• Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Lehramt,  Lehre,  Leib,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Philosophie,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    EPG II b

    EPG II b (Online und Block)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2023: 5 Seminare online | freitags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Workshops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
    jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91-012.
     
    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

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    Sprache, Macht und Hintersinn

    Am Anfang war das Wort

    Es spricht einiges für die mythisch motivierte Spekulation, daß am Anfang und noch vor Erschaffung der Welt, bereits das Wort vorhanden gewesen sein muß.

    Tatsächlich läßt sich die Hypothese nur schwer abweisen, daß Affen, die sich aus welchen Gründen auch immer, in der Kopf setzen, auszuwandern aus dem Affenparadies, bereits über Kompensationsmöglichkeiten verfügen mußten. — Während Instinkte auf Lebensräume adaptieren, ist eines der Merkmale für die Sonderstellung des Menschen eine spezifische Umweltoffenheit.

    Philosophie beginnt mit Staunen, daher ist es angebracht, auch angebliche Selbstverständlichkeiten generell in Frage zu stellen: Seit wann verfügen wir über Sprache? Warum ›haben‹ wir eigentlich Sprache oder ›hat‹ die Sprache nicht vielmehr uns? — Was geschieht, wenn wir das Wort ergreifen oder auch, wenn uns Worte ergreifen? Wie ist es überhaupt möglich, daß wir sogar über imaginären Welten reden können, die nicht wirklich sind? 

    Es ist erstaunlich, daß wir mit Worten auch Dinge ›repräsentieren‹ können, die gar nicht vorhanden sind. Selbst wenn Vorstellungen an sich irreal sind, erscheinen sie gleichwohl im Nu vor dem inneren Auge. Daher wird Staunen in der Philosophie zur Methode. Es gilt, sich erst einmal vorstellen zu können, was wir verstehen möchten. Der Umgang mit dem Fiktiven ist daher von ganz erheblicher Bedeutung.  

    Allein diese Formulierung ›nicht wirklich‹ hat es in sich. Man könnte fragen: Also was jetzt, wirklich oder nicht wirklich? Aber genau das, etwas in der Schwebe lassen zu können, macht Inspiration erst möglich. 

    Münchhausens Abenteuer. Postkartenserie nach den Lügengeschichten des Baron Münchhausen. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Banal ist das alles nicht. Sprache als solche verstehen zu wollen bedeutet, den Menschen als solchen verstehen zu müssen. Denn wir sind nur, weil wir Sprache haben und die Sprache hat uns. Zugleich sind da nämlich auch Grenzen, wie Ludwig Wittgenstein konstatiert:

    Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. (Ludwig Wittgenstein: Tractatus. Satz 5.6.)

    Es ist nicht einfach, ausgerechnet in wichtigen Momenten, die wieder und wieder vorkommen, die richtigen Worte zu finden. — Also wird bei Wittgenstein süffisant anempfohlen:

    Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.(Ludwig Wittgenstein: Tractatus. Ebd. Satz 7.

    Wenn Adam und Eva im Paradies den Auftrag erhielten, für alles Namen zu finden, dann kann das nur der Anfang gewesen sein. — Menschliche Sprache ist weit mehr als einfache Nomenklatur , sie erzeugt ganze Vorstellungsweisen für Wirklichkeiten, Wahrnehmungen, Empfindungen und Sehnsüchte. Sie kann mit Tabus auch eingeschränkte Wirklichkeiten erzeugen, die nicht zur Sprache gebracht werden dürfen.

    Es gilt, mit den Mitteln der Sprache über die Grenzen unseres Artikulations– und Differenzierungsvermögens hinauszugehen. — Aber das ergriffene Wort muß getragen sein von einer Weltauffassung, von Weltanschauungen, Kultur, Lebenswelt, Philosophie, Dichtung, Kunst und Wissenschaft, ansonsten werden die Worte sang– und klanglos einfach nur verklingen.

    Reden über Abwesendes

    Entscheidend ist, daß die Worte oft selbst wie Repräsentanten fungieren. Wo etwas tabuisiert ist, werden Worte stumm. Damit verschwinden aber auch die von diesen Worten repräsentierten Phänomene. Sie geraten außer Reichweite unserer Wahrnehmungen und verschwinden jenseits unseres Vorstellungsvermögens. — Man wird ohne Sanktionen nicht einmal mehr nach ihnen fragen.

    John Collier (1850–1934): Collier: Priestess of Delphi (1891). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Sie sind dann nicht mehr wahrnehmbar und auch nicht mehr mitteilbar. Es sind bemerkenswerte dialogische und diskursive Anforderungen, die wir tagtäglich erfüllen, um im inneren Theater unseres konsensual koordinierten Vorstellungsvermögens die Kulissen solange zu verschieben, bis wir einsichtsfähig werden. — Wie anspruchsvoll diese Kunst eigentlich ist und worauf es dabei ankommt, läßt sich an einem interessanten Beispiel demonstrieren:

    Francine Patterson, Forschungs–Direktorin der Kalifornischen Gorilla Foundation, hatte in rund 25 Jahren ein Gorillaweibchen namens Koko mit einer Zeichensprache im Umfang von etwa tausend Zeichen vertraut gemacht, nebst einiger englischer Lautwörter, um sich auf diese Weise mit ihr verständigen zu können.

    Ein Internetprovider inszenierte daraufhin als Werbegag die Möglichkeit, mit Koko via Internet zu kommunizieren. Die Fragen sollten in die Zeichensprache übersetzt, Kokos Antworten von Mitarbeitern am Terminal ins Internet eingegeben werden.

    “Der Chat begann, Talika faßte sich als erste Mut: ›Hallo Koko, es ist eine Ehre, dich zu treffen.‹ Kokos Antwort war erstaunlich: ›Gut hier.‹ Und als der Moderator die ersten Fragen einsammelte, huschte ein entschiedenes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bildschirme. (…) Ob sie Vögel mag, wollte einer wissen. Koko ging zum Fenster, schaute hinaus, und meinte plötzlich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Dingen die Rede ist, die nicht hier und jetzt präsent sind, erklärte Dr. Patterson.” (Dieter Grönling: ›Koko liebt Essen!‹ Fragestunde mit einem Flachlandgorilla im Internet. In: die tageszeitung, 30. April 1998. S. 20.)

    Man spricht offenbar als Gorilladame nicht über Abwesendes, schon gar hinter dem Rücken der Dinge, über Sachen und Lebewesen, die im Augenblick nicht ›da‹ sind. — Offenbar fehlt das Vorstellungsvermögen, so daß ein Fake deklariert wird, wenn Sachen nicht vorhanden sind.

    Da nun die Grammatik zuständig ist für die Ontologie, wird bereits im Vorfeld darüber befunden, ob etwas ›existent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder? — Es ist, als würde die Grammatik bei Koko streiken und jeden Versuch vereiteln, etwas zur Sprache zu bringen, das nicht wirklich, sondern nur in der Vorstellung ›ist‹.

    Dabei können Imaginationen zugleich vorhanden und nicht vorhanden sein, nämlich in unserer Phantasie, die bei Bedarf auch fliegende rosarote Elefanten zur Verfügung stellt. Insofern haben wir es bei Koko mit einem begrenzten Vorstellungsvermögen zu tun; Grenzen, die wir als Menschen anstandslos überschreiten. — Aber es ist nicht einfach, sich Phantasie als solche überhaupt vorzustellen.

    Bewußtsein läßt sich als System beschreiben, das mit einer großen Vielfalt von unterschiedlichen Beobachtungsbeobachtungen operiert. Dabei geht es um Blickwinkel, Perspektiven und Differenzen, die gegeneinander und miteinander ins Verhältnis oder auch in Kontrast gesetzt werden. — Dieses Beobachten von Wahrnehmungswahrnehmungen kann ad Infinitum immer komplexer werden, vom einfachen Bewußtsein über das Selbstbewußtsein, bis hin zum Geist.

    Demnach gibt es stets ein Bewußtsein, das aus anderer Warte ein anderes in seiner Wahrnehmung beobachtet. Erst dadurch wird diese Wahrnehmung ihrerseits ›bewußt‹. — Ich weiß dann nicht einfach nur, sondern ich weiß, daß ich etwas weiß, dessen ich mir bewußt bin.

    Darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zu den Tieren: Es ist uns durch Erleben im eigenen Vorstellungsvermögen möglich, so zu verfahren, als wären wir ›mittendrin‹, inmitten der Ereignisse. — Dabei wissen wir zugleich, daß alles ›nur‹ imaginiert ist, daß es reine Phantasiewelten sind.

    Allerdings können wir in und mit diesen imaginären Welten unseren geistigen Horizont ganz beträchtlich erweitern. Wir können alle erdenklichen Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen machen, die von erheblicher Bedeutung sein können.

    Phantasie ist eine erstaunliche Fähigkeit, die nicht genug gewürdigt werden kann. Derweil liegt die eigentliche Kunst darin, einigermaßen ›konstruktiv‹ zu imaginieren, um dann möglichst genau darüber zu sprechen.

    Quadre ’L’art de la conversa’, de René Magritte. Exposició de Caixafòrum a Barcelona, març de 2022.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Diese Illustration bewußt mirakulös. Unschwer ist zu erkennen: Es ist ein ‘Magritte’. Aber nicht dieser ist hier das Thema oder sein Surrealismus, auch dieser steht nicht im Zentrum. Tatsächlich handelt es sich um den Ausschnitt aus dem Katalog einer Kunstausstellung über René Magritte in Barcelona. Die Gemälde–Beschriftung liefert dazu einen sicheren Anhaltspunkt. — Dieses ganze Arrangement soll illustrieren, daß wir hochkomplexen Zusammenhänge ›lesen‹, ›interpretieren‹, ›deuten‹ und ›verstehen‹ können.

    Daher rührt aber auch eine bis heute nachwirkende Urangst, weil unsere Altvorderen auf ›frevelhafte‹ Weise die Autorität der Instinkte mißachtet und durch Sprache und Imagination die Grenzen der tierischen Lebenswelten übertreten und überwunden haben.

    Das Imaginationsvermögen erlaubt uns, auch Abwesendes zur Sprache zu bringen, als Kompensation für die verlorene Instinktsicherheit. — So sind wir uns in der Vorstellung selbst immer einen Schritt voraus, aber auch nur selten ›eins mit uns selbst‹.

    So wurden neue Möglichkeiten eröffnet, sich selbst orientieren zu können, etwa durch Erfahrungsaustausch und durch Weitergabe von Wissen. Kultur wurde als etwas völlig Neues erschaffen, als Gegenwelt zur Natur. — Dabei wurden die Voraussetzungen geschaffen für ein Vorstellungsvermögen, mit dem es möglich wurde, sich in der ganzen Welt selbst orientieren zu können.

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    Was soll man(n) tun, wenn “die” Frau wütend ist?

