Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Heinz–Ulrich Nennen

EPGII

Ober­se­mi­nar

EPG II

Ethisch–Philosophisches Grund­la­gen­stu­di­um II


SS 2021 | freitags | 14:00–15:30 Uhr | Raum: online 

Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

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Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.
Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Karlsruher Philosoph erkennt mit Corona Zeitenwende

„Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereignet“

Der am KIT for­schen­de Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen sieht mit Coro­na eine neue Zeit angebrochen

Die Coro­na-Kri­se ist zu einem der aktu­el­len For­schungs­schwer­punkt des am KIT täti­gen Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sors Heinz-Ulrich Nen­nen gewor­den. Der Gei­stes­wis­sen­schaft­ler unter­sucht die Aus­wir­kun­gen der welt­wei­ten Virus­kri­se auf den Umgang der Men­schen unter­ein­an­der und die Moralvorstellungen. 

Inter­view mit Wolf­gang Voigt. In: Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 8. Mai 2020. 

Der Phi­lo­soph Heinz-Ulrich Nen­nen erkennt in der Coro­na-Kri­se den Beginn einer neu­en Zeit.

Wie wirkt die Coro­na-Kri­se auf das Leben der Men­schen, wie auf Moral­vor­stel­lun­gen und den Umgang mit­ein­an­der? Die Beschäf­ti­gung mit sol­chen Fra­gen nennt der am KIT täti­ge Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen, „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“. Mit dem Gei­stes­wis­sen­schaft­ler sprach BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt.

Laut Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le bedeu­tet die Wür­de des Men­schen nicht not­wen­dig, dass alles ande­re hin­ter dem Schutz von Leben zurück­tre­ten muss. Eine halt­ba­re These?

Heinz-Ulrich Nen­nen: Der Bun­des­tags­prä­si­dent hat kraft sei­nes Amtes und viel­leicht auch vor dem Hin­ter­grund sei­nes per­sön­li­chen Schick­sals, Atten­tats­op­fer gewor­den zu sein, einen ziem­lich unspek­ta­ku­lä­ren Gedan­ken in die über­hitz­te Debat­te geworfen.

Wir haben Güter­ab­wä­gun­gen vor­zu­neh­men, und seit wir die Göt­ter in vie­lem beerbt haben, umso mehr. Wolf­gang Schäub­le hat einen Impuls gesetzt, und das war gut. Ich wer­de nie ver­ges­sen, wie mein Dok­tor­va­ter, Pro­fes­sor Wil­helm Goerdt, der in Russ­land in Gefan­gen­schaft war, reagier­te, als ich ihm die Dring­lich­keit einer öko­lo­gi­schen Wen­de dar­stel­len woll­te: „Schließ­lich geht es ja um unser aller Leben!“

Er sag­te unge­rührt und ziem­lich fest: „Ist das alles?“ Mir gab das zu den­ken. Um es mit Schil­ler zu sagen: „Das Leben ist der Güter höch­stes nicht, der Übel größ­tes aber ist die Schuld.“

Ist die Ret­tung des Wirt­schafts­le­bens ange­sichts der Lebens­ge­fahr für Risi­ko­grup­pen also ein legi­ti­mes Anliegen?

Die Eng­füh­rung, ent­we­der Wirt­schaft oder Tod, ist ten­den­zi­ös. Aber in der Tat hat die Wirt­schaft nie einen Hehl dar­aus gemacht, einer absur­den Theo­rie vom Markt als frei­er Wild­bahn zu frö­nen. Die Poli­ti­ker, ins­be­son­de­re die Kanz­le­rin, die zu der Ent­schei­dung gekom­men ist, den Not–Aus–Schalter zu betä­ti­gen, waren der Auf­fas­sung, das ein­zig Rich­ti­ge zu tun. Es ist eine Schock-Star­re, die dar­auf ein­ge­tre­ten ist.

Zwei­fels­oh­ne ist mit der Corona–Krise ein Para­dig­men­wech­sel von­stat­ten gegan­gen. Die Poli­tik war bis­lang die Magd der Wirt­schaft, wie es einst die Phi­lo­so­phie der Theo­lo­gie gegen­über war. Und urplötz­lich ist die Poli­tik die unum­strit­te­ne Her­rin im Haus.

Sehen Sie Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, der sich durch die Kri­se ein­stellt? Wenn ja, wie sieht er aus?

Die Welt danach wird eine ande­re sein. Es gibt drei mög­li­che Sze­na­ri­en: ein auto­ri­tä­res, eines, das allen Ern­stes glaubt, man könn­te zum vor­ma­li­gen All­tag zurück­keh­ren, und ein drit­tes Sze­na­rio, das den Kai­ros, also den glück­li­chen Augen­blick, beim Schopf ergrei­fen will.

