und kann daher nur das gesagt werden, was diesem Geist entspricht. — Wenn das aber beim besten Willen nicht geht, muß die Metaphorik ausgetauscht werden. Aber die anderen müssen dabei mitgehen, ansonsten wird man unter Umständen das Nachsehen haben. 

    Caspar David Friedrich: Das Eismeer (1823f.)

    Wer sich auf eine Metaphorik einläßt, verspricht sich etwas davon, also einen Gewinn von Verstehen, einen Zugewinn an Sinn oder vielleicht auch die Überzeugung Andersdenkender. Aber das kann alles scheitern. Es gibt daher zwei Metaphern, die unser Sein darstellen, die Metapher vom Theater und die von der Seefahrt. Dabei können die Planken, die beim Untergang bleiben, zu den Brettern werden, die die Welt bedeuten. 

    Narrative zu benutzen, ist abenteuerlich wie eine Seefahrt aufs offene Meer, was zu anderen Zeiten noch viel riskanter war. Die Risiken beim Metaphorisieren sind derweil nicht etwa kleiner, sondern eher größer geworden, weil unsere Ansprüche auf Begründungen selbst größer geworden sind.

    Wenn ein Redner seinen Schiffbruch erleidet, dann vermerkt das Protokoll im Bundestag darüber eine “allgemeine Heiterkeit” vor allem dann, wenn einer am Geist einer selbst gewählten Metaphorik scheitert, wie etwa der FDP–Abgeordnete Günter Verheugen, der eine etwas degoutante Vorlage von Joschka Fischer versuchte, in einen Treffer zu verwandeln aber ein Eigentor schießt: 

    “Immerhin gelingt es auch Günter Verheugen in seiner Rede, Kohl und das Hohe Haus zu amüsieren. Verheugen spricht kritisch von einem ‘Kanzler des Stillstands, der in sich ruht wie ein chinesischer Buddha’. Kohl ruft dazwischen: ‘Gefällt mir gut.’ Verheugen fassungslos: ‘Gefällt Ihnen gut?'” Man sieht, wie Kohl augenblicklich von der Regierungsbank zum Telefonhörer greift. 

    Minuten später erläutert Kohl, “warum er den Vergleich mit Buddha so schätze. Von der Regierungsbank aus habe er sich telefonisch informiert und aus einem Lexikon erfahren, daß Buddha als Persönlichkeit ‘sich durch Lebensernst, Sinn für das Wirkliche und Nötige, Mäßigung und Ausdauer’ ausgezeichnet habe. Jetzt muß selbst Verheugen lachen. Kohl bedankt sich für soviel Lob von der SPD und sagt: ‘So hat mich meine Partei nie verwöhnt.’ Was Buddhas Eigenschaften angehe, so sei er bereit, ‘all das zu akzeptieren’. Eine Einschränkung macht der Pfälzer jedoch: ‘Mit der Mäßigung hab’ ich gewisse Probleme, die teile ich mit dem Vorsitzenden der Grünen-Fraktion, eine der wenigen Gemeinsamkeiten. Kohl vergleicht sich im Parlament mit Joschka Fischer.” (Martin S. Lambeck: “So hat mich meine Partei nie verwöhnt”. Schlagabtausch mit Respekt: “Buddha” Kohl zwischen Fischers Häme und Verheugens “Lob”. In: Die Welt, 9.11.1995.)

    Die Titanic, die Metapher aller Schiffsmetaphern, als Inbegriff von Hybris und als Demütigung des modernen Größenwahns.

    Es gibt einige wirklich schillernde Bespiele für die Eigendynamik der Narrative und den Schiffbruch von Rednern. — Eine Metaphorik hat eben ihr Narrativ und dem muß man folgen. Wer einen solchen Geist ruft, wird sich nolens volens auf das Schicksal einlassen müssen, unmittelbar darauf nicht mehr wirklich der Herr des Verfahrens zu sein, so auch bei einer Begebenheit, die der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg erwähnt.

    “In der Haushaltsdebatte schildert ein Abgeordneter der Regierungskoalition den festen Kurs, den das Staatsschiff dank der koalierten Besatzung habe, und vergleicht die Opposition mit unruhigen Passagieren, die einen Nachholkurs in Navigation nehmen müßten, um eines Tages wieder auf die Kommandobrücke zu kommen.
    Zwischenruf der Opposition: ›Wir sitzen nicht in einem
    Boot.‹ —
    Redner: ›Ich spreche von dem Schiff unseres Landes, und
    dazu gehören Sie doch!‹ —
    Zwischenruf Wehner: ›Er ist ein blinder Passagier!‹ —
    Zwischenruf Opposition: ›Sie sitzen bald auf Grund, wenn
    Sie so weitermachen.‹ —
    Als der Redner seinen Vortrag mit nochmaligem Gebrauch
    der Metapher schließt: ›Weil dieses Schiff den richtigen
    Kurs hat und damit es weiterhin gute Fahrt macht …,‹
    bekommt er beim Abgang als letzten Ruf:
    ›Und Sie sind der Klabautermann.‹”

    (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1979. Anm. 5, S. 14.)

