Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Zivilisation

Kann das weg?

Das Schloßcafé—eine Herzenssache

Schloßgarten–Restaurant Mün­ster, 2020. Foto von Rox­Fuchs via Wiki­me­dia. Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons: CC-BY‑4.0.

Der Ort hat(te) Flair.—Tagsüber, sonn­tags, mit­tags, abends oder auch bis tief in der Nacht, es sind viel­fäl­ti­ge Momen­te, die Men­schen hier mit­ein­an­der ver­bun­den haben. So etwas läßt sich nicht ein­fach abreißen.

Das Restau­rant im Schloß­gar­ten von Mün­ster ist ein ganz beson­de­rer Ort in der Intim­ge­schich­te der Stadt.—Ein Abbruch des Hau­ses, ein Bruch mit die­ser Tra­di­ti­on wäre wirk­lich nicht wünsch­bar. Die Kon­ti­nui­tät soll­te auf irgend­ei­ne Wei­se gewahrt bleiben.

Das Schloß­ca­fé ist etwas beson­de­res. Wir brau­chen Loka­li­tä­ten mit gutem Geist, an denen wir uns auf­ge­ho­ben füh­len. Das Wohl­ge­fühl gelingt an tra­di­tio­nel­len Orten mit eige­ner Geschich­te und einer Aura, die sich spü­ren läßt.

Das gilt gera­de auch für Loka­le, ›wo wir damals immer hin­gin­gen, wenn das eine oder das ande­re stattfand.‹—Bei allem ange­sag­ten Indi­vi­dua­lis­mus ist es erhe­bend, sich selbst an einem sol­chen Ort zu erle­ben; wo ande­re schon vor lan­ger Zeit sich und ein­an­der gefun­den haben. Davon abge­trennt zu wer­den, hät­te etwas von einer geistig–seelischen Amputation.

Das Schloß­ca­fé im Win­ter, 2021. Foto von Rai­ner Hala­mar via Wiki­me­dia. Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons: CC-BY‑4.0.

War­um sol­len wir uns nicht beken­nen, gera­de auch für ›Sen­ti­men­ta­li­sches‹, für Träu­me, Phan­ta­sien und für Orte, die uns wirk­lich etwas gege­ben haben.

Aber das alles wird uns pein­lich gemacht. Daher sind wir sprach­lich nur sel­ten bereit und in der Lage, zum Aus­druck zu brin­gen, was denn nun das Beson­de­re an jenem Ort war, von dem so vie­le ande­re auch reden.

Ich selbst habe eini­ge Näch­te im Schloß­ca­fé ver­bracht. Und die­se Näch­te hat­ten etwas Bewe­gen­des. Es war kaum ein Durch­kom­men, andau­ernd gab es Blicke und Begeg­nun­gen, Gesten, Hoch­ge­füh­le und Ver­ab­re­dun­gen …—Es herrsch­te eine dich­te Atmo­sphä­re, wie man sie nur sel­ten erlebt.

Philosophisches Café im Erker

Der Erker im Schloß­ca­fé Münster.—Quelle: Eige­nes Foto.

Der Erker in die­sem Kaf­fee­haus ist mehr als ide­al, die Kon­stel­la­ti­on ist ein­fach wie geschaf­fen für phi­lo­so­phi­sche Diskurse.—Es ging ja nicht um Vor­trä­ge, son­dern um Dia­lo­ge auf Augen­hö­he, die ihren eige­nen Weg suchen und fin­den soll­ten. Das gelang dort immer wieder.

Phi­lo­so­phi­sches Café im Schloß­ca­fé 2009/10.—Quelle: Eige­nes Foto

Hiobsbotschaften

In letz­ter Zeit hör­te ich immer wie­der, das Schloß­ca­fé sei geschlos­sen wegen Umbau­ar­bei­ten. Jetzt ist noch etwas hin­zu­ge­kom­men: Von Bau­fäl­lig­keit ist die Rede, so daß es scheint, hin­ter den Kulis­sen stün­de bereits der Abrißbagger.—Aber ganz so ein­fach ist das nicht, dafür zu sor­gen, daß mal wie­der ein Haus mit Geist und Geschich­te ein­fach weg ist.

Was wer­den unse­re Emo­tio­nen wohl dann mit uns machen, wenn sie den Ort und das Haus sol­cher Erin­ne­run­gen ver­lo­ren haben?—Sie wer­den zuerst an sich selbst zwei­feln und sich zuletzt noch tie­fer in die zeit­ge­mä­ße, immer grö­ßer wer­den­de Ver­bit­te­rung begeben.

Wie­der ein­mal wur­de bewie­sen, daß es auf unse­re Sen­ti­men­ta­li­tät in die­ser Welt nun wirk­lich nicht ankom­men kann. Es gibt eben Wichtigeres?


Über mich

Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen

Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he.

Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis Münster,

für alle Zwei­fels­fäl­le des Lebens, des Den­kens und nicht zuletzt der Gefühle.

Email: heinz-ulrich.nennen@t‑online.de

Motto:

Zunächst muß

das Eigent­li­che

zur Spra­che gebracht werden,

denn nur so kommt das Neue ins Denken.

Von dort kann es in die Welt gelan­gen und spätestens

dann wird es auch im eige­nen Leben nicht ganz ohne Wir­kung bleiben.

Etwas ausführlicher:

Ich bin Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he (KIT). Im west­fä­li­schen Mün­ster betrei­be ich eine Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz, eine Bera­tung zur Selbst­be­ra­tung, denn Phi­lo­so­phie ist ein Gespräch der See­le mit sich selbst.

In Mün­ster habe ich Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaft stu­diert und 1989 mit einer Dis­ser­ta­ti­on unter dem Titel Öko­lo­gie im Dis­kurs pro­mo­viert. Dar­in habe ich den sei­ner­zeit auf­kom­men­de Dis­kur­se über Öko­lo­gie in sei­ner gan­zen Viel­falt der Tech­nik- und Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik doku­men­tiert und die Hin­ter­grün­de syste­ma­tisch rekon­stru­iert. – Dem­nach gibt es drei mög­li­che Begrün­dun­gen für Umweltschutz:

  • prag­ma­tisch-anthro­po­zen­trisch, weil es auf Dau­er unsin­nig ist, sich selbst die Lebens- und Exi­stenz­grund­la­gen zu entziehen
  • ethisch-mora­lisch, weil es gebo­ten erscheint, sich ver­pflich­tet zu füh­len, nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, ande­ren Lebe­we­sen oder auch Göt­tern gegenüber
  • ästhe­tisch, weil etwa ein Baum weit mehr ist als eine Sau­er­stoff­spen­der, son­dern eben auch ein Erleb­nis, was übri­gens alles ande­re als banal ist

Mit der Dis­ser­ta­ti­on zeig­te sich bereits der Schwer­punkt mei­ner Arbeit: Mich inter­es­sie­ren Dis­kur­se im Gro­ßen und Gan­zen aber auch Dia­lo­ge im Klei­nen und Per­sön­li­chen. Ich bin Dia­log­part­ner und Dis­kurs­ana­ly­ti­ker: Einer­seits inter­es­siert mich die Fra­ge, wie das Neue ins Den­ken kommt, ande­rer­seits, wie Dia­lo­ge und Dis­kur­se sol­che Trans­for­ma­tio­nen schaf­fen. – Daher arbei­te ich gern inter-dis­zi­pli­när, an den Gren­zen zwi­schen Psy­cho­lo­gie, Anthro­po­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaft und eben Philosophie.