Unterm Strich sehe ich schon einen mora­li­schen Fort­schritt, weil das bis­he­ri­ge Ver­ständ­nis von Poli­tik kol­la­bie­ren muss. Das mit­tel­al­ter­li­che Bild vom Guten Hir­ten mit einer Her­de, die der Füh­rung bedarf, wird durch die Kri­se über­holt. Es war immer schon inhu­man, den Men­schen als sol­chen zu ver­ach­ten und ihm gar kei­ne Chan­cen zu geben, sich selbst zu verbessern.

Wir sind also Zeu­gen einer Zeitenwende?

Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereig­net. Viel­leicht ist es in der Tat eine Epo­chen-Wen­de, min­de­stens ist es der Über­gang in eine Poli­tik, die sehr viel mehr Mit­be­stim­mung mög­lich machen wird. Das ist auch mei­ne Fun­da­men­tal-Kri­tik an der Poli­tik in der Corona–Krise.

Das Virus mag gefähr­lich sein. Aber die Ein­grif­fe in Grund­rech­te und das damit doku­men­tier­te Miss­trau­en in die Mün­dig­keit und das Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein der Bür­ger ist eine Her­ab­set­zung sondergleichen.

Wie beur­tei­len Sie den Umstand, dass die Coro­na-Maß­nah­men rasant getrof­fen wur­den, wäh­rend sich beim Kli­ma­schutz seit Jah­ren eher wenig tut?

Gre­ta Thun­berg hat zwei­mal eine Ver­wün­schung aus­ge­spro­chen, in New York und in Davos: „I Want You to be in Panic!“ Genau das ist gesche­hen, nur anders als gedacht. Im Hin­ter­grund steht ein neu­er Generationenvertrag.

Dabei ist es bemer­kens­wert, dass man mit der Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren gar nicht erst spricht. Aber ange­sichts von Coro­na lässt sich kon­sta­tie­ren, dass die Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren ihre Rück­sicht nimmt, um der Gene­ra­ti­on der Älte­ren, die ihrer­seits Rück­sicht neh­men soll­te, das mög­lichst lan­ge Leben nicht zu gefährden.

Die­ser Hin­ter­grund jeden­falls ist eine Iro­nie der Geschich­te, und es spricht Bän­de, dass sich die Coro­na-Maß­nah­men genau gegen die Jün­ge­ren rich­ten, vor allem auch gegen die Kin­der, ohne sie selbst zu Wort kom­men zu lassen.

Gegen­wär­tig gilt der Pri­mat der Viro­lo­gen. Kommt da die Phi­lo­so­phie zu kurz?

Aber gewiss. Was Wolf­gang Schäub­le ange­merkt hat, ist anders von Juli­an Nida–Rümelin gesagt wor­den, und Boris Pal­mer hat es über­setzt in den Jar­gon der Mora­li­sten: „Sie wol­len ja wohl nicht ver­ant­wort­lich sein für…“ – Dabei ist Pal­mer bewusst miss­ver­stan­den worden.

Es ist ent­täu­schend, dass die mei­sten Zeit­ge­nos­sen den phi­lo­so­phi­schen Witz bei alle­dem ein­fach nicht ver­ste­hen. Das Lachen der Wei­sen ist eben eines, das die Offen­heit der Ent­wick­lun­gen stets mit bedenkt.

Die Kri­se hat die System-Rele­vanz von Pfle­ge­kräf­ten, Super­markt-Per­so­nal oder auch Lkw-Fah­rern ans Licht gebracht. Braucht es hier eine gesell­schaft­li­che Neubewertung?

Das ist eine Erkennt­nis, die von blei­ben­der Bedeu­tung sein dürf­te. Es ist ja bereits kon­sta­tiert wor­den, dass Applaus ganz nett ist aber nicht genügt. In der Tat wird es Ver­schie­bun­gen geben. Wich­tig ist auch, ob Divi­den­den aus­ge­schüt­tet wer­den in Kon­zer­nen, die sich haben einen Tropf anle­gen lassen.

Die Ban­ken­kri­se war inso­fern eine gute Lek­ti­on. Neun­mal­klu­ge haben sich damals eine Stra­te­gie über­legt, sich vom Staat mit Steu­er­gel­dern ret­ten zu las­sen, und die Rech­nung ist auf­ge­gan­gen. Danach war alles wie immer, nur schlim­mer. So wird es nach der Corona–Krise nicht kom­men, denn die alte Welt ist längst unter­ge­gan­gen, es ist nur die Fra­ge, wie sie wie­der­ge­bo­ren wird.

Wel­chen Ein­fluss hat Coro­na auf Ihre wis­sen­schaft­li­che Arbeit?

Ich habe mich ent­schlos­sen, ein Buch über den Dis­kurs der Coro­na-Kri­se zu schrei­ben, wie ich es schon ein­mal bei einem noch lau­fen­den Skan­dal gemacht habe, näm­lich zur Sloterdijk–Debatte vor rund 20 Jahren.

