Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Motive der Mythen

Der Mensch als Maß?

Heinz–Ulrich Nen­nen: Der Mensch als Maß aller Din­ge? Über Prot­agoras, Pro­me­theus und die Büch­se der Pan­do­ra (Zeit­Gei­ster 1); tre­di­ti­on Ham­burg 2018. 232 S. – Paper­back 16,99 €, ISBN: 978–3‑7439–0090‑5. Hard­co­ver 26,99 € ISBN: 978–3‑7439–0091‑2. Erschei­nungs­da­tum: 11.12.2018.

Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Es soll­te kei­ne wei­te­re Dyna­stie von Göt­tern mehr geben. — Wir sind wer­den­de Göt­ter in einer Welt, die wir selbst erschaf­fen haben, für die wir auch ganz allein ver­ant­wort­lich sind. 

Mit sämt­li­chen gött­li­chen Gaben bedacht, ist Pan­do­ra die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nur zivi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle damit ver­bun­de­nen Übel in die Welt. Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneut zu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Also wie gehen wir um mit unse­rer Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst­be­stim­mung? Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Gebor­gen­heit. — Inzwi­schen tra­gen wir die Göt­ter in uns.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, denn Ori­en­tie­rungs­wis­sen ist von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in den Mei­ster­er­zäh­lun­gen ein uraltes Ori­en­tie­rungs­wis­sen fin­det, das über­ra­schend aktu­ell ist.

Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Prot­agoras von Sokra­tes um Erläu­te­rung gebe­ten wird, was man denn nun gegen teu­res Geld bei ihm erler­nen kön­ne, dann zeigt sich ein tief­grei­fen­der Wan­del. — Nicht ein­mal mehr die Ein­füh­rung ins Erwach­se­nen­le­ben gehorcht noch der Tra­di­ti­on der Jäger. Die Kul­tur in den Städ­ten setzt eige­ne Maß­stä­be und bespie­gelt sich dabei selbst. Frag­lo­se Maß­stä­be sind nicht mehr vor­han­den: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

Prot­agoras erläu­tert anhand des Mythos von Pro­me­theus, es mang­le nicht an der nöti­gen Tech­nik, Städ­te zu errich­ten. Allein sie zu hal­ten, sei schier unmög­lich gewe­sen. — In der Tat muß­te die drin­gend gebo­te­ne Kunst der Poli­tik eigens von Her­mes im Auf­trag­des Zeus nach­ge­reicht wer­den. Und er, der Sophist, ver­mitt­le genau­die­se vakan­ten Kompetenzen.

Poli­tik ist die Kunst, stän­dig gegen­zu­steu­ern, wenn Gesell­schaf­ten wie­der ein­mal aus irgend­ei­nem Gleich­ge­wicht gera­ten. Die eigent­li­che ›Wild­nis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städ­ten. — Seit­her muß also ›stu­diert‹ wer­den. Dann ist es durch­aus mög­lich, Kar­rie­re zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämt­li­chen gött­li­chen­Ga­ben bedacht, ist sie die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nurz­i­vi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vor­her nicht waren. — Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneu­tzu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

Phi­lo­so­phie kommt auf, wo Göt­ter schlecht gedacht wer­den. So ent­steht all­mäh­lich Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der bis­her kaum bedach­ten Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, dabei ist Ori­en­tie­rungs­wis­sen von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in Zwei­fels­fäl­len immer wie­der auf die Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung durch Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie zurück­grei­fen kann.

Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­loads freigegeben.


Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

Der zerbrochene Spiegel 

Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…


Fernsehinterview 2016

Denken wie eine freischwebende Feder

Heinz-Ulrich Nen­nen ist ein Frei­den­ker. Er ver­gleicht die Phi­lo­so­phie ger­ne mit einer frei­schwe­ben­den Feder: „Ziel des Phi­lo­so­phie­rens ist es, die Feder stets in der Schwe­be zu hal­ten.” Sie darf nicht her­un­ter­fal­len, aber sie darf sich auch nicht mit dem näch­sten Wind­stoß so ein­fach ver­ab­schie­den. Nen­nen denkt bei die­sem Bild ins­be­son­de­re an die Ur-Phi­lo­so­phie eines Pla­ton: Solan­ge alles in der Schwe­be bleibt, ist der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs, der eige­ne Geist und damit auch das eige­ne Leben in Bewe­gung. Aller­dings offen­bart die Schwe­be-Phi­lo­so­phie – nicht zuletzt in Per­son eines Fried­rich Nietz­sche – gewiss auch ein enor­mes Absturz­po­ten­ti­al. Stän­dig das eige­ne, im unend­li­chen Raum schwe­ben­de Selbst zu suchen und zu fin­den, kann auch eine ewi­ge Jagd zwi­schen Hase und Igel sein. Phi­lo­so­phie kann feder­leicht beflü­geln, aber sie kann auch schwer­mü­tig fes­seln – bis zum Exzess.

Gera­de in Zei­ten einer all­ge­mei­nen sozia­len Ver­un­si­che­rung ist der Schwe­be­zu­stand logi­scher­wei­se beson­ders pre­kär. Men­schen brau­chen Ori­en­tie­rung. Vie­le Jahr­hun­der­te lang waren die Kir­che und der Glau­be an Gott dafür zustän­dig. Es gibt Göt­ter, sie ver­kör­pern unse­re Idea­le aber auch unse­re Äng­ste, das steht auch für den Phi­lo­so­phen außer Fra­ge. Nen­nen: „Sie waren und sind seit Jahr­tau­sen­den das, wonach die Men­schen stre­ben.“ In Zei­ten, in denen es Reli­gi­on und Kir­che schwer haben, über­neh­men aller­dings zuneh­mend ande­re deren Auf­ga­be. Micha­el Jack­son etwa. Nen­nen meint Ido­le, an denen sich die Men­schen aus­rich­ten – ohne dass die­se Ido­le noch ech­te Men­schen wären. Denn sie sind ledig­lich Bil­der, ein „Ima­go”, wie Nen­nen sagt. Sie bil­den das popu­lä­re Image als ver­mensch­lich­ten Lebens­geist ab.