Nach einer 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, hat­te ich gestie­ge­nes Inter­es­se dar­an, ein­mal einen Dis­kurs im Pro­zeß, also in “Wild­form” zu beob­ach­ten, zu beschrei­ben und wäh­rend­des­sen zeit­gleich zu analysieren.

Im Som­mer 1999 bot sich die­se Gele­gen­heit. Anläß­lich des Skan­dals um die Elmau­er Rede, die der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk gehal­ten hat­te, kam es zu einem Medi­en-Hype son­der­glei­chen, mit mehr als 1000 Zei­tungs­ar­ti­keln, Kom­men­ta­ren und Berich­ten. Als ich sei­ner­zeit im Radio davor erfuhr, wuß­te ich, daß es “mein” The­ma sein würde.

In einem 700-sei­ti­gen Buch, das auch der Habi­li­ta­ti­on dien­te, habe ich die­sen soeben auf­kom­men­den Skan­dal um die angeb­lich faschi­sto­ide Rede des Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk in Echt­zeit rekon­stru­iert. Es war ein Phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment mit der Fra­ge, ob es gelin­gen kann, einen Dis­kurs nicht nur zu beob­ach­ten, son­dern zugleich auch auf den Aus­gang der Slo­ter­di­jk-Debat­te zu spe­ku­lie­ren, noch wäh­rend der Aus­gang des Skan­dals noch offen war.

Die War­nung dage­gen ist bekannt: 

“Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblieben.” 

Ich bin davon über­zeugt, daß es mög­lich ist, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betrei­ben zu kön­nen, also wäh­rend der Pro­zeß noch läuft. Erst dann hat auch unser Ver­nunft­ver­mö­gen wirk­lich eine Chan­ce, sich zu bewei­sen. – Bei die­sem phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment ging es mir um den Beweis, daß es unter gewis­sen metho­di­schen Bedin­gun­gen sehr wohl mög­lich sein kann, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betreiben.

Die Metho­de geht auf man­che Über­le­gung und Beob­ach­tung mei­ner rund 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zurück. Dort wur­de 1993 im Zuge der Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Atom­kraft (wie Geg­ner sagen), resp.  Kern­ener­gie (wie Befür­wor­ter sagen) und Kli­ma­schutz, von der Lan­des­re­gie­rung in Baden-Würt­tem­berg ein “Thinktank” zur Erfor­schung und zur Bewer­tung von Tech­nik­fol­gen gegrün­det, um mehr Wis­sen­schaft und mehr Dis­kurs in die mit­un­ter sehr dra­ma­tisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um neue Tech­no­lo­gien zu brin­gen. Die Poli­tik war sei­ner­zeit in die­sen Fra­gen mit ihrem Latein am Ende, – das ist eben der Augen­blick, in dem neue Insti­tu­tio­nen wie eine sol­che TA-Aka­de­mie gegrün­det werden.

Zu Metho­de: Schaut man sich unse­re Urtei­le, Bewer­tun­gen und Ein­schät­zun­gen genau­er an, so set­zen sie sich zusam­men aus einer Viel­zahl von Aus­sa­gen, die aus unter­schied­lich­sten Sek­to­ren stam­men, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Die Fra­ge ist dann immer, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men wirk­lich sind. Noch ent­schei­den­der ist es, zu spü­ren, wo die Grund­la­gen und Vor­aus­set­zun­gen nicht wirk­lich sicher sind. 

Das erzeugt eine gewis­sen Offen­heit, auch unge­wohn­ten und ande­ren Per­spek­ti­ven gegen­über. Es geht ums Ver­ste­hen, daher ist jedes „Mit­tel” Recht. Im Hin­ter­grund steht schließ­lich eine Phi­lo­so­phie, die schon beur­tei­len und bewer­ten wird, ob der neue, viel­leicht unge­wohn­te Gedan­ke es mög­lich macht, zu sehen, was sich hin­ter den Kulis­sen abspielt. 

Die Kunst besteht nun genau dar­in, ein jedes mög­li­che Gesamt­ur­teil immer wie­der auf­zu­lö­sen in sei­ne Tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist, um das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst beur­tei­len zu können.

Wer sich des­sen bewußt ist, soll­te daher wis­sen, was wir eigent­lich wis­sen müß­ten aber viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen, so daß wir uns die Begrenzt­heit unse­res eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er vor Augen füh­ren können.

„Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblie­ben!” Die­se War­nung hat gute Grün­de, denn zwi­schen dem Erha­be­nen und dem Lächer­li­chen liegt nur ein ein­zi­ger Schritt. 

In der Phi­lo­so­phie geht es daher um die Fra­ge, wie­viel wir vom Gan­zen wirk­lich ver­stan­den haben. Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann.

Daher arbei­te ich sehr inten­siv über Sym­bo­le, Mythen und Mär­chen und ins­be­son­de­re auch über Göt­ter­fi­gu­ren, weil sich dar­in, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben und Geist ver­mit­teln kann.

Phi­lo­so­phie ist weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de. Sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.


Im Dialog

Schwebendes Denken

Spra­che erlaubt uns, ein­zel­ne Sicht­wei­sen und Urtei­le der Rei­he nach durch­zu­spie­len. Jede ein­zel­ne Hin­sicht soll ihren gro­ßen Auf­tritt haben.—Ver­ste­hen ist eine beson­de­re Wei­se des Miteinanderseins. 

Paul Klee: Aben­teu­rer­schiff (1929).

Im Dia­log zele­brie­ren wir unser Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, jeder ein­zel­nen Per­spek­ti­ve ihre Eigen­art zuzugestehen.—Verstehen ist aller­dings mit viel Auf­wand ver­bun­den, daher fra­gen wir uns oft, ob es aus­sichts­reich sein kann, uns auf neue Per­spek­ti­ven näher einzulassen. 