    Wer zu “woke” ist, den bestraft das Leben

    Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der ehrenwerte und letzte Staatspräsident der Sowjetunion, hatte bekanntermaßen ein äußerst inniges Verhältnis zu seiner Frau Raissa Maximowna Gorbatschowa.

    Man hat ihn später hier in Münster desöfteren am Aasee spazieren gesehen, als seine Frau, übrigens eine Philosophin, mit dem Krebs kämpfte.

    Jean-Léon Gérôme: Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen (1896).

    Beide kannten sich lang und waren, wie es nur wenige Paare fertig bringen, wirklich ein Team. In ihr hatte er eine unbestechliche Ratgeberin, so wie es Platon idealisiert hat. Er stellt die Philosophenkönige vor wie welche, die einfach deswegen nicht bestechlich sind, weil sie schon “alles” haben, was nicht mit Geld zu bezahlen ist.

    Gorbatschows Verzweiflung über ihren Tod dürfte nicht minder groß gewesen sein, wie die angesichts der schier unlösbaren Aufgabe, den Saurier Sowjetunion mit einem heimtückisch taktierenden Westen im Nacken dennoch wieder auf Kurs zu bringen. Von wegen keine Osterweiterung der NATO, von wegen “gemeinsames Haus Europa”.

    Ein Putsch machte alle Hoffnungen zunichte und brachte einen Trunkenbold wie Jelzin ans Ruder und Oligarchen, die sich das ehemalige Volksvermögen unter den Nagel gerissen haben. Im Windschatten dieser Verwerfungen fand Putin als Nachfolger seinen Weg zur Macht, der das alles natürlich als demütigende Katastrophe empfunden hat.

    Aber nun zur Frage: Was hat Gorbatschow gemacht, wenn Raissa Maximowna Gorbatschowa wütend war? Er hat es in einem Interview selbst ausgeplaudert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Empfehlung, was denn nun männlicherseits zu tun sei in solchen Fällen, wenn “die” Frau außer sich ist vor Wut.

    Er habe sie in seine Arme genommen und fest umschlossen, um sie auch bei Gegenwehr ganz nahe bei sich fest zu halten, bis alles wieder gut war. — Das scheint in der Tat hilfreich zu sein, denn ich habe gesehen, daß es insbesondere bei Kindern und Menschen in psychischen Ausnahmezuständen positiv wirken kann. Einfach nur halten, bis wieder gut ist.

    Der Grund dürfte darin liegen, daß die Wut hier selbst zum Ausdruck gebracht werden darf. Sie wehrt sich anfangs gegen den äußeren Widerstand der Umklammerung und wird immer stärker, bis sie sich wie durch ein Ventil endlich wieder abbauen kann, weil sie ja nun ihren Ausdruck gefunden hat.

    Aber wie es in diesen desorientierten Zeiten üblich ist, werden manche ganz gewiß jetzt Zeter und Mordio schreien: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau? — Oh je.

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben. — Die Formulierung stammt übrigens nicht von ihm, sondern von einem seiner Sprecher. Das geflügelte Wort wurde zum Orakelspruch. Es fiel auf einem informellen Treffen mit Pressevertretern beim Staatsbesuch von “Gorbi” in Ostberlin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

    Damit ist auch etwas daüber gesagt, was das Leben ausmacht. Es bietet Gelegenheiten, die vertan sind, wenn sie nicht ergriffen werden. – Wir sollten Möglichkeiten für unsere Sehnsüchte daraus machen, die tief in uns schlummern, um wachgeküßt zu werden.  

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    Menschenbilder

    Für eine neue Pädagogische Anthropologie

    Die Aufgaben für Lehrkräfte steigen seit Jahren, weil Gesellschaft und Staat keine Vorstellung mehr haben, worauf es ankommt. — Aus Bildung ist Ausbildung geworden und das vor dem unmenschlichen Bild einer “natürlichen” Auslese, als lebten wir noch im Tierreich.

    Die Zahl der Lehrkräfte wird immer geringer, weil es kaum noch ein belastbares, positives Menschenbild gibt und Überzeugungen, dafür auch eintreten zu können. — Und die Gesellschaft gefällt sich darin, alles einfach nur abzuwälzen.

    Im Zuge der Corona–Krise ist deutlich geworden, daß etwas faul ist mit dem misanthropischen Menschenbild. Die Zeiten sind vorbei, als religiöse oder politische Ideologien noch die Vorstellungen von der “Bildung des Menschengeschlechts” beherrschten. Nur der Misanthropismus ist noch geblieben.

    Aber den miesen Menschenbildern kann man beikommen. Es gilt, eine allgemeine Ratlosigkeit, die nicht selten in tiefe Verzweiflung führen, durch neue Zuversicht zu überwinden.

    Dazu braucht es wieder ein standfestes Auftreten von Philosophen, Erziehungswissenschaftlerinnen, Pädagogen und Pädagoginnen. Aber diese müssen sich erst einmal ihrerseits neu überzeugen von der Bedeutung ihres Tuns und von der Legitimität ihrer Professionen.

    Zunächst ist in der Pädagogik selbst ein wieder motivierendes Menschenbild erforderlich. — Die Theorien dazu sind da. Es kommt nun darauf an, eine zeitgemäße Praxis und ein neues Selbstverständnis auf diesen Fundamenten zu errichten.

    Auf das Menschenbild kommt es an

    Seit Jahren gebe ich Seminare für angehende Lehrer und Lehrerinnen am KIT in Karlsruhe. — Aber jetzt möchte ich nicht mehr nur exklusiv dort wirken, sondern Seminare zur Supervision, zum Atemholen, Überlegen, Nachdenken und zu neuem Mut anbieten. Denn mir ist immer wieder aufgefallen: Die Motivation kann nur von innen kommen, von einem Menschenbild, das von einer inneren Wärme erfüllt ist.

    Der vitruvianische Mensch
    Leonardo da Vinci, ca. 1490;
    Galleria dell’ Accademia, Venedig.

    In der Theorie gibt es diese Perspektiven bereits seit 1928, als mit der Anthropologischen Wende die ersten Diskurse aufkamen darüber, welche wissenschaftlich gesicherten Aussagen gemacht werden können über das vermeintliche “Wesen des Menschen”.

    Damals entstand die Anthropologie als transdisziplinärer Diskurs über die “Conditio humana”. — Inzwischen ist daraus ein beeindruckendes Ensemble aus einer Vielzahl aller erdenklicher Wissenschaften aus Natur–, Kultur– und Geisteswissenschaften geworden.

    In Zweifelsfällen können wir diese Diskurse wie ein Orakel anrufen, um Fragen zu beantworten, deren Antworten oft nur voreingenommen sind. In solchen Streitfragen wirkt die Anthropologie wie ein wissenschaftliches Orakel.

    Wichtig ist nicht nur, was ausgesagt wird, sondern auch wie und auf welche Fragen wir tatsächlich erschöpfende Antworten erhalten. So läßt sich manches sehr klar entscheiden, weil es um belegbare Fakten und rekonstruierbare Zusammenhänge geht, die sich erörtern lassen.

    Aber noch interessanter wird es, wenn wir von der Anthropologie gar keine oder nicht erschöpfende Antworten erhalten, sondern nur noch die Auskunft, es würde ein Prinzip zugrunde liegen. So ist die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen in etwa so zu beantworten, daß es darin liegt, sich selbst zu kultivieren, sich selbst zu “bilden”. Dann wird deutlich, wie sehr das menschliche Wesen davon geprägt ist, “offen” zu sein.

    Wir sind nicht vordefiniert wie Tiere, wir sind zur Freiheit geboren, was aber auch mit Freiheitsschmerzen verbunden ist. — Daher brauchen wir Mentoren in der Funktion von Hebammen, Begleitern und Ratgeberinnen bereits bei den ersten Schritten und auch später noch auf dem Weg in eine ganz individuelle Zukunft, in der es glücklich macht, sich selbst bei er eigenen Entfaltung über die Schulter zu sehen.

    Die “Unbestimmtheit” des menschlichen Wesens ist das, was die “Würde des Menschen” ausmacht. Darin liegt das eigentliche Geheimnis des Erfolgs in der Menschheitsgeschichte.
    Wir stehen auf den Schultern von Riesen.

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    Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

    Narzißmus als Selbst–Konzept 

    Der Umgang mit der Figur des Narziß läßt zu wünschen übrig. Oft werden Diagnosen vorgebracht, wie sie üblich sind von Liebenden, die sich verschmäht sehen. Dann ist auch noch von toxischen Beziehungen die Rede, um die Fehler beim Geliebten zu finden. Aber zuletzt täuscht nichts darüber hinweg, daß Besitz-Ansprüche oft als Ausdruck von Liebe kaschiert werden.  

    Schönheit mag erstrebenswert sein, zu viel davon kann wird aber zu einem ganz großen Problem werden. Narziß hat dieses Handikap schon seit frühester Kindheit und daß ist der dramatische Kern dieser mythischen Figur. — Er ist einfach zu schön.

    Er ist derart schön, daß alle außer sich sind und ihn berühren, besitzen und sich vor allem mit ihm zeigen wollen. Aber niemand interessiert sich für ihn als Person.  Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

    Diese Schwierigkeit hat er weder in Kindheit, noch in der Jugend bewältigt könne. Und jetzt, wo er ein junger Mann ist, in den sich alle unentwegt unsterblich verlieben und ihn verfolgen wie einen Superstar, ist es eigentlich zu spät. — Narziß hat sich inzwischen eine äußerst schroffe Art der Zurückweisung zu eigen gemacht. 

    Er wehrt Verliebte nicht einfach nur ab, sondern versucht sie mit heftigsten Worten zu verletzen.  Mit möglichst schroffen Reaktionen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schuldig ist, sie alle einfach nur abzuwehren. — Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie kennen gelernt, weil ihm immer andere dazwischen kamen. 

    Insofern wird man als Außenstehender fragen, ob das denn nun wahre, ehrliche, echte Liebe sein kann, was da an einnehmenden Begehrlichkeiten an den Tag gelegt wird. Er ist schließlich einer, der darunter leidet, daß er an Aufmerksamkeit zu viel hat und nichts davon will. — Also stößt er die ihn vermeintlich Liebenden der Reihe nach regelmäßig heftig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, warum sollte er sich lieben lassen? Er muß die enttäuschen, die ihn erklärtermaßen lieben. Er will nicht geliebt werden, weil er Liebe als Vereinnahmung empfindet. 

    Ein Verehrer will ihm ein Schwert schenken. Narziß weist ihn derart heftig zurück, so daß dieser die Götter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit diesem Schwert tötet. — Und tatsächlich machen es sich die Götter zu eigen, den Verschmähten in seiner Liebeskrankheit zu rächen. 

    Die Begegnung mit der Nymphe Echo ist bereits Teil des göttlichen Plans.— Hera hatte ihr die Stimme genommen, weil diese sie damit täuschen wollte, um Zeus ein Alibi zu verschaffen, als dieser in Liebesangelegenheiten unterwegs war. — Echo kann also nur noch wiederholen, was bereits gesagt worden ist. 