Es geht mir dabei um eine bestimm­te Metho­de, die ich „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ genannt habe. Seit­her schrei­be ich an die­sem Buch mit dem Titel „Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Transformation“.


„Bei Krisen rät die Philosophie zu Gelassenheit”

KIT-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen erkennt im Coro­na-Virus auch eine Chan­ce zur Bewährung.

Inter­view mit Wolf­gang Voigt: In Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 7. März 2020.

Wie beur­teilt ein Phi­lo­soph die der­zei­ti­ge Corona-Krise?

Heinz-Ulrich Nen­nen ist in die­sem Fach seit 2004 als Pro­fes­sor am KIT tätig. Einer sei­ner For­schungs­schwer­punk­te ist die phi­lo­so­phi­sche Psy­cho­lo­gie. Regel­mä­ßig lädt er inter­na­tio­na­le Kory­phä­en zum „Phi­lo­so­phi­schen Salon“, einem renom­mier­ten Kolloquium.

Mit Heinz-Ulrich Nen­nen sprach BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt.


Karlsruher Philosoph kritisiert Corona-Politik

„Man setzt auf Angst, Zwang, Kontrolle und Druck“

Philosophie-Professor Heinz-Ulrich Nennen übt heftige Kritik an der herrschenden Politik während der Corona-Krise. Nur bestimmte Perspektiven seien im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt zugelassen, beklagt der Geisteswissenschaftler.

Heinz-Ulrich Nennen: Philosoph sieht negatives Menschenbild im Corona-Diskurs. Interview mit Wolfgang Voigt. In: Badische Neueste Nachrichten, 8.12.2020.

Heinz-Ulrich Nen­nen lehrt als Phi­lo­soph am KIT und hat die Coro­na-Pan­de­mie sowie den Umgang mit ihr bereits früh als For­schungs­ge­gen­stand ent­deckt. Im Gespräch mit BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt kri­ti­siert Nen­nen die aktu­el­le Coro­na-Poli­tik und erklärt, wel­che Aus­wir­kun­gen die­se sei­ner Mei­nung nach auf die Men­schen hat.


Der Corona-Diskurs als Katharsis

Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2021. Titel­bild: Wolf­gang Gan­ter: Bac­te­ria­li­ty, Work in Pro­gress. Mit freundl. Genehm. durch Wolf­gang Gan­ter, Ber­lin. (Alle Rech­te vorbehalten!)

Erscheint im Herbst 2021

Seit Urzei­ten waren Men­schen fast immer auf Wan­der­schaft. Aber vor 12.000 Jah­ren kam die Seß­haf­tig­keit auf, also Städ­te, Krie­ge, Reich­tum, Armut, Hoch­kul­tur, Luxus, Elend und Epidemien.

Inner­halb weni­ger Mona­te hat sich ein Virus welt­weit aus­brei­ten kön­nen. Fast über­all wur­de der Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen mit tie­fen Ein­grif­fen in Grund­rech­te. Der Shut–Down schien vie­len als ein­zig mög­li­che Kon­se­quenz, ein Dis­kurs fand gar nicht erst statt.

Eine Rie­ge aus­er­wähl­ter Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen insi­nu­ier­te die Richt­li­ni­en der Poli­tik und die­se betä­tig­te dar­auf den Not–Aus–Schalter. Gan­ze Län­der sind seit­her in Ago­nie, mit immensen Fol­gen für die Exi­stenz, die Kul­tur und nicht zuletzt für die Psyche.

Die­ses Buch wur­de Mit­te März 2020 in der Absicht begon­nen, dem Zeit­geist eine Nasen­län­ge vor­aus zu sein, anfangs noch in der Erwar­tung, die Corona–Krise sei zwar eine lehr­rei­che Epi­so­de, aber bald schon wie­der vor­über. Es galt, die Ent­wick­lung im gro­ßen Gan­zen zu ver­ste­hen, was war und sein wür­de, wel­che Ver­lu­ste zu bekla­gen, wel­che sozia­len, per­sön­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und see­li­schen Kata­stro­phen zu bewäl­ti­gen sind. Dazu zäh­len neue Äng­ste, die blei­ben, Trau­ma­ta, die akut wur­den und sol­che, die neu geschaf­fen wor­den sind. — Wie wer­den wir mit den vie­len per­sön­li­chen Schick­sa­len umge­hen in der Welt, die nach Coro­na kommt?

85% eines Eis­bergs lie­gen unter Was­ser, so ver­hält es sich hier auch. Unse­re Dis­kur­se sind ober­fläch­lich, bei wei­tem nicht umfas­send und sie gehen nicht in die Tie­fe. Wir haben nur den sicht­ba­ren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, wor­auf zu ach­ten wäre. Nicht min­der ent­schei­dend sind alle erdenk­li­chen wei­te­ren Fol­gen, kul­tu­rel­le, exi­sten­ti­el­le und vor allem auch die psy­chi­schen und sozia­len Neben­wir­kung sämt­li­cher Maßnahmen.