Ent­schei­dend sind umfas­sen­de Ein­blicke in die Hin­ter­grün­de. Wir erwar­ten schließ­lich von uns einen hohen Grad an Auf­merk­sam­keit, um dann sou­ve­rän dar­auf zu reagieren.—Unser Bewußt­sein erlaubt uns, von uns selbst zu wis­sen, daß und was wir wissen. 

Daher spielt Spra­che eine außer­or­dent­li­che Rol­le. In Dia­lo­gen und Dis­kur­sen ver­stän­di­gen wir uns dar­über, wie sich Wahr­neh­mun­gen machen las­sen, was sie bedeu­ten und wie mit mög­li­chen Wider­sprü­chen umge­gan­gen wer­den kann.—Jedes Bewußt­sein lebt in einer eige­nen Welt und man­che davon sind eigentümlich. 

Das Durch­spie­len von Mög­lich­kei­ten und das Erwä­gen ent­schei­den­der Hin­ter­grün­de ist eine anspruchs­vol­le Kunst, die ihre Anre­gun­gen von weit her­holt. Aber dazu ver­fü­gen wir über Mythen, Sym­bo­le und Geschich­ten, so daß es mög­lich ist, jede davon als eige­ne Innen­welt zu erleben.

Aller­dings haben neue Per­spek­ti­ven oft auch etwas Ket­ze­ri­sches. Sie neh­men nicht die gebo­te­ne Rück­sicht auf eta­blier­te Stan­dards und gehen statt­des­sen unvor­ein­ge­nom­men vor. — Sie möch­ten sich bewäh­ren, was oft zu Über­ra­schun­gen führt, mit denen nie­mand rech­nen konnte. 

Dazu müs­sen mit­un­ter fun­da­men­ta­le Äng­ste über­wun­den wer­den, weil man­cher Gedan­ke an etwas rührt, das viel­leicht noch nie zur Spra­che gebracht wurde.—Das wie­der­um kön­nen jedoch vie­le gar nicht ertra­gen. Sie möch­ten bei einem mög­lichst ein­fa­chen, oft auch beim bereits gefäll­ten Urteil bleiben. 

In neu­em Licht betrach­tet wirkt man­ches höchst bedroh­lich. Des­halb ist es so bedeu­tend, sich auf den Weg zu bege­ben, um die neu­en Erfah­run­gen nicht nur zu machen, son­dern auch zu ver­ste­hen. — Wir kön­nen gan­ze Wel­ten in Erfah­rung brin­gen und erläu­tern, war­um sie sich wie ver­hal­ten. Aber die­se Viel­falt bringt auch Unsi­cher­heit mit sich.

Hin­ter den Kulis­sen steht das „Selbst”, es sorgt sich um Inte­gri­tät. Wir sind in Geschich­ten ver­strickt und set­zen sie auch wie Mas­ken auf, weil wir ins selbst anhand unse­rer Geschich­ten verstehen.—Wir iden­ti­fi­zie­ren uns mit unse­rem Selbst und sei­ner Geschich­te. Mit­hil­fe die­ser Instanz ver­su­chen wir uns auf Selbst­kon­zep­te, die im Dia­log gesucht und durch­ge­spielt werden.


EPG II a

Ober­se­mi­nar

EPG II a – Online

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2023 | don­ners­tags | 14:00–15:30 Uhr | online 

Beginn: 20. April 2023 | Ende: 27. Juli 2023

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. 

Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013.—Quelle: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt.—Mitunter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erforderlich.—Einerseits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müssen.—Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zuständig.—Unangebrachtes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird.—Inklusion, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken.—Unvergessen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II.—Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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EPG II b

EPG II b (Online und Block)

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
Ab 30. Juni 2023: 5 Semi­na­re online | frei­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
3 Work­shops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91–012.

Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013.—Quelle: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden.—Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt.—Mitunter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erforderlich.—Einerseits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müssen.—Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zuständig.—Unangebrachtes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird.—Inklusion, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken.—Unvergessen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II.—Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Sprache, Macht und Hintersinn

Am Anfang war das Wort

Es spricht eini­ges für die mythisch moti­vier­te Spe­ku­la­ti­on, daß am Anfang und noch vor Erschaf­fung der Welt, bereits das Wort vor­han­den gewe­sen sein muß. 

Tat­säch­lich läßt sich die Hypo­the­se nur schwer abwei­sen, daß Affen, die sich aus wel­chen Grün­den auch immer, in der Kopf set­zen, aus­zu­wan­dern aus dem Affen­pa­ra­dies, bereits über Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten ver­fü­gen mußten.—Während Instink­te auf Lebens­räu­me adap­tie­ren, ist eines der Merk­ma­le für die Son­der­stel­lung des Men­schen eine spe­zi­fi­sche Umweltoffenheit.

Phi­lo­so­phie beginnt mit Stau­nen, daher ist es ange­bracht, auch angeb­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten gene­rell in Fra­ge zu stel­len: Seit wann ver­fü­gen wir über Spra­che? War­um ›haben‹ wir eigent­lich Spra­che oder ›hat‹ die Spra­che nicht viel­mehr uns?—Was geschieht, wenn wir das Wort ergrei­fen oder auch, wenn uns Wor­te ergrei­fen? Wie ist es über­haupt mög­lich, daß wir sogar über ima­gi­nä­ren Wel­ten reden kön­nen, die nicht wirk­lich sind? 

Es ist erstaun­lich, daß wir mit Wor­ten auch Din­ge ›reprä­sen­tie­ren‹ kön­nen, die gar nicht vor­han­den sind. Selbst wenn Vor­stel­lun­gen an sich irre­al sind, erschei­nen sie gleich­wohl im Nu vor dem inne­ren Auge. Daher wird Stau­nen in der Phi­lo­so­phie zur Metho­de. Es gilt, sich erst ein­mal vor­stel­len zu kön­nen, was wir ver­ste­hen möch­ten. Der Umgang mit dem Fik­ti­ven ist daher von ganz erheb­li­cher Bedeutung. 

Allein die­se For­mu­lie­rung ›nicht wirk­lich‹ hat es in sich. Man könn­te fra­gen: Also was jetzt, wirk­lich oder nicht wirk­lich? Aber genau das, etwas in der Schwe­be las­sen zu kön­nen, macht Inspi­ra­ti­on erst möglich. 

Münch­hau­sens Aben­teu­er. Post­kar­ten­se­rie nach den Lügen­ge­schich­ten des Baron Münchhausen.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Banal ist das alles nicht. Spra­che als sol­che ver­ste­hen zu wol­len bedeu­tet, den Men­schen als sol­chen ver­ste­hen zu müs­sen. Denn wir sind nur, weil wir Spra­che haben und die Spra­che hat uns. Zugleich sind da näm­lich auch Gren­zen, wie Lud­wig Witt­gen­stein konstatiert:

Die Gren­zen mei­ner Spra­che bedeu­ten die Gren­zen mei­ner Welt. (Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Satz 5.6.)