    Die Wahl der Metapher ist entscheidend, je nachdem erhält man Zuspruch vom Geist einer Metapher und ihrem Narrativ oder aber eine Abfuhr. Dabei haben wir die Wahl zwischen Hafen und offener See nicht wirklich. Betrachtet aus der unmenschlichen Langeweile im Paradiesgarten war die neue App vom Baum der Erkenntnis, also selbstständig zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden zu können, einfach zu verlockend.

    Aber auch damals schon wurde das Kleingedruckte im Paradiesvertrag zu schnell weggeklickt, denn dort steht, daß es unendlich lang dauern könnte, bis Menschen zu Göttern werden, mit allem, was dazu gehört nicht nur an Mächten, sondern auch an Kompetenzen.

    Einstweilen sollte gut überlegt werden, ob man nun die “Ehe als Hafen” mit paradiesischer Langeweile betrachtet oder eher als “Seefahrt” mit der Aussicht auf Katastrophen. Der in allem sehr zurückhaltende Caspar David Friedrich hat lieber ein Seestück gewählt, denn er mochte sich erst spät überhaupt dazu entschließen.
    Caspar David Friedrich und Caroline Bommer verlobten sich im Jahr 1816. Mit seiner Berufung in die Dresdner Akademie im Dezember 1816 bekam der Maler 150 Taler Gehalt und konnte sich somit eine Familie leisten. Er war damals 42 Jahre alt.

    Bei dem Paar handelt es sich um den Künstler selbst und seine junge Frau Caroline Bommer. Friedrich galt zeitlebens als ,,menschenscheuer Melancholiker“. Umso größer war das Erstaunen seiner Freunde und Bekannten, als der 44–Jährige am 21. Januar 1818 die 19 Jahre jüngere Caroline Bommer heiratete. 

    Bei dem im Bild dargestellten Paar handelt es sich um den Künstler selbst und seine junge Frau Caroline Bommer. Die Hochzeit fand am 21. Januar 1818 in der Dresdner Kreuzkirche statt, ohne Friedrichs Verwandtschaft. — Der Ehemann setzte seine Verwandten erst eine Woche nach der Eheschließung per Brief darüber in Kenntnis, nachdem seine Frau ihn dazu gedrängt hatte. In dem Brief offenbarte er auch seine Anschauungen über den neuen Zustand der Ehe:

    „… meine Frau fängt bereits an, unruhig zu werden und hat mich wiederholt malen erinnert zu schreiben; denn auch sie will schreiben um mit ihren neuen Brüdern bekannter zu werden. Es ist doch ein schnurrig Ding wenn man eine Frau hat, schnurrig ist wenn man eine Wirthschaft hat, sei sie auch noch so klein; schnurrig ist wenn meine Frau mir Mittags zu Tische zu kommen einladet. Und endlich ist es schnurrig wenn ich jetzt des Abends fein zu Hause bleibe, und nicht wie sonst im Freien umher laufe. Auch ist es mir gar schnurrig daß alles was ich jetzt unternehme immer mit Rücksicht auf meine Frau geschieht und geschehen muß.“ (Zit. n.: Wikipedia: Caroline Friedrich.)

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    Schweigen der Lämmer

    Schafe sind nie schuld, oder?

    Eine chinesische Verwünschung lautet: Mögest Du in interessanten Zeiten leben! — Was heißt „interessant“, wohl unruhig, unsicher, bedroht, voller Zweifel, verängstigt, vielleicht sogar panisch.

    Seit Menschengedenken wird darauf mit Opferkulten reagiert. Man verlangt sich was ab und opfert das Teuerste den Göttern. — Nichts dagegen, ich halte viel davon, den richtigen Göttern die richtigen Opfer zum richtigen Zeitpunkt zu bieten, in der Erwartung, daß man durch eine solche Meditation auf göttliche Kompetenzen kommt, wenn man denn die richtige Wahl trifft. — Sorry, ich sehe das Impfen von Kindern in diesem Sinne, das alles wirkt auf mich, als wären es Kindsopfer.

    Der Hintergrund dürfte der sein, daß viele Kinder es sich selbst wünschten und die eigenen Eltern bedrängt haben, einfach nur, um endlich wieder „normal“ zu sein mit dem Recht darauf, die eigene Kindheit leben zu dürfen. — Das hat mich von Anfang an befremdet von dieser Politik, diesem Staat und dieser Gesellschaft. Ungeheuer zornig gemacht hat mich die Dreistigkeit, über Kinder und Jugendliche herzufallen, ihnen die Unbeschwertheit zu nehmen, ihnen Begegnungen, Feiern, Selbsterfahrungen zu vereiteln. Gerade die Ausgangssperre war speziell gegen junge Leute gerichtet. — Und der Oberpriester, der diese Kindsopfer von Anfang an wider besseres Wissen gefordert hat, war der allseits geschätzte Virologe Drosten, der gewiß keine Ahnung hat von Pädagogik und Psychologie. Darf sich so einer bei so etwas irren? Nein! 