Man bekommt das Gan­ze gar nicht erst in den Blick. Die herr­schen­de Stra­te­gie wird wie üblich als alter­na­tiv­los hin­ge­stellt. Weil vie­le Äng­ste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schick­sals­er­ge­ben­heit hin­ge­nom­men, die gar nicht ange­bracht ist. — Auch wird immer wie­der kon­sta­tiert, man dür­fe Men­schen­le­ben nicht auf­rech­nen, aber genau das geschieht die gan­ze Zeit. Es wer­den andau­ernd heik­le Ent­schei­dun­gen in Ziel– und Wert­kon­flik­ten gefällt aber nicht offengelegt.

Es fehlt das Gespür für die ange­mes­se­ne Art, ergeb­nis­of­fe­ne Debat­ten zu füh­ren. Unse­re Gesprächs­kul­tur hat sich im Zuge der Kri­se wei­ter ver­schlech­tert. Mehr denn je wird Gesin­nungs­kon­trol­le betrie­ben, Ver­un­glimp­fun­gen sind fast schon salon­fä­hig gewor­den. Vie­le sind ein­ge­schüch­tert und wagen gar nicht mehr, sich über­haupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phan­ta­sie und Diver­si­tät in den Debat­ten, weil stän­dig mit Exkom­mu­ni­ka­ti­on bedroht wird, wer auch nur Anstal­ten macht, in Alter­na­ti­ven zu den­ken. — Man kann aller­dings die Maß­nah­men kri­tisch sehen, ohne Coro­na zu leug­nen. Die Kurz­for­mel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidio­ten, Aluhut–Trägern und die Dif­fa­mie­rung jed­we­der Kri­tik ist zutiefst unde­mo­kra­tisch. Das alles sind kei­ne Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, ganz im Gegenteil.

Die mona­te­lan­ge Eng­füh­rung der Debat­ten ist ver­hee­rend, so kann gar kei­ne Ver­nunft in den Dis­kur­sen auf­kom­men. Nur bestimm­te Per­spek­ti­ven sind über­haupt zuge­las­sen. Wer ande­res anspricht, läuft Gefahr, exkom­mu­ni­ziert zu wer­den. Es ist ein Kli­ma der Ein­schüch­te­rung ent­stan­den, dabei käme es dar­auf an, alle erdenk­li­chen Alter­na­ti­ven offen und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. — Das gilt ins­be­son­de­re für Restau­rants und Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die längst bewie­sen haben, daß sie es kön­nen. Man läßt sie nicht, warum?

›Sor­ge‹ ist oft gar nicht so selbst­los, wie sie sich gibt. Sie spie­gelt sich gern selbst und glaubt, unver­zicht­bar zu sein. Dabei steht sie der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung nur im Wege. Die Poli­tik möch­te ganz offen­bar nichts von der neu hin­zu­ge­won­ne­nen Macht wie­der abge­ben. Dage­gen spricht neben der Gewal­ten­tei­lung ein wei­te­res Prin­zip, die Gewalt staat­li­cher Macht ein­zu­schrän­ken, die Sub­si­dia­ri­tät. — Dem­nach wird ein Pro­blem gene­rell zunächst auf der unter­sten Ebe­ne gelöst, also indi­vi­du­ell, fami­li­är oder in der Gemein­de. Erst dann, wenn die­se Mög­lich­kei­ten erschöpft sind, sol­len, dür­fen und müs­sen staat­li­che Insti­tu­tio­nen eingreifen.

Für vie­le gibt es aus­schließ­lich die Kate­go­rien Rich­tig und Falsch. Was bedeu­tet die­se Pola­ri­sie­rung für das Funk­tio­nie­ren der Gesell­schaft? Das Behar­ren auf die­se Unter­schei­dung ent­spricht einer bestimm­ten Ent­wick­lungs­stu­fe bei Kin­dern. Das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ist dann noch nicht so weit ent­wickelt. Tat­säch­lich ist aber erst dann die Über­nah­me per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung mög­lich. Je weni­ger Regeln vor­ge­ge­ben sind, son­dern nur noch Prin­zi­pi­en, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils ange­mes­sen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

Die schwar­ze Päd­ago­gik setz­te da noch ganz auf Stra­fen, was nur dazu führt, die Intel­li­genz her­aus­zu­for­dern. Dann wer­den Regeln nicht aus eige­nen Moti­va­ti­on ein­ge­hal­ten, son­dern nur, weil man nicht erwischt wer­den möch­te. So wird genau der­je­ni­ge Unter­ta­nen­geist erzeugt, den wir eigent­lich hat­ten über­win­den wol­len. Schwar­ze Päd­ago­gik, die mit Zwang und Stra­fe ope­riert, ist seit Jahr­zehn­ten pas­sé. Aber in Poli­tik und Staat sind die alten Zöp­fe aus dem Kai­ser­reich offen­bar noch immer nicht abge­schnit­ten. — Selbst­ver­ant­wor­tung ist eine Fra­ge der Kul­tur, sie muß ein­ge­übt und dann aus­ge­übt wer­den, weil man ganz gewiß immer mal an Gren­zen stößt, über die die Ent­wick­lung hin­aus­füh­ren muß.