    Narziß verirrt sich auf der Jagd und trifft auf die Stimme der Nymphe, die sich augenblicklich verliebt und sehr bald voller Hoffnung ist. Ihr ganzes Auftreten läßt an ein Groupie denken, das bei einer Begegnung mit ihrem Star völlig außer sich ist und nur noch stammeln kann. — Aber sie täuscht sich, stattdessen kommt nur eine schroffe Abweisung des unter seiner eigenen Attraktivität leidenden jungen Mannes: Lieber würde er sterben, als sich von ihr auch nur umarmen zu lassen. 

    John William Waterhouse: Echo und Narcissus, 1903.

    Nun fragt man sich schon, ob so heftige Reaktionen wirklich notwendig sind. Aber man sollte nicht vergessen, daß Narziß nichts anderes kennt, als dauernd wegen seiner äußeren Vorzüge begehrt zu werden, während sich für ihn selbst in seiner Person niemand interessiert. — Er hat sich in seiner eigenen Person gar nicht entwickeln und entfalten können. Es wurde ihm alles geschenkt, aufgedrängt, aufgenötigt, nur weil er schön und begehrenswert ist. 

    Darauf passiert, was der blinde Seher Teresias dessen Mutter bereits prophezeit hatte, als diese wissen wollte, ob er ein langes und glückliches Leben vor sich habe. — Solange er sich selbst nicht kennen lernt, ja, so lautete die rätselhaften Auskunft. 

    Genau das sollte jedoch geschehen. Er sollte sich kennen lernen, weil die Götter ihre Hände bereits im Spiel hatten. Er verliebte sich aber nicht einfach in sich selbst, das ist nur die kindliche Variante in der Deutung des Mythos. Als würde er den Spiegeltest nicht bestehen und nicht einmal sich selbst erkennen können. — Das Drama ist tiefgründiger, weil Narziß offenbar etwas tut, was “die Jugend” seinerzeit erstmalig zeigte. Von einem neuen Wahn ist die Rede, sich fortan auf sich selbst zu konzentrieren, aber die alten und ehrenwerten Sitten und Gebräuche links liegen zu lassen. 

    Narziß weigerte sich, den üblichen Weg eines jungen Mannes zu gehen. Er will nicht mit einem erfahrenen Mann als sein Mentor für einige Zeit in die Wildnis gehen, um dort vom Jungen zum Mann zu werden. — Denn was brauchte es, um ein “vortrefflicher Mann” zu werden? Doch wohl urbane Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Reden, Verhandeln und Verträge aushandeln können. Man braucht Erfahrungen in der Länderkunde aber weit weniger solche in der Natur. 

    Narziß beginnt also, sich nicht mehr im Äußeren zu suchen, sondern im eigenen Inneren. Und er trägt den Namen einer Narzisse, weil auch diese ihren Kopf so hängen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst versunken, um sich zu “bespiegeln”. — Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Narzißmus ist insofern eine Diagnose, die auf diejenigen zutrifft, die aus einer solchen Selbstversenkung nicht wieder herauskommen. 

    Michelangelo Merisi da Caravaggio: Narziss, 1594ff.

    Tatsächlich hat dieser tragische Mythenheld aber erstaunliche Potentiale, die ihn dieser Tage zum Leitbild einer Diagnose über den Zeitgeist werden lassen, die es in sich hat: Wir haben einen Paradigmenwechsel zu verzeichnen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

    Das Über–Ich ist, der Terminologie von Sigmund Freud zufolge, eine Repräsentation des “Vaters” im Sinne einer autoritären Welt, in der Tradition und Sitte noch ganz strenge Grenzregime bewachten und sanktionierten. Wehe denen, die da aus irgendwelchen Rollen fallen und aus der Reihe tanzten! Und genau solche Diagnosen folgen dann auch: Narzißmus. 

    Das Über–Ich hat mit der Figur des autoritären Gottes, Königs, Ehegatten und Vaters vor allem eine Ausprägung, es ist eine unerbittliche höchst richterliche Instanz, die andersartige Identitäten gar nicht erst aufkommen läßt. Alle erdenklichen Wünsche und Traumgespinste sind sanktioniert und allein der Wunsch danach kann zu katastrophalen Selbstbestrafungen führen, die sich in unterschiedlichen Symptomen äußern.

    Das war solange der Fall, wie Sittenstrenge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbstverständlich zu sein schienen und die, die sie hatten, sich lieber selbst etwas antaten, als dazu auch öffentlich zu stehen. 

    Aber eigentlich wird diese Geschlechterordnung schon mit dem 1. Weltkrieg ganz erheblich gestört. Viele Männer zogen freudig in den Krieg, wie Hooligans, die sich verabredet haben, ihre Kräfte zu messen. Aber der Krieg war inzwischen hoch technisiert worden, man landete in den Schützengräben und verlor ganz und gar, was Männer bis dato noch glaubten für sich beanspruchen zu dürfen, diesen gewissen Schneid, der gern vorgeführt wird, dem die Uniformen dienen sollen und der angeblich bei Frauen sehr gut angekommen sein soll. 

    Im Grunde war das Ende des martialischen Männlichkeitsgehabe eigentlich schon mit dem Ersten Weltkrieg eingeläutet. Aber die Lektion mochte nicht wirklich verfangen, also “brauchte” es noch einen Zweite Weltkrieg, bis endlich ein anderer Geist zugelassen wurde, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hippies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glaubens legitimierte.  

    Tatsächlich kam es nur zum Bruch mit dem Überkommenen, aber nicht zu einem alternativen Weg. Das Autoritäre war verpönt, das Patriarchale wurde immer verpönter und dennoch kam nicht wirklich so etwas wie eine Alternative zum Über–Ich auf, das die Geschicke bisher so restriktiv gelenkt und geleitet hatte. 

    Man sollte sich etwas Zeit nehmen und auf sich wirken lassen, was da zu diagnostizieren ist über diesen Paradigmenwechsel im Zeitgeist. — Die Patriarchen stehen schon seit geraumer Weile nicht mehr wie die Legionsführer in ihren Überwachungskanzeln, von denen sich alles überblicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabriken, diese Chef–Büros mit großen Fenstern nach überallhin und mit Blick auf den Hof. Aber heute sind dort die Werkstätten von Künstlern.  

    Interessanterweise wurde ein Großteil der Überwachung nicht nur ins Innere, also in die Psyche verlegt, sondern auch individualisiert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu überwachen, unser eigener Chef zu werden, dauernd an uns zu arbeiten, um ein anderer, besserer, erfolgreicherer Mensch zu werden und dann auch zu sein. — So erklärt sich auch, warum die Selbstausbeutung jeder Ausbeutung den Rang abläuft. 

    Die “Generation Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Privatleben für sich beansprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kontrolle zu haben, denn das ist mitnichten der Fall. Wir sind zu unseren eigenen Ausbeutern geworden und das Planziel ist nicht mehr das, was sich gehört. — Es geht vielmehr um das Erfüllen von Zielen, die vom Ideal–Ich ausgehen. Nicht wenige sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

    Der Narzißmus ist eine gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: “Du mußt mehr werden, als du bist, du mußt zu deinem Ideal werden.” Allerdings ist das Prinzip dahinter höchst unsozial, es geht nur noch um den persönlichen Erfolg, um das Erringen von äußerlichem Status und mondäne Luxus-Symbole, wie sie die Werbung als Ersatzdrogen längst parat hält.

    Wir sind in eine neue Phase der Prädestinationslehre geraten. Max Weber hat darauf seine Theorie des Kapitalismus entwickelt, daß der Erfolg des bürgerlichen Kaufmanns selbst ein Zeichen sein sollte dafür, von Gott auserwählt worden zu sein, weil ja jetzt schon, im irdischen Leben einiges an Erfolg offensichtlich geworden ist. 

    Jetzt machen sich viele selbst unglücklich mit Zielen, die nicht wirklich zu erreichen sind. Und der Gott, der da die Zeichen gibt, daß man zu den von ihm Auserwählten gehört, ist die narzißtische Variante eines Ideal-Ichs, dem es vor allem darum geht, daß die Show stimmt. 

    Der neue Paradigmenwechsel in der Selbstkontrolle ist einerseits zu begrüßen, aber eine wirkliche Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genügen, ist nicht wirklich geringer, sondern sogar sehr viel größer geworden. Jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr, nicht zu genügen, weil man Idealen entsprechen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt. — Das Über–Ich wurde abgelöst vom Ich–Ideal, das viel radikaler beschaffen ist, weil es keine Ausflüchte mehr duldet.

    Es ist gar nicht so einfach, dem tragischen Helden eines klassischem Mythos gerecht zu werden.  Zur Not kommt er uns zur Hilfe, auf daß wir uns selbst besser verstehen. 

    Siehe hierzu: Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Paul Zsolnay Verlag, 2022.

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    ‘Habitus’ bedeutet Charakter

    Bildung braucht eine Grundlage

    Ich habe noch immer den Eindruck, seit Beginn der Corona–Hysterie in einem Paralleluniversum gelandet zu sein.

    Im Nachgang verschieben sich die Bewertungen dieser Panther–Zeit, in der man die Gitterstäbe der Angst–und–Moral–Republik ständig vor Augen hatte. — Viel zu viele haben sich in diesen Jahren um Kopf und Kragen geredet.

    Aber meine Bewertungen dieser Massenpsychose verschieben sich inzwischen nicht mehr so stark, und ich muß zugeben: Das Resultat dieser kollektiven Angstkampagne war für mich verheerend, denn ich mußte einen Gutteil meines Idealismus aufgeben.

    Meine Enttäuschung über den kollektiven Verrat an Werten wie Freiheit, Toleranz, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Würde, hat mich zutiefst verstört. Das hätte ich nicht für möglich gehalten!

    Aber die Panter–Zeit hatte auch ihr Gutes, wir haben alle das Zoomen erlernt, konnten einander tief in die Seele schauen und haben gesehen, mit wem wir es wirklich zu tun haben.

    Und die Diagnose fällt kritisch aus: Den meisten fehlt so etwas wie Persönlichkeit, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner Theorie “Die feinen Unterschiede” als “Habitus” bezeichnet, beschrieben und näher ausgeführt hat.

    Ich hätte es wissen können, weil ich ihn schon im Studium gelesen und mir zu Herzen genommen hatte. Aber ich wollte nicht, daß der Groschen auch fällt, wohl aus Idealismus wollte ich es nicht.

    Das Erziehungsziel einer “Bildung der Persönlichkeit” ist und bleibt elitär, weil es um einen Habitus geht, den man sich auch herausnehmen können muß. — Manche nehmen sich das einfach heraus, wenn und weil es ja nun mal “standesgemäß” für sie ist.