Veröffentlichungen

Verzeichnis der Veröffentlichungen

PDF: Ver­zeich­nis der Veröffentlichungen


Vorlesungen und Seminare


Persiphaé

Pasiphae-Gustave-Moreau

Gust­ave Moreau: Pasi­phaé. Musée Gust­ave Moreau, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Götter als Allegorien menschlicher Belange

Die Nähe zum pan­dä­mo­ni­schen, pan­psy­chi­schen oder auch zum poly­the­isti­schen Welt­bild liegt fast schon auf der Hand: Stets wer­den wir näm­lich ergrif­fen von frem­den Mäch­ten und von über­per­sön­li­chen Moti­va­tio­nen. Daher ist die Vor­stel­lung so nahe­lie­gend, als wür­den wir ein­ge­nom­men von dämo­ni­schen Mäch­ten, die Besitz von uns ergrei­fen, um ihre Moti­ve zu den unse­ren zu machen. — Inso­fern sind wir wohl nicht wirk­lich Herr unse­rer selbst, denn wer sucht sich schon die eige­ne Grund­stim­mung, die Grund­ge­füh­le und vor allem auch die Gefühls­schwan­kun­gen selbst aus. Göt­ter ver­kör­pern nicht nur Emo­ti­on, von denen wir uns bewe­gen las­sen, sie geben sie mit­un­ter auch ein.

Göt­ter kön­nen sich rächen, indem sie unwi­der­steh­li­che Nei­gun­gen ein­ge­ben: König Minos von Kre­ta hat­te einen eigens von Posei­don geschaf­fe­nen Stier mit außer­ge­wöhn­lich herr­li­cher Gestalt dem Mee­res­gott auf des­sen aus­drück­li­chen Wunsch nicht geop­fert, son­dern zur Ver­ed­lung der eige­nen Her­de ver­wandt. Dar­auf ließ Posei­don die Ehe­gat­tin des Minos Pasi­phae in hei­ßem Begeh­ren zu jenem Stier ent­bren­nen. Der sagen­um­wo­be­ne Erfin­der Däda­lus wur­de geru­fen, der eine höl­zer­ne Kuh kon­stru­ier­te. Die Köni­gin kriecht hin­ein, läßt sich von die­sem Stier begat­ten und gebiert dar­auf den Mino­tau­rus, der spä­ter dann im Laby­rinth gefan­gen gehal­ten und von The­seus unter Mit­hil­fe von Ari­ad­ne getö­tet wird.

Weil Minos dem Nep­tun einen Och­sen nicht opfer­te, wel­chen er ihm doch ver­spro­chen hat­te, so habe sie sich in den­sel­ben ver­lie­ben müs­sen. Ihre Brunst wur­de auch eher nicht gestil­let, als bis Däda­lus eine Kuh von Hol­ze ver­fer­tig­te, sol­che mit einer Kuh­haut über­zog, und die Pasi­phae hin­ein steckete. (Ben­ja­min Hede­rich: Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 1899.)

Man­ches spricht dafür, die Göt­ter des Pan­the­on zu sehen als das, was sie von Anfang an waren, Alle­go­rien für alle erdenk­li­chen mensch­li­chen Belan­ge. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie alles, was an Moti­ven, Inter­es­sen, an Schick­sals­schlä­gen, Schwä­chen oder auch Stär­ken, Fer­tig­kei­ten und Talen­ten eine Rol­le spie­len kann.

Wenn dem­entspre­chend genau­er gefragt wird, etwa, was denn eigent­lich hin­ter der Empa­thie steht, und was denn dann die Sehn­sucht der Sehn­sucht aus­macht, dann könn­ten wir wei­ter­kom­men in die­ser Fra­ge, wenn uns ein Gott dazu ein­fie­le, der zustän­dig zu sein scheint. — Die Kunst, mit der ver­wir­ren­den Viel­falt eines Göt­ter­him­mels umzu­ge­hen, liegt eben dar­in, hin­ter den Alle­go­rien der Göt­ter ihre Zustän­dig­kei­ten zu eru­ie­ren. Die Fra­ge wäre also: Wel­cher Gott ver­kör­pert eigent­lich die Sehn­sucht der Sehn­sucht und wie gehen Göt­ter ihrer­seits damit um, Träu­me zu haben, die sie womög­lich selbst nicht leben kön­nen, etwa weil es zu ihrer Rol­le und zu ihrem Selbst­ver­ständ­nis ein­fach nicht paßt.


Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

Nur wer die Sehnsucht kennt

Goethe-Lotte-Werther

Goe­the Lot­te Wert­her. Stadt– und Indu­strie­mu­se­um, Wetz­lar 2014. — Quel­le: 3StepsCrew, Gie­ssen, Ger­ma­ny via Wiki­me­dia, Lizenz: CC-BY-SA‑2.0.

Mit sei­nem Wert­her trifft Goe­the das epo­cha­le Lebens­ge­fühl jun­ger Leu­te im Span­nungs­feld zwi­schen der neu­en Emp­find­sam­keit und einer über­kom­me­nen Moral, die eigent­lich alles Per­sön­li­che im Keim erstick­te. Dage­gen grün­de­te sich die sei­ner­zeit als Lese­sucht bezeich­ne­te Suche nach den Moti­ven einer neu­en Sehn­sucht auf Indi­vi­dua­li­tät und auch auf Nar­ziss­mus. So ent­stand der neue Zeit­geist mit einem Hang zum sen­ti­men­ta­li­schen Cha­rak­ter, der erst in der Roman­tik ganz zum Aus­druck kom­men und auch sei­ne Schat­ten­sei­ten ent­wickeln sollte.

Das neu her­an­brau­sen­de Zeit­al­ter der Emp­find­sam­keit war selbst­ver­ständ­lich höchst umstrit­ten, denn damit wur­de ein ganz bedeu­ten­der Schub in der Psy­cho­ge­ne­se aus­ge­löst. Anstel­le der stets so tugend­haft und alter­na­tiv­los hin­ge­stell­ten Füg­sam­keit, sich den Anfor­de­run­gen eines über­kom­me­nen Kon­ven­tio­na­lis­mus klag­los zu über­ant­wor­ten, wur­de nun der Aus­druck eines neu­en Indi­vi­dua­lis­mus mög­lich, der Welt­schmerz und Melan­cho­lie zum Aus­druck brach­te und dabei bis zum Nar­ziss­mus füh­ren konn­te. — Die Figur des Wert­her war dabei der Pro­to­typ eines neu­en Zeit­ge­nos­sen, der mit sei­ner unstill­ba­ren Sehn­sucht, sei­nem über­bor­den­dem Nar­ziss­mus und mit sei­ner Melan­cho­lie an der herr­schen­den Moral ein­fach scheitert.

Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugend­be­we­gung‹. Wei­te­re Reak­tio­nen in Kunst und Lite­ra­tur lie­ßen nicht auf sich war­ten. Mas­si­ve Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis und im Selbst­ver­hält­nis gin­gen damit ein­her. Es kam zur Vor­bild­funk­ti­on, zur Iden­ti­fi­ka­ti­on, zur Nach­ah­mung der Haupt­fi­gur und schließ­lich zum Werther–Kult mit einer Rei­he von Sui­zi­den oder Sui­zid­ver­su­chen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tra­di­ti­on der Fremd­be­stim­mung, son­dern eine Demon­stra­ti­on des Anspruchs auf Indi­vi­dua­li­tät jen­seits der her­kömm­li­chen Moral. Und so wur­de dann auch der Selbst­mord die­ses tra­gi­schen Hel­den nicht mehr als Sün­de tabui­siert, son­dern als ›Frey­tod‹ betrach­tet, als Aus­druck einer indi­vi­du­el­len Frei­heit, sich gegen gesell­schaft­li­che Zwän­ge zu behaup­ten, indem man sich dem Wei­ter­le­ben ›ent­zieht‹.

Im Wil­helm Mei­ster wird die­se träu­men­de Sehn­sucht wei­ter zum Aus­druck gebracht, aber auch eine Nai­vi­tät, die zustan­de kommt, wo Empa­thie ohne Theo­rie ein­fach nur auf eine neue Sehn­sucht zielt, von der nicht inhalt­lich gesagt wer­den kann, was denn nun die Sehn­sucht die­ser Sehn­sucht sein soll:

Er ver­fiel in eine träu­men­de Sehn­sucht, und wie ein­stim­mend mit
sei­nen Emp­fin­dun­gen war das Lied, das eben in die­ser Stun­de Mi-
gnon und der Harf­ner als ein unre­gel­mä­ßi­ges Duett mit dem herz-
lich­sten Aus­drucke sangen:

Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh’ ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwin­delt mir, es brennt
Mein Ein­ge­wei­de.
Nur wer die Sehn­sucht kennt,
Weiß, was ich leide!

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Wil­helm Mei­sters Lehrjahre.

In: Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

So träumt dann Wil­helm Mei­ster noch in träu­men­der Sehn­sucht, kommt aber aus dem Lei­den am Lei­den nicht her­aus. Es bleibt bei der Sehn­sucht nach dem, was der Sehn­sucht wert ist. Und so geht Goe­thes Faust weit dar­über hin­aus: Er greift wirk­lich nach den Ster­nen und macht dabei die­je­ni­gen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu ange­tan sind, für sich selbst bes­ser wahr­neh­men zu kön­nen, was denn gewollt wer­den sollte.

Faust ist rast­los, uner­füllt, umtrie­big und vol­ler Sehn­sucht nach einer Sehn­sucht, deren Beweg­grün­de ihm selbst aber unbe­kannt sind. Er täuscht sich dar­über, was und wo denn nun das Land sei­ner Träu­me liegt, was das Ziel aller Seh­süch­te sein soll. — Im Dia­log mit der Sor­ge, die sehr melan­cho­li­sche Züge trägt, erläu­tert er die zuneh­men­de Ruhe der Weis­heit, die mit der Erfah­ren­heit einhergeht:

FAUST.
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genüg­te, ließ ich fahren,
Was mir ent­wisch­te, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und aber­mals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durch­ge­stürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es wei­se, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drü­ben ist die Aus­sicht uns verrannt;
Tor, wer dort­hin die Augen blin­zelnd richtet,
Sich über Wol­ken sei­nes­glei­chen dichtet!
Er ste­he fest und sehe hier sich um;
Dem Tüch­ti­gen ist die­se Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewig­keit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wand­le so den Erden­tag entlang;
Wenn Gei­ster spu­ken, geh’ er sei­nen Gang,
Im Wei­ter­schrei­ten find’ er Qual und Glück,
Er, unbe­frie­digt jeden Augenblick!
SORGE.
Wen ich ein­mal mir besitze,

Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewi­ges Düst­re steigt herunter,
Son­ne geht nicht auf noch unter,
Bei voll­kom­men äußern Sinnen
Woh­nen Fin­ster­nis­se drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er ver­hun­gert in der Fülle; …

(Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Ham­bur­ger Ausgabe
Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfah­rung brin­gen und braucht dafür einen Teu­fels­pakt mit dem genia­len Mephi­sto, der das all­um­fas­sen­de Pro­bie­ren und Stu­die­ren ihm erst mög­lich macht. — In der Faust­wet­te geht es schließ­lich um die Lösung der Fra­ge nach der Sehn­sucht der Sehnsucht:

FAUST.
Werd’ ich zum Augen­blicke sagen:
Ver­wei­le doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fes­seln schlagen,
Dann will ich gern zugrun­de gehn!
Dann mag die Toten­glocke schallen,
Dann bist du dei­nes Dien­stes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zei­ger fallen,
Es sei die Zeit für mich vor­bei! (Ebd. S. 57.)

Der­weil wirkt Mephi­sto stets so, als habe er das alles längst hin­ter sich und wüß­te um das Wesen des Men­schen, um Träu­me und Schäu­me. Die­ser Dämon spricht wie ein Nihi­list, der sich längst zum Zyni­ker gewan­delt hat, und in der Tat ist Mephi­sto bar jeder Sehn­sucht, so daß man sich fra­gen muß, woher er dann noch sei­ne Ener­gie nimmt.

Aus­zug aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. S. 148ff.


