Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Heinz–Ulrich Nennen

Philosophische Praxis I

Per­sön­li­che Über­zeu­gun­gen set­zen sich zusam­men aus einer Viel­falt von Moti­ven aus den unter­schied­lich­sten Sek­to­ren, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Vie­les davon ist nicht selbst erdacht, son­dern nur über­nom­men wor­den. Im Zwei­fels­fall, also immer dann, wenn man es wirk­lich genau wis­sen will, stellt sich die Fra­ge, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men und Vor­stel­lun­gen wirk­lich sind. Das­sel­be gilt für Lebens­er­eig­nis­se, die zu ver­ste­hen natur­ge­mäß schwer fal­len muß.

ms-philosophischeambulanz-4Die Kunst der phi­lo­so­phi­schen Pra­xis besteht dar­in, ein jedes Gesamt­ur­teil zunächst wie­der auf­zu­lö­sen in die ein­zel­nen Bestand­tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist. Viel­leicht ergibt sich schluß­end­lich daß, was gedacht wur­de, schon sehr ange­mes­sen gewe­sen sein muß, viel­leicht ergibt sich aber auch eine völ­lig neue Sicht der Din­ge. Es gilt, das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst zu beur­tei­len, denn Wis­sen allein genügt nicht. Es könn­te sich schließ­lich auch nur um gefühl­tes Über­zeugt­sein han­deln, also um etwas, das nur wie eine kon­se­quen­te Den­kungs­art erscheint. – Wenn etwas unbe­dingt gel­ten soll, dann muß es sich auch bewäh­ren kön­nen. Also soll­te es mög­lich sein, das eige­ne Wis­sen zu wis­sen, sich des eige­nen Bewußt­seins noch­mals bewußt zu wer­den und auch dem eige­ne Füh­len noch ein­mal nach­zu­füh­len. Alle­dem dient der Dia­log in der phi­lo­so­phi­schen Praxis.

Ent­schein­dend ist nicht das Ergeb­nis eines Gedan­ken­gangs. Viel wich­ti­ger ist es, auf wel­che Wei­se das eige­ne Den­ken zustan­de­kommt. Daher ist es so wich­tig, auch das, was noch so selbst­ver­ständ­lich erscheint, zur Dis­po­si­ti­on zu stel­len, denn wenn es etwas Bewähr­tes ist, denn was wirk­lich ver­läß­lich ist, wird sich auch in einer Bewäh­rungs­pro­be wie­der als ver­läß­lich erwei­sen. – Wir soll­ten also genau­er in Augen­schein neh­men, was wir wirk­lich wis­sen, was wir wis­sen müß­ten und was wir viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen. So wird die Qua­li­tät aber auch die Begrenzt­heit des eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er bewußt.

Phi­lo­so­phie ist inso­fern stets eine Fra­ge nach den Gren­zen dess­sen, was sich sagen läßt. Die Fra­ge ist dabei immer, wie viel vom Gan­zen haben wir eigent­lich wirk­lich sicher im Blick? Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann…

Ich arbei­te daher sehr inten­siv mit Sym­bo­le und Alle­go­rien aus Mythen und Mär­chen, ins­be­son­de­re mit­hil­fe von Idea­len, wie sie die Göt­ter ver­kör­pern, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben, Geist und Gefühl ver­mit­teln kann. Phi­lo­so­phie ist daher weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de, son­dern sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

Phi­lo­so­phie ist nicht nur rei­ne Theo­rie, sie hat auch eine Pra­xis. Es gilt, mit der Spra­che zum bis­her nicht Gesag­ten vor­zu­drin­gen. Daher geht es auch um Inspi­ra­ti­on, also dar­um, neue Ein­drücke eben­so wie Gefüh­le zur Spra­che zu brin­gen. Phi­lo­so­phie hat kei­nes­wegs nur mit Reden und Den­ken zu tun, es geht auch um Inspi­ra­ti­on, um neu­en Ein­drücken eben­so wie Gefüh­len mehr Raum zuzu­ge­ste­hen. Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.

Gesprä­che sind gene­rell mög­lich in Mün­ster und Karlsruhe.

Kon­takt:

Dr. H.-U. Nennen
heinz-ulrich.nennen@t‑online.de
www​.nen​nen​-online​.de

Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen
Karls­ru­her Insti­tut für Technologie
Uni­ver­si­tät Karlsruhe
Insti­tut für Philosophie
Franz-Schna­bel-Haus
Fritz-Haber-Weg 7
D‑76131 Karlsruhe
https://​www​.phi​lo​so​phie​.uni​-karls​ru​he​.de

Phi­lo­so­phi­sche Praxis
Nie­ber­ding­stra­ße 16
48155 Münster

Tel.: 0171 4996709


Das erschöpfte Selbst

Lucas Cra­nach der Älte­re: Melan­cho­lie. Natio­nal­ga­le­rie,
Kopenhagen.<fn>Public domain via Wiki­me­dia Commons.</fn>

Erläuterungen zur Psychogenese


Philosophie in Echtzeit

Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse

Am 17. Juli 1999 hielt Peter Slo­ter­di­jk im ober­baye­ri­schen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Men­schen­park“ – eine in Inhalt und Form über­aus pro­vo­kan­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Fra­gen der Gen­tech­nik im all­ge­mei­nen und des Klo­nens im beson­de­ren. In über 1000 Arti­keln und Rund­funk­bei­trä­gen sowie zahl­lo­sen Leser­brie­fen arti­ku­lier­te sich das Unbe­ha­gen an Slo­ter­di­jks unbe­que­men, schnell unter Faschis­mus­ver­dacht gestell­ten Überlegungen.

Gera­de die­ser Skan­dal hielt sich beträcht­lich lang in der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit. Die Eska­la­ti­on der Debat­te begann, wie so vie­le zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, ver­lief dann aber doch anders und ende­te eben nicht mit der Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreich­te sei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt mit dem Philosophen–Kongreß in Kon­stanz und ende­te, als die Frank­fur­ter Buch­mes­se eröff­net wurde.

Die Kara­wa­ne öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit war längst wei­ter­ge­zo­gen, so daß kaum Jemand ein win­zi­ges aber ent­schei­den­des Detail noch hät­te zur Kennt­nis neh­men kön­nen. — Nur wer lan­ge genug vor Ort blieb, ein­fach mit dem Gefühl, das kön­ne noch nicht alles gewe­sen sein, soll­te belohnt wer­den durch die Infor­ma­ti­on über eine Bege­ben­heit, auf die nur die Wirk­lich­keit kommt. Das Fazit ist dann auch über­ra­schend mit­ten aus dem Leben gegriffen.

Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EU.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chro­nik einer Insze­nie­rung. Über Meta­phern­fol­gen-abschät­zung, die Kunst des Zuschau­ers und die Patho­lo­gie der Dis­kur­se. Königs­haus & Neu­mann, Würz­burg 2003. [ISBN: 978–3‑8260–2642‑3] 650 S. 49,80 EU

Die­ses merk­wür­di­ge Detail war zwar schon früh­zei­tig bekannt, aber nicht ganz. Die inkri­mi­nier­te Rede war schon zwei Jah­re zuvor im Thea­ter zu Basel auf einer Sonn­tags­ma­ti­nee zu Gehör gebracht und mit Geläch­ter gou­tiert wor­den. Die Iro­nie des gan­zen Arran­ge­ments, die Spitz­fin­dig­keit die­ser Kri­tik am Huma­nis­mus, das Gro­tes­ke an der The­se, der Huma­nis­mus habe ver­sagt, man müs­se nun­mehr unter Ein­satz der Gen­tech­nik an die Ver­bes­se­rung, vul­go, an die Züch­tung des Men­schen­ge­schlechts her­an­ge­hen, war unter dem Aus­druck gro­ßer Hei­ter­keit vom Publi­kum auf­ge­nom­men wor­den. Das alles hat­te der Red­ner selbst zu Pro­to­koll gege­ben in den vie­len Inter­views die­ser Tage und Wochen.

Was er jedoch offen­bar nicht ohne Hin­ter­sinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein eben­so win­zi­ges wie ent­schei­den­des Detail. Dar­auf hat­te nie­mand kom­men kön­nen, der nicht dabei gewe­sen ist oder, der nicht nach­re­cher­chiert hat im Thea­ter zu Basel, was es mit die­ser Mati­née auf sich gehabt haben könn­te. — Slo­ter­di­jk hat­te höchst­selbst berich­tet von die­ser Ver­an­stal­tung, in der er also anwe­send gewe­sen sein muß. Was er aber nicht aus­ge­plau­dert, son­dern mut­maß­lich ganz bewußt ver­schwie­gen hat, war die nicht uner­heb­li­che Tat­sa­che, daß die­sel­be Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Thea­ter zu Basel von einem Schau­spie­ler vor­ge­tra­gen wor­den war. Es waren zwar die­sel­ben Wor­te, aber Red­ner, Publi­kum und auch die Kulis­sen waren wie aus­ge­wech­selt. Die Iro­nie, die Sati­re und die huma­ne Kri­tik am Huma­nis­mus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Bericht­erstat­ter vor Ort, die den Skan­dal such­ten und fan­den. Sie miß­ach­te­ten dann auch die Signa­le der Iro­nie, son­dern sahen und hör­ten, was sie gese­hen und gehört haben wollen.

Es wäre ein wünsch­ba­rer Neben­ef­fekt die­ser Stu­die, wür­de es künf­tig hin und wie­der eine der­ar­ti­ge Unter­su­chung in einem ähn­li­chen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qua­li­tät der Medi­en und ihrer Ver­tre­ter ein­mal mehr einer kri­ti­schen Prü­fung zu unter­zie­hen. Dabei las­sen sich gro­ße qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de fest­stel­len: Es gibt durch­aus posi­ti­ve Bei­spie­le auch in die­ser Debat­te, wo Bericht­erstat­ter und Kom­men­ta­to­ren mit gutem Gespür, gro­ßem Fein­ge­fühl und nicht zuletzt auch mit Sach­kennt­nis vor­ge­gan­gen sind. Vor­ent­schie­den­heit und beflis­sent­li­che Par­tei­lich­keit, gepaart mit Unver­ständ­nis, sind dage­gen häu­fig die ent­schei­den­den Fak­to­ren für defi­ni­tiv schlech­te, fal­sche, mög­li­cher­wei­se bewußt fal­sche Bericht­erstat­tung, mit der nie­man­dem und schon gar nicht der Öffent­lich­keit gedient sein kann.