    Andere stehen sich selbst dabei bereits auf der Leitung und noch andere, die Vielzahl der nichtdenkenden Mitmenschen, sieht das Problem nicht einmal.

    “Gebt dem Volk Brot uns Spiele”. Ja, den meisten Zeitgenossen mangelt es nicht nur an Selbstbewußtsein, Selbstbestimmungs– und Selbstorientierungsvermögen, sie haben auch keinen Zugang zu ihrem eigenen Leib. Sie sehen nur den Körper, den sie dann checken, bearbeiten oder auch reparieren lassen.

    Der Unterschied besteht eben, wie Helmuth Plessner gesagt hat, “zwischen Körper haben und Leib sein”. — Daher lassen sich die Vielen auch so tief verängstigen.

    Franz von Stuck: Tilla Durieux als Circe, 1931.

    Sie sehen nur ihren Körper und ihre Psyche, sehen aber nicht auch den Geist, den Leib und die Seele. Sie wollen auch nur Sex und keine Erotik. — Ach, es ist erbärmlich.

    „Der Mensch will über den Menschen hinaus“, — eigentlich ja. Man denke doch nur an Platon und Nietzsche, die das so eindrucksvoll und eindringlich vor Augen geführt haben.

    Aber viele folgen nicht ihrer Seele, sondern nur den viel zu oberflächlichen Interessen einer Psyche, die “Haben mit Sein” miteinander verwechselt. Viel zu viele lassen sich bereitwillig leiten von den ästhetisch–moralischen Konsumwelten der angeblich „Schönen und Reichen“.

    Wenn darin ganz offenbar die allermeisten Zeitgenossen ihre Lebensziele sehen und sogar finden, dann kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.

    Als ich vor langer Zeit noch Ethik–Unterricht für Polizeibeamte an der FH für öffentliche Verwaltung in Dortmund gab, hatte ich irgendwann bereits dieses Konzept für mich als Arbeitsgrundlage: Ich hole die Menschen ab, wo sie stehen, aber ich fahre nicht bis unter die Erde!

    Wer unterirdisch ist und es auch sein und bleiben will, soll es sich wohl ergehen lassen in der Höhle. Und kein Philosoph wird sie bei ihren heiligen Handlungen in der Konsumhölle stören.

    Die Basis für einen eigenen Habitus, so daß man selbstverständlich einen Menschen ernst nehmen kann, muß sich schon jeder selbst schaffen. — Die Seele macht das Spiel.

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    Harry und Meghan

    Über die Sprengkraft einer Lovestory

    Der Liebesgott Amor ist ein Sohn der Göttin der Liebe und dem Gott des Krieges, also Venus und Mars. — Mythische Figuren sind immer auch Allegorien, was bedeutet, daß sie etwas abbilden, was eigentlich alle vor Augen haben, sich aber nur schwer sagen läßt. Also bringt man es auf eine dieser Götterfiguren und hat dann auch noch einen Charakter dazu.

    Michelangelo Merisi da Caravaggio: Amor als Sieger, 1601.

    Cupido, wie er bei den Römern genannt wird, hat immer einen Köcher mit Pfeilen bei sich. Schnell wie der Wind, taucht er urplötzlich auf, und nach der Tat ist er ebenso schnell auch schon wieder weg.

    Er ist ein Heckenschütze, so daß seine Opfer, ob sie wollen oder nicht, in Liebe entflammen. Dabei schießt er mit zweierlei Pfeilen, mit goldenen– für die erwiderte, mit bleiernen Pfeilen für die unerwiderte Liebe.

    Man sollte dabei an den lächerlichen Professor Unrath denken, aus Heinrich Manns “Blauem Engel” und den Film, in dem Marlene Dietrich die Rolle ihres Lebens fand.

    Am Ende wird der Professor sich nützlich machen, um der von ihm Angebeteten feschen Lola nahe zu sein, sich aber vollkommen lächerlich machen. Es ist der Absturz einer allerdings despotischen Autorität, was die ehemaligen Schüler im Publikum mit oberflächlichem Gaudi goutieren, ohne das doch auch Tragische daran überhaupt zu bemerken.

    Alle Details einer Allegorie sind nicht zufällig, sondern mit bedacht gewählt und komponiert. — Amor ist noch ein rechts–unmündiges Kind, was bedeutet, daß er nicht zur Verantwortung gezogen werden kann für das, was er anrichtet. Es sollte sich also bitte hinterher niemand beklagen, der nun einmal in Liebe entbrannt ist und dann wer weiß was gemacht hat…

    Als leicht bekleidete Knabe ist Amor stets mit Lausbubengesicht unterwegs. Caravaggio macht dann mit guten Gründen ein Siegerlächeln daraus. — Ja, die Liebe siegt gewissermaßen immer, selbst wenn sie unglücklich verläuft und schlußendlich alles in Schutt und Asche liegt.

    Wenn Amor mit einem seiner Pfeile trifft, dann werden die Getroffenen nicht nur von einer Liebe ergriffen, der sie sich nicht erwehren können, sondern sie haben dann auch die damit einhergehenden Problem am Hals. — Die Allegorie dieses kindlichen Gottes bringt daher vorzüglich auf den Punkt, was die Liebe gesellschaftlich eigentlich ist: Pure Anarchie!

    Deswegen wird oft nichts dem Zufall überlassen, wobei viel Wert gelegt wird auf “standesgemäße” Hochzeiten etc. pp. — Deswegen wird Sex, von “freier Liebe” ganz zu schweigen, verfolgt wie die Pest. Dabei ist die Erotik selbst eigentlich weniger das Problem, aber die Liebe, die darüber aufkommt, kann Verbindungen stiften, die nie und nimmer hätten sein dürfen.

    Liebe mag immer auch ein Anfang sein, insbesondere für die Liebespaare selbst, aber für Gemeinschaften ist sie womöglich das Ende eines langen Burgfriedens. — Und genau das passiert immer wieder, etwa bei Romeo und Julia, die sich als Abkömmlinge zutiefst verfeindeter Clans ineinander verlieben, was daher ein böses Ende nehmen muß.

    Archetypische Liebhaber Romeo und Julia porträtiert von Frank Dicksee (1884).

    Gestiftet werden solche Verbindungen also durch einen verantwortungslosen Heckenschützen, der Liebespfeile verschießt und sich sonst kaum etwas dabei denkt. — So wie er dreinblickt, wirkt es eher, als wäre Liebe nichts weiter als ein neckisches Spiel.

    Das Symposion von Platon ist diesem Eros, also dem Gott der Liebe gewidmet. Der Text ist einer der wichtigsten der Menschheitsgeschichte, weil er so tief blicken läßt, nicht nur in die Liebe selbst, sondern auch in die Machenschaften, die sich darum herum ranken. — Dazu gehört insbesondere die Vereinnahmung Platons durch Religionsführer, die ernsthaft glauben machen wollen, Platon habe nur die nicht–erotische Liebe geadelt und alle anderen Formen herabgewürdigt.

    Genau das ist nicht der Fall. Wie so oft findet sich bei Platon auch in dieser Angelegenheit wieder das Bild von Stufen, die man schrittweise nehmen sollte, um dann möglichst unter Führung der Philosophie, um zur Wahrheit wie im Höhlengleichnis oder zur Schönheit wie im Symposion aufzusteigen. — Daher steht auch das Gegenteil von dem im Text, was die Religionsfürsten in ihrem Griesgram und nicht selten ohne Doppelmoral seit Jahrtausenden verkünden.

    Wenn Sokrates in seiner Rede ausgiebig von seiner legendären Lehrerin namens Diotima erzählt und deren Philosophie der Liebe sich offenbar selbst zu eigen gemacht hat, dann hören wir das Gegenteil von dem, was die Kirchen so vehement fordern. — Tatsächlich ist Liebe wie eine Droge mit Nebenwirkungen, die einen “heiligen Wahn” auslösen. Das dürfte dann auch das Motiv sein, warum so viele Religionen die Liebe als solche verdrängen, weil sie das Heilige ganz für sich und die eigene Institution allein beanspruchen wollen.

    Dieser Dialog beginnt wie ein jeder sokratischer Dialog, nur diesmal mit vertauschten Rollen. Eigentlich ist Sokrates immer der Held, der über steile Thesen, die kollabieren müssen, wie sodann auch über seine Gesprächspartner lacht. Nun aber ist er in nicht in dieser Position, sondern seine Gesprächspartnerin. Sie weiß einfach mehr, als der offenbar noch junge Sokrates, der ihr dann auch folgt in diesem Dialog.

    Es beginnt sogleich mit einer höchst spektakulären dialektischen Figur: Der Gott der Liebe können gar kein Gott sein, weil er nicht wie diese vollkommen ist, sondern stattdessen mit einem feinen Gespür ausgestattet sei für das, was ihm fehlt. — Liebe zielt demnach auf die Attraktion dessen, was fehlt und daher so anziehend ist.

    Daher sei der Liebesgott auch kein Gott, sondern nur ein Dämon, der übrigens einer beigesteuerten Erzählung zufolge aus einer selbst märchenhaften Verbindung zwischen Fülle und Armut entstanden sein soll.

    Darin stalkt die Armut den Reichtum ganz gezielt am Ort einer opulenten Festivität. Sie hält sich bedeckt, bis der Reiche höchst berauscht ins Freie tritt und unter einem Baum seinen Rausch ausschläft. In dieser Situation macht sich die Armut an ihm so zu schaffen, daß sie Sex mit ihm hat, schwanger wird und den Eros gebiert. — Es ist berückend, wie lyrisch sich Mythen mitunter geben können.

    Das Liebesgift in den Pfeilen des Amor ist überwältigend. Da steht dann nicht selten schon bald alles auf dem Spiel, und genau das ist das Anarchische und so oft Skandalisierte an der Liebe. — Manche beherrschen sich und verleugnen die Liebe aus vielerlei Rücksicht, aber manche haben vielleicht noch eine Rechnung offen.

    Genau das steht im Hintergrund der aktuellen Legendenbildung um Harry und Meghan, angesichts einer Netflix Serie über ihre Liebes– und Leidensgeschichte. — Diese Liebe steht definitiv unter dem Zeichen der Tragödie um Diana. Und die Traumatisierung des jungen Harry seinerzeit durch den Tod seiner Mutter, ist das eigentliche Motiv der Handlung.

    Harry setzt Meghan seiner Mutter gleich und rächt sich nunmehr an allen, die sie seinerzeit in den Tod getrieben haben. Als wäre er es ihr und sich selbst schuldig, endlich erwachsen geworden, endlich mit allen abrechnen zu können.

    Psychologisch ist dieses Manöver übrigens ausgesprochen heikel. Es ist nämlich die Frage, ob Meghan eigentlich sie selbst sein darf, ob sie nicht vielmehr in dieser Projektionsarbeit völlig marginalisiert wird, was sich später einmal rächen dürfte. Wer ist schon gern auf Dauer nur ein Stellvertreter.