    Ähnlich hat man aber auch die Erwachsenen mit fadenscheinigen Aussichten erpreßt, mit allen erdenklichen Versprechungen, die dann nicht gehalten. sondern gebrochen wurden. Ständig neue Ziele wurden gesetzt, so daß alsbald der Eindruck entstehen mußte, ein fauler Zauber sollte aufrechterhalten werden, aber nicht irgend etwas Rationales. Der Schein von Rationalität wurde erzeugt und zur Einschüchterung gegen Andersdenkenden eingesetzt. Ach und es war so oft aus unberufenen Mündern von Rationalität und Wissenschaftlichkeit die Rede, man hat alledem einen Bärendienst erwiesen.

    Was nun?

    Jetzt ist eine Situation entstanden, in der Omikron zeigt, wie falsch die Hybris war, zu glauben, man könnte in der Liga mitspielen, in diesem Jahrmillionen währenden Kampf zwischen den Wirten und den Viren, in dem so etwas wie permanentes Wettrüsten vor sich geht, aber auch Konstruktives. Man denke doch nur an die Mitochondrien, die höheres Leben erst möglich machen. Es sind viele Schnipsel davon im Genetischen Code, alles potentielle Innovationen, die über Viren „hereingekommen“ sind.

    Was können „wir“, nicht viel! Was wissen wir, so gut wie nichts! – Von Anfang an war klar, daß da die Evolution ihre Spiele spielt. Es wäre klug gewesen und nicht einfach nur „rational“, sondern vielleicht sogar vernünftig, das zu tun, was die Moskowiter getan haben, als Napoleon mit seinen Invasionstruppen kam. Man hat Moskau verlassen und den Feind „ausgehungert“.

    Von den 400 Milliarden, die der Wahn gekostet hat, hätte man die Kliniken und Altersheime aufrüsten können in sichere Burgen mit Kontakt– und Berührungsmöglichkeit. Technik kann so gut wie alles, man muß nur das Zauberwort sagen: Koste es was es wolle! — Warum wurden die Kliniken nie wirklich optimiert? Warum hat man das Personal so allein gelassen. Warum hat man nicht gesagt, es gibt das Doppelte und Verhältnisse, in denen die Motivation nicht korrumpiert wird? Wer sich jetzt zur Ausbildung einschreibt, der bekommt erst einmal den roten Teppich und ja, die autoritären und jetzt auch noch kapitalistischen Verhältnisse im Gesundheitswesen sind einfach kontraproduktiv und haben nur dann etwas Menschliches, wenn sich Mitarbeiter bis zum Burnout übernehmen.

    Aber der Staat hat sich wie üblich an der Gesellschaft vergriffen, weil er ein Schläger ist und nie vertrauenswürdig war. Nicht von ungefähr stellt ihn die Mythologie der Ägypter als Monstrum dar, der Pharao hat einen Löwenkörper und die schrecklichen Augen einer Sphinx. Als solche ist er eiskalt, unberechenbar und unbezwingbar. — Das ist auch noch unser Staatsverständnis, daher wurde die Gewaltenteilung erfunden.

    Aber die Balance of Power hat versagt wie die Notstromaggregate in Fukushima, als dort die Welle kam. — Die Gewaltenteilung hat versagt. Die Obersten Richter haben sich nicht getraut, der Politik „rote Linien“ zu weisen. Man hat die Köpfe zusammengesteckt beim Dinner im Kanzleramt, ein Ding der Unmöglichkeit!

    Die Menschheit ist je fortschrittlicher umso mehr auf den Zufall angewiesen, daß, ausgerechnet dann, wenn es darauf ankommt, keine Duckmäuser und exzellente Unfähigkeiten an den entscheidenden Stellen sitzen. Da lobe ich mir die antike griechische Demokratie. Die Ämter wurden verlost, jeder mußte ran und zwar sofort. – Wer zum Richter ernannt wurde, mußte sofort und unverzüglich in den Prozeß, durfte nicht erst mit anderen sprechen, konnte also gar nicht manipuliert werden.

    Was nach Omikron kommt? Das konnte man schon bei Delta sehen, es ist nicht im Interesse eines Virus, seinen Wirt umzubringen. Wenn er das tut, ist er jung und noch ziemlich dumm. – Warum wissen das unsere auch so wissenschaftlichen Fachwissenschaftler nicht und wenn, warum sagen sie es nicht? Man muß nur Darwin lesen. — Stattdessen wurde stets die Dramaqueen gegeben. Dabei merkte man förmlich bei den Statements, das sich fast alle schnell auf die Zunge bissen, wenn irgendwas gar nicht so schlecht aussah. Wie in der Werbung hat man die Mutanten verkauft, jetzt noch schneller, noch tödlicher, noch heimtückischer.