Diana – Psyche und Wildnis

Jules-Joseph-Lefebvre-Diana-Chasseresse

Jules–Joseph Lefeb­v­re: Dia­na. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Die Bio­gra­phie der Göt­ter, also ihre Theo­gra­phie ist oft hilf­reich, um her­aus­zu­brin­gen, was sich hin­ter der Alle­go­rie eines Got­tes oder einer Göt­tin ver­birgt. Alle die­se Figu­ren sind unse­re Pro­jek­tio­nen, daher ist es inter­es­sant, dem nach­zu­ge­hen, was denn da pro­ji­ziert und idea­li­siert wor­den ist. Dem­entspre­chend darf stets mit höchst inter­es­san­ten Kor­re­spon­den­zen zwi­schen der Men­schen­welt und dem Göt­ter­him­mel gerech­net werden.

Immer­hin geht es um fun­da­men­ta­le Erfah­run­gen und Selbst­er­fah­run­gen, die mit­hil­fe von Göt­ter­fi­gu­ren in Sze­ne gesetzt wer­den: So steht die grie­chi­sche Arte­mis und die mehr oder min­der iden­ti­sche römi­sche Dia­na für einen ganz bestimm­ten Kon­text, der tief in die Ver­gan­gen­heit der Men­schen­ge­schich­te zurückreicht.

Dia­na ist auf den Bil­dern beim Bade unter den vie­len nack­ten Nym­phen sicher an ihrem Dia­dem zu erken­nen, das eine Mond­si­chel trägt, ein wahr­haft uraltes Sym­bol. Damit läßt sie sich einer sehr viel älte­ren Epo­che der Mensch­heits­ge­schich­te zuord­nen, was aller­dings kaum ver­wun­der­lich ist. Als Jagd­göt­tin steht sie alle­go­risch für genau jene Lebens­wei­se ein, wie sie zuvor in der gesam­ten Geschich­te der Mensch­heit vor­herr­schend war. Erst vor etwa 45.000 Jah­ren kamen die ersten Hir­ten­no­ma­den auf und erst seit rund 12.000 Jah­ren kam es zum Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on. — Wenn daher die Dia­na auf­tritt, so ver­kör­pert sie einen ganz bestimm­ten Aspekt in der Sub­si­sten­z­wei­se von Samm­lern und Jägern, und dabei kam das Jagen den Män­nern und das Sam­meln den Frau­en zu.

Die Göt­tin steht für die­sen eigen­tüm­li­chen Flow, für die inten­si­ve Erfah­rung von Ein­sam­keit in den end­lo­sen Wäl­dern, Wie­sen und Fel­dern, auf der Jagd aber auch beim Sam­meln. Sie ist die Göt­tin des ›Drau­ßen‹ und bewahr­te ins­be­son­de­re die Frau­en vor den Gefah­ren, die damit ein­her­ge­hen, sich weit weg zu wagen von allem, was noch in der Nähe der Gemein­schaft liegt. Da sind nicht nur natür­li­che Gefah­ren, son­dern auch die, even­tu­ell ande­ren Jägern zu begeg­nen, die viel­leicht auf Frau­en­raub aus sind. Dar­über­hin­aus ist es immer auch ein see­li­sches Wag­nis, sich tief in die Wild­nis vor­zu­wa­gen, weil man sich eben zugleich auch auf das eige­ne Inne­re ein­läßt. Nicht von unge­fähr ist in der Welt­an­schau­ung der Wild­beu­ter alles beseelt und vol­ler Gei­ster und Dämonen.

Dia­na ist eine Schutz­göt­tin, die denen gan­ze beson­de­ren Bei­stand gewährt, die sich sehr in die Wild­nis vor­wa­gen. Denn sie demon­striert das uner­müd­li­che Jagen und sie bewahrt ihre Iden­ti­tät, so daß sich die, die sich auf die Ein­sam­keit in den Wäl­dern und auf alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen und Gefah­ren ein­lie­ßen, sich gebor­gen füh­len konn­ten. Die Göt­tin lebt vor, was es bedeu­tet, auf Jagd oder zum Sam­meln in die Wäl­der zu gehen, weit­ab vom Lager, viel­leicht in klei­nen Grup­pen, auf jeden Fall aber auf sich allein gestellt und nicht son­der­lich wehr­haft. — Erstaun­li­cher­wei­se wird die gött­li­che Alle­go­rie für das Jagen und Sam­meln aus­ge­rech­net von einer jung­fräu­li­chen Göt­tin ver­kör­pert. Das muß zu den­ken geben, denn gera­de vom Jagen wür­de man doch anneh­men wol­len, da es doch eine emi­nent ›männ­li­che‹ Tätig­keit ist, daß infol­ge­des­sen auch ein männ­li­cher Gott dafür ein­ste­hen müßte.

Aller­dings hat es mit den Umstän­den beim Jagen und Sam­meln eine ganz eige­ne Bewandt­nis. Nicht sel­ten herrscht Ent­halt­sam­keit im Lager, wäh­rend die Jäger weit­ab auf Beu­te­fang sind. Und nicht anders ergeht es den Samm­le­rin­nen, wenn sie in klei­nen Grup­pen unter­wegs sind, stän­dig ver­folgt von Gefüh­len wie Angst, Bedro­hung und Hor­ror. — Sich über­haupt auf sol­che Wag­nis­se ein­zu­las­sen, dafür steht die­se Göt­tin, denn sie demon­striert, wie es gemacht wird.

Die Auf­merk­sam­keit dürf­te nicht sel­ten hoch ange­spannt gewe­sen sein, etwa anhand von Geräu­schen die Nähe von Raub­tie­ren früh­zei­tig zu bemer­ken. Aber nicht nur äußer­li­che, son­dern auch psy­chi­sche Gefah­ren sind in sol­chen Situa­tio­nen zu bewäl­ti­gen, die sehr viel Dis­zi­plin, Selbst­er­fah­rung und Wage­mut erfor­dern. — Vor allem für die Frau­en dürf­te noch ent­schei­den­der gewe­sen sein, daß sie ernst­haft befürch­ten muß­ten, weit­ab vom Lager even­tu­ell von frem­den Jägern auf­ge­spürt, geraubt und ent­führt zu werden.

