Pandora: Das schöne Übel

Über die dunklen Seiten der Vernunft

Wenn mit der Zivi­li­sa­ti­on die ersten Städ­te auf­kom­men, dann ver­kör­pert Pan­do­ra den Typus der mon­dä­nen Städ­te­rin. Sie steht alle­go­risch für die zuneh­men­de Viel­falt in den Geschlech­ter­rol­len. Dabei zeigt sich eine neue Dia­lek­tik, die von der Hei­li­gen und der Hure. — Pan­do­ra ist eine eben­so begna­de­te wie exal­tier­te Diva, ein selt­sa­mes Misch­we­sen, Göt­tin, Andro­idin und Mensch zugleich, auch ist sie der Pro­to­typ der ›weib­li­chen Frauen‹.

Heinz–Ulrich Nen­nen: Pan­do­ra: Das schö­ne Übel. Über die dunk­len Sei­ten der Ver­nunft. (Zeit­Gei­ster 3); Ham­burg 2019. Titel­bild: Dan­te Gabri­el Ros­set­ti: Helen of Troy (1863). Ham­bur­ger Kunst­hal­le. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. Im Hin­ter­grund brennt Tro­ja, sie­he hier­zu S. 59f.

Zu allen Zei­ten glaub­te man ohne viel Feder­le­sens zu ver­ste­hen, wer sie ist, was mit ihr los sei. Ent­spre­chend schnell sind ihre Inter­pre­ten mit Cha­rak­ter­stu­di­en fer­tig, die doch nur unzu­läng­lich sind: Ein durch und durch ver­ruch­tes Weib, eine Stra­fe der Göt­ter soll sie sein, mit der alle Übel in die Welt gekom­men sind… — So ein­fach kann man es sich machen, ganz so ein­fach ist es aber nicht. Es sind mit ihr näm­lich auch alle gött­li­chen Gaben vom Him­mel auf die Erde gebracht worden.

Die Ent­sen­dung der Pan­do­ra ist Teil einer zutiefst beein­drucken­den Göt­ter­däm­me­rung. Was der Mythos den Göt­tern da unter­stellt, könn­te als Geste kaum gene­rö­ser sein. Bevor sie abdan­ken, über­ge­ben sie zuvor noch alle ihre vor­ma­li­gen Zustän­dig­kei­ten — ganz. So erscheint die Sen­dung der Pan­do­ra in ande­rem Licht, als hät­ten die Göt­ter damit sagen wol­len: Dann macht doch alles selbst, wenn ihr ernst­haft glaubt, es bes­ser zu kön­nen als wir!

Pan­do­ra ist zwei­fels­oh­ne die Figur mit dem aller­größ­ten Deu­tungs­po­ten­ti­al, denn sie steht als Alle­go­rie für die Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen, für Wil­lens­frei­heit und dabei vor allem für jenen fra­gi­len Indi­vi­dua­lis­mus, der erst sehr viel spä­ter mit der Moder­ne voll­ends zum Aus­druck kom­men wird. Sie ist unver­gleich­lich in jeder Hin­sicht, als Künst­le­rin, als Intel­lek­tu­el­le, als Frau, Femme fata­le, als Muse und Freun­din, aber auch ›nur‹ als Mensch.

Als schö­nes Übel ver­kör­pert Pan­do­ra gedie­ge­nen Luxus. Wie auch anders? Sie ist in allen ihren Attri­bu­ten gött­li­cher Natur! Auf­grund ihrer Schön­heit, ihrer Attrak­ti­vi­tät, ihrer Bedeu­tung und nicht zuletzt auf­grund ihrer Talen­te ist sie nicht von die­ser Welt. Aber sie wird nicht auf­grund ihrer gött­li­chen Attri­bu­te geschätzt, son­dern nur wegen der mit­ge­brach­ten Güter.

Für die Übel wird sie nur zu gern ver­ant­wort­lich gemacht. Anson­sten ent­spricht alles dem neu­en Frau­en­bild, daß sich erfolg­rei­che Jäger nur zu sehr gern mit ihr schmücken. Ihre ver­bor­ge­nen Kapa­zi­tä­ten wer­den nicht gese­hen. Eigent­lich ist sie nur eine Tro­phäe wie die Hele­na, nichts wei­ter als ein Zei­chen des Erfolgs. — Wer die Schön­ste aller Frau­en in sei­nen Besitz brin­gen konn­te, war damit auch der Mäch­tig­ste unter denen, die sei­ner­zeit die­ses Pro­jekt in Gang gesetzt hat­ten, das sich seit­her immer wei­ter selbst perpetuiert.