Viel hal­ten es aber nerv­lich nicht aus, sich selbst zu ori­en­tie­ren und das Den­ken in der Schwe­be zu hal­ten. Man­che sehen sogar eine Schwä­che dar­in, wenn nicht sofort ent­schie­den und gehan­delt wird, egal wie. Aber die, die das eili­ge Han­deln ver­spre­chen, ver­fol­gen oft ganz ande­re Inter­es­sen. — Noch immer herrscht die Vor­stel­lung vor, beim Dis­ku­tie­ren gin­ge es ums Hau­en und Ste­chen. Dabei fehlt das Lächeln der Wei­sen und die Freu­de dar­an, gemein­sam ein neu­es Den­ken zu ent­wickeln, um damit sehr viel mehr zu ver­ste­hen als jemals zuvor.


Philosophische Ambulanz

Philosophische Ambulanz

WS 2020 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2020

Anmeldung beim House of Competence

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Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

Und sie lau­fen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid’s gewe­sen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
Erst her­vor der alte Meister.

(Goe­the: Der Zauberlehrling)

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Verstehen ist Erfahrungssache

Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.


Wir alle spielen Theater

Wir alle spielen Theater

WS 2020 | donnerstags | 12:00–13:30 | Raum: Online
Beginn: 5. Nov. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

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Mat­thieu Bou­rel: Self­con­fi­dence, Auto­no­my. — Quel­le: https://​high​li​ke​.org.

Die Meta­pher vom Thea­ter ist neben der von der Schiff­fahrt von para­dig­ma­ti­scher Bedeu­tung. Im Mit­tel­al­ter sah man die Welt als Büh­ne, mit nur einem ein­zi­gen Zuschau­er, Gott. — Das ist nur eine von vie­len Sta­tio­nen in der Psy­cho­ge­ne­se, die sich so beschrei­ben läßt, daß wir im Ver­lau­fe der Zeit vie­les ›ver­in­ner­li­chen‹.

Ganz all­mäh­lich ist der inne­re Kos­mos unse­rer Psy­che immer umfang­rei­cher gewor­den. Das wie­der­um führ­te dazu, daß wir auch in der Rol­len­über­nah­me inzwi­schen anders vor­ge­hen. — Rol­len wer­den immer weni­ger ›gespielt‹, son­dern von innen her ›ent­wickelt‹. Wir suchen und fin­den in der eige­nen Psy­che den per­sön­li­chen Zugang zu einer Figur, deren Rol­le über­nom­men wer­den soll.

In die­sem Sin­ne ist die Schau­spiel­theo­rie auch psy­cho­lo­gisch von gro­ßer Bedeu­tung, gera­de auch in Hin­sicht auf Iden­ti­täts­phi­lo­so­phie. Die Viel­falt in der eige­nen Psy­che wird nicht nur immer kom­ple­xer, son­dern auch wider­sprüch­li­cher. Dabei zeigt sich eine inter­es­san­te Ent­wick­lung, die das The­ma die­ses Semi­nars sein soll, die Mög­lich­keit, mit ›mul­ti­plen Iden­ti­tä­ten‹ umge­hen zu kön­nen. So hat der Schau­spiel­leh­rer Kon­stan­tin Ser­ge­je­witsch Sta­nis­law­ski einen neu­en Ansatz ent­wickelt, wie die Arbeit des Schau­spie­lers an sich selbst und im schöp­fe­ri­schen Pro­zeß des Erle­bens einer Figur, des Ver­kör­perns und der Arbeit an der Rol­le sehr viel inten­si­ver gestal­tet wer­den kann. — Eine Rol­le nur zu spie­len, das genügt kei­nes­wegs, das wäre schlech­tes Thea­ter. Es kommt dar­auf an, die Figur, die Rol­le, die Welt einer Hand­lung in sich zu suchen, zu fin­den und sich dann hineinzufühlen. 

Auch der US–Amerikanische Schau­spiel­leh­rer Lee Strasberg ent­wickel­te mit dem Method Acting einen neu­en, tie­fe­ren Zugang zur Schau­spiel­kunst, um die Natür­lich­keit und die Inten­si­tät der schau­spie­le­ri­schen Dar­stel­lung zu stei­gern. Mit Hil­fe eines von ihm ent­wickel­ten Instru­men­ta­ri­ums soll­ten Schau­spie­ler die Rol­le in sich selbst fin­den, her­aus­zu­brin­gen, um dann damit zu verschmelzen.

