Philosophischer Salon
Literaturhaus im Prinz-Max-Palais
SS 2020 | donnerstags | 18:00–20:00 Uhr

Wassily Kandinsky: Thirty (1937). Musée national d’art moderne, Paris.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.
Kultur ist ein Mittel, nicht einfach nur verrückt zu werden, angesichts der überfordernden Komplexität einer Welt, der wir als Individuen und auch als Gattung ziemlich gleichgültig sind. Es gilt, darüber hinaus zu gehen und Ordnung zu schaffen, also Bedeutungen. Kultur bietet Orientierung und Schutz, sie gewährt Erwartungssicherheit, basale Gefühle und die Erfahrung, getragen sein von wieder erkennbaren Strukturen, die verläßlich sind.
Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich daran das eigene Orientierungsvermögen selbst wieder orientieren läßt. Daher ist Orientierungsorientierung von so große Bedeutung, denn Sinn verschafft Sicherheit im Geiste, und das in einer Welt, die übermächtig und eigentlich auch unbeherrschbar erscheint. Aber die Welt läßt sich in Geschichten verstricken, so daß wir uns wie an einem Ariadnefaden im Labyrinth einer immer unübersichtlicher werdenden Welt orientieren können, obwohl wir sie als ganze gar nicht überschauen.

Literaturhaus | Prinz-Max-Palais | Karlstraße 10 | Karlsruhe
Menschen sind Orientierungswaisen. Jedes Tier ist vollkommen integriert in den angestammten Lebensraum.—Man möchte annehmen, daß ›die‹ Natur mit dem Menschen das Spiel eröffnet hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaffen, das sich selbst orientieren kann. Inzwischen ist die Welt fast vollständig umgebaut worden. Schon bald werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben.
Der Anspruch, sich in diesen künstlichen Welten zu orientieren, steigt ständig. Zur Orientierung braucht es inzwischen Orientierungsorientierung. Dabei soll gerade auch die Individualität zum Zuge kommen.—Die Zeiten sind vorbei, in denen traditionelle Rollen mustergültig gelebt werden mußten, vor allem Geschlechteridentitäten, die keinen Ausbruch, keine Abweichung, keine Sperenzien duldeten. Immer weniger ›Sinn‹ ist vorgegeben, was eben bedeutet, sich selbst zu orientieren.
Seit alters her werden einschlägige Antworten auf letzte Fragen immer wieder neu von den Mythen gegeben, die das Kunststück beherrschen, Weltvertrauen und Zuversicht zu schaffen. Wie das geschieht, das soll mit immer wieder neuen Einsichten im Philosophischen Salon zur Erfahrung gebracht werden.—Menschen sind kosmische Waisen, ausgesetzt in dem Bewußtsein, sich selbst bedenken zu müssen.



Mythen bieten ganz großes Theater. Wer sich darauf einläßt, findet sich alsbald schon in einer sehr privilegierten Position, nahe genug am Geschehen, um alles mitzubekommen, aber weit genug entfernt, nicht selbst mit hineingerissen zu werden.—Mythen dienen unserem Anspruch auf Sinn, wenn sie mustergültig durchspielen, was der Fall gewesen sein könnte, um uns anstelle von Erklärungen eine Erläuterung anzudienen. Eben das macht Kultur und Bildung aus,anhand zeitübergreifender Motive einschlägige Erfahrungen zu machen, um Vielfalt und Komplexität würdigen zu können und nicht als Bedrohung empfinden zu müssen.
Nicht von ungefähr wird diese Ergriffenheit im Symposion bei Platon als Wahn begriffen und sodann als ›heiliger‹ Wahn geadelt.—Von einem Augenblick zum anderen kann es aus unerfindlichen Gründen geschehen, was nicht selten ohne Mühe auch Umstehende beobachten können: Eine tiefgreifende Wesensveränderung geht damit einher; Gefühle, Herz und Verstand, Kopf und Bauch, der ganze Körper spielt verrückt.
Ein neues Verständnis von Politik steht auf der Agenda. Es geht um ein neues Miteinander, das in der Anonymität unserer Städte inzwischen kaum mehr möglich scheint.—Im Vergleich zu vormaligen Epochen sind wir seit den 70ern jedoch sehr viel selbstbewußter, selbstbestimmter, emanzipierter und insofern tatsächlich ›mündig‹ geworden. Also wer braucht wirklich noch Politiker, um die eigenen Interessen zu vertreten? Wer braucht noch politische Parteien mit Gesamtpaketen, die man von Fall zu Fall anders schnüren würde?












