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    Technikethik

    Technikethik:

    Technische Entwicklungen kontrovers reflektieren

    Kolloquium 

    WS 2021 | donnerstags | 14:00–15:30 | Online
    Beginn: 28. Okt. 2021 | Ende: 10. Febr. 2022

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    Von Verantwortung ist immer wieder die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles andere als vertrauenserweckend. Der gute Wille allein genügt nicht. Zu unterscheiden sind mindestens das Subjekt der Verantwortung, der Verantwortungsbereich und die Verantwortungsinstanz, (ehedem Gott und jetzt?).

    Es gilt näher hinzusehen, wenn wir Fragen der Verantwortung angehen wollen, denn der Begriff ist mehrdimensional. Der Karlsruher Technikphilosoph Günter Ropohl hat das Ganze auf eine Formel mit sieben Variablen gebracht: Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann, wie? Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Wie weit geht ihre (persönliche) Verantwortung wirklich?

    Dieses Kolloquium soll Fragen der Technikethik praktisch erfahrbar machen. Das wird anhand von Fallstudien aus ihren eigenen zukünftigen Berufsfeldern geschehen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren lassen. Dabei kommt es weniger auf das Ergebnis an, sondern auf die Qualität und den Austausch der vorgebrachten Argumente.

    Betreiben wir also Technikethik ganz konkret. Nehmen wir uns reale Situationen vor: seien es der Abgasskandal, Stellungnahmen zum Einsatz von Genmanipulation, der Einsturz der Brücke in Genua, Unfälle im Rahmen von Fahrten mit autonomen Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmittelbar dabei und hätten etwas zu sagen. Inszenieren wir die Kontroversen, in denen Techniklinien gestaltet werden, um sie am eigenen Leib zu
    erfahren. Die Veranstaltung soll Ihnen dazu dienen, Erfahrungen zu machen, die später womöglich auf Sie zukommen. Es ist dann fast wie ein Privileg, sich später daran zurückerinnern zu können, so etwas Ähnliches schon einmal durchgespielt zu haben.

    Nein, wir müssen es nicht.
    Aber?
    Aber wir werden es machen.
    Und weshalb?
    Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt,
    ob wir es wirklich können.

    (Hans Blumenberg)

    Dirck van Baburen: Prometheus wird von Vulkan angekettet (1623). — Quelle: Public Domain via Wikimedia. — Prometheus, der Gott des Fortschritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Aufsicht des Götterboten Hermes, vom Gott der Technik Vulkan an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet. Sein Vergehen: Er hat aus Menschenliebe die Technik zu den Menschen gebracht. Diese sollten darauf den Fortschritt einige Jahrtausende nicht mehr zu Gesicht bekommen.

    Die Zeiten sind vorbei, als Ingenieure und Ingenieurinnen fast jede weitere Verantwortung noch zurückwiesen mit den Worten, sie würden die Technik nur herstellen, seien aber nicht verantwortlich dafür, was daraus würde. — Aber machen wir uns nichts vor, Versuche, den technischen Fortschritt auf ›bessere‹ Bahnen zu lenken, gab es viele. Unvergessen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die Rolle einer Fahrradbremse am Intercontinental Flugzeug. 

    Forderungen nach Ethik, Verantwortung, Technikfolgenabschätzung, nachhaltigem Wachstum und Kilmaschutz werden tagtäglich erhoben und sind nicht unproblematisch, denn es ist auch Überforderung im Spiel. Wofür sind wir als Einzelne verantwortlich und wie soll denn die Gesamtverantwortung wahrgenommen werden? Allmählich wird es Zeit. Wer gibt die Technikziele vor oder generieren sie sich selbst?

    Was viele Verschwörungstheorien noch unterstellen: Es gibt sie nicht, die Schaltzentralen der Macht, in denen die Ziele des Fortschritts vorgegeben, der Kurs eingestellt und die Entwicklungen koordiniert werden. Zweifelsohne spielen Technik und Wirtschaft eine große Rolle, aber auch Politik und Kultur.

    Der blaue Planet ist zur Anthroposphäre geworden. Inzwischen wurde bereits ein neues Erdzeitalter ausgerufen, das Anthropozän. Die Zivilisation ist nunmehr alles entscheidend für das Schicksal des ganzen Planeten und die Zukunft der Menschheit. Die Erde ist zum Raumschiff geworden. Wir rasen durch einen lebensfeindlichen Raum, hinter uns eine erst kurze Episode der Zivilisation und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kollisionskurs geht.

    Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navigation vorgenommen wird, wenn wir dorthinein gelangen könnten, es wäre der Schock unseres Lebens. Denn die Pilotenkanzel ist leer, alles steht auf Autopilot und niemand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steuern. Dabei ist das Ganze keineswegs nur eine Frage der Technik, sondern auch eine von Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur, Wissenschaft und vielem anderen mehr.

    Jan Cossiers: Carrying Fire (ca. 1630). Prometheus stiehlt das Feuer aus der Werkstatt des Vulkan. Es ist nicht das Herdfeuer, das hatten die Menschen schon sehr lang. Es ist das Metallurgenfeuer, womit die Bronzezeit begann und
    dann auch die Zivilisation. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Daher genügt es längst nicht mehr, einfach nur ›gute‹ Technik zu machen, Probleme pragmatisch zu lösen, im Sinne des ›state of the art‹ zu entwickeln, Normen und Vorschriften einzuhalten usw. usf. — Darüber hinaus stellt sich vor allem auch die Frage, wie weit denn die persönliche Verantwortung reichen soll. Es ist nicht allein die Technik, die den Fortschritt bestimmt, es sind viele verschiedenen Faktoren, die eine Rolle spielen. — Die Rollen im Mythos vom Prometheus, der den technischen Fortschritt zur Darstellung bringt, lassen die Zusammenhänge erahnen.

    Da ist der Menschenfreund Prometheus, der mit besten Absichten die Entwicklung anfacht, aber eigentlich nicht sehr glücklich agiert. Da ist Vulkan, der Techniker, der alles tut, was ihm aufgetragen wird. Er murrt zwar, als er den geschätzten Kollegen anketten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambivalentes Verhältnis zur Menschheit hat und daher hin und hergerissen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athene, die Göttin der Weisheit, die den neuen Zivilisationsmenschen eine Seele einhaucht. Sie spendet auch die Wissenschaft und die Vernunft. Außerdem ist da noch Pandora, die mit allen Gaben Beschenkte, die die Gaben der abdankenden Götter zu den Menschen bringt, aber eben auch die damit verbundenen Übel. Und da ist noch Epimetheus, ein Melancholiker, der sich in Pandora verliebt. — Das dürfte genügen, die verschiedenen Seiten und Interessen zu charakterisieren, die dafür sorgen, daß der Fortschritt eben einen bestimmten Gang nimmt.

    Als der Münchener Soziologie Ulrich Beck im Jahre 1958 den Eintritt in die Risikogesellschaft diagnostizierte, sah er den technisch–ökonomischen Fortschritt überlagert von immer größeren, ungeplanten Nebenfolgen, grenzüberschreitenden Umweltproblemen und globalen Folgen Es gibt inzwischen einen Grad an Komplexität, der sich nicht mehr steuern oder gar beherrschen läßt. Eigentlich müßten alle unsere Innovationen unterhalb dieser Schwelle bleiben, aber das Gegenteil ist der Fall. Also wofür sind Techniker, Ingenieure und Ingenieurinnen wirklich verantwortlich? Welcher Teil der Verantwortung fällt anderen zu?