Es ist nicht ein­fach, aus­ge­rech­net in wich­ti­gen Momen­ten, die wie­der und wie­der vor­kom­men, die rich­ti­gen Wor­te zu finden.—Also wird bei Witt­gen­stein süf­fi­sant anempfohlen:

Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muß man schwei­gen.(Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Ebd. Satz 7.

Wenn Adam und Eva im Para­dies den Auf­trag erhiel­ten, für alles Namen zu fin­den, dann kann das nur der Anfang gewe­sen sein.—Menschliche Spra­che ist weit mehr als ein­fa­che Nomen­kla­tur , sie erzeugt gan­ze Vor­stel­lungs­wei­sen für Wirk­lich­kei­ten, Wahr­neh­mun­gen, Emp­fin­dun­gen und Sehn­süch­te. Sie kann mit Tabus auch ein­ge­schränk­te Wirk­lich­kei­ten erzeu­gen, die nicht zur Spra­che gebracht wer­den dürfen.

Es gilt, mit den Mit­teln der Spra­che über die Gren­zen unse­res Arti­ku­la­ti­ons– und Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gens hinauszugehen.—Aber das ergrif­fe­ne Wort muß getra­gen sein von einer Welt­auf­fas­sung, von Welt­an­schau­un­gen, Kul­tur, Lebens­welt, Phi­lo­so­phie, Dich­tung, Kunst und Wis­sen­schaft, anson­sten wer­den die Wor­te sang– und klang­los ein­fach nur verklingen.

Reden über Abwesendes

Ent­schei­dend ist, daß die Wor­te oft selbst wie Reprä­sen­tan­ten fun­gie­ren. Wo etwas tabui­siert ist, wer­den Wor­te stumm. Damit ver­schwin­den aber auch die von die­sen Wor­ten reprä­sen­tier­ten Phä­no­me­ne. Sie gera­ten außer Reich­wei­te unse­rer Wahr­neh­mun­gen und ver­schwin­den jen­seits unse­res Vorstellungsvermögens.—Man wird ohne Sank­tio­nen nicht ein­mal mehr nach ihnen fragen.

John Col­lier (1850–1934): Col­lier: Priest­ess of Del­phi (1891).—Quelle: Public Domain via Wiki­me­dia.

Sie sind dann nicht mehr wahr­nehm­bar und auch nicht mehr mit­teil­bar. Es sind bemer­kens­wer­te dia­lo­gi­sche und dis­kur­si­ve Anfor­de­run­gen, die wir tag­täg­lich erfül­len, um im inne­ren Thea­ter unse­res kon­sen­su­al koor­di­nier­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gens die Kulis­sen solan­ge zu ver­schie­ben, bis wir ein­sichts­fä­hig werden.—Wie anspruchs­voll die­se Kunst eigent­lich ist und wor­auf es dabei ankommt, läßt sich an einem inter­es­san­ten Bei­spiel demonstrieren:

Fran­ci­ne Pat­ter­son, Forschungs–Direktorin der Kali­for­ni­schen Goril­la Foun­da­ti­on, hat­te in rund 25 Jah­ren ein Gorillaweib­chen namens Koko mit einer Zei­chen­spra­che im Umfang von etwa tau­send Zei­chen ver­traut gemacht, nebst eini­ger eng­li­scher Laut­wör­ter, um sich auf die­se Wei­se mit ihr ver­stän­di­gen zu können.

Ein Inter­net­pro­vi­der insze­nier­te dar­auf­hin als Wer­be­gag die Mög­lich­keit, mit Koko via Inter­net zu kom­mu­ni­zie­ren. Die Fra­gen soll­ten in die Zei­chen­spra­che über­setzt, Kokos Ant­wor­ten von Mit­ar­bei­tern am Ter­mi­nal ins Inter­net ein­ge­ge­ben werden.

„Der Chat begann, Tali­ka faß­te sich als erste Mut: ›Hal­lo Koko, es ist eine Ehre, dich zu tref­fen.‹ Kokos Ant­wort war erstaun­lich: ›Gut hier.‹ Und als der Mode­ra­tor die ersten Fra­gen ein­sam­mel­te, husch­te ein ent­schie­de­nes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bild­schir­me. (…) Ob sie Vögel mag, woll­te einer wis­sen. Koko ging zum Fen­ster, schau­te hin­aus, und mein­te plötz­lich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Din­gen die Rede ist, die nicht hier und jetzt prä­sent sind, erklär­te Dr. Pat­ter­son.” (Die­ter Grön­ling: ›Koko liebt Essen!‹ Fra­ge­stun­de mit einem Flach­land­go­ril­la im Inter­net. In: die tages­zei­tung, 30. April 1998. S. 20.)

Man spricht offen­bar als Gorill­ada­me nicht über Abwe­sen­des, schon gar hin­ter dem Rücken der Din­ge, über Sachen und Lebe­we­sen, die im Augen­blick nicht ›da‹ sind.—Offenbar fehlt das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, so daß ein Fake dekla­riert wird, wenn Sachen nicht vor­han­den sind.

Da nun die Gram­ma­tik zustän­dig ist für die Onto­lo­gie, wird bereits im Vor­feld dar­über befun­den, ob etwas ›exi­stent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder?—Es ist, als wür­de die Gram­ma­tik bei Koko strei­ken und jeden Ver­such ver­ei­teln, etwas zur Spra­che zu brin­gen, das nicht wirk­lich, son­dern nur in der Vor­stel­lung ›ist‹.

Dabei kön­nen Ima­gi­na­tio­nen zugleich vor­han­den und nicht vor­han­den sein, näm­lich in unse­rer Phan­ta­sie, die bei Bedarf auch flie­gen­de rosa­ro­te Ele­fan­ten zur Ver­fü­gung stellt. Inso­fern haben wir es bei Koko mit einem begrenz­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gen zu tun; Gren­zen, die wir als Men­schen anstands­los überschreiten.—Aber es ist nicht ein­fach, sich Phan­ta­sie als sol­che über­haupt vorzustellen.

Bewußt­sein läßt sich als System beschrei­ben, das mit einer gro­ßen Viel­falt von unter­schied­li­chen Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen ope­riert. Dabei geht es um Blick­win­kel, Per­spek­ti­ven und Dif­fe­ren­zen, die gegen­ein­an­der und mit­ein­an­der ins Ver­hält­nis oder auch in Kon­trast gesetzt werden.—Dieses Beob­ach­ten von Wahr­neh­mungs­wahr­neh­mun­gen kann ad Infi­ni­tum immer kom­ple­xer wer­den, vom ein­fa­chen Bewußt­sein über das Selbst­be­wußt­sein, bis hin zum Geist.