Die vor­lie­gen­de Chro­nik der Slo­ter­di­jk-Debat­te ist zugleich ein phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment, den Fall einer Skan­da­li­sie­rung ein­mal bewußt syste­ma­tisch zu rekon­stru­ie­ren, um zu beob­ach­ten, wie sich Infor­ma­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on, Insze­nie­rung und Gegen­in­sze­nie­rung zuein­an­der ver­hal­ten, wie sich Öffent­lich­keit im Zeit­al­ter ihrer Medi­en­för­mig­keit kon­sti­tu­iert, wie sich dabei die All­tags­ver­nunft aus­nimmt und wie es um die Idea­li­tät idea­ler Dis­kur­se bestellt ist, — alles wie­der­um beob­ach­tet unter Anlei­tung eines Chro­ni­sten und bewer­tet aus den wech­seln­den Per­spek­ti­ven eines Zuschau­ers, von dem ange­nom­men wird, daß die­ser sich auf etwas Beson­de­res ver­steht: „Die Kunst des Zuschau­ers“, erst all­mäh­lich her­aus­zu­be­kom­men, was eigent­lich gespielt wird.

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Goog­le Books

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit @ Königs­hau­sen & Neu­mann Verlag

Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­pie in Echt­zeit. @ Amazon

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Dialog und Diskurs

Schwebendes Denken

Bezau­bern­de Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel verleiht. 

Bei Hegel beginnt die Eule der Miner­va ihren Flug erst in der Däm­me­rung. – Pla­ton schil­dert das Auf­stei­gen zur Erkennt­nis mit der Alle­go­rie vom See­len­wa­gen, bei dem es dar­um geht, am Tri­umph­zug der Göt­ter über das nächt­li­che Fir­ma­ment, quer über die Milch­stra­ße bis hin zum Reich der Ideen teil­neh­men zu kön­nen. Aber den aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen feh­le es dabei an “Federn”, auch beherr­schen sie nicht die Selbstführung… 

Die Gedan­ken sind frei, es kommt dar­auf an, sie schwe­ben, flie­gen und auf­stei­gen zu las­sen. Es kommt dar­auf an, daß sie stets offen blei­ben, sich inspi­rie­ren zu lassen.

Phi­lo­so­phi­scher Salon Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz Karlsruhe

Phi­lo­so­phi­scher Salon | B‑Si­de-Festi­val 2019 | Mün­ster

Philosophisches Café Münster

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Wenn her­kömm­li­che Ori­en­tie­run­gen unsi­cher wer­den, dann stel­len sich Fra­gen der Selbst­ori­en­tie­rung. Neue Ant­wor­ten las­sen sich jedoch erst fin­den, wenn zuvor genü­gend Abstand genom­men wird. Erst aus der Distanz läßt sich das Gan­ze umfas­send in den Blick neh­men. – Nur so kommt das Neue ins Den­ken und dazu ist Phi­lo­so­phie unver­zicht­bar. Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, sich durch eige­nes Den­ken zu ori­en­tie­ren, gera­de dann, wenn vie­les in der Schwe­be ist.

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Neben dem phi­lo­so­phi­schen Dia­log als inten­si­ver Form, sich in The­men von exi­sten­ti­el­ler Bedeu­tung ein­zu­füh­len, um sie zu erör­tern, bie­tet das Phi­lo­so­phi­sche Café die Mög­lich­keit, auch in grö­ße­ren Grup­pen tie­fer mit­ein­an­der ins Gespräch zu kom­men. – Es gilt, nicht ein­fach nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern alle erdenk­li­chen Posi­tio­nen vor­be­halt­los zu erör­tern. So wird die Sache selbst all­mäh­lich gemein­sam ent­wickelt und nicht sel­ten las­sen sich ihr ganz neue Sei­ten abge­win­nen. Man­ches erscheint dann in ande­rem Licht, so daß sich auch für die eige­ne Stel­lung­nah­me ganz neue Per­spek­ti­ven eröffnen.

Das Phi­lo­so­phi­sche Café ver­steht sich als Forum für eine Phi­lo­so­phie, die erst im gemein­sa­men Gespräch auf­kom­men kann. Das The­ma wird in der Regel nicht vor­ge­ge­ben, es ergibt sich zwang­los fast wie von selbst. Der Gang des Gesprächs ist offen und dabei ist es nicht so ent­schei­dend, wie sich ande­re Phi­lo­so­phen bereits dazu geäu­ßert haben. Gewiß ist es anre­gend zur Kennt­nis zu neh­men, was bereits gesagt wor­den ist, aber viel wich­ti­ger ist es, sich selbst beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren zu erfahren.

Über­zeu­gun­gen sol­len nicht ein­fach nur ver­tre­ten, son­dern dar­ge­legt wer­den. Die Situa­ti­on ist hand­lungs­ent­la­stet, nichts muß beschlos­sen wer­den. Nie­mand muß sich über­zeu­gen las­sen, denn wir über­zeu­gen uns ohne­hin immer nur selbst. Ent­schei­dend ist, das eige­ne Den­ken an den Tag zu legen. Erst dann wird jene Frei­heit spür­bar, von der die Höhen­flü­ge der Phi­lo­so­phie getra­gen wer­den. – Phi­lo­so­phie hat eben auch ihre Pra­xis: Es ist die Freu­de dar­an, wie unter­schied­lich die Per­spek­ti­ven doch sein können.

Kaum eine davon ist ohne Berech­ti­gung, aber nur weni­ge davon spre­chen wirk­lich fürs Gan­ze. Es gibt vie­le aber nicht unend­lich vie­le Hinisch­ten, aus denen sich die­sel­be Sache betrach­ten läßt. Ent­schei­dend sind daher vor allem sol­che Hin­sich­ten, die in der Sache wei­ter brin­gen und hel­fen, bes­ser zu ver­ste­hen, wor­auf es ankom­men könnte.

Für den Gang sol­cher Unter­su­chun­gen präg­te Hegel das Bild vom Flug der Eule der Miner­va und bei Pla­ton fin­det sich die Alle­go­rie vom See­len­wa­gen. Die­se bezau­bern­den Bil­der bezeu­gen, wie innig die Phi­lo­so­phie allem zuge­tan ist, was Flü­gel ver­leiht, weni­ger um abzu­he­ben, son­dern um einen guten Über­blick und neue Ein­blicke zu erhal­ten. – Alles was Flü­gel ver­leiht, hat daher einen sym­bo­li­schen Bezug zur Phi­lo­so­phie, weil Federn zum Schrei­ben tau­gen, weil sie Gedan­ken beflü­geln und weil dann nur noch die not­wen­di­ge Seh‑, Erkennt­nis- und Urteils­kraft dazu gehört, um erken­nen zu kön­nen, was sich in der Däm­me­rung abzu­zeich­nen beginnt.

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Das ulti­ma­ti­ve Ziel sol­cher Rei­sen ist Pla­ton zufol­ge eine Expe­di­ti­on ins Reich der Ideen. Beim Aus­ritt zusam­men mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment alle 10.000 Jah­re kommt es dar­auf an, sehr schwe­re Him­mel­s­pas­sa­ge zu bestehen, mit einem all­zu mensch­li­chen Gespann aus einem guten und einem schlech­ten Pferd. Vie­le stür­zen dabei ab und fal­len unmit­tel­bar wie­der ins Sein ohne sich wie­der­erin­nern zu kön­nen. – Erst hin­ter die­ser schwie­ri­gen Him­mel­s­pas­sa­ge wür­de man zusam­men mit den Göt­tern die Ideen anschauen.

Es kommt dar­auf an, die Kunst des Schwe­bens zu beherr­schen. Dazu braucht es ‚Federn‘und die wach­sen nur denen die lie­ben, denn die Lie­be in ihrem hei­li­gen Wahn soll wie­der­um Ähn­lich­keit haben mit dem, wie denen zumu­te ist, die die Ideen erschau­en. Und Pla­ton zufol­ge ver­leiht gera­de die Phi­lo­so­phie sol­che Flü­gel, schließ­lich geht es ihr – nicht nur dem Namen nach, um die Lie­be zur Weisheit.

Sol­che Gesprä­che sind dazu ange­tan, die Sache selbst wie eine Feder durch den Atem aller, die mit­re­den und mit­den­ken, in der Schwe­be zu hal­ten, um beim gemein­sa­men Phi­lo­so­phie­ren wie im Flug ins Reich der Ideen unter­wegs zu sein.

Feder-big


Ein, zwei, viele Ichs

Über Masken

Ein Blick hin­ter die Karnevalsmasken

Radio­in­ter­view mit Dani­el Lasch

Ursprüng­lich geht der Kar­ne­val auf die römi­schen Satur­na­li­en zurück. Das war ein Fest zur Ehren des Got­tes Saturn. – Saturn ist ein eher düste­rer, urzeit­li­cher Gott, der sei­ne Herr­schaft durch sei­ne Söh­ne gefähr­det sah und sie des­halb in einer Anwand­lung von Kan­ni­ba­lis­mus auf­fraß. Alle, bis auf einen Sohn, der von sei­ner Mut­ter vor ihm ver­steckt gehal­ten wur­de und schließ­lich die schreck­li­che Pro­phe­zei­ung erfüll­te, sei­nen Vater entmachtete. 

Die Satur­na­li­en erin­nern an die unter­ge­gan­ge­ne Ord­nung des Saturn, die im Rück­blick von vie­len bald zum „gol­de­nen Zeit­al­ter“ ver­klärt wur­de. Es war ein mehr­tä­gi­ges Fest, das zu Ehren des Saturn zwi­schen dem 17. und dem 23. Dezem­ber gefei­ert wur­de und wohl auch eine der Wur­zeln des christ­li­chen Weih­nachts­fe­stes bildete.