    Harry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wurde von Vulkan eine Frau erschaffen, mit allen Gaben der Götter ausgestattet und von Hermes zu den Menschen gebracht. Sie brachte jedoch nicht nur die Fähigkeiten der Götter, sondern auch die damit verbundenen Übel auf die Erde. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist keine unproblematische Entwicklung, daß in den letzten Jahrzehnten immer mehr Verantwortung auf Einzelne übertragen wurde, während die Gesamtverantwortung sich immer weiter verflüchtigt. Wer verantwortlich sein soll, muß gestalten, muß auch anders entscheiden können, erst dann kann Verantwortung zugeschrieben werden. — Insofern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz praktisch umgegangen werden kann, ist das andere. Sich verantwortlich zu fühlen für Verhältnisse, die nicht in der eigenen Macht stehen, ist daher nicht unproblematisch. Wer Verantwortung übernimmt, muß ›Nein sagen‹ können oder ›So nicht!‹.

    In diesem Seminar sollen solche Konflikte in Wertfragen, Zielkonflikten und der moralischen Integrität durchgespielt werden. Das geschieht anhand von Beispielen einschlägiger Dilemma–Situationen. Mitunter sind die Rahmenbedingungen schon problematisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedingungen schlechter Kommunikationsverhältnisse und aus Sorge um die eigene Reputation fachlich kompetent und moralisch integer zu handeln. Dazu bedarf es einiger Erfahrungen, die genauso wichtig sind wie das ganze technische Know–how.

    Dazu hat der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß eine hilfreiche Unterscheidung geprägt: Zum technischen Verfügungswissen gehört auch ein ebenso wichtiges Orientierungswissen. Das eine sagt uns wie, das andere aber wozu.  — Mitunter geraten aber das Wie und das Wozu in Widersprüche. Die Technikgeschichte ist voll solcher Beispiele, wo erst sehr viel später sich Nebenfolgen mit kolossalen Wirkungen zeigen, bis sie endlich wahrgenommen und thematisiert werden.

    Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, ob es nicht doch eine ›bessere‹ Technik gibt, eine, die von vornherein weniger Nebenfolgen hat. Technikutopien sind daher eine wichtige Orientierungshilfe, vor allem dann, wenn kritisch damit umgegangen wird. Wesentlich ist es, die verschiedenen Aspekte erörtern zu können und nicht zuletzt, andere zu überzeugen. Dazu ist kritisches Denken erforderlich. Daher geht es um die ethische, politische, ökonomische und ökologische Verantwortung im Ingenieurwesen. Erst das macht ›gute‹ Technik möglich, ein ›gutes‹ Gewissen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

    Bandicoot Robot: Converting manhole to robohole (2018). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

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    Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

    Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

    Vom Clan zum globalen Dorf: Emanzipation ist Selbstorientierung

    Philosophie motiviert den Mut, durch Selbstorientierung über sich selbst hinauszuwachsen, sich immer weiter zu emanzipieren von jeder Fremdbestimmung durch Natur, Clangeist, Gemeinschaft oder Gesellschaft, bis hin zum Staat, der auch nicht unbedingten Gehorsam verdient, allzumal, wenn dieser notwendigen Entwicklungen im Wege steht. Philosophie ist wie ein guter Geist in finsteren Zeiten, der Zuversicht vermittelt, in der Emanzipation, der Individuation, der Selbstorientierung und im Wunsch nach einer Glückseligkeit, die es mit der der Götter aufnehmen kann.

    Flammarion. Holzstich eines unbekannten Künstlers. In: Camille Flammarion: Die Atmosphäre. Populäre Meteorologie; Paris 1888. S. 163. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Philosophie muß nachvollziehbar sein, sie sollte sich daher in aller Offenheit entwickeln. Wir können Vernunft nicht besitzen, wir können uns nur bemühen, ‘vernünftig zu werden’, indem wir uns auf Dialoge und Diskurse einlassen, in denen die Ratschlüsse der Vernunft erst zustande gebracht werden müssen. Es geht um das entscheidende Orientierungswissen, und wo das nicht hinreichend ist, sind Diskurse über Orientierungsorientierung erforderlich.

    Selbstwerdung, Selbstorientierung steht auf dem Programm. Das kann nicht nur, das muß stets individuell vonstatten gehen. Nicht von ungefähr wird jede Philosophie argwöhnisch betrachtet, vor allem, wenn sie sich anschickt, ihren Kopf durch die Wolkendecke der vorgegebenen Weltordnung zu stecken.

    Im Verlauf der Anthropogenese, der Kultur– und der Zivilisationsgeschichte, läßt sich eine Tendenz von der Heteronomie zur Autonomie beobachten. Mit neuen Techniken kommen neue Lebensweisen auf und mit ihnen neue Götter und neue Anschauungsformen. Was zuvor ausgeschlossen schien, wird möglich, was zuvor üblich war, kann schnell obsolet werden.

    Es versteht sich, daß jeder Wandlungsprozeß immer Verlierer und Gewinner erzeugt. Etablierte Autoritäten können fast über Nacht eine zuvor noch unumstrittene Anerkennung einbüßen. Neue Leitbilder entstehen, die stets an den Bruchlinien zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verlaufen, aber auch an denen zwischen Individuum und Gesellschaft. Gerade mit dem Individualismus, der allmählich in den Städten aufkommt, gehen immense subjektive und intersubjektive Belastungen einher.

    Mit jeder neuen Zeit betreten neue Götter und Priesterschaften die Bühne der Kulturgeschichte: Das war so, als die Schrift erfunden wurde und neue Götter aufkamen, die im Buch des Lebens lesen und zu Gericht sitzen sollten, doch vor allem, um die Verhältnisse in den neuen urbanen Welten zu stabilisieren.

    Im Verhältnis zur tierischen Herkunft liegt das Geheimnis des Menschseins darin, daß wir mithilfe von Sprache und Kultur allmählich alle erdenklichen Erfahrungen, die einzelne Menschen jemals gemacht haben, miteinander teilen, nachvollziehen und uns leibhaftig aneignen können. Zivilisation steigert die Prozesse der Erfahrung von Erfahrungen um ein Vielfaches. Das verschafft sehr viel mehr Lebens- und Ausdrucksmöglichkeiten, es erzeugt zugleich aber auch sehr viel mehr Unsicherheit. Insofern ist Zivilisation wie ein Joker, alles Lernen, jede Erfahrung, Einsichten, Erkenntnisse und Impressionen zählt plötzlich sehr viel mehr, weil, wenn und sobald wir sie mitteilen, also mit anderen teilen können.

    Thomas Cole: The Course of Empire. Third Episode: The Consummation of Empire. 1835/6, New–York, Historical Society. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Der Staat muß alle diese Koexistenzen gewährleisten, und er wird kollabieren, wenn es ihm nicht gelingt, eine Vielfalt von Gemeinschaften in und mit ihren Interessen dauerhaft miteinander zu vergesellschaften. Der Staat kann zwar nicht wissen, was die Gesellschaft umtreibt, aber es ist seine Aufgabe, ihr zu dienen und nicht über sie zu herrschen. Ihm fehlt schlichtweg die Phantasie, auch nur annähernd beurteilen zu können, was gerade gesellschaftlich von Bedeutung ist, warum und wozu.

    In diesem Kontext spielen neue Überwachungs– und Spionagemöglichkeiten, insbesondere der Einsatz von Künstlicher Intelligenz eine wegweisende Rolle. Auf der Agenda der Weltgeschichte steht die Alternative: Entweder Totalitarismus oder Demokratie, entweder Misanthropismus oder Humanismus.

    Derzeit schlittern nicht wenige auch westliche Staaten auf den Weg in die umfassende Überwachung des Öffentlichen Raums und aller sozialen Netze. Nie war die Gelegenheit so greifbar, göttergleich alles zu sehen, zu wissen und zu deuten, um damit zu machen, was auch immer irgendwelchen Machthabern gefällt, wenn, wo und solange sie nicht durch rechtsstaatliche Sicherungen, Verfassungen und Gerichte davon abgehalten werden.

    Manche denken auch daran, den Prozeß der Zivilisation zu stoppen und die ganze Entwicklung mehr oder minder wieder umzukehren oder sie einzufrieren wie die Amischen, eine täuferisch–protestantische Glaubensgemeinschaft, die den Fortschritt stillgestellt haben kurz vor Einführung von Auto und Elektromotor.