Dem­nach gibt es stets ein Bewußt­sein, das aus ande­rer War­te ein ande­res in sei­ner Wahr­neh­mung beob­ach­tet. Erst dadurch wird die­se Wahr­neh­mung ihrer­seits ›bewußt‹.—Ich weiß dann nicht ein­fach nur, son­dern ich weiß, daß ich etwas weiß, des­sen ich mir bewußt bin.

Dar­in liegt einer der wesent­li­chen Unter­schie­de zu den Tie­ren: Es ist uns durch Erle­ben im eige­nen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mög­lich, so zu ver­fah­ren, als wären wir ›mit­ten­drin‹, inmit­ten der Ereignisse.—Dabei wis­sen wir zugleich, daß alles ›nur‹ ima­gi­niert ist, daß es rei­ne Phan­ta­sie­wel­ten sind.

Aller­dings kön­nen wir in und mit die­sen ima­gi­nä­ren Wel­ten unse­ren gei­sti­gen Hori­zont ganz beträcht­lich erwei­tern. Wir kön­nen alle erdenk­li­chen Erleb­nis­se, Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen machen, die von erheb­li­cher Bedeu­tung sein können.

Phan­ta­sie ist eine erstaun­li­che Fähig­keit, die nicht genug gewür­digt wer­den kann. Der­weil liegt die eigent­li­che Kunst dar­in, eini­ger­ma­ßen ›kon­struk­tiv‹ zu ima­gi­nie­ren, um dann mög­lichst genau dar­über zu sprechen.

Quad­re ’L’art de la con­ver­sa’, de René Magrit­te. Expo­si­ció de Caix­afòrum a Bar­ce­lo­na, març de 2022.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

Die­se Illu­stra­ti­on bewußt mira­ku­lös. Unschwer ist zu erken­nen: Es ist ein ‚Magrit­te‘. Aber nicht die­ser ist hier das The­ma oder sein Sur­rea­lis­mus, auch die­ser steht nicht im Zen­trum. Tat­säch­lich han­delt es sich um den Aus­schnitt aus dem Kata­log einer Kunst­aus­stel­lung über René Magrit­te in Bar­ce­lo­na. Die Gemälde–Beschriftung lie­fert dazu einen siche­ren Anhalts­punkt.—Die­ses gan­ze Arran­ge­ment soll illu­strie­ren, daß wir hoch­kom­ple­xen Zusam­men­hän­ge ›lesen‹, ›inter­pre­tie­ren‹, ›deu­ten‹ und ›ver­ste­hen‹ können.

Daher rührt aber auch eine bis heu­te nach­wir­ken­de Urangst, weil unse­re Alt­vor­de­ren auf ›fre­vel­haf­te‹ Wei­se die Auto­ri­tät der Instink­te miß­ach­tet und durch Spra­che und Ima­gi­na­ti­on die Gren­zen der tie­ri­schen Lebens­wel­ten über­tre­ten und über­wun­den haben.

Das Ima­gi­na­ti­ons­ver­mö­gen erlaubt uns, auch Abwe­sen­des zur Spra­che zu brin­gen, als Kom­pen­sa­ti­on für die ver­lo­re­ne Instinktsicherheit.—So sind wir uns in der Vor­stel­lung selbst immer einen Schritt vor­aus, aber auch nur sel­ten ›eins mit uns selbst‹.

So wur­den neue Mög­lich­kei­ten eröff­net, sich selbst ori­en­tie­ren zu kön­nen, etwa durch Erfah­rungs­aus­tausch und durch Wei­ter­ga­be von Wis­sen. Kul­tur wur­de als etwas völ­lig Neu­es erschaf­fen, als Gegen­welt zur Natur.—Dabei wur­den die Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen für ein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, mit dem es mög­lich wur­de, sich in der gan­zen Welt selbst ori­en­tie­ren zu können.

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Menschenbilder

Für eine neue Pädagogische Anthropologie

Die Auf­ga­ben für Lehr­kräf­te stei­gen seit Jah­ren, weil Gesell­schaft und Staat kei­ne Vor­stel­lung mehr haben, wor­auf es ankommt.—Aus Bil­dung ist Aus­bil­dung gewor­den und das vor dem unmensch­li­chen Bild einer „natür­li­chen” Aus­le­se, als leb­ten wir noch im Tierreich.

Die Zahl der Lehr­kräf­te wird immer gerin­ger, weil es kaum noch ein belast­ba­res, posi­ti­ves Men­schen­bild gibt und Über­zeu­gun­gen, dafür auch ein­tre­ten zu können.—Und die Gesell­schaft gefällt sich dar­in, alles ein­fach nur abzuwälzen.

Im Zuge der Corona–Krise ist deut­lich gewor­den, daß etwas faul ist mit dem mis­an­thro­pi­schen Men­schen­bild. Die Zei­ten sind vor­bei, als reli­giö­se oder poli­ti­sche Ideo­lo­gien noch die Vor­stel­lun­gen von der „Bil­dung des Men­schen­ge­schlechts” beherrsch­ten. Nur der Mis­an­thro­pis­mus ist noch geblieben.

Aber den mie­sen Men­schen­bil­dern kann man bei­kom­men. Es gilt, eine all­ge­mei­ne Rat­lo­sig­keit, die nicht sel­ten in tie­fe Ver­zweif­lung füh­ren, durch neue Zuver­sicht zu überwinden.

Dazu braucht es wie­der ein stand­fe­stes Auf­tre­ten von Phi­lo­so­phen, Erzie­hungs­wis­sen­schaft­le­rin­nen, Päd­ago­gen und Päd­ago­gin­nen. Aber die­se müs­sen sich erst ein­mal ihrer­seits neu über­zeu­gen von der Bedeu­tung ihres Tuns und von der Legi­ti­mi­tät ihrer Professionen.

Zunächst ist in der Päd­ago­gik selbst ein wie­der moti­vie­ren­des Men­schen­bild erforderlich.—Die Theo­rien dazu sind da. Es kommt nun dar­auf an, eine zeit­ge­mä­ße Pra­xis und ein neu­es Selbst­ver­ständ­nis auf die­sen Fun­da­men­ten zu errichten.

Auf das Menschenbild kommt es an

Seit Jah­ren gebe ich Semi­na­re für ange­hen­de Leh­rer und Leh­re­rin­nen am KIT in Karlsruhe.—Aber jetzt möch­te ich nicht mehr nur exklu­siv dort wir­ken, son­dern Semi­na­re zur Super­vi­si­on, zum Atem­ho­len, Über­le­gen, Nach­den­ken und zu neu­em Mut anbie­ten. Denn mir ist immer wie­der auf­ge­fal­len: Die Moti­vation kann nur von innen kom­men, von einem Men­schen­bild, das von einer inne­ren Wär­me erfüllt ist.