So ergibt sich dann der Cha­rak­ter die­ser Göt­tin. Sie muß so sein wie sie ist, stän­dig auf der Jagd, auf gutem Fuße mit allen Natur­gei­stern wie den Nym­phen, aber völ­lig bei sich und nicht im min­de­sten an Lie­bes­aben­teu­ern oder gar Sex inter­es­siert. — Dage­gen gilt Dia­na rein äußer­lich als äußerst attrak­ti­ve, jugend­li­che, unge­mein umtrie­bi­ge aber auch abso­lut unnah­ba­re Göt­tin. Alle wis­sen, daß sie sich für Män­ner wirk­lich nicht inter­es­siert. Aber immer wie­der gibt es alle erdenk­li­chen Nach­stel­lun­gen, denen sie sich syste­ma­tisch und stets erfolg­reich ent­zieht, nicht sel­ten unter Ein­satz von Mit­teln, die der eige­nen Weib­lich­keit eine Tar­nung ver­pas­sen, die augen­schein­lich ist. Sie nimmt auch schon ein­mal die Gestalt eines Hirschs an, um Nach­stel­lun­gen zu ent­ge­hen, so daß sich ihre Ver­fol­ger gegen­sei­tig erschie­ßen. Ihre Selbst­tar­nung geht so weit, daß sie ihren weib­li­chen Rei­ze voll­kom­men negiert:

Als ihr Alpheus einst zu Lei­be gieng, so beschmie­re­te sie sich mit
den übri­gen Nym­phen das Gesicht der­ge­stalt mit Kothe, daß er sie
unter dem Hau­fen nicht ken­nen konn­te. (Ben­ja­min Hederich:

Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 909.)

Die Göt­ter im Olymp seuf­zen nicht sel­ten, wenn sie sie über­haupt zu Gesicht bekom­men, weil sie unent­wegt in den Wäl­dern umher­streift, wäh­rend sie sich statt­des­sen lie­ber wün­schen wür­den, daß sie doch nicht immer­zu jagen möge, son­dern sich den ›schö­ne­ren Din­gen‹ des Lebens end­lich auch ein­mal mehr wid­men soll­te. — Dia­na steht in kras­sem Wider­spruch zur Zivi­li­sa­ti­on, sie ist nicht von unge­fähr andau­ernd in der Gesell­schaft von Nym­phen. Dem Pan müß­te sie eigent­lich sehr zuge­tan sein, aber der Gott der Wild­nis ist sterb­lich, weil er im Zuge der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne Macht ver­liert, seit es auf die­sem Glo­bus gar kei­ne Wild­nis mehr gibt.


Blick und Gegenblick

Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

Giu­sep­pe Cesa­ri: Dia­na und Aktai­on. Muse­um der fei­nen Kün­ste, Buda­pest. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Jean Paul Sart­re hat in Das Sein und das Nichts eine Blick­ana­ly­se vor­ge­führt, die das Erblicken und das Erblickt­wer­den zur Dar­stel­lung bringt und dabei demon­striert, wie der Blick auf den Ande­ren die­sen zum Objekt degra­diert, selbst wenn das womög­lich gar nicht beab­sich­tigt ist. 

Das ist wie­der einer die­ser kon­sti­tu­ti­ven Brü­che, die mit dem Bewußt­sein in die Welt gekom­men sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir wer­den nicht nur gese­hen, son­dern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt gewor­den ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt wor­den sind.

Ich befin­de mich in einem öffent­li­chen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stüh­le. Ein Mensch geht an den Stüh­len vor­bei. Ich sehe die­sen Men­schen, ich erfas­se ihn gleich­zei­tig als einen Gegen­stand und als einen Men­schen. Was bedeu­tet das? Was will ich sagen, wenn ich von die­sem Gegen­stand behaup­te, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sart­re: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Ham­burg 1993. S. 457.) 

Der Blick, der den ande­ren erfaßt, ist weit mehr als nur ein­fa­ches Sehen, denn er nimmt dem Ande­ren die Eigen­heit, sei­ne Sub­jek­ti­vi­tät und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degra­diert den Ande­ren in sei­nem Sub­jekt­sta­tus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begeh­ren­den oder taxie­ren­den Blick geht, denn dann ist es ein abschät­zen­der, viel­leicht auch abschät­zi­ger Blick. Inter­es­san­ter­wei­se geschieht das mit jedem Blick, der unbe­dacht auf Jeman­den fällt, der viel­leicht in die­sem Augen­blick selbst unbe­dacht sein mag. Sobald die­ser Blick aber selbst wie­der­um erblickt und mit einem Gegen­blick erwi­dert wird, sobald das Sehen als Gese­hen­wer­den gewahr wird, als Erblicken des Erblickt­wor­den­seins, geschieht die­se selt­sa­me Über­wäl­ti­gung: Das vor­ma­li­ge Sub­jekt des Blicks wird vom vor­ma­li­gen Objekt nun­mehr selbst zum Objekt eines wei­te­ren Blicks. Nicht nur unse­re Spra­che hat daher Magie, son­dern auch unser Blick hat irgend­ei­ne selt­sa­me magi­sche Macht.

Kul­tu­ren geben sich viel Mühe, die­se Kraft, die im Blick liegt, zu zäh­men, um die Kräf­te auf ihre Müh­len zu len­ken. Blicke wer­den geführt, gelenkt, gerich­tet und sie wer­den wie­der­um gede­mü­tigt, umer­zo­gen oder auch abge­lenkt. Der Blick, der bezeich­nen­de Aus­druck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Poli­tik, ohne daß über­haupt irgend­et­was gesagt wer­den müß­te. — Kul­tur poli­ti­siert jeden Blick, denn sie legt es dar­auf an, vor­zu­schrei­ben, wer gewis­se Ein­blicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Ver­dacht, daß es neben der exo­te­ri­schen– noch eine eso­te­ri­sche Leh­re geben müs­sen, daß es eben Wahr­heit gibt, die nicht für die All­ge­mein­heit, son­dern die nur für Aus­er­wähl­te bestimmt sind.