    Thomas Cole: The Course of Empire. Fourth Episode: Destruction (1836). New–York, Historical Society. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Tatsächlich sind Verluste zu verzeichnen, die im Prozeß der Zivilisation mit aufgekommen sind, wovon einige äußerst schmerzhaft sind. Eigentlich entspricht es dem Wesen jener Kulturen, die vor jeder Zivilisation ihren Bestand hatten, Geschichte als solche erst gar nicht aufkommen zu lassen. – Also wurde jede Dynamik verhindert, kein Ungleichgewicht sollte aufkommen und wo doch, dort wurde alles unmittelbar wieder ausgeglichen durch Opfer, die das Errungene gleich wieder neutralisierten, auf daß keine ‘Geschichte’ in Gang kommen kann.

    Nach dem Bruch mit dem Geist geschichtsloser Kultur sind immer wieder Versuche dazu gemacht worden und ebenso oft sind sie gescheitert. Offenbar gelingt es später nicht mehr, aus der Dynamik auszusteigen, um wieder ein alles umgreifendes geistiges umgreifendes Gleichgewicht zu schaffen und in einer Kultur als gelebtes Leben zu etablieren.

    Utopien spielen mit diesen Visionen, sie spekulieren wie Sisyphus darauf, daß es >einmal< doch gelingen kann. – Sobald es aber wirklich ernsthaft versucht worden ist, Utopien in die Tat umzusetzen, bleibt davon oft nur schlechter Utopismus.

    Aus der Zivilisationsgeschichte zu lernen bedeutet viel, u.a. zu wissen, daß es nicht gelingen kann, nach mittelalterlichem Muster die Gesellschaft in eine Zwangsgemeinschaft zu verwandeln. Differenzen lassen sich weder religiös noch ideologisch einfach verbieten. Die einzige Möglichkeit den Geist einer alles umgreifenden humanen Kultur aufkommen zu lassen, wäre die einer humanen Demokratie, in der Partizipation gelebt wird.

    Conchita Wurst für Österreich mit dem Lied „Rise Like a Phoenix“ bei der er- sten Kostümprobe für das Finale des Eurovision Song Contest 2014 Kopen- hagen. — Quelle: Albin Olsson, Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Public Domain via Wikimedia.

    Im Prozeß der Psychogenese kommt ganz allmählich immer mehr Individualität auf. Zunächst langsam, dann immer schneller wird eine historische Dynamik entfacht, die sich inzwischen selbst perpetuiert. — Von Epoche zu Epoche werden immer neue Ansprüche auf persönlichen Ausdruck immer radikaler geltend gemacht, gegen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft. Erst diese Differenzen bringen die Zivilisationsgeschichte in Gang. Sie generieren die Dynamik der Zivilisationsgeschichte und beschleunigen die Wandlungsprozesse inzwischen immer mehr.

    Gegenwärtig bringen Debatten über individualistische, singuläre Identitäten zusätzliche Irritationen mit sich und lösen einen weiteren Schub der Individualisierung aus. — Nachdem die binäre Differenzierung, entweder weiblich oder aber männlich ›sein‹ zu müssen, immer weiter dekonstruiert wurde, werden verschiedene Aspekte des Männlichen und Weiblichen beliebig miteinander kombinierbar. Zugleich steigt damit aber auch die allgemeine Verunsicherung.

    Es geht inzwischen nicht mehr nur um Individualität, sondern immer mehr auch um die Selbstinszenierung der eigenen Singularität und darum, gegen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft ganz neu motivierte Forderungen auf Achtung, Anerkennung und Schutz geltend zu machen. — Auch die Individualisierung kommt im Prozeß der Zivilisation auf, sie ist das eigentliche Movens. Die Lebensverhältnisse wandeln sich, also läßt sich auch die ganze Selbstorientierung verändern. Nach diesem Metaprinzip bricht jede Individuation mit ›altehrwürdigen‹ Traditionen.

    Zugleich kommt allgemeine Verunsicherung auf, weil immer auch Erwartungssicherheiten darüber verloren gehen und immer mehr Ambivalenzen und Ambiguitäten spürbar werden. Gerade die ganz neuen Freiheiten, Individualisierungen und Singularitäten haben einen besonders hohen Preis, weil zusätzliche psychische aber auch soziale Belastungen damit aufkommen.

    Jede neue Freiheit geht mit Freiheitsschmerzen einher. Sich etwas davon ›herauszunehmen‹, damit Irritationen auszulösen und womöglich auch Zorn auf sich zu ziehen, ist das eine. Neue und andere Maßstäbe aber auf Dauer zu leben, ist etwas ganz anderes. — Individuation ist das treibende Moment, das den Prozeß der Zivilisation zunächst überhaupt erst in Gang gebracht hat und ihn seither durch immer neue Spannungen und Widersprüche immer schneller über sich hinaustreibt.

     

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    Welche Werte zählen nach Corona

    Unter Corona wurde „Nähe“ paradox:  Zuvor hieß es immerzu, man solle sich berühren lassen, Nähe zulassen und dann kamen die Masken und das Abstandhalten.

    Das hat viel ausgelöst: Alte Werte gehen unter, andere treten auf.  Innere Werte werden wichtiger, Äußerlichkeiten geraten ins Hintertreffen. Es fehlten echte und tiefe Begegnungen, in denen Gefühle tatsächlich mitgeteilt werden. Die Corona-Krise hat viele Ängste, Zweifel, Sorgen und Nöte bewußt gemacht, die bislang verdrängt wurden.

    Die Corona-Krise hat eine innere Einkehr erzwungen, die selbst zum Problem wurde. Viele möchten, wollen und können sich mit dem eigenen Selbst aber nicht auseinandersetzen. Dann kämen Fragen auf, die bodenlos scheinen, obwohl sie es eigentlich nicht sind. – Albert Camus spricht von „Selbstmord“, ohne sich tatsächlich umzubringen. Das Aufgehen in permanenter Sorge ist ein solcher Fall, sich durch Selbstüberforderung permanent abzulenken vom eigenen Selbst.

    Viele Meistererzählungen schildern dieses Wagnis, sich tatsächlich auf die imaginäre Reise zu begeben, um dem eigenen Selbst zu begegnen. Es gilt, sich wirklich mit dem dunklen Selbst auseinanderzusetzen und sich nicht abzulenken von dem, was unsere eigentliche Aufgabe wäre, unsere inneren Werte zu suchen, zu finden und zu entfalten.

    Woher stammen eigentlich die eigenen Werte? Wir glauben zu wissen, wie eine romantische Begegnung auszusehen hat und inszenieren sie nur. Wir glauben zu wissen, wie ein Kuß ausschauen muß, um als Ausdruck von Zuneigung, Liebe oder Begehren zu gelten. Immerzu geht es nur um die Inszenierung von etwas, das erstrebenswert scheint.

    Das zur Sprache zu bringen, habe ich mir theoretisch und praktisch zur Aufgabe gemacht in einer Kombination, die ich als philosophische Psychologie betreibe.

     

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    Worauf es wirklich ankommt.

    Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

    In einer Krise zeigt sich, wer wir sind und worauf wir uns wirklich verlassen können und wie stabil die Verhältnisse wirklich sind.  Ob wir es wollen oder nicht:  Krisen sind Bewährungsproben, dann zeigt sich, ob wir uns anpassen, verändern oder vielleicht sogar über uns hinauswachsen können.

    Reden stärkt, vor allem Verstehen.  Angst schwächt, ebenso wie Hetzkampagnen, das alles verwirrt und schmälert die Kräfte.  – Neue Stärken entstehen, sobald wir lähmende Ängste behutsam überwinden.