Der vitru­via­ni­sche Mensch
Leo­nar­do da Vin­ci, ca. 1490;
Gal­le­ria dell’ Acca­de­mia, Venedig.

In der Theo­rie gibt es die­se Per­spek­ti­ven bereits seit 1928, als mit der Anthro­po­lo­gi­schen Wen­de die ersten Dis­kur­se auf­ka­men dar­über, wel­che wis­sen­schaft­lich gesi­cher­ten Aus­sa­gen gemacht wer­den kön­nen über das ver­meint­li­che „Wesen des Menschen”.

Damals ent­stand die Anthro­po­lo­gie als trans­dis­zi­pli­nä­rer Dis­kurs über die „Con­di­tio humana”.—Inzwischen ist dar­aus ein beein­drucken­des Ensem­ble aus einer Viel­zahl aller erdenk­li­cher Wis­sen­schaf­ten aus Natur–, Kul­tur– und Gei­stes­wis­sen­schaf­ten geworden.

In Zwei­fels­fäl­len kön­nen wir die­se Dis­kur­se wie ein Ora­kel anru­fen, um Fra­gen zu beant­wor­ten, deren Ant­wor­ten oft nur vor­ein­ge­nom­men sind. In sol­chen Streit­fra­gen wirkt die Anthro­po­lo­gie wie ein wis­sen­schaft­li­ches Orakel.

Wich­tig ist nicht nur, was aus­ge­sagt wird, son­dern auch wie und auf wel­che Fra­gen wir tat­säch­lich erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten. So läßt sich man­ches sehr klar ent­schei­den, weil es um beleg­ba­re Fak­ten und rekon­stru­ier­ba­re Zusam­men­hän­ge geht, die sich erör­tern lassen.

Aber noch inter­es­san­ter wird es, wenn wir von der Anthro­po­lo­gie gar kei­ne oder nicht erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten, son­dern nur noch die Aus­kunft, es wür­de ein Prin­zip zugrun­de lie­gen. So ist die Ant­wort auf die Fra­ge nach dem Wesen des Men­schen in etwa so zu beant­wor­ten, daß es dar­in liegt, sich selbst zu kul­ti­vie­ren, sich selbst zu „bil­den”. Dann wird deut­lich, wie sehr das mensch­li­che Wesen davon geprägt ist, „offen” zu sein.

Wir sind nicht vor­de­fi­niert wie Tie­re, wir sind zur Frei­heit gebo­ren, was aber auch mit Frei­heits­schmer­zen ver­bun­den ist.—Daher brau­chen wir Men­to­ren in der Funk­ti­on von Heb­am­men, Beglei­tern und Rat­ge­be­rin­nen bereits bei den ersten Schrit­ten und auch spä­ter noch auf dem Weg in eine ganz indi­vi­du­el­le Zukunft, in der es glück­lich macht, sich selbst bei er eige­nen Ent­fal­tung über die Schul­ter zu sehen.

Die „Unbe­stimmt­heit” des mensch­li­chen Wesens ist das, was die „Wür­de des Men­schen” aus­macht. Dar­in liegt das eigent­li­che Geheim­nis des Erfolgs in der Menschheitsgeschichte.
Wir ste­hen auf den Schul­tern von Riesen.


Hermeneutik

Verstehen ist kreativ

Nicht nur auf der Büh­ne, auch im Publi­kum wird man sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, um zu ver­ste­hen. Wer sich dabei selbst auf der Lei­tung steht, hat das Nachsehen.—Wer sich dabei aber über die eige­ne Schul­ter schaut, betreibt die Kunst des Ver­ste­hens: Hermeneutik. 

Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

Es kommt beim Ver­ste­hen dar­auf an, nicht ein­fach nur zu hören oder zu schau­en, son­dern der eige­nen Vor­stel­lung dabei zuzu­se­hen, wie sie von uns selbst zustan­de gebracht wird. Wir kön­nen das! 

Wir kön­nen allen Ern­stes pro­to­kol­lie­ren, was man in wel­cher Rei­hen­fol­ge gese­hen, gefühlt und gedacht hat.—Es gibt tat­säch­lich Log­bü­cher im Hirn, in denen alles auf­ge­zeich­net ist. Wer mag, kann sogar dar­in blättern. 

Unser Bewußt­sein ist ein Netz­werk von Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen. Da wird nicht ein­fach irgend etwas nur gese­hen, son­dern die­ses Sehen muß wie­der­um „gese­hen” wer­den. Nur dann kann es über­haupt als „wirk­lich” emp­fun­den wer­den, nur dann zählt es über­haupt. Anson­sten könn­ten wir uns alles Mög­li­che ein­fach nur einbilden. 

Es ist mit etwas Übung mög­lich, sich selbst beim Ver­ste­hen über die Schul­ter zu sehen. Man kann sogar den „Betriebs­funk” abhö­ren und sich einklin­ken in die Rou­ti­nen der inne­ren Verständigungsprozeduren.

Ver­ste­hen ist selbst ein krea­ti­ver Pro­zeß. Etwas Bedeu­tungs­vol­les nur wahr­neh­men und auf Anhieb ver­ste­hen, das kön­nen nur Götter.—Was Göt­tern mühe­los zufällt, dazu müs­sen wir uns aller­dings auch erst auf den Weg machen. 

Dazu haben wir sie schließ­lich kre­iert, um uns Idea­le zu bie­ten, in denen wir uns spie­geln kön­nen, um zu sehen, wie weit wir schon sind, wenn wir wis­sen wol­len, ob und inwie­fern wir ihnen als Ideal–Selbst schon das Was­ser rei­chen können. 

Wer also Wert legt auf ein beson­de­res Urteils­ver­mö­gen, wer etwas Eige­nes sein und sagen möch­te, soll­te sich dar­auf ein­las­sen, beim Ver­ste­hen lan­ge Wege mit vie­len Sta­tio­nen zu neh­men. Das „Heu­re­ka” mag am Ende ste­hen und in einem ein­zi­gen Augen­blick aus­ge­ru­fen wer­den, es ist aber die Krö­nung für einen gan­zen Prozeß. 

Ver­ste­hen ist weit mehr als nur das Lösen eines Rät­sels, ent­schei­dend sind Selbst­be­geg­nun­gen. Wir erfah­ren sehr viel über uns selbst, sobald wir uns beim Wahr­neh­men, Deu­ten und Ver­ste­hen selbst beob­ach­ten und begegnen. 

Es ist erstaun­lich, dem eige­nen Emp­fin­den, Ver­ste­hen und Reflek­tie­ren bei der Arbeit zuzu­se­hen. Man kommt sich dann vor wie der Eigen­tü­mer einer Fabrik, in der Wahr­neh­mun­gen pro­du­ziert wer­den, die auf Sinn hin aus­ge­legt sind. 