    Die Angstmacherein der letzten viel zu langen Monate war nicht nur unverantwortlich, sie hat vor allem zur Demontage der Demokratie und zum Niedergang der politischen Kultur geführt. Die Leute reden ja gar nicht mehr miteinander, man prüft den Anderen erst, ob da bestimmte Trigger sind und dann wird gecancelt. Gespräche finden nur noch unter Gleichgeschalteten statt. Oder man schweigt. Tatsächlich, die Mehrheit schweigt, seit Monaten. Und es ist in der Tat harte Arbeit, in dieses Schweigen hineinzurufen.

    Das ist aber nun mal mein Job. Mir ist es gleich, was man mir nachsagt. Und die vielen gutgemeinten Aufforderungen, mal nicht ganz so laut zu sein beim Reinrufen, sind falsch. — Es ist meiner Reputation als Philosophen nicht abträglich, ich bin es ihr vielmehr schuldig, genau das zu tun, was ich immer schon getan habe, widersprechen, auch dann, wenn fast alle auf Tauchstation gehen. So habe ich mich schon vorzeiten mit meiner ganzen Kollegenschaft angelegt, als ich über den Diskurs der Sloterdijk–Debatte ca. 700 Seiten geschrieben habe mit minutiösen Analysen darüber, daß es auch unter Philosophen angepaßtes Denken und eben auch Nichtdenken gibt. Das Buch hat ein Namensverzeichnis, man kann sich also sofort nachschlagen. – Gern denke ich noch heute an die wenigen, die einfach exzellente Noten verdient hatten, eben weil sie das richtige Gespür mit Vernunft zusammenbringen konnten.

    Umkehr
     
    Es ist ungeheuer viel geopfert worden und es hat so gut wie nichts davon geholfen. Ja, ja, es hätte, sollte, würde, müßte alles noch viel schlimmer gekommen sein, wenn nicht? Nein!Corona ist stark, weil die Gesellschaft so schwach ist, weil der Staat ihr nicht beisteht, sondern sich darin gefällt, die Gesellschaft zappeln zu lassen und den großen Zampano zu geben. — Aber jetzt ist es eine interessante Zwischenphase wie bei einer Minutenpause in der Musik. Danach kommt was. Alles weiß, daß es jetzt kippen muß. Alle erdenklichen Vorzeichen sind bereits zu erkennen und werden eindeutiger. — Und als sie ihr Scheitern bemerkten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen. Ja, aber auch das geht nicht ewig so weiter.
     
    Jetzt fehlt eigentlich ein Skandal oder einer, der das Zeug hat, hinreichend aufgebauscht zu werden. Wie wäre es mit falschen Zahlen, wie Söder sie sich geleistet hat? Aber es müßte schon noch ein wenig mehr sein. Alles wartet doch jetzt auf die Lösung des Rätsels der Erfolglosigkeit aller Anstrengungen. Es scheint ja inzwischen schon fast so, als wären die Ungeimpften sicherer, ja doch wohl auch deswegen, weil sie sich nicht auf einen „Schutz“ verlassen können und weil sie ja nun aus erzieherischen Gründen leider überall draußen bleiben müssen. Ich lasse mich nicht erziehen, ich bin selbst Erziehungswissenschaftler für Erwachsenenbildung und hatte das als Nebenfach in Münster.

    Während die Impfpflicht eher nur noch von den unteren Chargen verfolgt wird und sich alle erdenklichen Zuträger, Beiträger, Mitläufer, Berufsbetroffene, Gläubige, Scharf– und Angstmacher so langsam unsicher umdrehen, wer noch alles bei ihnen steht, lichten sich die Reihen. Es wendet sich das Wetter, das gesellschaftliche Klima kippt. Nur wer möchte sich denn jetzt mal einfach so eingestehen, daß der Club der Kaiser schon seit Monaten nackt ist?

    Derweil will noch niemand wirklich genauer hinsehen, weil man schon viel zu viel und viel zu lange aufs falsche Pferd gesetzt hat. Das sagen auch die Mörder in den allabendlichen Mordorgien der Krimis im Fernsehen immerzu, man habe jetzt schon so viel auf dem Gewissen, da käme es auf etwas mehr auch nicht mehr an. Wenn dieser Spruch fällt, ist jemand wirklich von allen guten Geistern verlassen.

    Was die Rationalitäten nicht auf den Schirm bekommen

    In der theologischen Sprache gibt es manche Begriffe, die in Vergessenheit geraten sind, weil wir ja unsere wissenschaftlich-wissenschaftlichen Rationalitäten haben. Ich frage dann immer gern nach den Bedeutungen, um ganz schnell eine plötzlich aufkommende Bescheidenheit zu provozieren, zur Not auch zu erzwingen. Ein Mangel an Demut ist das Problem. Auch der Begriff der „Sünde“ ist von Interesse. Was mag es bedeuten, wenn gesagt wird, man habe sich an etwas versündigt? — Was die Kinder, die jungen Leute, die Alten, Dementen und Sterbenden betrifft, sehe ich das so. Da ist eine riesige Schuld entstanden und wer trägt sie wieder ab?
     