Jeden­falls war es eine Zeit, in der die übli­che Ord­nung der römi­schen Gesell­schaft auf den Kopf gestellt wur­de. Der römi­sche Sati­ri­ker Horaz spricht von der „Liber­tas Decem­bris“, der „Frei­heit des Dezem­bers”. Skla­ven waren ihren Her­ren, Frau­en ihren Män­nern gleich­ge­stellt. Wein floss im Über­fluss, man spei­ste die Armen, beschenk­te sich groß­zü­gig, sexu­el­le Aus­schwei­fun­gen und Glücks­spiel waren erlaubt. Viel­leicht über­leb­te in den Satur­na­li­en die Erin­ne­rung an eine unter­ge­gan­ge­ne matri­ar­cha­le Ord­nung, in der das Ver­hält­nis der Men­schen zur Natur noch ver­söhn­li­cher war als in der betont sol­da­ti­schen Gesell­schaft der römi­schen Anti­ke. – Die Mas­ke­ra­de war auch damals ein unent­behr­li­ches Mit­tel, den Rol­len­tausch zwi­schen Mann und Frau, reich und arm, Skla­ve und Herr glaub­haft zu machen. Am Ende der Satur­na­li­en aber fie­len alle Mas­ken und die alte patri­ar­cha­le Ord­nung kehr­te zurück. Das leich­te Spiel mit mul­ti­plen Iden­ti­tä­ten, die Ent­gren­zung des eige­nen Ichs, die Ent­la­stung von einer fest­ge­zurr­ten sozia­len Rol­le stecken auch heu­te noch hin­ter der Lust am kar­ne­val­esken Mummenschanz.

Dani­el Lasch spricht mit dem KIT Phi­lo­so­phen Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen über die Welt als Büh­ne mul­ti­pler Identitätsspiele:


Philosoph mit Wohnmobil

Ein Karlsruher Hochschul–Dozent
studiert an Münsters Hafen das Leben

Die­ser Mann lehrt als Dozent an der Uni­ver­si­tät im baden-würt­tem­ber­gi­schen Karls­ru­he. Aber den Phi­lo­so­phen zieht es immer wie­der ins west­fä­li­sche Mün­ster. Dort lebt Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen in einem Wohn­mo­bil direkt am Ufer des alten Indu­strie­ha­fens. „Sonn­tags gehen die Men­schen hier anders“, sagt er. Dann fla­nier­ten sie – wäh­rend sie in der Woche hetz­ten. Aber das ist nur ein Bei­spiel des Hafen­le­bens, das Nen­nens Vor­le­sun­gen schreibt.

Mor­gens, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zieht sich Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Er hat Fami­lie und Woh­nung in Unna und einen Lehr­auf­trag in Karls­ru­he. Aber sein Zuhau­se steht hier: Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“.

Ein Wohn­wa­gen Bau­jahr 1988, 11,20 Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der Hafen-Gastro­no­mie. „Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein. Man kann zuschau­en, wie sie geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te poin­tiert betont.

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dunk­len, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. Den Tag über war er auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er zuhau­se. Schick in schwarz geklei­det sitzt er am Schreib­tisch. Auf dem Fuß­bo­den Lami­nat, an den Wän­den Schrän­ke in Eiche mas­siv. „Hier füh­le ich mich daheim“, sagt er, kocht sofort einen Tee und erzählt.

Auf dem Tisch steht noch das Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. An den Wän­den hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. „Ich will auf kei­nen Luxus ver­zich­ten“, sagt er. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Früh tauch­te der Rhei­nen­ser in Mün­ster auf, ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp 20 Jah­ren – „mit sum­ma cum lau­de“ – an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. Er dach­te, die Arbeits­welt reißt sich um ihn, wenn er sich bewirbt. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn wei­ter. Die erste Zeit war er arbeits­los, dann unter­rich­te­te er ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re in einem Stutt­gar­ter Insti­tut rund um die Fol­gen der Atomkraft.

Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te. Nen­nen: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert.“ Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Sei­ne Vor­le­sun­gen an der Uni Karls­ru­he schreibt er jede Woche neu – oft nachts am mün­ster­schen Hafen­ufer. Sei­ne The­men: „Empa­thie“, „Psy­che“ oder „Selbst­ver­stän­di­gung“.

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­wa­gen beob­ach­tet er sie, stu­diert sie und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal wacht man auf, da ist Tri­ath­lon. Mal kommt doch noch ein Güter­zug.“ Und mal erhö­hen die Tanz­jün­ger im Hea­ven den Beat. Das erin­ne­re ihn immer an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Sie suchen das Band, viel­leicht auch einen Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

Nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­wa­gen: „Ich brau­che Rum­mel. Der inspi­riert mich.“ Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand und krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Erschie­nen in: Mün­ster­sche Zei­tung (20. Sep­tem­ber 2008)


Der Hafen–Philosoph

Gedanken aus einem
indianischen Winnebago an Münsters Hafenufer

Von Tobi­as Wink­ler, wink­ler­wir­red

Der Karls­ru­her Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie, Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, steht regel­mä­ßig mit sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Wohn­mo­bil in Mün­sters Hafen. Denn das Leben dort schreibt sei­ne Vor­le­sun­gen. In den Pau­sen lädt er als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ zur klei­nen Den­ker­run­de übers Denken.

In den frü­hen Mor­gen­stun­den, so gegen fünf Uhr, da fin­det er es hier am schön­sten. „Wenn sich der Hafen im glat­ten, stil­len Was­ser spie­gelt“, erzählt er ver­träumt, „da erlebt man die­sen klei­nen Mikro­kos­mos gleich dop­pelt.“ In die­se „klei­ne eige­ne Welt“ zie­he er sich seit fast vier Jah­ren ger­ne zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen arbei­tet als Hoch­schul­leh­rer an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he. Aber sein mobi­les Büro steht immer wie­der an Mün­ster Hafenufer.

Ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago“. Es ist ein groß­räu­mi­ges, sil­ber­nes Wohn­mo­bil: Bau­jahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanal­ufer gegen­über der bun­ten Gastro- und Fla­nier­mei­le des alten Mün­ste­ra­ner Indu­strie­ha­fens. Es ist ein schö­nes, statt­lich aus­ge­bau­tes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier kom­plett hei­misch füh­len und auf nichts ver­zich­ten“, erklärt Heinz-Ulrich Nen­nen. „Ich habe lan­ge nach die­sem Wohn­mo­bil gesucht. Es ist das ein­zi­ge Modell, das die­sen Luxus bie­tet.“ Nun ist der Win­ne­bago sein „klei­nes Denk­bü­ro“, wie er ihn lie­be­voll nennt. Er ist sein mobi­les Schneckenhaus.

Fertighaus auf Rädern

Oft steht die­ses nahe­zu sta­tio­när wie ein Fer­tig­haus auf Rädern auf den aus­ge­dien­ten Glei­sen neben einem alten Hafen­kran, der längst demon­tiert ist und an ein reges Leben der Hafen­ar­bei­ter erin­nert. Oder im Wohn­mo­bil­ha­fen eines benach­bar­ten Cam­ping­plat­zes. Denn das mäch­ti­ge Gefährt frisst zu viel Sprit, um dar­in stän­dig unter­wegs zu sein. Will Nen­nen wirk­lich mobil sein, steigt er auf ein ande­res Ver­kehrs­mit­tel um. In Mün­ster selbst ist er oft mit dem Fahr­rad oder dem Auto unter­wegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hin­zu. Geht es wei­ter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins süd­li­che Karls­ru­he sind es immer­hin mehr als vier­hun­dert Kilo­me­ter, die Nen­nen – zumin­dest in der war­men Jah­res­zeit – nahe­zu jede Woche zurück­legt. Die Hälf­te der Woche phi­lo­so­phiert er mit sei­nen Stu­den­ten, die ande­re Hälf­te sucht er neu­es phi­lo­so­phi­sches Fut­ter am mün­ster­schen Kanalufer.

„Gegen halb sechs bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Ganz lang­sam kommt sie her­ein“, führt er fort. „Man kann zuschau­en, wie sie kommt, vor­bei­läuft, vom ande­ren Ende wie­der zurück­kommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Wor­te mit sei­ner tie­fen, ein­fühl­sa­men Stim­me poin­tiert betont vor­trägt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nen­nen mit sei­nen Fin­gern gefühl­voll eini­ge Töne in die Luft. Es scheint als diri­gie­re er sei­ne Gedan­ken, es scheint als spie­le er auf sei­nem Luft­kla­vier die Melo­die des mün­ster­schen Hafenlebens.

Sehnsucht nach Stille

Dabei mag man eine gewis­se Sehn­sucht nach Stil­le in sei­nen dun­kel­grü­nen, stets offe­nen Augen erken­nen. Aber Nen­nen ist kei­ner, der das Leben scheut. An die­sem Tag kommt er gera­de vom Haupt­bahn­hof. Er war den gan­zen Tag über auf einer Phi­lo­so­phen-Tagung in Essen. Erst seit weni­gen Minu­ten ist er „zuhau­se“. Er sitzt an sei­nem klei­nen Schreib­tisch. Den Fuß­bo­den unter ihm ziert echt anmu­ten­des Buchen-Lami­nat. Zwi­schen den Fen­stern hän­gen gol­di­ge Lam­pen­hal­ter mit Falt­schirm­chen, dane­ben bau­meln klei­ne Stoff-Gar­di­nen und an den Wän­den hän­gen Schrän­ke in Eiche mas­siv. Ein biss­chen US-gelei­te­ter Bie­der­mei­er, ein wenig moder­ne Spät­ro­man­tik oder doch deut­sche Hoch­klas­sik? Der Ein­rich­tungs­stil ist nicht gleich klar.