Wer sol­che Wag­nis­se unter­nimmt, wird belohnt mit Erfah­run­gen auf der Meta–Ebene. Es sind Selbst­er­fah­run­gen, die per­sön­li­cher, inten­si­ver und tie­fer nicht sein könnten.

Ich bin soeben im Netz der Net­ze auf Fotos von einem Kunst­werk gesto­ßen, das ich vor­zei­ten bespro­chen habe.—Die Begeg­nung fand rein zufäl­lig statt, auf einer Aus­stel­lung in der Kunst­aka­de­mie Münster.

Und im Semi­nar über „Die Schön­heit der See­le” ging es am letz­ten Frei­tag um „Her­me­neu­tik” und die „Kunst des Ver­ste­hens”. Das hat mich dar­auf gebracht, die­sen alten Spu­ren noch ein­mal nach­zu­ge­hen. —Das hat wie­der­um dazu geführt, daß ich den Text aus dem Jah­re 2011 über­ar­bei­tet und vor allem mit den damals noch nicht öffent­lich erhält­li­chen Fotos ver­se­hen habe. 


Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

Narzißmus als Selbst–Konzept 

Der Umgang mit der Figur des Nar­ziß läßt zu wün­schen übrig. Oft wer­den Dia­gno­sen vor­ge­bracht, wie sie üblich sind von Lie­ben­den, die sich ver­schmäht sehen. Dann ist auch noch von toxi­schen Bezie­hun­gen die Rede, um die Feh­ler beim Gelieb­ten zu fin­den. Aber zuletzt täuscht nichts dar­über hin­weg, daß Besitz-Ansprü­che oft als Aus­druck von Lie­be kaschiert werden. 

Schön­heit mag erstre­bens­wert sein, zu viel davon wird aber zu einem ganz gro­ßen Pro­blem. Nar­ziß hat die­ses Han­di­kap schon seit frü­he­ster Kind­heit erlebt und daß ist der dra­ma­ti­sche Kern die­ser mythi­schen Figur.—Er ist ein­fach zu schön. 

Er ist der­art schön, daß alle außer sich sind und ihn berüh­ren, besit­zen und sich vor allem mit ihm sehen las­sen wol­len. Aber nie­mand inter­es­siert sich für ihn als Per­son. Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

Die­se Schwie­rig­keit hat er weder in der Kind­heit, noch in sei­ner Jugend bewäl­tigt kön­nen. Und jetzt, wo er ein jun­ger Mann ist, in den sich alle unent­wegt unsterb­lich ver­lie­ben und ihn ver­fol­gen wie einen Super­star, ist es eigent­lich zu spät.—Narziß hat sich inzwi­schen eine äußerst schrof­fe Art der Zurück­wei­sung zu eigen gemacht. 

Er wehrt Ver­lieb­te nicht ein­fach nur ab, son­dern ver­sucht sie mit hef­tig­sten Wor­ten zu ver­let­zen. Mit mög­lichst schrof­fen Reak­tio­nen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schul­dig ist, sie alle ein­fach nur abzuwehren.—Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie ken­nen gelernt, weil ihm immer ande­re dazwi­schen kamen. 

Inso­fern wird man als Außen­ste­hen­der fra­gen, ob das denn nun wah­re, ehr­li­che, ech­te Lie­be sein kann, was da an ein­neh­men­den Begehr­lich­kei­ten an den Tag gelegt wird. Er ist schließ­lich einer, der dar­un­ter lei­det, daß er an Auf­merk­sam­keit zu viel hat und nichts davon will.—Also stößt er die ihn ver­meint­lich Lie­ben­den hef­tig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, war­um soll­te er sich lie­ben las­sen? Er muß die ent­täu­schen, die ihn erklär­ter­ma­ßen lie­ben. Er will nicht geliebt wer­den, weil er Lie­be als Ver­ein­nah­mung empfindet. 

Ein Ver­eh­rer will ihm ein Schwert schen­ken. Nar­ziß weist ihn der­art hef­tig zurück, daß die­ser die Göt­ter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit die­sem Schwert tötet.—Und tat­säch­lich machen es sich die Göt­ter zu eigen, den Ver­schmäh­ten in sei­ner Lie­bes­krank­heit zu rächen. 

Die Begeg­nung mit der Nym­phe Echo ist bereits Teil des gött­li­chen Plans.— Hera hat­te ihr die Stim­me genom­men, weil die­se sie damit täu­schen woll­te, um Zeus ein Ali­bi zu ver­schaf­fen, als die­ser in Lie­bes­an­ge­le­gen­hei­ten unter­wegs war.—Echo kann also nur noch wie­der­ho­len, was bereits gesagt wor­den ist, sie kann nicht von sich aus sprechen. 

Eines Tages ver­irrt sich Nar­ziß auf der Jagd und trifft auf die Stim­me der Nym­phe, die sich augen­blick­lich ver­liebt und schon bald vol­ler Hoff­nung auf sei­ne Gegen­lie­be ist. Ihr gan­zes Auf­tre­ten läßt an ein Grou­pie den­ken, denn sie gerät bei einer Begeg­nung mit ihrem Star völ­lig außer sich und kann noch stam­meln.—Aber sie täuscht sich, anstel­le eines Aus­drucks der Lie­be kommt nur eine schrof­fe Abwei­sung des unter sei­ner eige­nen Attrak­ti­vi­tät lei­den­den jun­gen Man­nes: Lie­ber wür­de er ster­ben, als sich von ihr auch nur umar­men zu lassen. 

John Wil­liam Water­hou­se: Echo und Nar­cissus, 1903.

Nun fragt man sich schon, ob so hef­ti­ge Reak­tio­nen wirk­lich not­wen­dig sind. Aber man soll­te nicht ver­ges­sen, daß Nar­ziß nichts ande­res kennt, als dau­ernd wegen sei­ner äuße­ren Vor­zü­ge begehrt zu wer­den, wäh­rend sich für ihn selbst in sei­ner Per­son nie­mand interessiert.—Er hat sich in sei­ner eige­nen Per­son gar nicht ent­wickeln und ent­fal­ten kön­nen. Es wur­de ihm alles geschenkt, auf­ge­drängt, auf­ge­nö­tigt, nur weil er schön und begeh­rens­wert ist. 

Dar­auf pas­siert, was der blin­de Seher Tere­si­as des­sen Mut­ter bereits pro­phe­zeit hat­te, als die­se wis­sen woll­te, ob er ein lan­ges und glück­li­ches Leben vor sich habe.—Solange er sich selbst nicht ken­nen lernt, ja, so lau­te­te die rät­sel­haf­ten Auskunft. 