    Aber etwas anderes geschieht zugleich. — Es ist eine fällige Generalabrechnung mit dem Britischen Königshaus und dem latenten Rassismus im Empire, das schon lang keines mehr ist. Ohnehin stehts das Vereinigtes Königreich seit dem Brexit ohnehin nicht mehr auf sicheren Säulen.

    Da sieht man, wie sehr die freie Partnerwahl aus Gründen der Liebe dazu angetan ist, Probleme anzuzeigen, die schon immer routiniert überspielt worden sind. Das ist der Anarchismus der Liebe, plötzlich verfängt vieles nicht mehr.

    Irgendwer fängt aus unerfindlichen Gründen plötzlich damit an, öffentlich zu bekunden, daß sich ein Elefant im Raum befindet, über den niemand willens ist, auch nur ein Wort zu verlieren. Das war auch Common Sense bisher. Aber jetzt ist der Elefant nun einmal erwähnt… 

    Wie sagte noch der in Worten stets sparsame Konrad Adenauer: “Die Situation ist da!”

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    Alice Schwarzer zum achtzigsten Geburtstag

    Eine schon lang fällige Glosse

    Für Friedrich Kaulbach

    Als Mann, nunmehr aber auch Philosoph, möchte ich endlich die Gelegenheit ergreifen, dieser Dame den Spiegel vorzuhalten. Sie hat nämlich einfach nur ihr Ding gemacht.

    Es ist mir richtig schlecht ergangen in der wichtigsten Zeit meines Lebens, als noch alles offen war und man sich oft nicht zu erwehren wußte, gegen alle diese Anwürfe. Sie hat über Jahrzehnte die Diskurskontrolle an sich gerissen und viel zu viele folgten ihr blind.

    William Adolphe Bouguereau: Orestes wird von Furien gehetzt, 1862.

    Dieser Geschlechterkampf wurde dramatisch und vor allem agonal inszeniert. Nein, es mußte nicht endlich einmal gesagt werden, was zu sagen war. Das wäre ohnehin gekommen, einfach weil es nach dem Krieg auf der Agenda stand.

    Dabei hätte ich so gern mit den Frauen gemeinsame Sache gemacht. — Noch heute erinnern mich die Schilder vor den Fleischereien mit den kleinen Hunden, die leider nicht hineindürfen, an die damalige Gepflogenheit, Männer auszugrenzen, wo Frauen ihre Weiblichkeit wie eine Monstranz vor sich hertrugen.

    Der Schwarzer–Feminismus ist ein Revanchismus, der Männer zu Tätern gemacht hat, einfach nur, weil uns ein Stückchen am Y–Chromosom fehlt. Man kann das als Degeneration deuten, man kann aber auch zu bemerkenswerten Spekulationen greifen darüber, ob “die Natur” nicht womöglich tatsächlich die Frauen auf dem Schirm hat, wenn es um den weiblichen Orgasmus geht.

    Das ist eine interessante Spekulation, die der idealistische Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in die Welt gesetzt hat, eine etwas wunderliche Spekulation, die aber naturgeschichtlich gar nicht ganz so abwegig erscheint. Wenn wir den Anfang des Lebens im Tümpel betrachten, dann kleben die Weibchen ihre Eier an einen Strauch und die Männchen kämpfen um die Gelegenheit, ihren Samen darüber zu spritzen. — Da fragt man sich schon, wo und wie denn die Lust herkommen soll, beim anonymen Sex.

    Dann wurden die Verhältnisse in diesem Ur–Tümpel nach innen verlegt, als die Gebärmutter entwickelt wurde. Und die Männchen bekamen einen Penis, um möglichst nahe heranzukommen an die Eizelle, die den Spermien durch einen Maiglöckchenduft den richtigen Weg weist. — Demnach sind Frauen einfach näher dran, denn das Maximum der Lusterfahrung findet in ihrem eigenen Inneren statt und Männer sind dabei eher außen vor. Das wiederum läßt an den blinden Seher Theresias denken, der 9 Monate als Frau gelebt hat, um zu bekunden, die Frau habe das 9–fache der Lust im Verhältnis zum Mann.

    Auch das läßt sich nachvollziehen. Frauen brauchen eben die stärkere Motivation, weil sie auch mehr riskieren im Verhältnis zum Mann, nämlich Freiheit, Gesundheit, Leben und auch die soziale Stellung. — Und in der Tat wurde die “Schwäche” von Frauen als Mütter, die ein Kleinkind zu versorgen haben, immer wieder von Gesellschaften schamlos ausgenutzt.

    Aber bei alledem hat die Schwarzer–Welt einen ganz einfachen Schwarz–Weiß–Code. Männer sind demzufolge in Wirklichkeit, als was Frauen schon immer gesehen wurden: minderwertig. Und seither gelten Männer als brandgefährlich. — Während Frauen ihr Schicksal zum Opfersein kaum abwehren können, wird das Mann–Sein seltsam widersinnig dargestellt.

    “Der” Mann hat halt die falsche Natur und kann deswegen nicht einmal sicher sein vor sich selbst, denn das Trieb– und Täterhafte ist angeblich biologisch ganz tief in ihm angelegt. — Empathie wird exklusiv nur Frauen zugeschrieben. Sensibilität steht im Schwarzer–Feminismus den Männer einfach nicht zu, weil sie nichts weiter sind als entartete Frauen.

    Ich bin seinerzeit nicht in Männergruppen gegangen, obwohl ich verstehen kann, daß es einige getan haben. Ich habe mich auch nicht als Emanzipations–Couch angedient, um dann Sex zu erbetteln. Auch bin ich nicht zum Frauen–Versteher oder zum Softie geworden. Mir war das alles zu würdelos, also habe ich meine Männlichkeit lieben gelernt. — Wie heißt doch der Werbe–Spruch einer einschlägigen Industrie: Beton, es kommt darauf an, was man damit macht!

    Aber die Traumatisierungen waren wohl platziert. Ich konnte Mit–Männer beobachten, die des nachts hinter einer Frau herliefen, um ihr zu bekunden, daß man ihr wirklich nichts würde antun wollen. — Und dann diese unsäglichen Bemerkungen: Sagte doch eine dieser so schrecklich oberflächlich emanzipierten Frauen zur anderen, als ich ihnen beim Eintritt zu einer Alumni–Feier im Overberg–Kolleg den Vortritt ließ und die Tür aufhielt: Also das sollten man als Frau immer mitnehmen…

    Ich habe beizeiten das Gedankenlesen entwickelt und kann mühelos in solchen Situationen den unausgesprochenen Satz weiter fortführen, bis hin zum impertinenten Rest: Ansonsten müsse frau die Männer klein machen und auch so halten. — Das Ganze war ja so sicher, weil es die Rachegöttin Alice so und nicht anders verordnet hatte in ihrer gar nicht göttlichen Weisheit. Selberdenken war schon immer etwas, was die meisten sich nicht zumuten mochten, gerade Frauen nicht.

    Ich bin Philosoph geworden, aber so etwas braucht seine Zeit. Anfangs ist es eher so, daß man einfach alles ernst nimmt, auch den größten Unfug, weil man ja nun selbst urteilen lernen will. — Also habe ich mich richtig einmachen lassen von geistlosen MenschInnen, die ihr Vergnügen dabei hatten, irgendwelche Rachegelüste an mir zu exekutieren.

    Philosophie macht erst einmal schwach, weil man gar nichts mehr sicher weiß, wenn alles möglich sein könnte, was denn nun noch gelten darf. Aber es ist unethisch, die Schwäche anderer auszunutzen und nicht dafür zu sorgen, daß sie auf Augenhöhe sind. — Im Zweifelsfall gibt man ihnen bessere Argumente einfach selbst zur Hand. Das ist kein Großmut, das ist nicht gönnerhaft, sondern einfach nur menschlich. Es ist eben keine Demütigung, man will doch, daß das Gegenüber ein ebensolches ist und auch bleiben soll.

    Das wäre Konzilianz und wahre geistige Größe, alles andere ist einfach nur banausenhaft. — Aber in der Welt von Alice Schwarzer, die diesen unerbittlichen Geschlechterkampf in Szene gesetzt hat, war das natürlich verpönt. Und alle ihre Vestalinnen taten, was der Furie ein Wohlgefallen war.

    Ich erinnere mich noch mit Schaudern daran, wie sich dieser Schwarzer–Feminismus allmählich das Format von Rassismus zugelegt hat. Da wurde nämlich die natürliche Bösartigkeit “des” Mannes einfach unterstellt. — Wer da noch in der Identitätsfindung war, konnte glatt von diesen BulldozerInnen überfahren werden. Pardon wurde nicht gegeben, um den unseligen deutschen Kaiser zu zitieren.

    Zwei Rachegöttinnen
    (Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert nach einer antiken Vase)

    Ich erinnere mich mit Entsetzen an die Dogmatik nach Schwarzers Gusto, daß angeblich in jedem Mann ein Gewalttäter, ein Vergewaltiger und zuletzt auch ein Kinderschänder “natürlich” mit angelegt sein soll. — Männer waren als solche eine Gefahr, denn sie könnten jederzeit sehenden Auges außer Kontrolle zu geraten, weil sie eben einfach diese miese männliche Natur haben. Das sind Menschenbilder aus den 50er Jahren, in denen das Wort vom “Trieb” jede Psychologie ersetzt, weil danach gleich das Wort “Täter” kam.

    Dasselbe Argumentationsprinzip habe ich neulich mit Entsetzen in einem meiner Seminare wieder erlebt: Wir müßten als ‘Weiße’ alle Schuld auf uns nehmen, weiß zu sein. Das sagte ein Student, der Lehrer werden will, über Interkulturelle Gerechtigkeit. — Ich habe gesagt: Das stehen Sie nicht durch. Sie übernehmen sich, das können Sie gar nicht bewältigen! Sie können es nur für sich selbst anders machen.

    Die Auswüchse im Geschlechterkrieg waren irre: Es gab doch tatsächlich Männer, die flehentlich um sich blickten, wenn sie mit einem Kleinkind zu tun bekamen. Es könnte sich ja die böse Natur im ungezähmten Inneren des Mannes wider Willen losmachen und außer Kontrolle geraten. — Solche Menschenbilder sind selbst therapiebedürftig. Aber Alice Schwarzer hat jede Gelegenheit genutzt, diese Welle, die sie selbst erzeugt hat, mit Wonne und Zornesröte zu Tode zu reiten. Die Motive dafür liegen im Krieg, der nur mit anderen Mitteln als Geschlechterkrieg fortgesetzt wurde. 

    Ich wäre damals nur zu gern mit den ersten Freundinnen, Liebschaften und Selbstsucherinnen ins Einvernehmen gekommen: Emanzipierst Du mich, emanzipiere ich Dich! Wir wußten doch alle gar nicht, wohin die Reise hingehen soll. Nur weg, aber wohin? — Solche Partnerschaften wären aber Kollaboration mit dem Feind gewesen. Wieviel Drittes Reich steckt eigentlich noch immer hinter alledem?