Dabei brin­gen Taschen­spie­ler, Zau­ber­künst­ler, eben ›Illu­sio­ni­sten‹ genau die­se Wahr­heit stets wie­der aufs Neue her­vor. Blicke las­sen sich len­ken, füh­ren, ver­füh­ren, ablen­ken und völ­lig ver­wir­ren. Also wer­den nicht sel­ten frei­mü­tig Ein­blicke gewährt, nicht sel­ten um zu ver­ber­gen und zu ver­schlei­ern, was nicht gese­hen wer­den soll, was ande­re nicht nur nicht begeh­ren, son­dern gar nicht erst zu Gesicht bekom­men sol­len. — Die vie­len und nicht sel­ten mit dra­sti­schen Stra­fen beleg­ten Blick­ver­bo­te, den Gott­kö­ni­gen und Prie­ster­göt­tern, ins­be­son­de­re aber den Göt­tern gegen­über, zeu­gen davon, daß man immer schon ver­sucht war, die unge­bän­dig­te Magie des frei­en, unge­zwun­ge­nen, unge­zü­gel­ten und viel­leicht auch begehr­li­chen Blicks zu bezähmen.

Wenn jeder Blick mit die­ser selt­sa­men magi­schen Kraft aus­ge­stat­tet ist, das Erblick­te zum Objekt zu degra­die­ren, dann wären in der Tat auch Kai­ser, Hei­li­ge und sogar Göt­ter nicht davor gefeit. Also steht dar­auf der Tod, wie bei der Jagd­göt­tin Dia­na, die von Aktai­on rein zufäl­lig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nym­phen beim Baden erfreut. — Die Göt­tin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jun­gen Mann ihre Blö­ße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so man­che ande­re unter den ein­schlä­gi­gen Göt­tin­nen eiser­ne Jung­frau. Das dürf­te dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, daß die Selb­stän­dig­keit einer Frau zu die­sen Zei­ten nur dann über­haupt vor­stell­bar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

Die Göt­tin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will par­tout kei­ne Liebes–Erfahrungen mit Män­nern. Der begehr­li­che Blick des Aktai­on macht sie jedoch in einem ein­zi­gen Augen­blick zum Objekt sei­ner Begier­de. Aber gera­de Dia­na steht dafür ein, Jung­frau zu sein und es auch zu blei­ben. Über­rascht und über­rum­pelt ver­sucht sie sich dem begehr­li­chen Blick zu ent­zie­hen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voy­eur mit Was­ser, wor­auf die­sem augen­blick­lich ein Hirsch­ge­weih wächst, das Sym­bol der Jagdgöttin.

Dem Jäger wer­den mehr als nur alle­go­ri­sche Hör­ner auf­ge­setzt, sie wach­sen ihm wirk­lich, er wird zum Beu­te­tier sei­ner eige­nen Jagd­lust. Ganz im Sin­ne der Dia­lek­tik von Blick und Gegen­blick wird der Jäger selbst zum Gejag­ten. Die eige­nen Jagd­hun­de spü­ren ihn auf, er will sich ihnen zu erken­nen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hir­schen und in Erman­ge­lung des Sprach­ver­mö­gens schwer­lich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stel­le zer­fleischt. Immer­hin han­delt es sich hier um eine Theo­pha­nie. Da muß die Fra­ge auf­kom­men, nicht nur wie und war­um es über­haupt dazu kommt, son­dern auch, was eigent­lich mit einem Men­schen geschieht, der eine sol­che schick­sal­haf­te Begeg­nung hat. Wenn wir uns ober­fläch­lich mit dem Mär­chen­haf­ten die­ser Situa­ti­on abfin­den las­sen, dann ist es ein­fach nur eine unglück­li­che Lie­be. Der jun­ge Held ver­liebt sich eben augen­blick­lich in die gött­li­che Schö­ne, aber er ver­geht bereits an und in sei­ner Lie­be. Oder: Die hol­de Schö­ne ist so prü­de, so eitel, so panisch auf ihre Unbe­rührt­heit bedacht, so daß sie ein­fach alle, die ihr Avan­cen machen, die womög­lich auch noch anzüg­li­che Blicke wer­fen, augen­blick­lich töten muß. — Das alles ist viel zu kind­lich gedacht, wir wür- den damit ledig­lich ein wenig auf dem Kamm der mär­chen­haf­te Schaum­kro­ne sol­cher Mythen surfen.

Der vor allem doch auf­grund sei­ner erstaun­lich moder­nen Spe­ku­la­tio­nen über Gott, den Kos­mos und über den Men­schen, von der Kir­che als Ket­zer ver­brann­te Giord­a­no Bru­no, gibt nun die­ser Begeg­nung eine sehr viel tie­fe­re Bedeu­tung. Bei ihm wird alles zur Alle­go­rie: Der Jäger, das ist die Ver­nunft, die Jagd­hun­de, das ist der Ver­stand, die Göt­tin, das ist, was wir nur zu gern erken­nen wür­den aber nicht wirk­lich ertra­gen könnten.

Aktai­on steht hier für den Intel­lekt, auf der Jagd nach gött­li­cher Weis­heit im Augen­blick des Erfas­sens der gött­li­chen Schön­heit. (Giord­a­no Bru­no: Von den heroi­schen Lei­den­schaf­ten. Ham­burg 1989. S. 64.)

So kommt es dann zu die­ser erstaun­li­chen Wen­dung, zu einer Alle­go­re­se, die sehr viel mehr zu den­ken gibt, als die Ober­fläch­lich­kei­ten der mär­chen­haf­ten Züge die­ser Sto­ry, wenn Bru­no ver­lau­ten läßt: Er sah der gro­ße Jäger, er begriff, soweit das mög­lich ist, und ward zur Beu­te: er ging, um zu jagen und wur­de dann selbst die Beu­te. (Ebd. S. 65.)

Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in sei­ner ursprüng­li­chen Vor­stel­lung etwas Besitz­ergrei­fen­des hat, daß aber, wer den Blick unbe­dacht schwei­fen läßt, durch­aus auch Gefahr lau­fen kann, selbst ergrif­fen zu wer­den. Wir geben uns her­me­neu­tisch inso­fern viel zu schnell zufrie­den, wenn etwa ver­laut­bart wird, irgend­wer sei am Lie­bes­kum­mer zu Grun­de gegan­gen, wir soll­ten uns viel­mehr genau­er vor­stel­len, wodurch ein sol­cher Lie­bes­tod ver­ur­sacht wird.