    Eine Krise kann vorübergehend sein, im psychologischen Sinne sind Krisen jedoch nur der Anfang umfassender Wandlungsprozesse. – In Märchen und Mythen macht die Krise den Anfang, dann folgt zunächst die Katharsis und darauf die Transformation.

    Vor allem für die Pädagogik zeigen die Erfahrungen der letzten 15 Monate, daß die Welt von Menschen gemacht und zu verantworten ist. Auch die Menschenbilder, die Unkultur öffentlicher Debatten, der Rückfall in fast religiöse Ängste, das alles gibt zu denken.

    Diese Welt, so wie sie ist, hat keine Zukunft. Dabei ist die Klimafrage nur wie die Spitze eines Eisbergs. Wichtig wäre es, endlich auch in der Politik ein positives Menschenbild an den Tag zu legen, wie es in Pädagogik und Psychologie schon seit den 70er Jahren üblich ist. Staat, Politik und Behörden gehen aber immer noch vom Obrigkeitsstaat aus, wenn sie meinen, mündige Menschen vor sich selbst schützen zu müssen.

    Das Bild vom Guten Hirten und seiner Herde ist obsolet, es sollte den vielen Autokraten überlassen werden. Der in der Corona-Krise erstarkte Staat wird bleiben. Daher müssen die Gegengewichte gestärkt werden, also brauchen wir mehr Demokratie und mehr Gerichtshöfe, an denen sich Staat und Politik rechtfertigen müssen.

    Das wird aber alles nicht reichen, wenn man bedenkt, was eigentlich alles inzwischen zur Neige geht. Allerdings war die Zivilisation, seit sie vor 12.000 Jahren entstand, immer schon eine instabile Angelegenheit.

    Vor allem jene Entwicklungen, auf die Pädagogik, Psychologie und Philosophie besonders Wert legen, sind überhaupt nicht mitgekommen. –  Das Fehlende nachzuholen ist und bleibt eine Aufgabe, in der es vor allem sehr viel sehr professionelle Pädagogik braucht. Schließlich ist jeder Mensch einzigartig, darin liegen Hoffnungen, nur niemanden zu verlieren.

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    LIVE! music, life et cetera…

    Hemingway Lounge | Uhlandstr. 26 | 76135 Karlsruhe

    LIVE! . music, life et cetera . 

    Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen: “Von Freiheitsliebe und der Sehnsucht nach Kontrolle” .

     
    Ullrich Eidenmüller im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

     

    Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt verändert und wird sie noch verändern? Welche Tiefen hat das Virus in der Gesellschaft bloßgelegt? — Könnte es zu solchen Fragen am Beginn der „Rückkehr der Freiheit“ einen kompetenteren Gesprächspartner geben als ein Professor für Philosophie an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)?

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen Gesprächspartner von Ullrich Eidenmüller beim traditionellen Talk in der Hemingway Lounge sein. Der Philosoph, der seine Zeitgeist–Analysen seit Jahren aus seinem Wohnmobil am Kanal in Münster schreibt, analysiert die Auswirkungen auf das tägliche Leben, den „Verlust an Nähe, den wir zu verkraften haben, die Unkultur der Verunglimpfung Andersdenkender, das frühe Schließen der gesellschaftlichen Diskurse schon im März 2020“.

    Freuen Sie sich auf ein spritziges und tiefgehendes Gespräch in der wiedereröffneten Lounge, untermalt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen mitbringt.

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    Heilsame Phase innerer Einkehr

    Die Pandemie zwischen kritischer und positive Betrachtung

    Interview, Vorarlberger Nachrichten,  5. Juni 2021

    Die Pandemie zwischen kritischer und positiver Betrachtung.

    Es ist sehr viel die Rede von einer verlorenen Generation. Ist es wirklich so schlimm? 

    NENNEN Wer von einer „verlorenen Generation“ spricht, stellt einen Vergleich her, der nicht angemessen sein kann. Bezeichnet wurden damit die Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs. Erst allmählich verstehen wir, was das bewirkt hat an Leiden. Da sind nicht physische, sondern psychische Existenzen auf Dauer vernichtet worden. Wir können heute erst allmählich nachvollziehen, was Traumatisierung eigentlich bedeutet. Erschreckend ist vor allem eines: dass so etwas weitergegeben wird, weil eine Generation überfordert ist mi der Aufarbeitung solcher Erlebnisse.

    Oft verwehren sich Jugendliche gegen eine solche Bezeichnung. Ist die Jugend doch stärker, als wir es ihr zutrauen?

    NENNEN Es kommt immer auf die Relation an. Corona hat die üblichen Erwartbarkeiten erheblich verunsichert, gerade das würde ich nicht als schlimm betrachten, sondern eher als Chance. Unsichere Zeiten bieten immer auch neue Möglichkeiten. Wir leben ohnehin in einer Zeit, in der die Jugend im Aufwind begriffen ist. Corona war nur eine Verzögerung des anstehenden Generationenwechsels.

    Insofern ist es ein solider Selbstbezug, sich nicht in die Opferrolle drängen zu lassen. Es ist keine verlorene, es ist eine kommende Generation. Was mir aber von Studierenden mitgeteilt wird, zeigt, dass die Belastungen gerade für die unter 30–Jährigen ganz erheblich sind.

    Können/sollten da nicht eher die Erwachsenen etwas lernen?

    NENNEN Allerdings. Es sind von Anfang an in der Coronakrise bestimmte Zeichen gesetzt worden, die ein generelles Misstrauen in die Jugend signalisiert haben. Das widerspricht den Prinzipien humaner Pädagogik und humaner Psychologie. Offenbar sind Gesellschaft und Staat noch immer nicht reif genug, vom Obrigkeitsdenken abzusehen.

    Aber dieser Paradigmenwechsel ist längst überfällig. Es ist zu erwarten, dass vieles, was bislang für unmöglich gehalten wurde, plötzlich nicht nur machbar, sondern lebbar werden kann.

    Wo spielt sich der größte Wandel ab, wenn es denn einen solchen gibt?

    NENNEN Der größte Wandel spielt sich in Machtfragen ab. Fast über Nacht sind Politik und Staat ermächtigt worden, die Geschicke der Gesellschaft nicht nur zu bestimmen, sondern auch zu formen. Das wird so bleiben. Die Krise hat uns vor Augen geführt, wie verwundbar unsere Systeme sind. Das Gleichgewicht der Gewalten ist gestört, daher müssen die Gegengewichte stärker werden. Wir brauchen mehr Partizipation, auch Basisdemokratie und vor allem auch mehr Richter und richterliche Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Pandemie wurde viel von neuen Tugenden gesprochen, wie Entschleunigung, bewussteres Wahrnehmen von allem usw. Was wird davon bleiben?

    NENNEN Es war eine heilsame und immer wieder verlängerte Phase der inneren Einkehr. Man konnte die Erfahrung machen, was so alles von den vielen Selbstverständlichkeiten eigentlich auch verzichtbar sein kann. Aber Corona war nicht gleich und schon gar nicht gerecht, es hat die Schwächeren sehr viel härter getroffen. Darauf muss eine Gesellschaft reagieren, und der Staat hat die Aufgabe, ihr dabei zu helfen.

    Gibt es Werte, von denen wir uns trennen sollten?

    NENNEN Einige Haltungen, die zuvor noch Anerkennung fanden, haben sich selbst ad absurdum geführt: Konsumismus ist nicht Freiheit, Neoliberalismus ist nicht Verantwortung, Misanthropismus ist nicht Sorge, Glaubenskriege sind keine Diskurse. Das alles hilft überhaupt nicht, den Weg in eine Zukunft zu finden, in der die Menschheit allmählich den Weg zur Selbstverantwortung finden und gehen sollte.

    Welche Werte sind es wert, beibehalten zu werden?