    Erzählt wird von einer Begebenheit, daß die junge Alice Schwarzer in Paris mit Jean Paul Sartre zum Interview verabredet war. Und ja, dieses undefinierbare Verhältnis zwischen den beiden öffentlichen Intellektuellen wirkte äußerst vorbildlich. — Aber ich fand das alles etwas suspekt. Was wurde da eigentlich verherrlicht? Sie führten eben ein öffentliches Leben und ich denke, daß vieles einfach nur Inszenierung war.

    Jedenfalls soll mittendrin Simone de Beauvoir plötzlich ins Zimmer gepoltert sein, habe die Interviewerin abschätzig angeschaut und sei dann augenblicklich wieder verschwunden. — Und Alice Schwarzer, wie sie später zu Protokoll geben wird, habe sich damals ob der üblichen Kürze ihres Minirocks derart geschämt…

    Die Technik, die Sie im “Kleinen Unterschied” einsetzt, war damals üblich und effekthaschend. Das war auch in der angeblich wirklich wahrhaften Arbeiterliteratur so, mit denen junge Lehrer ihre Schüler traktierten, um sie auf dem Wege zur richtigen Ideologie zu bringen, um ein besserer Mensch zu werden. — Ach die vielen falschen Propheten…

    Was lernen wir daraus, gar nichts! Ich sitze gerade auf dem Flughafen von Teneriffa und mag diese weiblichen Frauen hier. Selbstverständlich machen sie alles mögliche, aber hier muß nicht dauernd hervorgehoben werden, daß sie ja eigentlich ein Handikap haben, nämlich eine Frau zu sein und trotzdem Busfahrerin. — Vor allem sind sie allesamt immer eine Erscheinung. Ich denke dann immer, daß wir das in Deutschland nicht haben, liegt eben am dauerhaften Krampf in der Geschlechterfrage.

    Es gab damals nicht einmal ein Wort für Fakes, weil man noch alles geglaubt hat, was gedruckt wurde. Also mußte, was in angeblichen Interviews, anfangs mit Arbeitern dargestellt wurde, doch auch der Lebenswirklichkeit von Frauen entsprechen. Man kann ja nun in diese Interviews mit “den” Frauen wer weiß was hineinschreiben. — Und bei Alice Schwarzer ging es immer gegen die Kerle. Sie wurden in diesem Geschlechterkrieg systematisch in die Defensive getrieben, mit ihren scheußlichen Angewohnheiten aus Penetrationswut, Brutalität, Orgasm–Gap und grobschlechtigem Unmenschentum.

    Was mich damals schon gestört hat, weiß ich allerdings inzwischen zu vertreten. Der “Pädagogische Eros” ist auch wieder so ein Wort, das nach dem nun wirklich nicht ausgeprägten Sprachgefühl von woken Pamphletisten heute vielleicht überhaupt nicht mehr benutzt werden darf, ist eine heilige Sache, aus Gründen der Pädagogik! — Nur das, was von innen her kommt, was aus eigener Einsicht, also intrinsisch einen Prozeß der Selbstveränderung motiviert, um tatsächlich ein anderer Mensch zu werden, ist einzig, was zählt.

    Alice Schwarzer hat die Diskurse über Emanzipation gekapert und daraus ihr Ding gemacht. Dabei stand diese Auseinandersetzung ohnehin auf der Tagesordnung. Die beiden Kriege hatte bewiesen, wohin das alles führt, einfach nur in den Tod, ins Leid, in die Verzweiflung und lebenslange Traumata. Die meisten Kriegsheimkehrer hatten Dinge gesehen, die kein Mensch sehen sollte.

    Aber auch die Gurus in den 70ern waren eine Plage, weil sie zwar Glaubenssätze verkündeten, aber keine Anleitung zum Selbstdenken gaben. — Opportunisten oder solche, die nur ihr Süppchen kochen wollten, haben es immer leichter als die, die alles selbst in Erfahrung bringen, sich selbst überzeugen und aus eigener Einsicht handeln wollen.

    Alice Schwarzer hat allerdings nicht nur Männern geschadet, sondern vor allem den Frauen. “Was ziehe ich nur heute Abend zur Frauengruppe an”, das war ein starkes Problem seinerzeit. — Die Kontrolle und Observanz, der geringschätzige Blick auf den Toiletten, der mißbilligende Neid von Frauen untereinander, die bei aller Betulichkeit immer eher im Verdrängungswettbewerb untereinander stehen, wurde als Verhalten eben nicht überwunden. — Da lobe ich mir das Fairplay unter Männern, die ihre Auseinandersetzungen führen, so daß es gut ist. Und im Unterschied zur Rachsucht unter Frauen ist unter Männer vor allem eines völlig verpönt: Nachtreten.

    Eingeübt wurde wieder nur weibliche Unterordnung, nunmehr beim Emanzipieren nach zertifizierter Schwarzer–Methode. Alles ist, bleibt und blieb also immer nur dasselbe. Wie schrecklich. — Aber das war mal wieder typisch.

    Es kam nicht darauf an, wer man/frau ist, wie frau/man sich gerade fühlt und worauf es ankommt, sondern einzig auf Anpassung und Duckmäuschentum kam es an. — Und unsereins durfte als Mann natürlich nichts dazu sagen, von wegen Feind hört mit! Dagegen hatte der soeben erwachende Intellekt sich inzwischen schon ein paar Navigationsmittel zugelegt. Ich plaudere ja nur zu gern aus, was ich gefunden habe, das alles soll doch Menschen stark machen, so daß sie über sich hinauswachsen können.

    Ich habe das entwaffnende Argument zum ersten Mal von einem Kollegen auf einer Tagung in Mannheim gehört. Es stammt von einem Soziologen, der namentlich nicht genannt werden will und wohl im Osten der Republik auf Brautschau gegangen war. Er hob ungefragt, wohl weil er ein Bedürfnis verspürte, durch sein Bekenntnis endlich Stellung zu beziehen, mit Verve hervor, daß die Frauen im Osten ganz anders wären, als die im Westen, denn diese wären doch eigentlich nur Zicken.

    Sorry, da ist etwas dran! Viele Frauen haben bei ihrer Emanzipation bequemlichkeitshalber eine Abkürzung genommen und sich von Frau Schwarzer anleiten lassen. Aber es kommt noch besser: Ich muß gestehen, daß ich die berühmt–berüchtigte klammheimliche Freude nicht verhehlen kann, wenn ich inzwischen dieselbe Aussage vor allem von Frauen hören, die aus anderen Ländern stammen. — Übrigens, es müssen gar nicht gelernte Ossi–Frauen sein, das “vererbt” sich einfach so durch das gelebte Leben an die Töchter. Gut so!

    Kunststück, bei ihren Müttern haben die Töchter im Westen immer dieses Hin und Her des Lamentierens erlebt. Dieser andauernde Kampf für und gegen die Männer und dann der Dauerfrust. — Frau will viel, kann sich aber nicht überwinden, endlich auch mal damit anzufangen.

    Und alles liegt an den Männern, die den Frauen dann ersatzhalber das Atelier finanzieren, damit sie wenigstens auf Kunst machen können. Aber glücklich wird das alles nicht. — Diesen Keil hat Alice Schwarzer in die Seelen heterosexueller Frauen getrieben, zwischen Frauen und Männer, vor allem aber mitten durch das Weibliche hindurch.

    Es gab einige Kritikerinnen, die weggebissen und gecancelt wurden, der Großteil aller ist aber der falschen Prophetin aus Köln gefolgt. Jede Fernsehdiskussion wurde zur Abrechnung. Dabei steckt im Hintergrund eigentlich nur ein geistiges HinterweltlerInnentum. — Auch, wie sie im Verfahren gegen Jörg Kachelmann ausgerechnet für die Bildzeitung das Urteil schon längst gesprochen hatte, als diese unsägliche Geschichte der Rache aus Liebe und Eifersucht ans Licht kam.

    Antonio Tempesta: 
    Die Furie Tisiphone im Palast von Athamas, 1606.

    Hohes Gericht der Diskurse!

    Ich beantrage, daß zum ‘pädagogischen Eros’ noch ein ‘psychologischer Eros’ hinzukommen soll, nämlich einer, der den Leuten ihre Würde läßt, so daß sie wieder aufstehen können. — Was soll all dieser Haß, die Rechthaberei und der dumme Biologismus, mit dem Alice Schwarze in der Geschlechterfrage schon seit Jahrzehnten einen Unfrieden stiftet, der ihr als Geschäftsgrundlage dient.

    Wann wird sie endlich Genugtuung finden? — Aber sollte man sie denn als Rachegöttin überhaupt ernst nehmen? Mit den Göttern verhält es sich nämlich wie mit dem bekannten Werbespruch: Die tun was!

    Wieviel Opfer verlangt sie noch? Sie ist und bleibt erwartbar untröstlich. Würde sie wirklich übergreifende Interessen im Kosmos vertreten, so wie Götter es tun, die eben nicht eher ruhen, bis Ausgleich geschaffen worden ist, man könnte es nachvollziehen. Sie betreibt aber nur ihr Ding nach Gutsherrinnenart.

    Das, genau das wäre eine Frage für den psychologischen Eros. Er soll bitte sagen, ob dieses rostige Kriegsbeil nicht langsam zur Manie geworden ist. — Wenn nur nicht so viele Frauen ihr Leben und ihr Glück darauf verwettet hätten.

    Es ist wie bei den Erinnyen. Das sind Plagegeister, die im selben Augenblick entstehen, wenn Kronos, der jüngste Sohn der Erdgöttin Gaia in der Geschichte der Großgötter, auf Geheiß seiner Mutter den eigenen Vater mit einer Sichel entmannt. — Sobald die Sichel ihre meuchelnde Tat vollführt, spritzt ein Teil des göttlichen Samens ins Meer, woraus Aphrodite, die ‘Schaumgeborene’ entsteht.

    Aber aus dem Blut, das auf Land fällt, entstehen Plagegeister.

    Sandro Botticelli: Die Geburt der Venus, 1485.

    Nun stellt sich immer die Frage in solchen überzeitlichen Angelegenheiten, warum, wann und ob überhaupt sich so etwas wieder beruhigen könnte. Immerhin ist es eine Tat von kosmischem Ausmaß. — Es ist die Frage, was Frau Schwarzer wirklich bewegt. Ist es Vergeltung, ist es Ausgleich, der Wunsch nach Wiedergutmachung oder die Herstellung von Harmonie, auf die sie sich wohl nicht wirklich versteht? Oder hat sie nicht einfach nur den ruinösen Geschlechterkampf zum Geschäftsmodell ihres Lebens gemacht?