Das Pro­blem ist, daß sich hier ein Mensch unbe­dach­ter­wei­se an einer Göt­tin ver­sucht, was bedeu­tet, daß ein Intel­lekt sich mal eben mit dem Gött­li­chen mißt. Wir kön­nen aber nicht erken­nen, wie die Göt­ter, wir müs­sen alles über einen Intel­lekt, über die Müh­len einer dis­kur­si­ven Ver­nunft, über unser Sprach- ver­mö­gen und qua Empa­thie müs­sen wir dann auch noch alles über unse­ren Kör­per als Medi­um erst in Erfah­rung brin­gen, was ein Gott eigent­lich von einem Moment zum ande­ren bereits erfaßt haben dürfte.

Wir müs­sen uns bei der Empa­thie, beim Ver­ste­hen und eben­so auch beim Ver­lie­ben erst in den her­me­neu­ti­schen Zir­kel hin­ein­be­ge­ben und uns anver­wan­deln, sobald wir uns für Jeman­den ernst­haft inter­es­sie­ren. Blick und Gegen­blick haben ihre urei­gen­tüm­li­che Dia­lek­tik, sie heben sich wech­sel­sei­tig auf. Die Jagd mag ja eine Alle­go­rie auch für die Lie­be sein, aber sie ist eben nicht wech­sel­sei­tig, wenn schluß­end­lich dann doch irgend­wer der Jäger und irgend­wer ande­res den Gejag­ten abge­ben muß. — Hier ist es kein mensch­li­ches Gegen­über, son­dern eine Gott­heit, mit der es die­ser Jäger auf­zu­neh­men ver­sucht, es ist Dia­na, die Göt­tin der Jagd.

In der Tat hat sie sich über­ra­schen las­sen, denn so, wie sie sich sehen las­sen muß, so, wie sie Aktai­on zu Gesicht bekommt, so woll­te sie sich nie einem Mann zei­gen und ›erge­ben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in die­ser Situa­ti­on eigent­lich zur Jagd–Beute gewor­den, aber sie wird sich ganz gewiß nicht erge­ben. — Es fal­len kei­ne Wor­te, was zwi­schen Göt­tern und Men­schen ohne­hin pro­ble­ma­tisch zu sein scheint. Dia­na bespritzt Aktai­on mit Was­ser und sie wirft einen empör­ten, stra­fen­den Blick auf den Ein­dring­ling, der die Idyl­le beim Baden so nach­hal­tig stört. Das jeden­falls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stel­le verwandelt.

Es gilt zu ver­ste­hen, was da in die­sem Moment zwi­schen Aktai­on und Dia­na eigent­lich vor sich geht. Inner­halb von Sekun­den muß sich der Jäger unsterb­lich in die Jagd­göt­tin ver­liebt haben. Es genügt ein ein­zi­ger Blick, so daß er wie an einer offe­nen Wun­de förm­lich ver­blu­tet, weil ihm alle Ener­gie ein­fach ver­geht, bis eben das Auge erlo­schen ist, wobei hier die eige­nen Jagd­hun­de dem Dra­ma ein schnel­les Ende bereiten.

Der Jäger wird durch sei­nen begehr­li­chen Blick selbst zur Beu­te. Er wird zum Opfer sei­nes eige­nen Wil­lens, sei­ner viel zu gro­ßen Begier­de nach die­sem ver­meint­li­chen Objekt sei­ner Sehn­süch­te. Ange­sichts die­ser Göt­tin ver­liert er als Sub­jekt augen­blick­lich sei­ne Posi­ti­on und schon beginnt er damit, sich anzu­ver­wan­deln. Aber er schießt weit über das Ziel hin­aus, ver­liert sich selbst und ver­geht in dem, was er sieht. Er wird nicht wie­der auf sich selbst zurück­kom­men kön­nen, weil er sich mit die­sem ein­zi­gen Blick selbst aus den Augen ver­liert. Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giord­a­no Bru­no vor­ge­führt wer­den, lie­fern tie­fe­re Ein­sich­ten in die alle­go­ri­schen Abgrün­de und sie bie­ten dann auch einen inter­es­san­te­ren Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis einer sol­chen Sze­ne­rie. Die Göt­tin mag ihn erbost mit Was­ser bespritzt haben, wor­auf ihm dann Hör­ner wach­sen, das Geweih eines Hir­schen. Aber die­se Anver­wand­lung ist nur eine Ver­zau­be­rung in dem Sin­ne, als daß der Jäger selbst zum Gejag­ten, zum Objekt einer Ver­zau­be­rung wird. So zeigt sich, wie ein­neh­mend mit­un­ter gera­de empa­thi­sche Impres­sio­nen sein können.

Zu Ehren der Jagd­göt­tin wird der Jäger selbst zu einem Hir­schen. Das ist bei­lei­be kei­ne Eben­bür­tig­keit mehr, statt­des­sen wird ein Opfer dar­aus, ein Selbst­op­fer. Der Jäger wird selbst zur schö­nen Beu­te, weil eben der mensch­li­che Intel­lekt sich die Din­ge auf eige­ne Wei­se aneig­nen muß und weil er dabei über­la­stet wer­den kann und dann ver­ge­hen, ja förm­lich ver­glü­hen muß:

Du weißt ja, daß der Intel­lekt sich die Din­ge auf dem Wege des Intel­lekts aneig­net, d. h. gemäß sei­ner eige­nen Wei­se. Und der Wil­le ver­folgt die Din­ge deren Natur nach, d. h. gemäß der Art, wie sie in sich selbst sind. So wur­de Aktai­on durch jene Gedan­ken, jene Hun­de, die außer­halb von ihm das Gute, die Weis­heit, die Schön- heit, das wil­de Wal­des­tier such­ten, und durch die Art, wie er die­ser schließ­lich ansich­tig wur­de, über soviel Schön­heit außer sich gera­ten, zur Beu­te. Er sah sich in das ver­wan­delt, was er such­te, und er merk­te, daß er sei­nen Hun­den, sei­nen Gedan­ken selbst zur ersehn­ten Beu­te wur­de. Weil er näm­lich die Gott­heit in sich zusam­men­ge­zo­gen hat­te, war es nicht mehr not­wen­dig, sie außer­halb sei­ner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

Aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. (Kapi­tel: Blick und Gegenblick)


Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Pyg­ma­li­on, ein Künst­ler in Zypern, ist maß­los ent­täuscht von den Frau­en und lebt nur noch für sei­ne Bild­haue­rei. Unbe­wußt erfüllt er sich sei­nen Traum durch eine von ihm erschaf­fe­ne Elfen­bein­sta­tue, die wie eine leben­di­ge Frau aus­sieht und dabei sei­nem Ide­al ent­spricht. Das Abbild behan­delt er mehr und mehr wie einen ech­ten Men­schen und schließ­lich ver­liebt er sich in sei­ne Kunstfigur.