    Sobald das spürbar wird, daß man sich aufgrund von Sturheit, Selbstherrlichkeit und Maßlosigkeit schon seit geraumer Zeit auf einem Holzweg befunden hat, kommt es zu einem Impuls, für den es in der Theologie einen weiteren Begriff gibt. Dieser Begriff heißt „Umkehr“. Heidegger hat es mal mit „Kehre“ versucht, aber das ist und bleibt düster. Auch „Wende“ ist so eine Phrase, aber auch das bleibt eine nur äußerliche Sache, als würde man sich mal einfach so umdrehen. — Worte, die den Tiefen unserer Psyche gerecht werden sollen, müssen selbst Tiefgang haben, sonst brauchen sie gar nicht erst anzutreten.
     
    Nein, „Umkehr“, wenn man denn dem Begriff seine theologische Bedeutung auch zugesteht, das bedeutet „Eingeständnis der Schuld“, „Zugeben, sich versündigt zu haben“ und schließlich „Buße“. Dann erst kann es weitergehen. Dann kann die Katharsis, also die „Reinigung“, die „Entsühnung“, die „Vergebung“ und die „Freisprechung von der Schuld“ überhaupt vonstatten gehen. — Und da sind wir jetzt, noch kurz vor der Einsicht in die Schuld.
    Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819). Nun, die Katastrophe um das Floß der Medusa entstand, weil ein unfähiger aber hochwohlgeborener Kapitän auch noch resistent war gegen guten Rat. – Die Unglücklichen wurden ausgesetzt und sehen am Horizont das rettende Schiff, aber von links kommt eine haushohe Welle.
     
    Man wird sich nicht mehr lange stellvertretend an den Ungeimpften vergreifen können, um in ihnen die „Sündenböcke“ zu sehen, die einfach für alles verantwortlich sind.
     
    Bar jeder Vernunft sind sie nun monatelang als die wahrhaft „Bösen“ verkauft worden, nur, weil sie den angeblich ganz kleinen Piks mit dem ganz tiefen Vertrauen in einen Wissenschaftsglauben, der selbst wissenschaftsfeindlich ist, nicht mitmachen mochten, aus vielerlei Gründen. — Ja, selig sollen die sein, die nicht (selbst ein–)sehen und doch glauben. Das hätten die „Hirten“ gerne.
     
    Aber wenn jetzt die Ungeimpften als Ketzer, Ungläubige, Teufelsmenschen, UnholdInnen und Staatsfeinde nicht mehr zur Verfügung stehen, was dann? Die diskursive Formation muß dann dieser Tage kollabieren. Wer soll das denn jetzt alles gewesen sein? Also werden Ablenkungen vorgenommen. Herr Wieler vom RKI könnte abgesetzt werden, da hätte man schon mal ein Baueropfer, irgendwie. Boris Johnson, der offenbar jeden Freitag in der Downing Street nicht unberauschende Feste gegeben hat, wird jetzt abgesägt. Und Söder hat schon vor Wochen Kreide gefressen, denn seine Fähigkeit, sich äußerlich zu wandeln, haben etwas von einem Chameleon. — Politik macht es erforderlich immer mal die Farben zu wechseln, aber nur äußerlich, also „glaubwürdig“.
     
    Eines muß man dem Söder Markus neidvoll zugestehen. Ich hätte es ihm von Herzen gewünscht, daß er für seine narzißtischen Big–Man–Allüren abgestraft würde, daß man ihm als Scharfmacher vorhalten würde, was er alles mit angerichtet hat in der Corona-Krise, was so ungeheuer schief gelaufen ist. Ach ja und Frau Merkel, die nie vom Ende hergedacht hat, wenn überhaupt. Herr Spahn kann sich glücklich schätzen, daß er „weg“ ist. — Manches Mal habe ich gedacht, was ist das nur für ein Job, permanent Erklärungen, Beteuerungen und Versprechen abzugeben, wie etwa zum hundertsten Mal, daß es keine Impflicht gäbe. Und dann läßt sich das alles nicht halten, weil man vor anderem Hintergrund wieder die Farbe wechseln muß.
     
    Ja, die Rente ist sicher, ebenso sicher wie das Grundgesetz. Auch die Daten in der Luca-App sind sicher vor staatlichem Zugriff. — Viel von dem Vertrauen, das Staat, Politik und Medien noch hatten, ist weg.

    Nichts ist heilig

    Wie hieß es noch in einer dieser unverschämten Werkekampagnen zum geistig–moralischen Downgrade: „Ich bin doch nicht blöd!“ Aber ja doch, geraden mit dieser Einstellung, was könnte blöder sein als dieser Spruch. — Da war dann die Polizei in Mainz auch echt nicht blöd und auch die vom Gesundheitsamt. Man hat auf dem Wege der „Amtshilfe“ eine Infektion einfach mal so gefaked, weil man es kann und dann sind die lieben Kollegen an die Daten herangekommen. — Geht doch!
     
