Über die todessehnsüchtige Melancholie der Ungeheuer
Die Plots ausnehmend vieler Märchen und Mythen ranken sich immer wieder um absonderliche Gestalten und Figuren, um seltsame Wesen. Nicht selten sind es Monster, deren Existenz äußerst problematisch ist. Oft sind sie entstellt, der Zugang zu ihrer eigenen Natur ist ihnen genommen. Eigentlich dürften sie gar nicht sein, aber es ist etwas Ungeheuerliches vorgefallen.
Ein Fluch, ein böser Zauber liegt über dem ganzen Land und läßt sich einfach nicht lösen. Irgend etwas hat dieses Monster auf den Plan gerufen, das Ungeheure ist nicht einfach nur da. Es taucht nicht einfach nur auf, sondern ist selbst verursacht. Und nun gehen von Stund an ganz erhebliche Wirkungen davon aus. Nichts kann so bleiben wie es ist, aber nichts läßt sich ändern. Die Lage ist aussichtslos, zu viele haben es bereits versucht, sind kläglich gescheitert und haben dabei ihr Leben verloren.
Es ist bemerkenswert, wie erstaunlich anschlußfähig märchenhafte Ungeheuer und mythische Monster eigentlich sind. Sie sind nicht selten unglücklich über sich selbst. Aber der Zauber einer Untat hat Macht über sie, hat sie ins Leben, in die Wirklichkeit gerufen, hat ihnen zu erscheinen befohlen und nun sind sie da, ebenso ungeheuerlich wie berechenbar, nachfühlbar, in ihrer Existenz nachvollziehbar, wenn man ihnen nur Gelegenheit bietet, zu sagen, was es mit ihnen auf sich hat. – Das Monster betritt die Bühne stets in dem Augenblick, von dem ab die Handlung ihren unumkehrbaren Verlauf nehmen wird, alles läuft zunächst auf die Konstellation absoluter Ausweglosigkeit hinaus. Der Schlaf der Vernunft gebiert diese Ungeheuer.
Nicht selten sind lebensnotwendige Ressourcen bedroht: Ein Zauberbaum trägt keine Früchte mehr, ein lebensnotwendiger Brunnen liefert kein Wasser oder ist vergiftet. Ein Fluch liegt über dem ganzen Land, das Unheil nimmt nun seinen Lauf, es ist nicht mehr abzuwenden, es wird sich erfüllen. Jede Bewegung führt nur noch tiefer in die Verstrickung hinein, dem Schicksal entgegen, wie bei Ödipus. — Es ist kein Ausweg möglich, jedenfalls nicht für die, die unmittelbar betroffen sind. Sie können sich selbst nicht mehr helfen, sie müssen sich behelfen,sie werden im Zweifel alles opfern müssen, und schlußendlichwird ihnen nichts mehr bleiben, als sich vollkommen resigniertins schlimme Schicksal zu fügen, aber auch das ist mehr als unerträglich.
Viele dieser Monster lassen sich psychologisch deuten, denn sie befinden sich stets an einer Schlüsselstelle, sie stehen an einer engen Passage, immer dort, wo das Leben, insbesondere der Held vorbeikommen muß. Sie versperren den weiteren Weg, weitere Entwicklung, bald wird es nicht mehr voran und auch nicht mehr zurück gehen, sie machen das Leben zusehens unerträglich. Und in der Tat ist die ganze Konstellation unnatürlich,ja widernatürlich, weil die natürlichen Entwicklungsprozessenicht nur behindert, sondern vollkommen ad absurdum geführtwerden.
Ungeheuer haben etwas von jener Epiphanie, die auch für Geister, Dämonen und Götter typisch ist. Aber Götter geben einer vollkommen verfahrenen Konstellation dem Ganzen zumeist eine glückliche Wendung, sie weisen den Ausweg, Monster blockieren dagegen in der Regel nur die weitere Entwicklung. Sie verkörpern das, was im Wege steht und fungieren dabei wie Indikatoren. Sie demonstrieren mit ihrem Auftreten eindeutig, ultimativ und unwiderruflich, daß etwas Ungeheuerliches vorgefallen sein muß, etwas, das nicht nur die soziale sondern auch die transzendentale Ordnung erschüttert und aus dem Gleichgewicht gebracht hat, etwas, das Sühne verlangt.
Märchenhafte Monster sind wie Manifestationen von Entwicklungsstörungen, die so hartnäckig sind wie der Zauber eines bösen Fluchs, der über allem lastet. So steht dann das Ungeheuer der notwendigen weiteren Entwicklung im Wege, es verhindert das Business as usual einfach fortzusetzen. Das Ungeheuer erzwingt die Auseinandersetzung, die Wiederkehr des Verdrängten. Die Natur der Ungeheuer ist das Trauma, das sie verkörpern müssen. Seltsamerweise sind sie oft melancholisch, ja geradezu lebensmüde. Und zum Helden, der sie doch vom Leben zum Tode befördern wird, haben sie ein erstaunlich ambivalentes Verhältnis …