    NENNEN Die „Werte“, von denen immerzu gesprochen wird, sind oft nicht wirklich die eigenen. Wir alle glauben zu wissen, wie Familienglück, Mutterliebe, wie Jugend, Liebe oder eine romantische Situation perfekt auszusehen haben, und wir alle können uns dabei beobachten, wie wir entscheidende Situationen so inszenieren, dass sie auch tatsächlich „richtig“ aussehen. Kurzum, wir inszenieren uns und unser Leben nach Maßstäben, die nicht die eigenen sind. Ich möchte in meinem Vortrag eine elementare Kritik an der Selbstorientierung, wie sie gerade gelebt wird, vorbringen. Zugleich möchte ich Wege weisen, wie es möglich sein könnte, tatsächlich zu sich selbst zu finden. 

    Was sollte uns die Pandemie gelehrt haben?

    NENNEN Wir sollten endlich gesehen und erkannt haben, wie kostbar menschliche Verbindungen sind und wie sehr es auf Berührungen ankommt, im umfassenden Sinne des Wortes. Das ist meines Erachtens die eigentliche Lehre aus der Pandemie.

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    Grundrechte in der Corona-Krise

    Das Schweigen der Richter

    Von der Mondlandung bis zum Lockdown

    Wer die Mondlandung am Fernseher live miterlebt hat, hat vielleicht auch dieses Erweckungserlebnis. Wenn so etwas möglich war, dann schien eigentlich alles machbar. Dann kam es 1972 mit den Studien des Club of Rome zu einer Fundamentalkrise aller dieser Hoffnungen. — Auch das Grundgesetz hatte immer etwas von dieser Mondlandung, es war und ist eine überzeitliche Leistung mit Ewigkeitscharakter. Dieses Sicherheitsgefühl hat sich gehalten, wohl weil die Performance stets stimmig schien, wenn >Karlsruhe< sprach.

    Leben oder Freiheit – Ist die Corona-Politik mit dem Grundgesetz vereinbar? — SWR2-Forum,

    Thomas Ihm diskutiert mit

    Gigi Deppe, SWR-Rechtsexpertin,
    Prof. Dr. Christian Kirchberg, Rechtsanwalt
    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen, Philosoph

    Das hatte etwas von Delphi, wo die Priester in ihren Sitzungen darüber berieten, was Apollo als Herr des Hauses wohl gesagt haben würde. Allerdings ist ein Orakel wie das von Delphi auch nur ein Unternehmen mit dem Bestreben, möglichst immer wieder konsultiert zu werden. Und 1000 Jahre kamen Menschen und Staatsvertreter aus dem ganzen Mittelmeerraum mit höchst entscheidenden Fragen, es kann also kein Hokuspokus gewesen sein.

    Wenn die Richter in den roten Roben zusammentragen, dann hatte das etwas von dieser Aura: Immer wenn bewegende Urteile anstanden, fand sich mitunter auch eine Spur jener Weisheit, wie sie nun einmal einer letzten Instanz anstehen. — Auch das ist kein Hokuspokus, erforderlich ist gutes Handwerk, hohe Intelligenz, Diskursvermögen und vor allem eines, der gemeinsame Wille im Kollegium, herauszubringen, was wohl die Stimme der Vernunft gesagt haben würde.

     

    (Mein Beitrag beginnt ab: 23:30)

     

    Tiefen und Untiefen der Corona-Krise
    Online-Diskussion vom 9. Februar 2021.  Einf. u. Mod.:  Ullrich Eidenmüller,

    1. Vorsitzender des Fördervereins FORUM RECHT e. V.
    Referenten:
    Prof. Dr. Christian Kirchberg (* 1947), Rechtsanwalt in Karlsruhe und Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer.

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen (* 1955), Professor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). 

    Blackout mit Notstromdiesel

    Wer am 31. Januar 2008 gegen 17:35 Uhr per Straßenbahn die Innenstadt von Karlsruhe auf dem Weg zum Hauptbahnhof passieren wollte, konnte erleben, wie ein Stromausfall sich vor Ort darstellt: Das Licht ging aus, die Bahn hielt mitten auf der Strecke, draußen war nichts mehr zu sehen. Spärliches Licht flackerte auf, die Umgebung wirkte gespenstisch. Nur schemenhaft war erkennbar, wie Personal an den Türen der Geschäfte sich postierte.

    Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).
    Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).

    Ich entschloß mich, die Notentriegelung der Straßenbahntür zu betätigen, auszusteigen und ein Taxi zu nehmen, um die Fahrt zum Bahnhof weiter fortzusetzen. Die Impressionen auf dieser Taxifahrt waren beeindruckend und lehrreich: Der Weg führte an der Badischen Landesbank vorbei. Sie war beleuchtet, die Notstromversorgung war also angesprungen. Dann fiel der nächste Blick auf das Bundesverfassungsgericht. Das Gebäude war hell erleuchtet, so, als wenn nichts wäre.

    Derweil lag die Universität Karlsruhe im Dunklen und nur das Rechenzentrum hatte spärliches Licht. Ein einziger Hotelflur war noch beleuchtet. — An einem Krankenhaus führte der Weg nicht vorbei. Dabei ist es wesentlich, daß gerade auch dort die störungsfreie Stromversorgung gewährleistet sein muß. Auch der Hauptbahnhof war hell erleuchtet, denn die Deutsche Bundesbahn verfügt über ein eigenes Netz und eigene Stromversorgung. Man hatte nicht einmal etwas bemerkt von der Störung.

    Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, wie fragil unsere soziotechnischen Welten eigentlich sind. Es braucht nur kleine Unbedachtsamkeiten, die zum Supergau führen können. – Ein warnendes Beispiel dazu sind die nicht überflutungssicher installierten Notstromaggregate der Kernkraftwerksblöcke 1–3 von Fukushima I.

    Multiples Systemversagen

    Wir erwarten von unserer Technik, daß Notfallsysteme automatisch hochfahren, das wird regelmäßig geprobt — in der Technik. Dabei sollten wir dieselben Anforderungen auch an die Sozialen Systeme stellen. Gerade in Krisen sind wir darauf angewiesen, daß schlicht und ergreifend längst Vorkehrungen getroffen worden sind.

    Immer wieder wurde die Unverbrüchlichkeit des Grundgesetzes beschworen. Planspiele und Szenarien für Ausnahmezustände wären besser gewesen als Sonntagsreden. Tatsächlich haben wir es mit einem multiplen Systemversagen zu tun. — Das Gleichgewicht der Kräfte ist in der Corona-Krise von Anfang an ins Ungleichgewicht geraten und es hat  >sich< auch nicht wieder eingependelt. Was das bedeutet, läßt sich an einem Plattenspieler erläutern, wenn auf der einen Seite der Tonarm, also die Exekutive und auf der anderen Seite das Gegengewicht, also die Judikative und vor allem auch die Legislative für den richtigen Ausgleich sorgen.

    Am 14. Mai 2020 hat das oberste Gericht zwei Verfassungsbeschwerden um Corona und Grundrechte nicht zur Entscheidung angenommen. Dabei boten gerade diese beiden, fast mustergültigen Verfassungsklagen die Gelegenheit für die Verfassungsrichter, sich generell in Sachen Corona zu äußern. Das hätte dann wiederum der Politik sehr viel mehr Orientierung gegeben.

    Durch Nichteinlassung haben die Karlsruher Richter jedoch selbst das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Legislative, Judikative, Exekutive und auch zwischen Bund und Ländern aus dem Gleichgewicht und außer Kontrolle gebracht. — Hätten die Richter sich überwunden, den Mut und die Weitsicht gefunden, im laufenden Prozeß der Corona-Krise das Spektrum des verfassungsrechtlich Gebotenen zu skizzieren, sie hätten die Politik davor bewahrt, zum Opfer der eigenen Angstpolitik zu werden.

    Schönwetterdemokratie?