    Nicht mal Ehrlichkeit, Lauterkeit, Prinzipientreue, Verläßlichkeit geht. Man hätte sich viel, sehr viel zusätzliches Vertrauen verdienen können. Aber nun? — Jetzt kommt das Scherbengericht. Und der Söder Markus hat schon vor Wochen das Södern ganz sein lassen. Da ist dann FDP-Kubicki, der viel zu still war, als er hätte laut werden müssen, auch erst dann über ihn hergefallen, als sich die Änderung im politischen Klima längst abzuzeichnen begann.
     
    Ja, hinterher sind immer alle überaus klug. Aber wer erhebt denn von Anfang an Protest? Wer hat denn den Mut, aus der Reihe zu tanzen? Manche haben es ja am Anfang getan, sie wurden aber auf der Stelle exkommuniziert. Es sollte nur einen Gott und nur einen Hohepriester geben und der verlangte den Lockdown, um den Chinesen mal zu zeigen, daß wir so etwas auch können. Eine Gesellschaft, die so dumm ist, hat in der Tat auch keine bessere Politik verdient. — Und was mich am allermeisten stört, auch in der anstehenden Buße wird gelogen und betrogen werden. Allerdings wird es dann auch keine „Vergebung“ geben.
     
    Um das zu verstehen, muß niemand gläubig sein, es geht auch mit Tiefenpsychologie. Wer so viel falsch gemacht hat, wie Politik, Staat und Gesellschaft die letzten Monate, hat viele Leichen im Keller. Täter werden es am Anfang glatt ablehnen, die Verantwortung oder gar Schuld anzuerkennen. Leugnung, dann Verdrängung und schließlich Relativierung sind typische Stationen im Prozeß einer jeden Läuterung.
     
    Das Problem von Tätern ist nur, daß sie ständig auf der Hut sein und permanent darauf achten müssen, daß niemand was merkt. Aber spätestens seit der Systemischen Therapie kann man auch ohne humanistische Bildung wissen, daß es gar keine Geheimnisse geben kann, weil wir alle erdenklichen psychoaktiven Antennen besitzen. Wir haben den Neokortex entwickelt, weil das Sozialverhalten ansonsten viel zu viel Kopfschmerzen bereitet. Ja, es gibt Dinge, die sich unsere Rationalitäten nicht einmal träumen können.
     
    Ich frage mich aber, wie das gehen soll, dieses Scherbengericht? Wie sollen wir denn einander allesmögliche verzeihen? Die neugeschaffenen Traumata, die Verletzungen der Würde, die Mißhandlungen der Freiheit, dieser unübersehbare Vertrauensverlust, das alles läßt sich doch gar nicht wieder heilen. Natürlich werden die Montagsdemonstrationen größer, man wird immer weniger herzhaft darüber herziehen können. Derweil versucht man es noch immer mit Dämonisierung und Exkommunikation. Wenn jetzt noch mehr Gutbürgerliche „da“ einfach hingehen? Was soll man denn tun, wenn man was tun möchte gegen den Verfall der Kultur?
     
    Hauptsache, es kommt jetzt nicht auch noch zur Inszenierung von Gewalt.
     
    Ich denke, der Mainstream sollte jetzt auch mal Farbe bekennen und dazu stehen, daß man sich hat Angst machen und einschüchtern lassen, daß man sich benommen hat, wie ein artiges Kind, daß man sich die Würde nicht nur hat nehmen lassen, sondern daß man sie freiwillig abgeliefert hat. So viel Hausarrest, wofür eigentlich?
     
    Aber wie gewinnen wir die verlorene Nähe wieder? Geraten wir nicht alle inzwischen in Atemnot, wenn uns jemand „zu nahe“ kommt?
     
    Oh wie ist das alles krank, psychisch krank!
     
    Wieder einmal hat sich die Gesellschaft von falschen Hirten auf Irrwege führen und mißhandeln lassen. Wer trägt die Verantwortung?
     
    Schafe sind nie schuld, oder?
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    Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

    Über Menschenwürde und Impfzwang

    Viel war immer von „Würde“ die Rede, gerade in Deutschland. Dieser Begriff war wie ein Fetisch, man hob ihn sehr hoch und höher. Aber den allermeisten war das Gemeinte so faßbar wie die Begriffe Leib und Seele.

    Und da nun die „harten“ Wissenschaften keinen Zugang haben zu alledem, ist es eigentlich schlecht bestellt um das,  was gemeint sein könnte. Allenfalls wird widerwillig noch so etwas wie Psyche zugestanden aber dann auch nur mit einem Manko. Wenn etwas „psychologisch bedingt“ ist, dann ist es zugleich „nur psychologisch“.   Es ist gewissermaßen grundlos, weil es ja nun keine „kausale“ Ursache gibt, oder?