„Die Wohn­mo­bi­le wer­den von den Nach­kom­men der India­ner gebaut“, berich­tet Nen­nen. „Eigent­lich bin ich kein Eiche-Mas­siv-Typ. Ich ste­he eher auf unter­kühl­te Moder­ne mit Selbst­iro­nie.“ Auch wenn die Innen­ein­rich­tung durch­aus ande­res erah­nen lässt, äußer­lich hat Nen­nen offen­bar das per­fek­te Heim gefun­den: Der india­ni­sche Win­ne­bago erin­nert in sei­ner Form an ame­ri­ka­ni­sche Kühl­schrän­ke. Die­se klo­bi­gen, bun­ten oder metall-far­be­nen, rund­lich-abge­run­de­ten, quad­er­för­mi­gen Exem­pla­re, die nicht für die Mon­ta­ge in der gut bür­ger­li­chen west­fä­li­schen Ein­bau­kü­che geeig­net sind. Sie müs­sen frei ste­hen. Und damit das Bild voll­ends per­fekt ist, müss­ten Magne­te an allen Sei­ten haf­ten. Mit Notiz-Zet­tel­chen, Fotos und Erin­ne­run­gen der schnelllebi­gen Welt dort drau­ßen. Aber, so Nen­nen: „Ent­schei­dend für den ame­ri­ka­ni­schen Auto­mo­bil­bau war die Eisen­bahn und für die­se wie­der­um der Schiffs­bau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kut­sche, son­dern aus dem Wag­gon­bau ent­wickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen brei­ter und grö­ßer als in Alt-Europa.“

„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“

Nen­nen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepfleg­te Erschei­nung. Das ist das erste, was auf­fällt. Der Hafen-Phi­lo­soph trägt aus­schließ­lich schwarz. Aus dem Aus­schnitt des wol­li­gen Knopf-Pul­lis suchen sich dunk­le Brust­haa­re ihren Weg ans Tages­licht. Mit weit geöff­ne­ten Augen schaut er über sei­nen grau-melier­ten Voll­bart hin­weg. Auch in sei­nem dunk­len Haar schim­mern immer wie­der hel­le­re, manch­mal dün­ne­re, manch­mal dicke­re Sträh­nen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohn­mo­bil durch­aus gro­ßen Tisch steht noch das letz­te, nicht ganz aus­ge­trun­ke­ne Rot­wein­glas, direkt dane­ben die aus­ge­brann­ten Tee­lich­ter von ver­gan­ge­ner Nacht. Es war eine der län­ge­ren Näch­te. Die kom­men häu­fi­ger vor.

Dann sitzt der Phi­lo­soph immer an sei­nem schwar­zen IBM-Lap­top und beob­ach­tet durch die gut geputz­ten Fen­ster­schei­ben die Welt außer­halb sei­nes mobi­len Denk­bü­ros. Schnell erkennt man: Nen­nen ist kein Cam­per. Auch nicht der Typ, der roman­tisch am Lager­feu­er grillt. Nen­nen ist viel­mehr ein Feld­for­scher mit mobi­lem Wohn­bü­ro – aus­ge­stat­tet mit UMTS-Lap­top, Satel­li­ten-TV, Navi­ga­ti­ons-Touch­screen, Schlaf­zim­mer, Dusche und eige­nem Strom­ge­ne­ra­tor. Außer Spül- und Wasch­ma­schi­ne ist alles an Bord. Nen­nen: „Ich kann hier zehn Tage lang aut­ark leben. Dann sind die Wasser‑, Gas- und Ben­zin­tanks leer.“

Partygänger am anderen Ufer

Aus die­sen eige­nen vier, siche­ren und mobi­len, Wän­den beob­ach­tet er in dunk­len Näch­ten die Par­ty­gän­ger auf der ande­ren Ufer­sei­te des Kanal­ha­fens. Er schaut, wie die Men­schen an ver­schie­de­nen Wochen­ta­gen gehen oder wie sie in Gesprä­chen gesti­ku­lie­ren. Dann denkt er sich Geschich­ten dazu aus. „Die Men­schen gehen jeden Tag anders“, berich­tet er. „Am Sonn­tag fla­nie­ren sie gelas­sen an den Cafés und Knei­pen vor­bei. Sehen und gese­hen wer­den – das ist wie auf der Pro­me­na­de in Vene­dig.“ Wochen­tags hin­ge­gen sei der Gang hek­ti­scher. Die Leu­te sei­en dann gar nicht dort, wo sie gera­de sind, son­dern in Gedan­ken bereits sehr viel wei­ter. „Sie neh­men die Umge­bung gar nicht rich­tig wahr, weil sie nur Distan­zen über­win­den. Das ist beim Fla­nie­ren ganz anders.“

Sein phi­lo­so­phi­sches Denk­werk hat Heinz-Ulrich Nen­nen an der West­fä­li­schen-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Mün­ster gelernt. Bereits im Teen­ager-Alter tauch­te der gebür­ti­ge Rhei­nen­ser in der Dom­stadt auf, er ging hier zur Schu­le, stu­dier­te und pro­mo­vier­te vor knapp zwan­zig Jah­ren an der phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät. „Mit sum­ma cum lau­de“, betont er nicht arro­gant oder prot­zend, aber durch­aus wis­send. Wohl wis­send und bedacht um den gesell­schaft­li­chen Dok­to­ren-Sta­tus, aber durch­aus mit der Lebens­er­fah­rung, dass ein „Dr.“ im Lebens­lauf nicht all­mäch­tig macht. Nach sei­ner Pro­mo­ti­on dach­te er, die Arbeits­welt reißt sich um ihn. Aber sie dreh­te sich auch ohne ihn weiter.

Atomkraftwerke und Klimawandel

Die erste Zeit war er arbeits­los und auf der Suche. Dann unter­rich­te­te er an der Dort­mun­der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung ange­hen­de Poli­zi­sten in Ethik und forsch­te für zehn Jah­re für die Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung rund um die Aus­wir­kun­gen der Atom­kraft und des Kli­ma­wan­dels. Zwei The­men, die den gesell­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurs bis heu­te prä­gen. „Sie waren bereits in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ein bren­nen­des phi­lo­so­phi­sches The­ma“, erzählt Nen­nen. Schließ­lich habi­li­tier­te er über die Slo­ter­di­jk-Debat­te: „Das war Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Ich habe alles aus dem Moment her­aus ana­ly­siert. Ein phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment, um zu zei­gen, dass so etwas mög­lich ist.“

Die­ses Prin­zip hat er sich bis heu­te zu eigen gemacht. Es sind immer wie­der klei­ne Momen­te und win­zi­ge Augen­blicke des All­tags und deren Men­schen, die ihn inspi­rie­ren. Sie sind ein klei­ner Teil eines phi­lo­so­phi­schen Ana­ly­se-Patch­works. „Ich schrei­be mei­ne Vor­le­sun­gen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gera­de treibt – und um das, was sich um ihn her­um in Mün­sters Hafen treibt. Wis­sen­schaft­lich aus­ge­drückt: „Empa­thie“, „Psy­che“, „Selbst­ver­stän­di­gung“, „Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie“ oder „Psy­cho­ge­ne­se“. Das sind die Berei­che, die Nen­nen in For­schung und Leh­re der Karls­ru­her Uni haupt­säch­lich übernimmt.

„Der Hafen ist unberechenbar.“

Zwi­schen­durch grü­ßen Spa­zier­gän­ger und Hafen­mei­ster. Die Leu­te hier ken­nen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohn­mo­bil beob­ach­tet er das Trei­ben, kommt ins Den­ken und fin­det den Stoff für sei­ne Stu­den­ten. Nen­nen: „Der Hafen ist unbe­re­chen­bar. Mal sind Schwim­mer im Was­ser, dann sind Tri­ath­lon-Wett­be­wer­be. Mal ist Hafen­fest, dann legt die ‚MS Wis­sen­schaft‘ an, um Baum­stäm­me zu ver­la­den. Mal setzt die Hal­le Mün­ster­land still­ge­leg­te Gleis­ma­schi­nen für eine Aus­stel­lung auf die alten Schie­nen, dann kommt plötz­lich doch noch ein Güter­zug.“ Dabei sind die Glei­se neben dem alten Hafen­kran seit Jah­ren längst ver­waist. Als grün ver­wach­se­ne, rostig-röt­li­che Lini­en zie­hen sie sich unter Nen­nens Wohn­mo­bil her. Sie füh­ren die Spa­zier­gän­ger und ihre Hun­de und wei­sen ihnen einen gerad­li­ni­gen, par­al­le­len Weg zum wel­li­gen Was­ser im Hafenbecken.

Es ist wohl die Abwechs­lung, das stän­dig Neue, was der Phi­lo­soph braucht. Vor allem ist es aber das Unvor­her­seh­ba­re und das Unvor­her­ge­se­he­ne. Das scheint ihn in sei­ner Phi­lo­so­phie anzu­trei­ben. Dazu gehört auch der gewohn­te, aber nicht zwangs­läu­fi g gleich­mä­ßi­ge Takt der Tanz­jün­ger im „Hea­ven“, einem Sze­ne­club, der eini­ge Dut­zend Meter Luft­li­nie ent­fernt am ande­ren Ufer des Kanals liegt. Wenn Nen­nen am Wochen­en­de oder nach Mün­sters stu­den­ti­schem Par­ty­mitt­woch spät nachts in sei­nem Denk­bü­ro hockt, hört er wie sie den Beat zur frü­hen Tages­stun­de erhö­hen. Unwill­kür­lich denkt er an Kin­der von Fließ­band­ar­bei­tern: „Die­ser Sound wirkt, als such­ten sie das Band als Lebens­rhyth­mus. Um drei Uhr wird immer der Arbeits­takt erhöht.“

„Ich brauche den Rummel.“

Aller­dings nicht nur bei den Tän­zern – auch im Wohn­mo­bil: „Ich brau­che den Rum­mel um mich her­um. Der inspi­riert mich“, bestä­tigt Nen­nen. Nach­denk­lich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgend­wann ist es dann wie­der fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem klei­nen Fen­ster sei­nes Win­ne­bagos. Irgend­wann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Wel­le das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nen­nen krault durch sei­nen ergrau­ten Bart. Sie kommt, läuft vor­bei, kehrt vom ande­ren Ende wie­der zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem klei­nen Hafen­kos­mos Leben ein. Nen­nen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die näch­ste Idee.