    Das Parlament als Ort öffentlicher Meinungsbildung wurde kurzerhand ersetzt durch eine verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehene Ministerpräsidenten-Konferenz unter Leitung der Bundeskanzlerin, in der man seit einem Jahr alle entscheidenden Erwägungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit vornimmt. — Dabei wurde immer wieder der Föderalismus schlecht geredet, der allerdings ein unverfügbares Gebot der Verfassung darstellt. Am Beispiel von Frankreich läßt sich zeigen, was es bedeutet, wenn keine effektiven kommunalen Strukturen vor Ort vorhanden sind.

    Auch die immer wieder aufgebrachte Forderung nach Gleichbehandlung, ohne Rücksicht auf die vor Ort tatsächlich vorliegenden Verhältnisse, ist stets unwidersprochen erhoben worden. Dagegen kam nur noch durch die Länderhoheit überhaupt noch so etwas wie eine Pflicht zur Verhandlung ins Spiel. Insofern wurde das Land durch den Föderalismus vor einem radikalen Zentralismus mit noch mehr Kollateralschäden bewahrt.

    Alle diese Vorkehrungen der Gewaltenteilung sind vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Weimarer Republik und der Möglichkeit einer >Gleichschaltung< getroffen worden. Aus guten Gründen wurde ein durchdachtes Konzept von Checks and Balances mit dem Grundgesetz etabliert. Alle diese verbrieften Sicherungen durch das systematische Ausbalancieren der Gewalten galten bislang als vertrauenswürdig, verläßlich, ja eigentlich als robust und geradezu unverwüstlich. Dabei stellte sich im Zuge derCorona-Krise heraus, daß viel davon offenbar nur >gefühlteSicherheit< war.

    Die Vertrauenswürdigkeit des Grundgesetzes und seiner Organe wurde in Sonntagsreden immer wieder gefeiert. Als es aber zum Schwur kam, da schwiegen die hohen Richter. Das Mobilé der Gewalten kam aus dem Gleichgewicht und verhakte sich endgültig. Verhältnisse kamen auf, die nicht hatten möglich sein sollen, auch und gerade in einer Krise nicht. — Für den Satz >Not kennt kein Gebot< gibt es nicht einen einzigen denkbaren Anwendungsfall, weil eine Verfassung genau dann verläßlich sein muß, wenn es darauf ankommt. Wir leben nicht in einer Schönwetterdemokratie. Ganz offenbar fehlt allerdings ein fundamentaler Diskurs über Notstand und Grundgesetz. Kevin allein zu Haus

    Nun war die Politik ganz >allein zu Hause<. Keine anderen Gewalten, keine Lobbys und auch keine Kritiker mochten sich noch zu Wort melden, denn viele von ihnen waren bereits exkommuniziert. In den vielen Talkshows sah man immer wieder die Anspannung in den Gesichtern, bloß nicht ein womöglich verräterisches Wort zu benutzen, das unmittelbar zur Exkommunikation geführt hätte.

    Dieser Zustand ist eine sozio-kulturelle Katastrophe, denn diese Konstellation entspricht genau dem, wovor der Soziologe Niklas Luhmann immer wieder gewarnt hat: Angstkommunikation und Entdifferenzierung. Das bedeutet in Analogie nichts geringeres als ein multiples Systemversagen. Es ist ein Rückfall in den Absolutismus, wenn die Gesellschaft in künstliches Koma versetzt wird. — Die Politik ist völlig überfordert, sie kann nicht leisten, was sie sich da aufbürden läßt. Daher werden die Maßnahmen immer radikaler und immer endloser.

    Das Schweigen der Richter

    Gewaltenteilung, Föderalismus, Meinungsverschiedenheit, Diskurse, der Anspruch auf Selbstverantwortung und Mündigkeit, das alles sind keine Störungen, gerade in einer Krise nicht. Aber vielen wurde weisgemacht, daß dem so wäre. Manche gaben dem nach, andere blieben beim Zweifel und durch die Gesellschaft ging ein Riß, bei dem sich die unterschiedlichen Ansichten nicht mehr miteinander ins Gespräch bringen ließen. — Dabei ist gerade die Vielfalt der Hinsichten die alles entscheidende Bedingung für die Möglichkeit einer umsichtigen Politik und einer zeitgenössischen Kultur, die dem Untertanengeist, Fremdbestimmung und der Bevormundung endgültig Valet sagen sollte.

    Die Corona–Krise bietet auch eine Chance, den Untertanengeist in Deutschland endlich zu überwinden, den autoritären Charakter und vor allem das misanthropische Menschenbild. Warum übertragen wir nicht den Geist der Reformpädagogik auch auf ein neues Verständnis einer zeitgemäßen Politik? In Psychologie und Pädagogik wird spätestens seit den 70er Jahren nicht mehr mit Bevormundung, sondern mit Einvernehmen agiert.

    Wir müssen unbedingt unterscheiden zwischen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft. Wer das alles zusammenbringt, führt zumeist nichts Gutes im Schilde. – Ein Staat ist keine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft ist er nicht. Ungehindert vergeht sich der Staat nicht selten an der Gesellschaft, denn Staat und Gesellschaft ziehen nicht unbedingt an einem Strang. Daher ist die Verfassung so entscheidend, weil sie erst die Rahmenbedingungen schafft und sicherstellt, daß alle diese Gewalten getrennter Wege gehen müssen. Sie sollen nicht eins sein, sie sollen und müssen miteinander ringen: “Auditatur et altera pars” — Man höre auch die andere Seite. Das findet wiederum im Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes seine Entsprechung: Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.”

    Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit obliegt den Verfassungs- und Verwaltungsgerichten. Seit Beginn der Corona-Krise wurde erwartet, daß enorme Unverhältnismäßigkeiten konstatiert würden. Das war aber nicht der Fall. Auch war es nicht der Fall, daß klärende Worte durch oberste Richter gesprochen worden wären. — Ein nicht unbeträchtlicher Anteil an der Protestkultur läßt sich auch auf das Schweigen der Richter zurückführen und die Unsicherheit, in der die Gesellschaft sich selbst überlassen wurde.

    Die Corona–Krise ist ein umfassender, mehr als nur politischer, sondern vielmehr soziokultureller Konflikt von höchster Brisanz. Über Wochen und Monate wurden grundsätzliche Urteile und Einlassungen des Bundesverfassungsgerichts förmlich gewartet, aber nichts geschah. — Es mutet an, als hätten die Richter in den roten Roben, wie weiland der römische Stadthalter Pontius Pilatus, sich eine Schüssel mit Wasser reichen lassen, um die Hände in Unschuld zu waschen.

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    Technikethik

    Kolloquium 

    Technikethik

    Technische Entwicklungen kontrovers reflektieren

    SS 2021 | donnerstags | 14:00–15:30 | Online
    Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Von Verantwortung ist immer wieder die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles andere als vertrauenserweckend. Der gute Wille allein genügt nicht. Zu unterscheiden sind mindestens das Subjekt der Verantwortung, der Verantwortungsbereich und die Verantwortungsinstanz, (ehedem Gott und jetzt?).

    Es gilt näher hinzusehen, wenn wir Fragen der Verantwortung angehen wollen, denn der Begriff ist mehrdimensional. Der Karlsruher Technikphilosoph Günter Ropohl hat das Ganze auf eine Formel mit sieben Variablen gebracht: Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann, wie? Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Wie weit geht ihre (persönliche) Verantwortung wirklich?

    Dieses Kolloquium soll Fragen der Technikethik praktisch erfahrbar machen. Das wird anhand von Fallstudien aus ihren eigenen zukünftigen Berufsfeldern geschehen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren lassen. Dabei kommt es weniger auf das Ergebnis an, sondern auf die Qualität und den Austausch der vorgebrachten Argumente.