    Das ist der bornierte Materialismus einer Kultur, die inzwischen gefährlich geistlos geworden ist, wie sich an der aktuellen Debatte um den Impfzwang zeigt.

    „Würde“ ist unfaßbar für alle diejenigen, die meinen, es gäbe nur eine einzige Wahrheit, nämlich diejenige, die sich in Zahlen messen und naturwissenschaftlich thematisieren läßt. Ja und Liebe wird zur Hormonstörung, ist es nicht so? Und Schönheit kommt von außen, tausend InfluencerInnen können nicht irren?

    Alles, was nicht ins Prokrustenbett dieser Unbildung paßt, wird passend gemacht. Das geht so weit, daß BiologInnen in den Talkshows der Republik unwidersprochen zwischen Glauben und Wahrheit unterscheiden, um dann “die Wahrheit” für sich zu reklamieren. Und alles andere ist Hokuspokus? – Ich muß doch sehr bitten.

    Das Niveau ist inzwischen unterirdisch. Die so scheel beäugte Psyche geht gerade über Hecken und Zäune. Es geht schon längst nicht mehr um körperliche Gesundheit. Wir haben es mit einer Massenhysterie zu tun, die nun Sündenböcke braucht, weil aus alledem, was man sich versprochen hat, durch Impfen wiederzugewinnen, nichts wie erwartet gekommen ist.  

    Dabei wurde von Anfang an rücksichtslos alles ins Opferfeuer geworfen, ob es das Seelenheil von Kindern ist, denen man sagte, sie würden den Tod bringen oder die Würde der Sterbenden und Dementen, die ohne jede menschliche Berührung wegdämmern und sterben. Die Liste ist inzwischen unübersehbar, was da an Schäden angerichtet worden ist.

    „Würde“ ist ein höchst intimes Selbstverhältnis zwischen Ich und Selbst, Körper und Psyche, Leib und Seele, Sinnlichkeit und Geist. Es ist dieser seltsame Widerspruch, daß wir von den einen nicht einmal flüchtig berührt werden möchten, während wir uns den anderen mitunter vorbehaltlos hingeben können. Das hat etwas mit einem Vertrauen zu tun, das nicht eingefordert werden kann.

    Was haben wir denn für Bilder im Kopf, wenn „unser Körper“ gerade mit etwas ringt? Das sind Narrative, die wir uns durch den täglichen Wissenschaftsjournalismus einfangen. Als ob das alles wäre, um zu sagen, wer und was „wir“ denn so alles „sind“.

    Naiv sind weniger die der Esoterik Verbundenen, sie versuchen wenigstens eigene Worte zu finden für dieses Intimverhältnis. Während die anderen nur ihre Geistlosigkeit demonstrieren und einen längst arbeitslos gewordenen Kirchenglauben nunmehr auf „die“ Wissenschaft richten, ja welche denn?  Es gab zu allen Zeiten einfache Gemüter und diese wußten darum. Nur, inzwischen halten sich diese auch noch für aufgeklärt, wenn sie daran gehen, andere zu belehren, um sie auf den richtigen Glaubensweg zu bringen.

    Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und das Leben ist der höchsten Güter nicht; vieles, unendlich vieles ist schon gesagt worden darüber, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, zwischen Körper und Geist, von denen sich unsere Wissenschafts–Weisheiten nun wirklich nicht einmal eine Vorstellung machen können.

    Alle diese Schuster sollten bei ihren Leisten bleiben, denn es ist zwischen Technik– und Naturwissenschaften einerseits und zwischen Geistes– und Kulturwissenschaften andererseits zu unterscheiden. Und die Borniertheit mancher Fachvertreter und ihrer Nachbeter sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es mit einer komplexen und auch tiefgründigen Wirklichkeit zu tun haben.  Wir haben eine Innenwelt, die es mit den unendlichen Weiten des Kosmos spielend aufnehmen kann, wenn man bedenkt, wer und was in unserer Phantasie so alles leibhaftig ist.

    Als ich in einem Thinktank vorzeiten desöfteren interdisziplinäre Expertenkreise moderiert habe, gab es nicht selten diese Kindlichkeit im Auftreten von Sachverständigen, wenn sie mal für etwas nicht zuständig sind, sondern andere, noch dazu konkurrierende Disziplinen. Man mußte dann schon energisch werden, um sie dahin zu bewegen, nur über ihre Sache sprechen, wovon sie schließlich etwas verstehen aber nicht andere schlecht reden.  Genau das aber geschieht nun in dieser Gesellschaft. Da sucht eine aufgehetzte Mehrheit nach Sündenböcken und erklärt alle Andersdenkenden zu „Gefährdern“.