Szenenwechsel

Es ist nicht ganz zwölf Mona­te spä­ter. Dies­mal ver­ab­re­den wir uns am ande­ren Ufer des Hafens gegen­über von Nen­nens Wohn­mo­bil. Bes­ser gesagt: gegen­über vom gewohn­ten Platz des Win­ne­bagos. Denn der steht an die­sem Tag nicht dort. Nen­nen hat an die­sem Tag im nahen Fues­trup am Kanal­über­gang einen ande­ren Hafen für sein Denk­bü­ro gefun­den. Die­ser klei­ner Umstand hält ihn aller­dings kei­nes­wegs vom Den­ken ab. Ganz im Gegenteil.

An einem Gelän­der schließt Heinz-Ulrich Nen­nen sein gemüt­li­ches Fahr­rad ab. Der Rah­men hat eine äußerst außer­ge­wöhn­li­che Form. Das ele­gant, leich­te Modell erin­nert an Omas altes Hol­land­rad, aber irgend­wie hat es auch etwas von einem die­ser moder­nen Crui­ser-Bikes. Der Rah­men aus gera­dem, schwar­zen Rohr ist mehr­fach ver­strebt. Sei­ne Win­kel bil­den die Sil­hou­et­te eines schwe­ben­den Dra­chens, der wäh­rend der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Die­ses Modell ist bereits Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gebaut wor­den“, erklärt Nen­nen. Das gilt zwar nicht für sein Exem­plar, aber zumin­dest für das Patent: „Das Peder­sen ist ein um 1890 von dem Dänen Mika­el Peder­sen ent­wickel­tes Rad, das drei Jah­re spä­ter zum Patent ange­mel­det und spä­ter in Chri­stia­nia, einer alter­na­ti­ven Wohn­sied­lung in Kopen­ha­gen, wie­der­ent­deckt wur­de. Man hat damals über­legt, ob es mög­lich ist, Fahr­rä­der aus Bam­bus zu bau­en, was fast funk­tio­niert hätte.“

Unscheinbare Augenblicke

Auch bei die­sem sei­ner Ver­kehrs­mit­tel weiß Nen­nen um die Histo­rie. Der Win­ne­bago als india­ni­sches, groß­räu­mi­ges Lebens­do­mi­zil und eine däni­sche, geschichts­träch­ti­ge Lee­ze – für Phi­lo­soph Nen­nen sind sie nicht nur Gebrauchs‑, son­dern auch Luxus­ge­gen­stän­de. Sie unter­schei­den den land­strei­chen­den Glo­be­trot­ter, den gril­len­den Lam­pi­on-Cam­per und Heinz-Ulrich Nen­nen ein­mal mehr ganz deut­lich von­ein­an­der. Geklei­det ist er wie beim ersten Tref­fen: Wie­der trägt er einen schwar­zen, ele­gan­ten Woll­pul­li zu einem dezent gestreif­ten Sak­ko. Der Bart sieht nicht bedeu­tend grau­er aus, die Haa­re auch nicht. Nen­nen schrei­tet über die alten Güter­schie­nen, die ihn gera­de­aus mit Blick in Rich­tung der bun­ten Leucht­re­kla­me des Kinos führen.

„Wir sind sehr mäch­tig im Kulis­sen­schie­ben“, mur­melt er durch sei­nen Voll­bart. „Es sind unschein­ba­re Augen­blicke, die wir schnell über­se­hen. Augen­blicke, die eine ent­schei­den­de Wei­che im Leben stel­len. Beson­ders span­nend sind Irr­tü­mer“, sagt der Phi­lo­soph. „Wir irren uns in Momen­ten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bau­en dar­auf unser kom­plet­tes Leben auf. Wir bau­en unse­re Büh­ne so, wie wir es wol­len. Das birgt eine gewal­ti­ge Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nen­nen hält kurz inne und über­legt. Etwa wir selbst? Das gan­ze Leben ein Thea­ter? „Aber es eröff­net zugleich eine rie­si­ge Chan­ce“, fährt er fort. Aller­dings unter einer sehr ent­schei­den­den, wenn nicht not­wen­di­gen Bedin­gung: „Wir müs­sen unse­re Sou­ve­rä­ni­tät behal­ten! Nur dann kann man sagen: Es sind mei­ne ganz per­sön­li­chen Erfah­run­gen, die ich mache, nicht irgend­wel­che. Ich lass’ das jetzt erst mal so lau­fen – und schaue ein­fach mal zu, was mit mir passiert.“

Philosophisches Café

Man merkt schnell, was er bereits vor die­sem Gespräch ange­kün­digt hat: Heinz-Ulrich Nen­nen hat sein phi­lo­so­phi­sches Schaf­fen in Mün­ster aus­ge­wei­tet. Er arbei­tet hier nun auch als lebens­phi­lo­so­phi­scher Weg­wei­ser. Das ein­sti­ge Phan­tom des Indu­strie­ha­fens ist zu einem Rat­ge­ber in Mün­sters all­tags­phi­lo­so­phi­scher Oper gewor­den. Denn Nen­nen hat im ver­gan­ge­nen Jahr ein neu­es Betä­ti­gungs- und Denk­feld ent­deckt. Er lädt inzwi­schen gemein­sam mit der Volks­hoch­schu­le zum sonn­täg­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Café“ und zieht als „ambu­lan­ter Phi­lo­soph“ durch die west­fä­li­sche Dom­stadt. Soll hei­ßen: Der Phi­lo­soph kommt zu Besuch oder man kann ihn besu­chen – in sei­nem ame­ri­ka­ni­schen Winnebago-Wohnmobil.

In einem benach­bar­ten Café bestellt er einen Pro­sec­co und plau­dert. „Ich will den Men­schen gedank­li­che Impul­se mit auf den Weg geben und das Den­ken über das eige­ne Den­ken und Tun för­dern“, erklärt er. Die Ter­min­ver­ein­ba­rung lau­fe modern per E‑Mail und an Ambu­lanz möge er die „Iro­nie des Not­dürf­ti­gen”. Denn die Phi­lo­so­phie sei gar nicht so aka­de­misch, wie vie­le Men­schen den­ken. „Sie ist in ihren Ursprün­gen vor allem eine Lebens­kunst, die auch mit Hei­ter­keit zu tun hat und die uns zum Schmun­zeln bringt. Erkennt­nis muss doch nicht weh tun. Gera­de Selbst­er­kennt­nis soll­te berei­chern!“ Der ambu­lan­te Phi­lo­soph selbst habe bereits in sei­ner revo­lu­tio­när-auf­müp­fi­gen Zeit der Puber­tät ange­fan­gen, übers Den­ken nach­zu­den­ken. „Ich habe ange­fan­gen, in Even­tua­li­tä­ten zu den­ken”, erklärt er. Er habe damals wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen mit sei­ner Vor­stel­lung von gesell­schaft­li­chen Idea­len und mora­li­schen Regeln nicht in die­ses System und die­se Welt gepasst.

Student mit Selbstversorger–Hof

Als er als Teen­ager nach Mün­ster kam, hau­ste er zunächst in einer Wohn­ge­mein­schaft. Spä­ter mie­te­te er sich ein altes Bau­ern­haus in Asche­berg – rund fünf­und­zwan­zig Kilo­me­ter ent­fernt der Dom­stadt. Nen­nen: „Das muss­te damals ein­fach sein!” Schließ­lich war es die Zeit der länd­li­chen Kom­mu­nen, Aus­stei­ger und Selbst­ver­sor­ger. Nen­nen selbst war für hun­dert­fünf­zig Deut­sche Mark Mie­te aller­dings ganz bewusst allein zu Haus. Mög­lichst viel lesen, medi­tie­ren und dis­ku­tie­ren stand auf dem Pro­gramm. Wenn der klei­ne Kot­ten im Win­ter ein­ge­schneit war, hol­te er sich sei­ne Post auch schon mal aus einem Baum an der Stra­ße. Nen­nen: „Ganz wich­tig war die täg­li­che Ber­li­ner Tages­zei­tung. Die war damals ein Muss!” Nur im tief­sten Win­ter zog es ihn von sei­nem klei­nen Selbst­ver­sor­ger-Hof in das mün­ster­län­di­sche Dom­zen­trum: „Wenn die Toi­let­ten zuge­fro­ren waren, dann hat­te man ver­lo­ren und muss­te in die Stadt.”

Heinz-Ulrich Nen­nen spielt mit einer gol­de­nen Flie­ger-Son­nen­bril­le, die er auf dem Tisch vor sich pla­ziert hat. Nach der Zeit des „pro­gram­ma­ti­schen Aus­stei­ger­tums” habe er dann den Weg in „die­se Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mysti­schen Welt­an­schau­un­gen der Hip­pie-Gene­ra­ti­on.” Mit sei­ner Hand ver­treibt er immer wie­der die Flie­gen vom süßen Kaf­fee des Inter­view­ers. Die eine oder ande­re Dro­ge habe er damals pro­biert. „Nicht zum weg­schä­deln, son­dern zur Bewusst­seins­er­wei­te­rung”, betont er in gelas­se­nem Ton­fall, aber durch­aus mit einem stimm­lich erho­be­nen Zei­ge­fin­ger. Man kön­ne schließ­lich nur solan­ge gesund phi­lo­so­phie­ren, wie man nicht psy­cho­ti­sche Züge annimmt und aus der eige­nen Umge­bung und Wirk­lich­keit davon fliegt. So hat er irgend­wann in Büchern die Welt und in der Welt wie­der­um vie­les an Phi­lo­so­phie ent­deckt. Denn Phi­lo­so­phie­ren ist eine Fra­ge der Perspektiven.