    Betreiben wir also Technikethik ganz konkret. Nehmen wir uns reale Situationen vor: seien es der Abgasskandal, Stellungnahmen zum Einsatz von Genmanipulation, der Einsturz der Brücke in Genua, Unfälle im Rahmen von Fahrten mit autonomen Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmittelbar dabei und hätten etwas zu sagen. Inszenieren wir die Kontroversen, in denen Techniklinien gestaltet werden, um sie am eigenen Leib zu
    erfahren. Die Veranstaltung soll Ihnen dazu dienen, Erfahrungen zu machen, die später womöglich auf Sie zukommen. Es ist dann fast wie ein Privileg, sich später daran zurückerinnern zu können, so etwas Ähnliches schon einmal durchgespielt zu haben.

    Nein, wir müssen es nicht.
    Aber?
    Aber wir werden es machen.
    Und weshalb?
    Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt,
    ob wir es wirklich können.

    (Hans Blumenberg)

    Dirck van Baburen: Prometheus wird von Vulkan angekettet (1623). — Quelle: Public Domain via Wikimedia. — Prometheus, der Gott des Fortschritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Aufsicht des Götterboten Hermes, vom Gott der Technik Vulkan an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet. Sein Vergehen: Er hat aus Menschenliebe die Technik zu den Menschen gebracht. Diese sollten darauf den Fortschritt einige Jahrtausende nicht mehr zu Gesicht bekommen.

    Die Zeiten sind vorbei, als Ingenieure und Ingenieurinnen fast jede weitere Verantwortung noch zurückwiesen mit den Worten, sie würden die Technik nur herstellen, seien aber nicht verantwortlich dafür, was daraus würde. — Aber machen wir uns nichts vor, Versuche, den technischen Fortschritt auf ›bessere‹ Bahnen zu lenken, gab es viele. Unvergessen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die Rolle einer Fahrradbremse am Intercontinental Flugzeug. 

    Forderungen nach Ethik, Verantwortung, Technikfolgenabschätzung, nachhaltigem Wachstum und Kilmaschutz werden tagtäglich erhoben und sind nicht unproblematisch, denn es ist auch Überforderung im Spiel. Wofür sind wir als Einzelne verantwortlich und wie soll denn die Gesamtverantwortung wahrgenommen werden? Allmählich wird es Zeit. Wer gibt die Technikziele vor oder generieren sie sich selbst?

    Was viele Verschwörungstheorien noch unterstellen: Es gibt sie nicht, die Schaltzentralen der Macht, in denen die Ziele des Fortschritts vorgegeben, der Kurs eingestellt und die Entwicklungen koordiniert werden. Zweifelsohne spielen Technik und Wirtschaft eine große Rolle, aber auch Politik und Kultur.

    Der blaue Planet ist zur Anthroposphäre geworden. Inzwischen wurde bereits ein neues Erdzeitalter ausgerufen, das Anthropozän. Die Zivilisation ist nunmehr alles entscheidend für das Schicksal des ganzen Planeten und die Zukunft der Menschheit. Die Erde ist zum Raumschiff geworden. Wir rasen durch einen lebensfeindlichen Raum, hinter uns eine erst kurze Episode der Zivilisation und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kollisionskurs geht.

    Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navigation vorgenommen wird, wenn wir dorthinein gelangen könnten, es wäre der Schock unseres Lebens. Denn die Pilotenkanzel ist leer, alles steht auf Autopilot und niemand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steuern. Dabei ist das Ganze keineswegs nur eine Frage der Technik, sondern auch eine von Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur, Wissenschaft und vielem anderen mehr.

    Jan Cossiers: Carrying Fire (ca. 1630). Prometheus stiehlt das Feuer aus der Werkstatt des Vulkan. Es ist nicht das Herdfeuer, das hatten die Menschen schon sehr lang. Es ist das Metallurgenfeuer, womit die Bronzezeit begann und
    dann auch die Zivilisation. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Daher genügt es längst nicht mehr, einfach nur ›gute‹ Technik zu machen, Probleme pragmatisch zu lösen, im Sinne des ›state of the art‹ zu entwickeln, Normen und Vorschriften einzuhalten usw. usf. — Darüber hinaus stellt sich vor allem auch die Frage, wie weit denn die persönliche Verantwortung reichen soll. Es ist nicht allein die Technik, die den Fortschritt bestimmt, es sind viele verschiedenen Faktoren, die eine Rolle spielen. — Die Rollen im Mythos vom Prometheus, der den technischen Fortschritt zur Darstellung bringt, lassen die Zusammenhänge erahnen.

    Da ist der Menschenfreund Prometheus, der mit besten Absichten die Entwicklung anfacht, aber eigentlich nicht sehr glücklich agiert. Da ist Vulkan, der Techniker, der alles tut, was ihm aufgetragen wird. Er murrt zwar, als er den geschätzten Kollegen anketten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambivalentes Verhältnis zur Menschheit hat und daher hin und hergerissen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athene, die Göttin der Weisheit, die den neuen Zivilisationsmenschen eine Seele einhaucht. Sie spendet auch die Wissenschaft und die Vernunft. Außerdem ist da noch Pandora, die mit allen Gaben Beschenkte, die die Gaben der abdankenden Götter zu den Menschen bringt, aber eben auch die damit verbundenen Übel. Und da ist noch Epimetheus, ein Melancholiker, der sich in Pandora verliebt. — Das dürfte genügen, die verschiedenen Seiten und Interessen zu charakterisieren, die dafür sorgen, daß der Fortschritt eben einen bestimmten Gang nimmt.

    Als der Münchener Soziologie Ulrich Beck im Jahre 1958 den Eintritt in die Risikogesellschaft diagnostizierte, sah er den technisch–ökonomischen Fortschritt überlagert von immer größeren, ungeplanten Nebenfolgen, grenzüberschreitenden Umweltproblemen und globalen Folgen Es gibt inzwischen einen Grad an Komplexität, der sich nicht mehr steuern oder gar beherrschen läßt. Eigentlich müßten alle unsere Innovationen unterhalb dieser Schwelle bleiben, aber das Gegenteil ist der Fall. Also wofür sind Techniker, Ingenieure und Ingenieurinnen wirklich verantwortlich? Welcher Teil der Verantwortung fällt anderen zu?

    Harry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wurde von Vulkan eine Frau erschaffen, mit allen Gaben der Götter ausgestattet und von Hermes zu den Menschen gebracht. Sie brachte jedoch nicht nur die Fähigkeiten der Götter, sondern auch die damit verbundenen Übel auf die Erde. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist keine unproblematische Entwicklung, daß in den letzten Jahrzehnten immer mehr Verantwortung auf Einzelne übertragen wurde, während die Gesamtverantwortung sich immer weiter verflüchtigt. Wer verantwortlich sein soll, muß gestalten, muß auch anders entscheiden können, erst dann kann Verantwortung zugeschrieben werden. — Insofern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz praktisch umgegangen werden kann, ist das andere. Sich verantwortlich zu fühlen für Verhältnisse, die nicht in der eigenen Macht stehen, ist daher nicht unproblematisch. Wer Verantwortung übernimmt, muß ›Nein sagen‹ können oder ›So nicht!‹.

    In diesem Seminar sollen solche Konflikte in Wertfragen, Zielkonflikten und der moralischen Integrität durchgespielt werden. Das geschieht anhand von Beispielen einschlägiger Dilemma–Situationen. Mitunter sind die Rahmenbedingungen schon problematisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedingungen schlechter Kommunikationsverhältnisse und aus Sorge um die eigene Reputation fachlich kompetent und moralisch integer zu handeln. Dazu bedarf es einiger Erfahrungen, die genauso wichtig sind wie das ganze technische Know–how.

    Dazu hat der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß eine hilfreiche Unterscheidung geprägt: Zum technischen Verfügungswissen gehört auch ein ebenso wichtiges Orientierungswissen. Das eine sagt uns wie, das andere aber wozu.  — Mitunter geraten aber das Wie und das Wozu in Widersprüche. Die Technikgeschichte ist voll solcher Beispiele, wo erst sehr viel später sich Nebenfolgen mit kolossalen Wirkungen zeigen, bis sie endlich wahrgenommen und thematisiert werden.

    Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, ob es nicht doch eine ›bessere‹ Technik gibt, eine, die von vornherein weniger Nebenfolgen hat. Technikutopien sind daher eine wichtige Orientierungshilfe, vor allem dann, wenn kritisch damit umgegangen wird. Wesentlich ist es, die verschiedenen Aspekte erörtern zu können und nicht zuletzt, andere zu überzeugen. Dazu ist kritisches Denken erforderlich. Daher geht es um die ethische, politische, ökonomische und ökologische Verantwortung im Ingenieurwesen. Erst das macht ›gute‹ Technik möglich, ein ›gutes‹ Gewissen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

    Bandicoot Robot: Converting manhole to robohole (2018). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

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    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    SS 2021 | freitags | 12:00-13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt.

    Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Philosophischen Café kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es um nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt vielmehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen tatsächlichen Fortschritt im Verstehen erreichen.

    Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wieder zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wir müssen selbst entscheiden, wann wir etwas auf sich beruhen lassen, für welche Themen wir offen sind, und wofür wir uns wirklich brennend interessieren. Die Zunahme an Informationen ist dabei von erheblicher Bedeutung, denn sie führt gegenwärtig ganz offenbar zu Überforderungen. Alles könnte man wissen, aber jedes Wissen ist eigentlich unsicherer denn je.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Das erschöpfte Selbst

    Oberseminar:

    Das erschöpfte Selbst — Die Psyche und die Narrative

    Donnerstags | 12:00-13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 15. April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Es gilt, ein multiples Selbst und Multiperspektivität zu entwickeln. Denn wenn wir den bisherigen Verlauf der Psychogenese in die Zukunft verlängern, dann werden weitere Internalisierungen folgen.

    Das werden vor allem auch solche sein, die Probleme bereiten, weil sie immer mehr miteinander im Hader liegen wie Priester und Ketzer, wie Schamanen und Wissenschaftler, wie Natur– und Kulturwissenschaften. — Es wird ganz gewiß nicht einfacher, sondern komplizierter, wenn nunmehr weitere widersprüchliche Figuren und Narrative hinzukommen, so, wie wir inzwischen fast den ganzen Götterhimmel in uns haben als Teil unserer Psyche.

    Nicht nur die soziale Außenwelt, sondern auch die psychischen Innenwelten differenzieren sich im Verlauf der Kulturgeschichte immer weiter aus. Wenn die Welt, weniger die natürliche Umwelt, als vielmehr die soziokulturelle zweite Natur, immer komplexer wird, dann steigen die Anforderungen, wirklich noch zu verstehen, was eigentlich gespielt wird.

    Es sollte daher möglich sein, die inhärente Dialektik verschiedener Perspektiven mit allen einschlägigen Differenzen ganz bewußt in Dienst zu nehmen, um sodann selbst denken und sich an die Stelle eines jeden anderen versetzen zu können, um schließlich im Bewußtsein aller dieser unterschiedlichen Stimmen aufzutreten.

    Vorgestellt wird uns Narziß als ein anmutiger allseits begehrter Jüngling, nur daß dieser, ganz anders als der noch anmutige Jüngling im Marionettentheater von Kleist, auch im weiteren Verlauf seiner Jugend rein gar nichts von seiner Anmut einbüßt. Man könne ihn als ein Bild der närrischen Eigenliebe ansehen, nach welcher einer andere Leute verachtet, endlich aber ein Narr werde, und selbst vergeht, heißt es im gründlichen mythologischen Lexikon von Benjamin Hederich, das bereits Goethe, Schiller und Kleist inspiriert hat.

    Bei Ovid erfahren wir sein doch recht jugendliches Alter, Narziß habe soeben eines zu fünfzehn Jahren hinzu gefügt und könne ebenso noch als Knabe erscheinen aber auch bereits als Jüngling. Wir haben es also mit einem recht jungen Menschen zu tun, und verwunderlich ist eigentlich, daß allen Ernstes erwartet wird, dieser solle sich in diesem Alter bereits zu irgendeiner Liebe bekennen.

    Übertragen in unsere Gegenwart müßten wir protestieren und anführen, daß ein halbes Kind sehr wohl auch sein Recht auf einen Rest Kindheit, auf Jugendlichkeit, Ungebundenheit, auch auf Selbstverliebtheit habe und daß nicht erwartet und schon gar nicht gefordert werden solle, er möge alsbald den sogenannten Ernst des Lebens oder gar der Gründung einer Familie ins Auge zu fassen. — Aber unterstellen wir weiterhin, der Mythos wolle uns anhand des Narziß etwas anderes vor Augen führen, gestehen wir ihm also zu, wogegen wir durchaus Einspruch erheben könnten.

     

    Warum es einen solchen Mythos geben muß, der uns den Narzißmus näher vor Augen führt, läßt sich anhand einer Nebenbemerkung bei Ovid zumindest erahnen, es ist die ›Neuheit des Wahnsinns‹ bei Narziß, darin läge dann also das eigentliche Motiv für diesen Mythos.

    Am Anfang steht der geheimnisvolle Spruch des Sehers, der noch aus der Kinderzeit stammt, der über lange Zeit nicht in Erfüllung gehen sollte: »Wenn er sich nicht kennt!« sei ihm ein langes Leben beschieden, hatte Theresias vorhergesagt.

    “Lang schien eitel und leer sein Ausspruch. Doch ihn bewähren That und Erfolg und die Art des Tods und die Neuheit des Wahnsinns.” (Ovid: Metamorphosen)

    Diese ›Neuheit des Wahnsinns‹ wäre demnach der eigentliche Anlaß, warum es diesen Mythos, warum es Narziß hatte geben müssen, um zu demonstrieren, daß etwas in seiner Entwicklung schief gegangen ist, was nicht schief gehen sollte. — Der neuartige Wahnsinn sollte nun justament in dem Augenblick ausbrechen, als sich Narziß doch noch selbst kennen lernen sollte.

    Es scheint zugleich, als wolle der Mythos auch protestieren, als sei er gegen irgendetwas Neues gerichtet, vor dessen Folgen hier gewarnt werden soll, anhand eines schlimmen Fallbeispiels. — Wenn dem so wäre, daß der Mythos selbst und seine Autorintention einer Epoche entstammt, in der das, wovor hier gewarnt werden soll, noch gar nicht bekannt war, so daß es Befürchtungen gab, gegen die sich das mythische Modell des Narziß richten sollte, dann steht vermutlich im Hintergrund die Erfahrung eines einschneidenden kulturellen Wandels.

     

    Wir haben es hier also vermutlich mit einem entscheidenden Schritt im Prozeß der Psychogenese zu tun. —  Die Neuheit des Wahnsinns von Narziß läge demzufolge darin, nicht mehr einfach wie üblich von Liebe ergriffen zu werden, als willenloses Objekt eines Angriffs des Heckenschützen Amor, der, selbst noch ein verantwortungsloses Kind, einfach mit Liebesfeilen nur so um sich schießt und der nicht selten auch Zeus zu allen erdenklichen Eskapaden verleitet.

    Wir hätten dann im Narziß einen angehenden jungen Mann vor uns, der sich das Urteil darüber, in wen er sich verliebt und ob überhaupt, selbst vorbehält. Auch das wäre eine Lesart, wobei die Neuartigkeit des Wahnsinns, die Unverschämtheit aus der Perspektive der Alten zweifelsohne im Anspruch auf Individualität liegt.

    Narziß wäre einer, der sich nicht so einfach ergreifen läßt, der sich seine Kindheit und seine Jugendlichkeit bewahrt. — Narziß dürfte demnach in ganz besonders einem Wesenszug als arrogant, selbstverliebt und auch hochmütig erschienen sein, in seinem Anspruch ein eigenständiges, selbstbestimmtes Individuum sein zu wollen.