Jean–Léon Gérô­me: The Duel After the Mas­quer­a­de (1857f.). Es ist ein Clown,
ein Pirot, der nach der Vor­stel­lung duel­liert und töd­lich getrof­fen niedersinkt.
— Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Aber nicht nur für Schau­spiel und Schau­spiel­kunst ist das alles von Inter­es­se. Auch im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se und vor dem Hin­ter­grund, daß wir alle immer mehr Thea­ter spie­len und immer wei­ter aus­dif­fe­ren­zier­te Rol­len über­neh­men, wird die Fra­ge der Ein­füh­lung von immer grö­ße­rer Bedeu­tung. Wir leben in unru­hi­gen Zei­ten, was auch damit zusam­men­hängt, daß die Psy­cho­ge­ne­se wie­der einen Schritt wei­ter vor­an­ge­schrit­ten ist. Das ist der aktu­el­le Stand in die­ser Ent­wick­lung, daß wir nicht mehr Rol­len über­neh­men, son­dern ver­schie­de­ne Iden­ti­tä­ten, um die­se zunächst aus uns selbst her­aus zu ent­wickeln. — Damit kommt eine wei­te­re, sehr gro­ße Her­aus­for­de­rung in die Welt, es gilt, nicht mehr nur ›authen­tisch‹ zu sein, son­dern eben auch ›viel­fäl­tig‹ in der Varia­ti­on der Iden­ti­tä­ten, die ein­an­der wider­spre­chen kön­nen. Das ist offen­bar eine ganz neue Errun­gen­schaft, die aller­dings mit erheb­li­chen Irri­ta­tio­nen einhergeht.

Der Mensch in der Moder­ne ist ein Trä­ger vie­ler Mas­ken. Das ist eigent­lich eine ganz ent­schei­den­de, höchst aktu­el­le Errun­gen­schaft, die Fähig­keit, mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten ver­kör­pern zu kön­nen, die sogar mit­ein­an­der im Wider­streit ste­hen kön­nen. Aber die Sou­ve­rä­ni­tät, dann auch tat­säch­lich dar­über zu ver­fü­gen, hält sich der­zeit noch in Gren­zen. Um die neu­en Kom­pe­ten­zen an den Tag zu legen, fehlt noch immer der Mut, die Legi­ti­mi­tät des eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus, der die eige­ne Auto­no­mie erst selbst ernst neh­men müß­te. Nur weni­gen gelingt es bereits. All­über­all schämt man sich des­sen, spricht von Wahr­heit, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät, Auf­merk­sam­keit und vom wah­ren Selbst, als ob es das wirk­lich gäbe.

Das unum­gäng­li­che Mas­ken­spiel soll­ten wir tat­säch­lich ganz bewußt betrei­ben. Statt­des­sen wird jedoch immer so getan, als sei alles echt, als wüß­te man zwi­schen Echt­heit und Unecht­heit sehr wohl zu unter­schei­den. Dabei ist in der Tat vie­les Thea­ter oder man­ches nur ›Show‹, aber mit­un­ter erscheint es so, als käme es ohne­hin nur noch dar­auf an, daß die Show stimmt. — Dis­kur­se wie die über ›Empa­thie‹, ›Auf­merk­sam­keit‹ und ›Wahr­haf­tig­keit‹ lie­gen daher als kri­ti­sche Reak­tio­nen gera­de­zu auf der Hand. Aber auch das sind selbst wie­der nur Rol­len, eben sol­che, die Authen­ti­zi­tät dar­stel­len sol­len, um aber genau dar­in wie­der­um Rol­len­spiel zu betreiben.

Aller­dings spie­len wir alle Thea­ter, neh­men Rol­len wahr, ver­kör­pern sie, gehen aber nicht rest­los dar­in auf. Vor­zei­ten iden­ti­fi­zier­ten sich Men­schen noch mit ihrem ›Stand‹, mit ihrem ver­meint­li­chen gesell­schaft­li­chen ›Sein‹, und der Aus­druck indi­vi­du­el­ler Frei­hei­ten war als ›Spleen‹ nur weni­gen vor­be­hal­ten, ganz exklu­siv am lieb­sten den exzen­tri­schen Atti­tü­den alten Adels. 