    Ich denke an einen meiner wichtigsten Philosophie–Lehrer an der Uni in Münster, dem ich viel zu verdanken habe, weil er im Zuge seiner “Philosophie der Beschreibung” den Perspektivismus zur Methode erhoben hat. Das habe ich übernommen. — Ich will alle Perspektiven würdigen, denn alle sind gleich weit zu Gott. Daher zählen für mich auch immer Positionen, die nicht meine sind. Ich will, daß sie alle eine faire Chancen haben, sich vertreten und durchsetzen zu können. Möge die bessere Theorie gewinnen!

    Aber wie sagte doch dieser Philosoph immer wieder, weil er die Welt schlußendlich offenbar nicht mehr verstand: “Ja, da gibt es jetzt so eine neue Zeitschrift, die Emma.” — Es hat nie jemand darauf geantwortet, ich auch nicht. Heute würde ich es können und ich würde das Wort ergreifen, ganz gewiß.

    Ich danke Friedrich Kaulbach, der wohl nicht gewußt hat, daß er einer meiner wichtigsten Lehrer wurde. Diese Glosse ist ihm gewidmet.

     

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    Wohl beraten sein

    Über das Regieren seiner selbst

    Eigentlich sind wir ja alle Könige und Königinnen. Manche sind Diktatoren, andere Despoten und nicht wenige sind die Repräsentanten von “failed states”.

    Frederick Leighton: Römische Vestalin, 1880.

    Wenn in der griechischen Philosophie von “sophrosyne” gesprochen wird, dann geht es um “Wohlberatensein”. Also gut, man ist jetzt König oder Königin, kann ziemlich viel befehlen und muß nicht wirklich diskutieren. – Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob dieser Vorzug, nicht mal mehr mit sich reden lassen zu müssen, weil man doch so hochwohlgeboren ist, wirklich zum Vorteil gereicht. 

    Gerade am Widersprüchlichen kann man doch die eigene Auffassung minutiös schärfen. Gerade an kleinen Unterschieden läßt sich genauer erkennen, worauf es denn nun wirklich ankommen sollte. – Aber nur die wenigsten verstehen sich darauf, mit solche Fülle an Möglichkeiten auch umgehen zu können. 

    Es träumen ja viele davon, ein guter Diktator zu sein, weil sie neben dem Wetter auch gern noch die Politik und vielleicht gleich die ganze Schöpfung ‘besser’ machen würden, wenn man sie nur mal ranließe, an die Hebel der Macht, die es in Wirklichkeit nicht gibt. 

    Wir sind nämlich spätestens seit Niklas Luhmann vorgewarnt: Sollte man in die hermetisch verschlossenen Kanzeln der Piloten, die wohl nicht von ungefähr dasselbe Wort haben, wie auch die Kollegen in den Kirchen. Sollte man es also tatsächlich fertig bringen, dort einzudringen, die Flugzeug-Kanzeln wären leer. Kein Pilot nirgends. Alles ist auf Autopilot. 

    Das hängt nun wiederum damit zusammen, daß schon seit Jahrmillionen gerade biologische Prozesse sich selbst steuern. Insbesondere auch das Wettrüsten zwischen Viren und Wirten. – Händisch ist da nicht viel zu machen, höchstens kollabieren lassen kann man das Ganze, sogar auf der Stelle.

    Ich hatte mal einen Traum. Da war ich König oder so etwas. Jedenfalls hatte ich die Befehlsgewalt und sonst keiner. Also endlich konnte ich mal sagen, was Sache ist. – Und ich sagte also zu meinem ersten Minister, er möge “Frieden” schaffen und die Leute “glücklich” machen.

    Ein lehrreicher Traum war das, weil ich ziemlich schnell hoch alarmiert aufgewacht bin. Alles war  aus dem Ruder gelaufen. Der Unhold kam doch tatsächlich mit blutverschmierten Händen zurück!

    Das ist, was man oder auch frau beim Königsein berücksichtigen sollte. – Befehlen ist viel zu einfach. Wohlberatensein, das wäre es. Aber wer berät die Berater und vor allem, wer rettet die Beratenen? – Also wann wäre man denn nun wirklich “wohl beraten”? 

    Das Problem mit den Beratern liegt darin, daß diese verkaufen wollen und müssen. – Alle verhinderten Könige und Königinnen mögen daher ersatzhalber an den letzten Arztbesuch denken, in dem es ja auch ‘nur’ um Beratung ging. – Und was hat man “gekauft”, wozu man sich hat “breitschlagen” lassen? 

    Hat man eigentlich verstanden, was der Weißkittel einem hatte weiß machen wollen? – Sorry: Warum hat man einer Behandlung zugestimmt, von der man gar nicht verstanden hat, was sie eigentlich mit einem macht? 

    Ach ja, das ist Vertrauen? – In wen oder was? Kann man Verantwortung abgeben? Wer hätte denn mit den Folgen zu leben? 

    Ich muß schon sagen, daß ich nie verstanden haben, daß Patienten vorgeblich wirklich glauben, daß sie nur einen ganz tiefen, höchst vertrauensvoll inszenierten Blick in die Augen ihres Arztes werfen müßten, und schon haben sie ihn für sich eingenommen. – Wie naiv ist das denn?

    Ich bin heute im Seminar über die “Schönheit der Seele” durch eine Einflüsterung rettender Musen bei Windstille auf die rettende Idee gebracht worden, daß “Wohlberatensein” zustande gebracht wird, wenn wir uns mit allen Instanzen im “forum internum” regelmäßig zum Arbeitsfrühstück verabreden. Das wäre Wohlberatensein.  

    Warum besorgt man sich nicht als nächstes einen Termin beim eigenen Gewissen? Man könnte genauer abstimmen, was im eigenen Interesse wäre, daß das Gewissen in seiner ziemlich kleinkarierten Aufmerksamkeit bitte im Dienste der gemeinsamen Sache seine permanenten Sondierungen zur Anwendung bringt, um dafür zu sorgen, daß uns nichts wesentliches entgeht.  

    Ein weiteres ist heute aufgefallen: Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Gewissen. – Wer sich selbst würdig verhält, kann, darf und wird auf eine dementsprechende Behandlung einen gewissen Anspruch geltend machen.

    Mutmaßlicherweise haben wir in unserer krisengeschüttelten Gegenwart inzwischen einen Entwicklungsstand in der Psychogenese erreicht, von dem ab an es möglich, aber auch erforderlich geworden ist, Multiperspektivität an den Tag zu legen. – Das bedeutet, daß wir das EINE tun können, ohne das ANDERE lassen zu müssen. Wir können nicht nur, wie sollten sogar “widersprüchlich” agieren, ganz nach Art von Königen und Königinnen.  

    Während Kant noch “Einstimmigkeit mit sich selbst” einfordert, können wir es uns offenbar neuerdings sogar leisten, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. – Das wäre ohnehin das Beste: Eine Gesellschaft, in der solange diskutiert wird, bis eine Partei aufgibt und geht, weil ihr nichts mehr einfällt, der eigenen Auffassung weiterhin Auftrieb zu verschaffen.

    Das soll bei den Indianern im Ältestenrat der Fall gewesen sein. Darf man noch Indianer sagen? – Doch, weil es ein Ehrenwort voller Hochachtung ist für ganz besondere Menschen, denen Zugänge zu Welten zugetraut werden, die wichtiger sind als die unheiligen Botschaften aller Warenfetischisten, die uns neuerdings in den Hype um die Kryptowährungen einweihen wollen, als wäre das so etwas wie eine Initiation. 

    Laß es Liebe sein: Liebe zur Welt, zum Menschen, zur Natur und sogar zum Schicksal. – Es bleibt uns schlußendlich nur eines: Verstehen. Und das in Zeiten, die das Verstehen zur Sünde erklärt haben. 

    Liebe und Verstehen, war das nicht schon immer dasselbe?

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    Ich weiß, daß ich nichts weiß

    Über Urteilsvermögen im Umgang mit Nichtwissen

    Wer kennt diese Selbstaussage nicht. – Aber wer hat wirklich verstanden, was sie bedeutet? Ja, die Sentenz stammt von Sokrates und die meisten machen es sich zu leicht, wenn sie annehmen, daß  es Ausdruck seiner Bescheidenheit ist. Irrtum!

    Sokrates ist ganz und gar nicht bescheiden, er will immer alles ganz genau wissen und geht dann bis an die Grenzen dessen, was überhaupt noch möglich ist. Nicht selten steht er dann da, wie einst Keith Jarrett bei einem Konzert in Hamburg. – Der Flow kam einfach nicht und man kann ja nun die Götter nicht zwingen, wenn sie offenkundig ganz woanders was besseres zu tun haben.

    Also hat er sich redlich bemüht, ist dann aufgestanden und hat sich direkt ans Publikum gewandt mit der Frage: “Ist hier ein Pianist, der das Konzert fortsetzen kann?”

    In solchen Situationen neigen die meisten Zeitgenossen dazu, ins Glauben zu springen. Man gibt die Steuerung aus der Hand und schaltet das Denken auf Autopilot. Aber in Wahrheit weiß man doch gar nicht, wo es hingehen soll. Und beurteilen, was man denn nun annehmen oder gar glauben sollte, können die wenigsten, weil es ihnen an Urteilsfähigkeit fehlt.

    Willkürliche Motive, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben, spielen dann immer herein. Aber der eigentliche Grund für dieses Einknicken vor den Risiken der Seefahrt im Denken liegt woanders: Man kann das eigene Denken nicht in der Schwebe halten!

    Und dann wird der Mainstream bemüht, man schließt sich irgendeiner herrschenden Meinung an, die zuvor von den Alphatieren unter den Meinungsmachern bei Twitter ausgekaspert worden ist. Dankbar wird das dann von karrierebeflissenen Nachwuchskräften aufgegriffen und exekutiert. Alle, die jetzt noch anders denken, sollen entweder schweigen oder sie werden exkommuniziert. – Wo kämen wir hin mit der herrschenden Meinung, wenn jeder selbst denken wollte?

    Die wenigsten Zeitgenossen sind willens und in der Lage, die eigenen Gedanken in der Schwebe zu halten, um dann auch noch sanktioniert zu werden von Besserwissern und vor allem von Bessermenschen. – Und dennoch hat sich da eine neue Identität herausgebildet, es ist die derer, die dem Druck beachtlicherweise standgehalten haben. Es sind die, die sich haben verunglimpfen lassen, die sich tagtäglich haben “freitesten” lassen müssen, um noch ihrer Arbeit und ihren Verpflichtungen nachgehen zu können.

    “Zeit der Abrechnung”, das klingt wie der Titel für einen schlechten Western. Wobei ich allerdings zugestehen muß, daß mir ein wenig danach ist, Abrechnung. – Die Doppelmoral, sich einerseits zu verbiegen, weil man doch schon zeitlebens ein Häkchen hatte werden wollen, um dann doppelt zu kassieren, ist geradezu skandalös. Einerseits war man ja so etwas von vorbildlich des “kleinen Piksens” wegen und andererseits wurde man auch noch belohnt, durfte wieder ins Restaurant und in den Urlaub fliegen, während Sonderlinge wie ich nicht einmal mehr in den Baumarkt gehen durften, um sich wenigstens etwas zum Basteln zu holen.