Viele verschiedene Kameraperspektiven

So hat er sich gesetz­ten Alters offen­bar gut mit die­ser Welt arran­giert – mög­li­cher­wei­se gar ver­söhnt: „Wir kön­nen uns aus vie­len ver­schie­de­nen Kame­ra­per­spek­ti­ven betrach­ten. Der gesell­schaft­li­che Dis­kurs betont immer wie­der, dass wir ein­stim­mig sein sol­len. Dabei besitzt jeder Mensch doch so man­nig­fal­ti­ge Per­spek­ti­ven auf sich selbst, dass er auch unter­schied­li­chen Stim­men fol­gen kann.” Da kom­me es dar­auf an, „Herr der eige­nen Viel­falt” zu sein. Das bedeu­te nicht, sich an vagen Lia­nen durch den sozia­len Groß­stadt­dschun­gel zu han­geln, son­dern viel­mehr, die rich­ti­ge Lia­ne zu suchen, bevor man auf die wei­te­re Lebens­rei­se geht. Nen­nen: „Wir soll­ten in jeder Situa­ti­on ganz genau aus­lo­ten, wel­cher Stim­me wir bewusst fol­gen wol­len. Zunächst kommt es aber dar­auf an, alle die­se Stim­men wirk­lich zu vernehmen.”

Das bewusst­seins­er­wei­tern­de Hilfs­mit­tel der Dro­gen war ihm dabei immer schon suspekt. Das glei­che gilt sowohl für die Schul­me­di­zin, als auch die Arbeit mit Pati­en­ten, Kli­en­ten oder Kran­ken. So ist Nen­nen bewusst nicht Heil­prak­ti­ker gewor­den. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph will er nicht hei­len, son­dern der eige­nen Sou­ve­rä­ni­tät zum Auf­trieb ver­hel­fen. „Im inspi­rie­ren­den Dia­log“, betont er. Er habe die Dro­gen bewusst für sein Bewusst­sein ein­ge­setzt. Aber er habe immer dar­über nach­ge­dacht, wie sie ihn ihrer­seits beein­flus­sen, ihn hin­ters Licht füh­ren und an sei­nen Strip­pen zie­hen, um ihn mög­li­cher­wei­se aufs Kreuz zu legen. „Vie­le Men­schen han­deln wie Mario­net­ten, die sich in Erwar­tun­gen und Idea­len ver­wickelt haben”, gibt er zu beden­ken. Weil sie nicht über ihr Den­ken nach­den­ken, sei­en vie­le Mit­men­schen ver­strickt und gefan­gen in Erwar­tun­gen, Idea­len und sozia­len Net­zen, die sich häu­fig als ver­fehlt her­aus­stel­len, sobald das Den­ken dar­über in Gang kommt.

Weniger Antworten als Fragen

Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psy­cho-Doc. Oder ist es eine typi­sche Semi­nar­si­tua­ti­on, wie Nen­nen sie regel­mä­ßig mit sei­nen Stu­den­ten teilt? Die Wahr­heit bewegt sich wohl irgend­wo dazwi­schen. Ganz trenn­scharf sind die Lini­en zwi­schen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie ohne­hin nicht immer, gibt auch der Phi­lo­soph zu. Der Unter­schied zwi­schen bei­den ist wohl der Grad an Frei­heit. Ein Psy­cho­lo­ge behand­le eher Stö­run­gen, die einen Men­schen in sei­nem Leben ein­schrän­ken, dif­fe­ren­ziert Nen­nen. Als ambu­lan­ter Phi­lo­soph hin­ge­gen will er im Men­schen selbst das Hand- und Denk­werk­zeug wecken, sich in sei­ner sozia­len Umwelt zu fin­den und zu ver­or­ten: „Das ist Selbst­pro­gram­mie­rung”, sagt Nen­nen. „Phi­lo­so­phie­ren kostet Zeit. Wer es aus­ge­las­sen tut, ent­la­stet sich nicht, son­dern bela­stet sich zusätz­lich.” Denn die Phi­lo­so­phie beher­ber­ge weni­ger kon­kre­te Ant­wor­ten als immer mehr Fra­gen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesell­schaft stel­len kann. Nen­nen: „Daher braucht es den Phi­lo­so­phen als Rat­ge­ber in die­sen Fra­gen. Wie einen Pfad­fin­der, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedan­ken, Idea­le und Gefüh­le hin­durch führt.”

So müs­sen sei­ne Gesprächs­part­ner auch die Kosten für die ein­stün­di­ge Win­ne­bago-Den­ker­run­de von fünf­zig Euro selbst bezah­len. Einen Psy­cho­lo­gen zahlt im Regel­fall die Kran­ken­kas­se. Davon, dass das deut­sche Gesund­heits­sy­stem auch die phi­lo­so­phi­sche „Ori­en­tie­rung zur Selbst­ori­en­tie­rung”, wie Nen­nen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stück­chen ent­fernt. Der gesell­schaft­li­che Trend zum Nach­den­ken übers Den­ken sei Jahr­tau­sen­de nach Pla­ton aller­dings wie­der auf dem Weg zurück ins all­ge­mei­ne Bewusst­sein, stellt er fest: „War­um bekommt Richard David Precht sonst eine eige­ne Fern­seh­sen­dung?” Die Phi­lo­so­phie scheint gera­de in der Kri­se und in einer Über­gangs­zeit an Bedeu­tung zu gewin­nen. Denn gera­de dann suchen die Men­schen nach etwas Neu­em, wor­an sie sich fest­hal­ten kön­nen. Dabei soll­ten sie doch viel bes­ser dar­über nach­den­ken, wie sie sich selbst vor allem auch von neu­en Sei­ten ken­nen ler­nen und selbst ori­en­tie­ren kön­nen, mahnt Nennen.

Postmoderne Zersplitterung

Nur all­zu­oft sieht der ambu­lan­te Phi­lo­soph unse­re Idea­le mehr als nur zwie­späl­tig. „Ich habe den begrün­de­ten Ver­dacht, vie­le unse­re Idea­le könn­ten gar falsch sein”, streut er auf ein­mal und ein wenig plötz­lich ein. „Wir tref­fen Ent­schei­dun­gen ohne dar­über nach­zu­den­ken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spie­len Rol­len, ohne zu wis­sen, war­um wir sie so und nicht anders spie­len. Und das Schlimm­ste ist: Die mei­sten Men­schen glau­ben, sie wüß­ten, was sie den­ken und tun!” Kurz­um: Wir machen frem­de Idea­le zu unse­ren eige­nen – ohne zu wis­sen, war­um. Ein­fach so. Ohne jemals dar­über nach­ge­dacht zu haben. Es ist die sozia­le Ent­frem­dung und post­mo­der­ne Frag­men­ti­sie­rung, die der Phi­lo­soph beklagt.

Das Leben gestal­tet sich zuneh­mend kom­ple­xer. Es ist soviel da, aber alles nur bruch­stück­haft. Die Zivi­li­sa­ti­on und Ver­städ­te­rung habe die Men­schen zu ver­spreng­ten, zer­split­ter­ten Indi­vi­du­en gemacht, sagt Nen­nen. Bei allen posi­ti­ven Facet­ten der Indi­vi­du­li­tät han­del­ten die Men­schen aller­dings bei wei­tem noch nicht genü­gend selb­stän­dig und aus sich selbst her­aus. Denn gera­de das ist eine nicht immer wohl­schmecken­de Pil­le – vor allem für die, die in der Lage sind, sou­ve­rän zu denken.

Denken wie eine freischwebende Feder

Heinz-Ulrich Nen­nen ist ein Frei­den­ker. Er ver­gleicht die Phi­lo­so­phie ger­ne mit einer frei­schwe­ben­den Feder: „Ziel des Phi­lo­so­phie­rens ist es, die Feder stets in der Schwe­be zu hal­ten.” Sie darf nicht her­un­ter­fal­len, aber sie darf sich auch nicht mit dem näch­sten Wind­stoß so ein­fach ver­ab­schie­den. Nen­nen denkt bei die­sem Bild ins­be­son­de­re an die Ur-Phi­lo­so­phie eines Pla­ton: Solan­ge alles in der Schwe­be bleibt, ist der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs, der eige­ne Geist und damit auch das eige­ne Leben in Bewe­gung. Aller­dings offen­bart die Schwe­be-Phi­lo­so­phie – nicht zuletzt in Per­son eines Fried­rich Nietz­sche – gewiss auch ein enor­mes Absturz­po­ten­ti­al. Stän­dig das eige­ne, im unend­li­chen Raum schwe­ben­de Selbst zu suchen und zu fin­den, kann auch eine ewi­ge Jagd zwi­schen Hase und Igel sein. Phi­lo­so­phie kann feder­leicht beflü­geln, aber sie kann auch schwer­mü­tig fes­seln – bis zum Exzess.

Gera­de in Zei­ten einer all­ge­mei­nen sozia­len Ver­un­si­che­rung ist der Schwe­be­zu­stand logi­scher­wei­se beson­ders pre­kär. Men­schen brau­chen Ori­en­tie­rung. Vie­le Jahr­hun­der­te lang waren die Kir­che und der Glau­be an Gott dafür zustän­dig. Es gibt Göt­ter, sie ver­kör­pern unse­re Idea­le aber auch unse­re Äng­ste, das steht auch für den Phi­lo­so­phen außer Fra­ge. Nen­nen: „Sie waren und sind seit Jahr­tau­sen­den das, wonach die Men­schen stre­ben.“ In Zei­ten, in denen es Reli­gi­on und Kir­che schwer haben, über­neh­men aller­dings zuneh­mend ande­re deren Auf­ga­be. Micha­el Jack­son etwa. Nen­nen meint Ido­le, an denen sich die Men­schen aus­rich­ten – ohne dass die­se Ido­le noch ech­te Men­schen wären. Denn sie sind ledig­lich Bil­der, ein „Ima­go”, wie Nen­nen sagt. Sie bil­den das popu­lä­re Image als ver­mensch­lich­ten Lebens­geist ab.

Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler

Bis zur Selbst-Auf­ga­be habe der „King of Pop” den Men­schen etwas dar­bie­ten wol­len. „Dabei hät­te es doch gereicht, wenn er ein­fach nur dage­we­sen wäre”, bedau­ert Nen­nen. „Jack­son muss­te kaum mehr etwas dafür tun, dass die Mas­sen außer sich gerie­ten.” So habe er ein Kon­zert durch minu­ten­lan­ges Still­ste­hen begon­nen, wor­auf die Fans jede noch so gerin­ge ruck­ar­ti­ge Bewe­gung fre­ne­tisch fei­er­ten. „Auch bei der neu­en Tour­nee hät­ten die Fans ihn ver­göt­tert”, denkt Nen­nen. Aber Jack­son habe zu viel gewollt: „Er woll­te bes­ser sein als Micha­el Jack­son und hat damit den glei­chen Feh­ler gemacht wie Nietz­sche.” Wäh­rend der Pop­star im Alter von ein­und­fünf­zig Jah­ren an einer Über­do­sis von Schmerz­mit­teln starb, hielt es Phi­lo­soph Nietz­sche zwar noch eine Hand­voll Jah­re län­ger aus. Aber auch er stürz­te ab.

Er habe sei­ne Feder zu hoch flie­gen las­sen, sagt Nen­nen, sich dar­aus sehr vage Flü­gel gebaut. Er hät­te sich am Rat sei­nes Vaters Daeda­lus ori­en­tie­ren sol­len, stets in der Mit­te zwi­schen dem kal­ten Meer und der hei­ßen Son­ne zu flie­gen. Aber er soll­te bekannt­lich der Son­ne zu nahe kom­men und mit gebro­che­nen Flü­geln abstür­zen. Er ist zu lan­ge zu hoch geflo­gen, um die gött­li­che Son­ne sei­nes eige­nen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewach­sten Trag­flä­chen sei­ner See­le ver­brannt. Er starb schließ­lich im Alter von sechs­und­fünf­zig Jah­ren. „Irgend­wann löst sich bei den Stars unse­rer Tage das pro­mi­nen­te Göt­ter­bild ab und beginnt ein Eigen­le­ben zu füh­ren”, erläu­tert Phi­lo­soph Nen­nen. „Da kommt es auf den Cha­rak­ter hin­ter der Kunst­fi­gur kaum mehr an. Die Leu­te wol­len den Men­schen dahin­ter gar nicht mehr sehen. Sie ken­nen ihn schließ­lich über­haupt nicht, son­dern spie­geln ledig­lich ihre eige­nen Idea­le auf ein uner­reich­ba­res Bild.”

Ergebnisoffene Wege

Sie ver­ehr­ten anstel­le des­sen ein kun­ter­bun­tes Pot­pour­ri ihrer eige­nen Gefüh­le und Sehn­süch­te, wie sie etwa in einem Gott Jack­son deut­lich inten­si­ver zu Tage tre­ten, als sie es jemals in der Per­son hin­ter der Pop-Iko­ne könn­ten. Daher wer­de in den Regen­bo­gen­me­di­en so gern der so genann­te „Mensch dahin­ter” insze­niert, was den Wider­spruch nur noch wei­ter ver­schär­fe. So stellt Nen­nen fest: „Göt­ter müs­sen sich nicht recht­fer­ti­gen. Wir aber müs­sen das.” Dabei sei doch jeder Irr­tum das Größ­te, das man an und in sich ent­decken kann: „Gera­de der Unter­schied zwi­schen Mensch und Gott ist das, wor­auf es ankommt. Wenn ein Irr­tum auf­fliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröh­lich – und sogar über­aus glück­lich.” Kein Irr­tum sei es wert, sich dar­über zu ärgern. Man soll­te nur erken­nen und dar­um wis­sen, dass man eine „syste­ma­tisch fal­sche Metho­de” benutzt hat. Ande­res Denk­in­stru­ment – neue Chan­ce. Was für Nen­nen zählt, ist der „ergeb­nis­of­fe­ne Weg” – nicht eine vor­ei­li­ge Ent­schei­dung oder ein vor­schnel­les Urteil.

Heinz-Ulrich Nen­nen schaut aus dem gro­ßen Fen­ster des Cafès auf das wel­li­ge Was­ser des Kanals und die alten, ver­wai­sten Bahn­schie­nen, die davor durchs wild gewach­se­ne Gras schim­mern. „Wenn wir die Wei­che fin­den, vor der wir noch alle Optio­nen hat­ten, kön­nen wir nur dar­aus ler­nen”, sagt er. Dann ver­ab­schie­det er sich für die­sen Tag. Der ambu­lan­te Phi­lo­soph hat noch einen Ter­min. Er krault noch ein­mal durch sei­nen Bart, steigt auf sein gemüt­li­ches Peder­sen-Dra­chen­rad und fährt über die holp­ri­gen alten Wasch­be­ton­plat­ten davon. Aber schon bald, kommt er wie­der. Das ist sicher. Zum Den­ken übers Den­ken in sei­nem india­ni­schen Winnebago.

Bio

Dr. Heinz-Ulrich Nennen

Bis 1989 stu­dier­te Heinz-Ulrich Nen­nen Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten an der Uni Mün­ster. Er pro­mo­vier­te über „Öko­lo­gie im Dis­kurs“, habi­li­tier­te 2003 über die „Slo­ter­di­jk-Debat­te“ und arbei­tet nun als Hoch­schul­leh­rer an der Uni Karls­ru­he. Zuhau­se aber fühlt er sich noch immer in Münster.


Mit dem Pedersen erobert er die Stadt

Mit seinem Pedersen erobert er die Stadt

11. Juni 2012, von Jana*

Dr. Nennen mit seinem Pedersen

Heu­te tra­fen wir Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, Hoch­schul­leh­rer und Pri­vat­do­zent für Phi­lo­so­phie in Karls­ru­he, vor sei­nem 12m lan­gen Wohn­mo­bil zum Interview. 

Als wir ihn neu­lich im Hafen auf sein Peder­sen-Rad anspra­chen, war er zunächst skep­tisch, dach­te wohl zunächst an einen Ulk, war schließ­lich aber doch zu einem Inter­view bereit. Glück für uns, denn so konn­ten wir bei unse­rem Besuch in sei­ner unge­wöhn­li­chen „Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz“ am Dort­mund-Ems-Kanal in aller Ruhe mehr über ihn und sei­ne Lei­den­schaft zum Peder­sen erfahren.

Herr Dr. Nen­nen, eine Fra­ge vor­weg: Sie haben nicht nur ein unge­wöhn­li­ches Fahr­rad son­dern auch ein unge­wöhn­li­ches Domi­zil. Was hat es mit die­sem Wohn­mo­bil auf sich?

Es ist ein ame­ri­ka­ni­scher „Win­ne­bago”, benannt nach einem India­ner­stamm, Bau­jahr 1988, der zuletzt als Mes­se­mo­bil lief und eigens dazu umge­baut wor­den ist. Die­ser Wagen ist seit­dem sehr viel sach­li­cher gewor­den. Fah­ren läßt er sich, es ist aller­dings etwas auf­wen­dig und kostet nicht nur Ner­ven wegen der Län­ge son­dern auch eini­ges an Geld auf­grund eines Ben­zin­ver­brauchs, der nicht mehr wirk­lich zeit­ge­mäß ist. Aber wenn er fährt, dann ist es herr­lich und wenn er steht, dann gibt es nichts, das ich ver­mis­sen wür­de. Vor allem schät­ze ich die Rund­um­sicht, denn die gro­ßen Fen­ster haben wie­der etwas von einem Eisenbahnwaggon.

Und hier woh­nen Sie?

Nein, es ist mei­ne „Denk­werk­statt“, mit­un­ter auch mei­ne „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz“. Ich bin viel unter­wegs, aber wenn ich dann hier bin, genie­ße ich die Nähe zur Stadt, den Tru­bel am Kanal und den Blick zum Was­ser. Ich habe eini­ge Jah­re im Stadt­ha­fen von Mün­ster gestan­den, direkt gegen­über der Fla­nier­mei­le, wo es manch­mal doch etwas laut und hek­tisch wird, hier ist es doch ein wenig beschaulicher.

Wie sind Sie zu Ihrem außer­ge­wöhn­li­chen Rad gekommen?

Ich war damals in Stutt­gart an der „Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung“ beschäf­tigt und hat­te mir eigent­lich in den Kopf gesetzt, ein taz-Rad zu kau­fen – das ist jetzt 15 Jah­re her. Also bin ich zu einem bestimm­ten Fahr­rad­la­den gegan­gen. Dort habe ich mir aber auch ande­re Räder, die für mich in Fra­ge kamen, vor dem Laden auf­bau­en las­sen und die­se dann im flie­gen­den Wech­sel aus­pro­biert. So im direk­ten Ver­gleich läßt sich ein Rad noch am Besten testen – mit Par­füms kann man das so nicht machen. Ab dem drit­ten oder vier­ten Duft ist die Nase nicht mehr bereit, Dif­fe­ren­zie­rungs­ar­bei­ten zu lei­sten. (Er lacht.) Daß es dann ein Peder­sen wur­de, war rei­ner Zufall und doch Lie­be auf den ersten Blick.

Wer­den Sie oft ange­spro­chen, wenn Sie mit Ihrem Rad hier in Mün­ster unter­wegs sind?

Oh ja, die­ses Fahr­rad erregt Auf­se­hen, es ist unge­wöhn­lich, man­che ste­he davor und ver­su­chen, die Kon­struk­ti­on nach­zu­voll­zie­hen. Nor­ma­ler­wei­se sind Draht­esel nicht gera­de ein ästhe­ti­sches Ereig­nis. Das Peder­sen hat etwas beson­de­res und in Mün­ster ist sozu­sa­gen ein­zig­ar­tig, obwohl ich mei­ne, hier schon jeman­den auf einem Peder­sen gese­hen zu haben, es gibt aber nur sehr weni­ge. Ich habe es mir aber nicht zuge­legt um auf­zu­fal­len, son­dern weil es sich so gut fah­ren läßt und auch, weil ich es schön fand. Daß es dann aber der­art auf­fällt, war mir beim Kauf noch nicht bewußt. Man­che hal­ten die­ses Fahr­rad sogar für ein Hoch­rad, weil der Len­ker so hoch gezo­gen ist und fra­gen, ob man das Fah­ren erler­nen müß­te. Der Auf­stieg ist aller­dings eher unge­wöhn­lich, da er, ganz anders als beim Tie­fein­stieg, mehr Kör­per­ge­fühl ver­langt. Man könn­te näm­lich, ähn­lich wie bei einem Pferd auf der einen Sei­te auf­zu­stei­gen und auf der ande­ren wie­der herunterfallen.