Die Uni­ver­sa­li­sie­rung der Rol­len­über­nah­me ist dafür ver­ant­wort­lich, daß inzwi­schen fast nur noch insze­niert wird. Wo zuvor eine gera­de­zu skla­vi­sche Rol­len­be­set­zung statt­ge­fun­den hat, herrscht nun der unbe­ding­te Wil­le zur Mei­nung vor. Das Publi­kum insze­niert sich inzwi­schen selbst, so wie es Poli­tik und Medi­en seit Jahr­zehn­ten vor­ex­er­zie­ren. Daher wird die Kon­stel­la­ti­on immer unüber­sicht­li­cher, es gibt eigent­lich kein Publi­kum mehr, nur noch Akteu­re. — Ins­be­son­de­re das Sub­jek­ti­vie­ren, das Emo­tio­na­li­sie­ren und das Skan­da­li­sie­ren kon­kur­rie­ren­der Auf­fas­sun­gen, ein­fach nur, weil sie nicht dem eige­nen Stand­punkt zuzu­ord­nen sind, hat sich inzwi­schen flä­chen­deckend ausgebreitet.

Neu­zeit­li­che Thea­ter­maske für den Dar­stel­ler des Mephi­sto. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Man­che der Instan­zen unse­rer Psy­che las­sen sich wie poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen betrach­ten, zu denen nun­mehr eine neue hin­zu­kom­men wird, ein­fach weil sie hin­zu­kom­men muß: Das mul­ti­ple Selbst ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, weil es nun dar­um geht, zwi­schen allen erdenk­li­chen Per­spek­ti­ven zu mode­rie­ren und zwar in dem Bewußt­sein, daß kei­ne die­ser Hin­sich­ten den Anspruch hegen darf, allein gül­tig zu sein. Es gilt, das eine zu tun ohne das ande­re zu las­sen. — Aller­dings kann es ein gro­ßes nicht nur rein intel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen berei­ten, Gefüh­le einer­seits authen­tisch zu erfah­ren, um zugleich ket­ze­risch das eige­ne Emp­fin­den iro­nisch zu spiegeln.

Zu jeder moder­nen Psy­che gehört es eben, nicht nur die vor­mals exter­nen Instan­zen der Ord­nung, der Dis­zi­plin und der Bestra­fung als Selbst­dis­zi­pli­nie­rung in sich hin­ein­ge­nom­men zu haben. Es gehört eben­so mit dazu, daß wir zugleich eine gan­ze Ket­zer­ver­samm­lung mit uns her­um­füh­ren, die nur auf eine Gele­gen­heit war­tet, alles, was hei­lig sein soll, vom Sockel zu sto­ßen. — Es kommt eben dar­auf an, selbst­be­wußt genug zu sein, alle die­se inne­ren Wider­sprü­che nicht zu kaschie­ren, son­dern im Gegen­teil, sie als Per­spek­ti­ven zu wür­di­gen, jede, wie es ihr zukommt.

Also: Wird eine Situa­ti­on als ›roman­tisch‹ emp­fun­den, weil sie bestimm­ten Bil­dern, Vor­stel­lun­gen und ein­schlä­gi­gen Nar­ra­ti­ven ent­spricht? — Sol­che Fra­gen haben das For­mat von Glau­bens­kon­flik­ten, wie sie Prie­ster seit je hat­ten, wenn sie vor ihrer Gemein­de auf­tre­ten muß­ten, aber nicht offen­bar wer­den las­sen durf­ten, daß sie viel­leicht selbst sich ihres Glau­bens gar nicht mehr so sicher waren. Lan­ge Zeit wur­de erwar­tet, daß sie nicht durch­blicken las­sen, wie es um den eige­nen Glau­ben steht, weil sie doch die ihnen anver­trau­ten Scha­fe in einen pani­schen Schrecken ver­set­zen könnten.

Hawen King: Pro­mo­tio­nal masks
for the DVD release of „V for Ven-
det­ta“ at HMV in Tokyo. To get a
mask you had to buy the DVD. 8.
Sept. 2006, V for Ven­det­ta. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Auto­no­mie ist der Anspruch und die Fähig­keit, sich selbst ein eige­nes Bild von der Welt und den Sachen zu machen, selbst wenn sie uns zutiefst berüh­ren und viel­leicht auch äng­sti­gen. Dabei ist es mög­lich, zugleich mit­ten drin zu sein und den­noch sich selbst und das gan­ze Trei­ben von außen zu betrach­ten. Tat­säch­lich ist erst das wah­res Glück, sich inmit­ten erfül­len­der Erleb­nis­ses zu fin­den, die viel­leicht tat­säch­lich muster­gül­tig sind, so wie es die Nar­ra­ti­ve vor­se­hen. — Glück bedeu­tet, sich selbst in sol­chen Situa­tio­nen als authen­tisch zu erfah­ren und zugleich selbst­iro­nisch den Über­schwang der eige­nen Gefüh­le zu spie­geln. Das erst wäre tat­säch­lich ein Aus­druck von Auto­no­mie, Sou­ve­rä­ni­tät und Selbst­be­wußt­sein. Ent­schei­dend wäre nur, ob die Erleb­nis­se tat­säch­lich von Bedeu­tung sind, oder ob es nur rein äußer­lich um Insze­nie­rung, nur um das ›Als–Ob‹ geht.

Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen fol­gen. Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. — Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Selt­sa­mer­wei­se erschei­nen gera­de die grie­chi­schen Göt­ter oft wie Dar­stel­ler ihrer selbst. Wenn sie ihre Mas­ken wie ein Visier hoch­ge­klappt haben, dann wir­ken sie wie Schau­spie­ler wäh­rend der Dreh­pau­se in einem der vie­len Stücke, in denen sie sich selbst ver­kör­pern. — Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heute.

Alle ihre Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen. Das sind Aspek­te ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die inter­na­li­sier­ten Gei­ster der Clans, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. — Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich doch selbst treu zu bleiben.

Die Göt­ter beherr­schen das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alk­me­ne. — Ganz offen­bar besteht für ihn nicht der gering­ste Anlaß zur Sor­ge, daß die frem­de Gestalt auch voll­kom­men frem­de Erfah­run­gen beim Lie­bes­spiel mit sich brin­gen könnte.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. — Und das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu kön­nen. Das ist eigent­lich der höch­sten Göt­ter Kunst, die Gestalt wech­seln zu kön­nen. Die Ein­wän­de dage­gen, da sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit, son­dern nur Insze­nie­rung aber kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht ver­fan­gen, weil unter­stellt wird, was gar nicht der Fall kann: Wir haben nicht die eine ein­zig wah­re Natur, das inne­re, ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne ein für alle Mal fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein würde.

Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, sowohl einem Scha­ma­nen wie auch einem Schau­spie­ler gegen­über. Es ist irrele­vant, ob der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und daß im Scha­ma­nen­ko­stüm oder in der Rol­le noch immer der­sel­be Mensch steckt, es kommt dar­auf an, was sich dar­auf ereig­net. — Auf die äußer­li­chen Fak­ten kommt es nicht an, ent­schei­dend ist viel­mehr das inne­re Erle­ben: Selbst­ver­ständ­lich ist der Dar­stel­ler, was er vor­gibt zu sein, eben­so wie auch der Scha­ma­ne den geru­fe­nen Geist mög­lichst authen­tisch verkörpert.

Paul Klee: Zwei Män­ner, ein­an­der in höhe­rer Stel­lung ver­mu­tend, begegnen
sich (1903). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Wir alle spie­len Thea­ter, was kei­nes­wegs bedeu­tet, daß es uns nicht mit der jewei­li­gen Rol­le ernst wäre. Mas­ken­spiel ist eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pher für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. — Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand ande­rem, wech­selt also die Identität.

Im Zen­trum die­ser Erör­te­run­gen ste­hen die Hand­lungs­ur­sa­chen, die Moti­ve und die Ori­en­tie­rung in Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen. Dabei waren die Men­schen der vor­klas­si­schen Zeit, so die­se Theo­rie, offen­bar noch gänz­lich außen­ge­lei­tet. Erst all­mäh­lich beginnt dann die Inter­na­li­sie­rung, so daß wir inzwi­schen fast stets innen­ge­lei­te­te Hand­lungs­mo­ti­ve unter­stel­len dürfen.

Auf irgend­ei­ne Wei­se müs­sen also die vor­ma­li­gen Gei­ster, Göt­ter und Auto­ri­tä­ten oder viel­leicht auch Anti–Autoritäten, all­mäh­lich ins Inne­re, in die Innen­welt unse­rer Psy­che gelangt sein. — Denn: Wir tra­gen die Göt­ter in uns. Sie wur­den inter­na­li­siert, und die Inter­na­li­sie­rung der ehe­dem exter­nen Stim­men gelingt ganz offen­bar in einem Pro­zeß, der an Schi­zo­phre­nie den­ken läßt.


EPG II

Oberseminar: Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

WS 2020 | freitags | 14:00–15:30 Uhr | Raum: online 

Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2021

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Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.
Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Technikethik

Technische Entwicklungen kontrovers reflektieren

Kolloquium 

WS 2020 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
Beginn: 2. Okt. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

Anmeldung beim House of Competence

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Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

Nein, wir müs­sen es nicht.
Aber?
Aber wir wer­den es machen.
Und weshalb?
Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
ob wir es wirk­lich können.

(Hans Blu­men­berg)

Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Prome­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

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Die Corona-Krise als Katharsis – Fernsehinterview Juni 2020

Philosoph Heinz-Ulrich Nennen: Die Corona-Krise als Katharsis

04.06.2020 ∙ Lokalzeit Münsterland ∙ WDR Fernsehen

Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen lebt seit Jah­ren im Wohn­mo­bil am Kanal in Mün­ster. Seit der Coro­na-Kri­se hält er auch sei­ne Vor­le­sun­gen und Semi­na­re von dort. Aber nicht nur das: Er schreibt gera­de an einem Coro­na-Buch mit dem Titel “Die Coro­na-Kri­se als Katharsis”.