    Die Mehrheit hat nicht das Recht, sich so eine Minderheit zu erschaffen, um dann über sie herzufallen, nur weil sie sich hat Angst machen und mit falschen Versprechungen und trügerischen Hoffnungen ins Bockshorn jagen lassen. Die Gesellschaft hat nicht das Recht, so zu tun, als sei sie eine Gemeinschaft und hätte dementsprechende Rechte. Gerade unsere real existierende Gesellschaft ist sozial kälter als viele andere, daher hat sie sogar noch weniger Rechte als jene.

    Der Staat hat nicht das Recht, ein Impfregister aufzubauen, denn bereits das verletzt die Würde im Datenschutz und die informationelle Selbstbestimmung. Und der Staat hat schon gar nicht das Recht, in das intime Verhältnis zwischen mir und meinem Körper einzugreifen. Das wäre mehr als die Verletzung meiner Würde, das wäre bereits Mißhandlung. Nur eine Vergewaltigung wäre noch übler.

    Und für Neunmalkluge: Wenn ich in eine Alkoholkontrolle gerate und gefragt werden, ob ich mit einer „freiwilligen Alkoholkontrolle“ einverstanden sei, dann frage ich stets, was daran freiwillig sein soll. Wenn nicht, dann müsse ich eben mit zur Wache kommen, wo mir zwangsweise Blut für einen Alkoholtest abgenommen würde, erklärte mir der Beamte.  Da habe ich ihm wiederum erklärt, daß das keine Freiwilligkeit sei. Verdeutlicht habe ich es ihm am Beispiel seiner Kollegin, die daneben stand. Wenn ich diese auffordern würde, mich nicht abzuweisen, wenn ich ihr würde nahetreten wollen, weil ich ansonsten „Maßnahmen“ ergreifen würde, was das dann wäre. Nötigung mindestens, vielleicht Freiheitsberaubung, vielleicht mehr.

    Nur, wenn ich mit einem Fahrzeug am Straßenverkehr teilnehme, gebe ich gewissermaßen einen Teil meiner Grundrechte preis. Sollte mir das nicht geheuer sein, könnte aber auch auf das Fahren verzichten…  In der Corona-Krise habe ich diese Alternative nicht, ich kann nicht nicht leben oder mal eben auswandern.

    Die Geschichte wiederholt sich nicht, das ist eines der meistgeglaubten Standards, und dann werden immer wieder Analogien gesucht, wohl, weil wir dann doch aus den Fehlern der Geschichte lernen wollen. Ich denke in den letzten Wochen desöfteren an die berühmt-berüchtigte Schrift von Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat:

    „Auf diese Weise konfrontiert der Staat nie das Innere eines, intellektuell oder moralisch, sondern nur seinen Körper, seine Sinne. Der Staat ist nicht mit überlegener Weisheit oder Redlichkeit ausgerüstet, er besitzt nur überlegene physische Stärke. Ich bin nicht geboren, um mich zwingen zu lassen. Ich will nach meiner eigenen Art atmen. Laßt uns sehen, wer der Stärkere ist.“ (Henry David Thoreau: Uber die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. 1849. S. 9.)

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    Georg Stefan Troller zum Hundertsten

    Sich auf das Verstehen verstehen

    Er hat mich geprägt, denn er zeigt immer wieder, wie Verstehen möglich ist und wie fantastisch es sein kann. Dabei ist sein Verständnis oft etwas mutwillig hergeholt, aber genau damit wird er zum Vorbild.

    Ja, man kann verstehen, muß sich aber nicht gleichmachen. Aber vielleicht war und ist es ja auch “nur” die Sonne in seinem Herzen und das bei diesem Lebensweg, – vielleicht auch gerade deswegen.

     

     

    Dieses Niveau ist einmalig. Der freundliche, leicht ironische Unterton, das stets bereitwillige Understatement, das zur Not auch betont hemdsärmelig daherkommt, von wegen, es müsse doch wohl so sein…  Das ist höchste Kunst der Begegnung. Dabei kommt alles so leichtsinnig und flaneurhaft daher, aber es werden Tiefen erreicht, die oft nicht einmal erahnt werden.
     
    Es ist schon bestechend, dabei zu sein, um mitzuerleben, wie leicht man auf wirklich Wichtiges kommt ohne diese stromlinienförmige Oberflächlichkeit, die nur so tut, als wäre da Tiefe. Dann dieser Ton mit einer verlockenden Komplizenschaft für den Zuschauer, der mit ihm gern auf Erkundung. Man vertraut sich gern an.
     
    Da weiß einer sehr viel zu erzählen und versteht sich auf das Verstehen und das auch noch in grotesken Begegnungen. Man spürt, wie eine Zeit auf die andere folgt im Sauseschritt. Stets sind es bereichernde Begegnungen und Erfahrungen, die sogleich ein Teil werden, als hätte man es selbst erlebt.
     
    Troller tut das, was die Mythen immer schon wollten: Weltvertrauen schaffen auf der Grundlage eines Understatements, das es sich leisten kann, sich zu riskieren.
     
    Herzlichen Glückwunsch, Georg Stefan Troller!