Sie ver­glei­chen Ihr Rad mit einem Pferd?

Ja durch­aus, je län­ger ich dar­über nach­den­ke, desto pas­sen­der scheint mir die­ser Ver­gleich. Der Auf­stieg, die Höhe und die Form des Len­kers, das sehr auf­rech­te Sit­zen, dann die­ser Sat­tel, – alles erin­nert an ein Pferd. Und beim Fah­ren kom­me ich mir vor wie ein Cow­boy, der mit sei­nem Pferd die Prä­rie der Städ­te erobert. Da gibt es eine berühm­te Sze­ne in einem ame­ri­ka­ni­schen Western: Die Ver­fol­ger sit­zen sin­ni­ger­wei­se bereits im Eisen­bahn­wag­gon auf ihren Pfer­den und sprin­gen her­un­ter, sobald der Zug hält. Das hat was, so vom Zug zu kom­men um sich eine Stadt syste­ma­tisch von Vier­tel zu Vier­tel erobern zu kön­nen, das ging damals nur mit dem Pferd – heu­te geht das nur mit einem Cruiser.

Der Sattel

Die­se Frei­heit scheint Ihnen viel zu bedeuten!

Es gibt wohl kaum eine Bewe­gungs­wei­se die frei­er aber auch öko­no­mi­scher ist als das Rad­fah­ren. Auf die­sem Rad habe ich den Über­blick. Ich sit­ze, fah­re, wen­de, las­se mich wie­der glei­ten und kann alles betrach­ten, so wie ich möch­te. Es gibt mir Frei­heit, Sou­ve­rä­ni­tät und Unab­hän­gig­keit von aus­ge­tre­te­nen Wegen. Ähn­lich wie zu ande­ren Zei­ten mit einem Reit­pferd, kom­me ich mit dem Rad von A nach B und nicht, wie mit dem Auto, nur bist zum näch­sten Park­platz. Für klei­ne­re Trans­por­te habe ich Fahr­rad-Taschen vor­ne und hin­ten und auch grö­ße­re Kof­fer kann ich mit einem spe­zi­el­len Trä­ger zum Bahn­hof trans­por­tie­ren. Für mich ist es der größ­te Luxus, kein Auto zu brau­chen, denn das ist wirk­li­che Frei­heit, gar kei­nes haben zu müs­sen. Ich bin stol­zer Besit­zer einer Bahn­card 100, damit kom­me ich über­all hin, und im Zwei­fels­fall kann ich mir damit vor Ort auch ein Auto mie­ten. Wenn ich eine Wei­le in einer ande­ren Stadt bin, dann ver­mis­se ich mein Rad schon bald, daher neh­me ich es so oft wie mög­lich mit. Ande­re haben ein Tier, für mich ist das Peder­sen mein stän­di­ger Begleiter.

Koffer-Träger

Naja, Sie haben ja sozu­sa­gen bei­des, Pferd und Rad in einem! Aber auch ein Pferd muß gefüt­tert wer­den, oder?

Ein Fahr­rad kauft man sich fürs Leben. Lie­ber inve­stie­re ich ein­mal in ein wirk­lich gutes Rad, als drei­mal in durch­schnitt­li­che Räder. Da kom­me ich am Ende auf den glei­chen Preis und dabei ist das Peder­sen wirk­lich pfle­ge­leicht. Die­ses Rad besit­ze ich seit 15 Jah­ren und ich muß­te bis­her nicht ein­mal die Ket­te wech­seln. Klar, ab und an muß man mal die Män­tel erneu­ern oder hier und da den Rost aus­bes­sern, aber alles in allem hat mich mein Rad noch nie enttäuscht.

Also wird Ihre Wahl in Zukunft immer wie­der auf ein Peder­sen fallen?

Ja defi­ni­tiv, ein ande­res Rad käme für mich nicht mehr in Fra­ge. Auf einer Ska­la von 1–10, wenn 10 das höch­ste ist, kommt für mich die Lei­den­schaft zum Peder­sen und dem Rad­fah­ren an sich ganz klar auf eine 9.

Dr. Nen­nen, vie­len Dank für die­sen gemüt­li­chen und auf­schluß­rei­chen Nach­mit­tag und viel Spaß wei­ter­hin beim Erkun­den der Prä­rie in den Städ­ten, mit ihrem ganz beson­de­ren „Reit­pferd“!

Bildschirmfoto 2012-06-19 um 00.08.15

* Der Blog con​rad​.4arts​.info von Fari­na und Jana aus Mün­ster befaß­te sich mit klei­nen Anek­do­ten, Kurz­ge­schich­ten oder Schnapp­schüs­sen rund ums The­ma Fahr­rad, ist aber inzwi­schen off­line. Gleich­wohl soll die­ser Bei­trag hier noch­mals wie­der­ge­ge­ben wer­den, weil es doch schließ­lich dar­um ging, dem Fla­neur ein zeit­ge­mä­ßes Fort­be­we­gungs­mittel auf den Leib zu schneidern.


Anthropologie der modernen Welt

Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia

Wal­ter Cra­ne: Die Ros­se des Nep­tun. Neue Pina­ko­thek Mün­chen, Public Domain @ Wiki­me­dia

Das multible Selbst

Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heu­te. Alle ihre ein­zel­nen Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen, es sind Spu­ren ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die Gei­ster von Clans, Land­schaf­ten und Kul­tu­ren, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. Gera­de Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich selbst dabei doch treu zu blei­ben. Daher beherr­schen sie das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alkmene.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on wird nicht nur die Außen­welt, son­dern auch die Innen­welt immer wei­ter aus­dif­fe­ren­ziert. Mit der Zivi­li­sa­ti­on, Ratio­na­li­tät und Moder­ne geht daher stets auch ein Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se ein­her. Göt­ter haben uns dabei stets etwas vor­aus, sie ver­kör­pern die Idea­le, auf die es ankommt. Dem­entspre­chend läßt sich anhand der außer­or­dent­li­chen Fähig­kei­ten von Göt­ter die Zukunft der Psy­che able­sen. Das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu können.

Die klas­si­schen Ein­wän­de dage­gen, das sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit mehr, son­dern eben Insze­nie­rung, es sei kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern nur Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht mehr ver­fan­gen. Wir haben nicht eine ein­zig wah­re Natur, das ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein wür­de. Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, es kommt dar­auf an, was sich in der Wahr­neh­mung ereig­net. Ent­schei­dend ist das Erle­ben, etwa einem Schau­spie­ler abneh­men zu kön­nen, was er vor­gibt zu sein.

Wir alle spie­len Thea­ter, was eben nicht bedeu­tet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Mas­ken­spiel ist dabei mehr als nur eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pho­rik für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand Ande­ren, wech­selt also die Identität.

[gview file=“https://nennen-online.de/wp-content/uploads/Nennen-Anthropologie-der-modernen-Welt.pdf”]


Psychologie in Mythen und Märchen

Gustave Moreau [Public domain], via Wikimedia Commons

Gust­ave Moreau [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

Über die todessehnsüchtige Melancholie der Ungeheuer

Die Plots aus­neh­mend vie­ler Mär­chen und Mythen ran­ken sich immer wie­der um abson­der­li­che Gestal­ten und Figu­ren, um selt­sa­me Wesen. Nicht sel­ten sind es Mon­ster, deren Exi­stenz äußerst pro­ble­ma­tisch ist. Oft sind sie ent­stellt, der Zugang zu ihrer eige­nen Natur ist ihnen genom­men. Eigent­lich dürf­ten sie gar nicht sein, aber es ist etwas Unge­heu­er­li­ches vorgefallen. 

Ein Fluch, ein böser Zau­ber liegt über dem gan­zen Land und läßt sich ein­fach nicht lösen. Irgend etwas hat die­ses Mon­ster auf den Plan geru­fen, das Unge­heu­re ist nicht ein­fach nur da. Es taucht nicht ein­fach nur auf, son­dern ist selbst ver­ur­sacht. Und nun gehen von Stund an ganz erheb­li­che Wir­kun­gen davon aus. Nichts kann so blei­ben wie es ist, aber nichts läßt sich ändern. Die Lage ist aus­sichts­los, zu vie­le haben es bereits ver­sucht, sind kläg­lich geschei­tert und haben dabei ihr Leben verloren.

Es ist bemer­kens­wert, wie erstaun­lich anschluß­fä­hig mär­chen­haf­te Unge­heu­er und mythi­sche Mon­ster eigent­lich sind. Sie sind nicht sel­ten unglück­lich über sich selbst. Aber der Zau­ber einer Untat hat Macht über sie, hat sie ins Leben, in die Wirk­lich­keit geru­fen, hat ihnen zu erschei­nen befoh­len und nun sind sie da, eben­so unge­heu­er­lich wie bere­chen­bar, nach­fühl­bar, in ihrer Exi­stenz nach­voll­zieh­bar, wenn man ihnen nur Gele­gen­heit bie­tet, zu sagen, was es mit ihnen auf sich hat. – Das Mon­ster betritt die Büh­ne stets in dem Augen­blick, von dem ab die Hand­lung ihren unum­kehr­ba­ren Ver­lauf neh­men wird, alles läuft zunächst auf die Kon­stel­la­ti­on abso­lu­ter Aus­weg­lo­sig­keit hin­aus. Der Schlaf der Ver­nunft gebiert die­se Ungeheuer.