Zypern ist die Hei­mat von Venus, daher fleht der Künst­ler die Göt­tin der Lie­be an ihrem Fest­tag inbrün­stig an, wenn schon sei­ne Sta­tue nicht zum Men­schen wer­den kön­ne, so sei ihm wenig­stens ver­gönnt, daß sei­ne künf­ti­ge Frau so sei wie die­se. — Als er dann aber von den Fei­er­lich­kei­ten für die Göt­tin wie­der nach Hau­se zurück­kehrt und die Elfen­bein­sta­tue zu lieb­ko­sen beginnt, erwacht die­se lang­sam zum Leben.

***

Es ist aus­schließ­lich das Pri­vi­leg der Göt­ter, dem was leben soll, die See­le ein­zu­hau­chen. Im Sin­ne der magi­schen Welt­auf­fas­sung kön­nen See­len aller­dings beein­flußt wer­den. Gleich­wohl zielt der hin­ter alle­dem ver­bor­ge­ne Wunsch­traum zielt genau dar­auf ab, die­se Dif­fe­renz­zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit immer klei­ner wer­den zu las­sen. — Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ulti­ma­ti­ves Künst­ler­glück, wenn die Wer­ke tat­säch­lich täu­schend echt wir­ken oder viel­leicht sogar zum Leben erwachen.

Dar­auf zie­len letzt­lich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Phi­lo­so­phie: Es gilt, das abso­lu­te Wort, das ulti­ma­ti­ve Werk oder die voll­kom­me­ne Ein­sicht zu fin­den, zu schaf­fen oder zu rea­li­sie­ren. Die­ser nicht sel­ten mit Hybris ein­her­ge­hen­de Wil­le zum Werk legt es tat­säch­lich dar­auf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewe­gen‹ und tat­säch­lich zu leben begin­nen. Auch der Traum des Phä­no­me­no­lo­gen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu spre­chen begin­nen, so daß wir nicht mehr mit Unter­stel­lun­gen, Annah­men und Ver­mu­tun­gen arbei­ten müs­sen, son­dern ein­fach nur zuhö­ren, zuse­hen und mit­er­le­ben können.

ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Hybris, das bedeu­tet Grenz­über­schrei­tung und zwar in einem über­aus magi­schen Sin­ne, etwa wenn eine eigent­lich unbe­seel­te Pup­pe wie Pinoc­chio, eine Skulp­tur wie die Gala­tée des Pyg­ma­li­on oder wenn ein Kunst­werk wie Das Bild­nis des Dori­an Gray zum Leben erwacht. Auch das ent­ge­gen­ge­setz­te Ver­fah­ren ist hoch pro­ble­ma­tisch, etwa wenn die See­le in ihrer emo­tio­na­len Beweg­bar­keit, in der sie eben ›gerührt‹ wer­den kann, ein­fach aus­zu­schal­ten, wenn sie durch einen kal­ten Stein ersetzt wird, wie in Das kal­te Herz von Wil­helm Hauff — Mit alle­dem gehen größ­te Befürch­tun­gen ein­her, die kos­mi­sche Ord­nung könn­te fun­da­men­tal gestört und viel­leicht sogar zer­stört wer­den. Es sind womög­lich bald schon kei­ne Ein­zel­fäl­le mehr, wenn so etwas auch nur ein ein­zi­ges Mal unge­straft mög­lich gewor­den ist.

Die Fas­zi­na­ti­on bei der Vor­stel­lung über die Macht magi­scher Wor­te ver­kehrt sich in gera­de Gegen­teil ange­sichts der Hor­ror­vor­stel­lun­gen, die sich sogleich ankün­di­gen, wenn auch nur einen Augen­blick dar­an gedacht wird, so etwas könn­te tat­säch­lich und wirk­lich mög­lich sein. Nicht nur die Gren­ze zwi­schen Wunsch und Wirk­lich­keit wäre dann nicht mehr von Bedeu­tung. Damit aber wür­den fun­da­men­ta­le Ori­en­tie­rungs­wei­sen unmög­lich gemacht, so daß sich zeigt, wor­um es bei sol­chen Hor­ror­vor­stel­lun­gen wirk­lich geht: Wo Arte­fak­te leben­dig wer­den, wo Sachen selbst zu spre­chen begin­nen, wo fun­da­men­ta­le Gren­zen nicht mehr gel­ten, dort wür­de die Ord­nung der Din­ge bis in die Fun­da­men­te erschüttert.

Es geht dabei aller­dings weit weni­ger um die Natur der Sachen selbst, als viel­mehr um den Bestand der Kul­tur. Alle rele­van­ten Ori­en­tie­rungs­mu­ster set­zen auf sol­che Unter­schei­dun­gen, daher kann es gar nicht denk­bar sein, daß die Gren­zen zwi­schen dem Leben­den und dem Toten, dem Unbe­seel­ten und dem Beseel­ten oder zwi­schen dem Künst­li­chen und dem Natür­li­chen nach Belie­ben über­schrit­ten wer­den. Das ist dann auch der Grund für das Grau­en, den Abscheu aber auch die Fas­zi­na­ti­on und das heim­li­che Inter­es­se an der Magie als schwar­ze Wis­sen­schaft oder auch ein­fach nur als Zauberkunst.

Aus­zug aus: https://​www​.nen​nen​-online​.de/​e​m​p​a​t​h​ie/