    Ja, ich möchte Vergangenheitsbewältigung, bevor ich überhaupt wieder bereit bin, mich mit denen zu verständigen, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht haben.

    Ich will mir jetzt von den Impfvordränglern nicht auch noch erklären lassen, daß ich nicht nur Impfskeptiker bin, sondern auch noch Putinversteher, wenn ich auf die Verantwortung des Westens unter der egomanischen Führung der USA hinzuweisen nicht müde werde. – Die rhetorischen Figuren sind dieselben, man ist dann ein Leugner, der angeblich ausgegrenzt gehört. In den Augen der Überangepaßten ist Verstehen nunmehr zur Sünde geworden.

    Ich habe frühzeitig öffentlich davor gewarnt, daß sich die Erwachsenen in ihrer panischen Angst nicht auch an Kindern, Jugendlichen und an alten und sterbenden  Menschen vergreifen dürfen. Aber die Angst hat viele ermächtigt, gewissermaßen über Leichen zu gehen. – Und jetzt will es wieder mal keiner gewesen sein. Die Vertreter der Ethik-Kommission, die Bundesverfassungsrichter und die Riege der Scharfmacher und Haßprediger zucken einfach nur mit den Schultern und möchten nicht mehr daran erinnert werden. Shit happens?

    Sorry, als es mir zu dumm wurde, habe ich seinerzeit schon zwischen Nichtdenkern und Selbstdenkern unterschieden. Und nicht selten ging es mir in der Corona-Zeit, hinter den Gitterstäben des Lockdown-Syndroms, wie dem Panther von Rilke und wie Keith Jarrett im mißlungenen Konzert von Hamburg.

    Über dem Eingang zur Akademie von Platon in Athen soll der Spruch gestanden haben, es möge niemand eintreten, der nichts von Mathematik verstünde, was damals eher eine durchaus anschauliche Geometrie war. – Mein Prinzip habe ich bei Hans Blumenberg gefunden, der davon sprach, daß man den Augenhintergrund spiegeln sollte, um zu sehen, worauf andere wirklich Wert legen.

    Es ist ja nun nicht so, daß nicht ein und derselbe Gedanke immer wieder, in allen erdenklichen Darreichungsformen geboten worden ist. Hier etwa bei Frankie Goes to Hollywood:

    “Relax, don′t do it
    When you wanna go do it
    Relax, don’t do it
    When you wanna come”

    In meinen Seminaren fordere ich dazu auf, auch steile Thesen zu vertreten. Die Kunst liegt schließlich darin, möglichst genau in Erfahrung zu bringen, wann eine Theorie kollabiert. Nicht wenige brechen bereits an ihrem eigenen Gewicht in sich zusammen, man muß sie nicht einmal schief anschauen.

    Dann gibt es welche, die unter Belastung erstaunlich lange halten, worauf ich dann aber den Meistertest mache, ob eine hochmögende Auffassung auch in der Lage ist, sich selbst zu ertragen. – Eine gute Theorie sollte fähig sein, “neben sich” auch noch ganz andere, womöglich konkurrierende Auffassung tolerieren und mit ins Gespräch ziehen zu können.

    Wenn eine Theorie die das nicht kann, weil deren Vertreter zumeist derart überzeugt sind von ihrer “Alternativlosigkeit”, dann disqualifizieren sie sich selbst, denn das ist unphilosophisch und nicht selten auch unmoralisch.  – Sokrates war gerade nicht bescheiden, ganz im Gegenteil. Die anderen, haben ihn zum Tode verurteilt, weil sie das Philosophieren nicht mehr ertrugen, weil sie nicht weiterhin bei ihren Dummheiten öffentlich überführt werden mochten.

    Sokrates glaubt den Priestern des Orakels nicht, weil er es doch besser von sich weiß, weil er weiß, daß er nichts weiß. – Darauf beginnt er seine Kampagne, mit der er sich in den Augen der Honoratioren unmöglich macht, wenn er sie der Reihe nach alle vorführt. – Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht auch ein geschicktes Manöver der Priester von Delphi gewesen sein könnte, dafür zu sorgen, daß Sokrates sich selbst unmöglich zu machen beginnt.

    Mark Antokolski: Death of Socrates, 1875.

    Ich stelle mir vor, wie Sokrates in seiner ganzen Barfüßigkeit an einer Seite die Agora betritt und auf der anderen Seite die gefühlt Wissenden fluchtartig das Weite suchen. Wer nicht schnell genug ist, wird sich einem Gespräch stellen müssen, das eigentlich nicht dazu dient, den anderen nur vorzuführen, denn das machen die Besserwisser schon selbst.

    Ihr Fehler ist kardinal, sie meinen, daß man dieses und jenes wirklich so verbindlich und eindeutig wissen könne, so daß man richten kann über andere, die eben nicht “richtig” denken. – Genau diese hochmögenden Zeitgenossen werden jetzt aber vorgeführt, indem ihnen die Gelegenheit gegeben wird, sich selbst vorzuführen.

    Aber es geht dabei keineswegs um eine Kampf, wie so viele noch immer meinen. Als wäre Philosophie so etwas wie eine Lust am Scharmützel, wobei es darauf ankäme, andere derart in Verlegenheit zu bringen, so daß sie “nichts mehr sagen können”. – Ein wirklicher philosophischer Dialog hat dagegen immer etwas Konsensuelles. Man spricht gemeinsam etwas an und entwickelt dann auch gemeinsam weitergehendes Denken.

    Dabei wird es aber immer komplexer, weil wir ganz allmählich gemeinsam immer mehr sehen und “einsehen”, was auch auf irgendeine Weise relevant sein dürfte. – Genau das aber halten die wenigsten aus. Sie glauben ernsthaft, am Ende käme immer nur die einzige, unteilbare, wissenschaftlich-wissenschaftliche Wahrheit über die wirklich wirkliche Wirklichkeit dabei heraus. Und alle hätten sich nun dieser einzigen Wahrheit wie beim Götzendienst zu unterwerfen.

    Gerade diese Zeitgenossen haben sich gehen lassen während der bleiernen Zeit. Man konnte mal wieder so richtig einer einzig richtigen Auffassung sein und endlich auch mal wieder den Blockwart geben. Ich habe mich gern von manchen Menschen getrennt in dieser Zeit, weil ich gesehen habe, daß sie mir auch bisher eigentlich immer nur meine Denkzeit gestohlen und die Musen vergrault haben.

    Die ganz große Feigheit kam bei denen hinzu, die sich in die Schweigespirale zurückgezogen haben, und rein gar nichts mehr kund getan haben. Sie haben ihr Süppchen im Stillen gekocht. – Aber auch sie sind mit verantwortlich für de Irrsinn, in den sich ein Großteil der Gesellschaft vor allem in Deutschland hat von einer Presse treiben lassen, die sich plötzlich wie die Heilige Inquisition aufgeführt hat. – Ja, und jetzt kommt die Abrechnung, wenn die unseligen Unsäglichkeiten aus den Protokollen der Pantherzeit wieder zum Besten gegeben werden. Im Nachhinein klingt das alles noch schauderhafter, so daß man sich fragen möchte, wie sehr wollen eigentlich die, die sich da so haben gehen lassen, mit ihrem Schamempfinden klar kommen?

    Sie haben sich verführen, in ihrer eingebildeten Gewißheit zu wissen, was sie nicht wissen können, und das alles mit gefährlichem Halbwissen. Mit Entsetzen denke ich an die vielen unbeholfenen Gespräche über naturwissenschaftliche Zusammenhänge zurück, die einfach nur heillos verliefen.

    Ja, es ist so. Wir wissen nichts! – Das hat der griesgrämige Herbert Wehner in dem berühmten Fernsehinterview mit Hans Dieter Lueg mit aggressiver Hochpotenz unbezweifelbar klar gestellt. –  Übrigens ist es köstlich, wie sich beide beharken und Wehner sein Gegenüber als “Herr Lüg” tituliert, worauf dieser, gar nicht verlegen mit “Herr Wöhner” kontert.

    Ungefähr so stelle ich mir eine philosophische Performance des Philosophen unter den Philosophen vor, wie er, gefolgt von einer Entourage hochwohlgeborener Jünger den Honoratioren wieder einmal eine Abfuhr nach der anderen erteilte und die Jünglinge darüber in wieherndes Gelächter ausbrachen. Nichts ist schlimmer als die eingebildete Weisheit, daher habe ich auch kein Mitleid, denn die Vertreter des Nichtselbstdenkens haben sich den Spott redlich verdient.

    Und nein, wir stehen keineswegs nackt da, sondern ganz im Gegenteil. Es wird sogar immer bunter, sobald das Denken ins Schweben kommt, weil sich immer mehr gute Geister einstellen, denn wo einer ist, kommen bald schon andere hinzu. – Das geschieht aber nur, wenn gar nicht mehr irgendein Anspruch erhoben wird, irgendetwas jetzt aber nun ernsthaft und unbezweifelbar mit Gewißheit wissen zu können und zwar so, daß sich andere gefälligst daran zu halten haben.

    Worauf es beim Umgang mit Nichtwissen ankommt? – Wir verfügen hoffentlich über eine Urteilskraft, die sich auf das Schweben versteht. Und dieses Urteilsvermögen ist für Situationen zuständig, in denen wir einfach nicht genug wissen können.

    Philosophie ist daher auch nicht einfach nur eine Tätigkeit, es geht auch nicht nur um Techniken des Denkens, Schlußfolgerns und Beweisens. Es geht vielmehr um eine Lebenshaltung, die allerdings auch eingeübt werden kann.

    Wenn Dialoge und Diskurse sich in unserer einfältigen Zeit und unter Absehung der vielen Eindimensionalitäten endlich einmal lösen von der Gedankenschwere ihrer Blindheit und riskieren, mit dem Schweben zu beginnen, dann ist es der Ausdruck von Selbstbewußtsein.

    Man muß es sich eben auch leisten können, vielen Gedanken ihre Chancen zukommen zu lassen. Dann ist Schluß mit diesem grimmigen Rechthabenwollen, wenn endlich die Einstimmung in die philosophische Grundhaltung aufkommt, um bereitwillig Platz zu machen für den Auftritt aller erdenklicher Gedanken, Gefühle und Geister, von denen einer bemerkenswerter als der andere ist.  

    Wenn dem so ist, dann kann Geist aufkommen. Aber dieser macht das nur in Ausnahmesituationen, weil er ansonsten weit besseres zu tun hat. – Wenn wir uns aber diese Freiheiten herausnehmen im Gespräch, dann kommt auf, was in den alten Schriften als “Lachen der Weisen” dargestellt wird.