Genau das soll­te jedoch gesche­hen. Er soll­te sich ken­nen ler­nen, weil die Göt­ter ihre Hän­de bereits im Spiel hat­ten. Er ver­lieb­te sich aber nicht ein­fach in sich selbst, das ist nur die kind­li­che Vari­an­te in der Deu­tung des Mythos. Als wür­de er den Spie­gel­test nicht bestehen und nicht ein­mal sich selbst erken­nen können.—Das Dra­ma ist tief­grün­di­ger, weil Nar­ziß offen­bar etwas tut, was „die Jugend” sei­ner­zeit erst­ma­lig zeig­te. Von einem neu­en Wahn ist die Rede, sich fort­an auf sich selbst zu kon­zen­trie­ren, aber die alten und ehren­wer­ten Sit­ten und Gebräu­che links lie­gen zu lassen. 

Nar­ziß wei­ger­te sich, den übli­chen Weg eines jun­gen Man­nes zu gehen. Er will nicht mit einem erfah­re­nen Mann als sein Men­tor für eini­ge Zeit in die Wild­nis gehen, um dort vom Jun­gen zum Mann zu werden.—Denn was brauch­te es, um ein „vor­treff­li­cher Mann” zu wer­den? Doch wohl urba­ne Fähig­kei­ten wie Lesen, Schrei­ben, Reden, Ver­han­deln und Ver­trä­ge aus­han­deln kön­nen. Man braucht Erfah­run­gen in der Län­der­kun­de aber weit weni­ger sol­che in der Natur. 

Nar­ziß beginnt also, sich nicht mehr im Äuße­ren zu suchen, son­dern im eige­nen Inne­ren. Und er trägt den Namen einer Nar­zis­se, weil auch die­se ihren Kopf so hän­gen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst ver­sun­ken, um sich zu „bespiegeln”.—Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Nar­ziß­mus ist inso­fern eine Dia­gno­se, die auf die­je­ni­gen zutrifft, die aus einer sol­chen Selbst­ver­sen­kung nicht wie­der herauskommen. 

Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Nar­ziss, 1594ff.

Tat­säch­lich hat die­ser tra­gi­sche Mythen­held aber erstaun­li­che Poten­tia­le, die ihn die­ser Tage zum Leit­bild einer Dia­gno­se über den Zeit­geist wer­den las­sen, die es in sich hat: Wir haben einen Para­dig­men­wech­sel zu ver­zeich­nen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

Das Über–Ich ist, der Ter­mi­no­lo­gie von Sig­mund Freud zufol­ge, eine Reprä­sen­ta­ti­on des „Vaters” im Sin­ne einer auto­ri­tä­ren Welt, in der Tra­di­ti­on und Sit­te noch ganz stren­ge Grenz­re­gime bewach­ten und sank­tio­nier­ten. Wehe denen, die da aus irgend­wel­chen Rol­len fal­len und aus der Rei­he tanz­ten! Und genau sol­che Dia­gno­sen fol­gen dann auch: Narzißmus. 

Das Über–Ich hat mit der Figur des auto­ri­tä­ren Got­tes, Königs, Ehe­gat­ten und Vaters vor allem eine Aus­prä­gung, es ist eine uner­bitt­li­che höchst rich­ter­li­che Instanz, die anders­ar­ti­ge Iden­ti­tä­ten gar nicht erst auf­kom­men läßt. Alle erdenk­li­chen Wün­sche und Traum­ge­spin­ste sind sank­tio­niert und allein der Wunsch danach kann zu kata­stro­pha­len Selbst­be­stra­fun­gen füh­ren, die sich in unter­schied­li­chen Sym­pto­men äußern. 

Das war solan­ge der Fall, wie Sit­ten­stren­ge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbst­ver­ständ­lich zu sein schie­nen und die, die sie hat­ten, sich lie­ber selbst etwas anta­ten, als dazu auch öffent­lich zu stehen. 

Aber eigent­lich wird die­se Geschlecht­er­ord­nung schon mit dem 1. Welt­krieg ganz erheb­lich gestört. Vie­le Män­ner zogen freu­dig in den Krieg, wie Hoo­li­gans, die sich ver­ab­re­det haben, ihre Kräf­te zu mes­sen. Aber der Krieg war inzwi­schen hoch tech­ni­siert wor­den, man lan­de­te in den Schüt­zen­grä­ben und ver­lor ganz und gar, was Män­ner bis dato noch glaub­ten für sich bean­spru­chen zu dür­fen, die­sen gewis­sen Schneid, der gern vor­ge­führt wird, dem die Uni­for­men die­nen sol­len und der angeb­lich bei Frau­en sehr gut ange­kom­men sein soll. 

Im Grun­de war das Ende des mar­tia­li­schen Männ­lich­keits­geh­abe eigent­lich schon mit dem Ersten Welt­krieg ein­ge­läu­tet. Aber die Lek­ti­on moch­te nicht wirk­lich ver­fan­gen, also „brauch­te” es noch einen Zwei­te Welt­krieg, bis end­lich ein ande­rer Geist zuge­las­sen wur­de, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hip­pies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glau­bens legitimierte. 

Tat­säch­lich kam es nur zum Bruch mit dem Über­kom­me­nen, aber nicht zu einem alter­na­ti­ven Weg. Das Auto­ri­tä­re war ver­pönt, das Patri­ar­cha­le wur­de immer ver­pön­ter und den­noch kam nicht wirk­lich so etwas wie eine Alter­na­ti­ve zum Über–Ich auf, das die Geschicke bis­her so restrik­tiv gelenkt und gelei­tet hatte. 

Man soll­te sich etwas Zeit neh­men und auf sich wir­ken las­sen, was da zu dia­gno­sti­zie­ren ist über die­sen Para­dig­men­wech­sel im Zeit­geist.—Die Patri­ar­chen ste­hen schon seit gerau­mer Wei­le nicht mehr wie die Legi­ons­füh­rer in ihren Über­wa­chungs­kan­zeln, von denen sich alles über­blicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabri­ken, die­se Chef–Büros mit gro­ßen Fen­stern nach über­all­hin und mit Blick auf den Hof. Aber heu­te sind dort die Werk­stät­ten von Künstlern. 

Inter­es­san­ter­wei­se wur­de ein Groß­teil der Über­wa­chung nicht nur ins Inne­re, also in die Psy­che ver­legt, son­dern auch indi­vi­dua­li­siert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu über­wa­chen, unser eige­ner Chef zu wer­den, dau­ernd an uns zu arbei­ten, um ein ande­rer, bes­se­rer, erfolg­rei­che­rer Mensch zu wer­den und dann auch zu sein.—So erklärt sich auch, war­um die Selbst­aus­beu­tung jeder Aus­beu­tung den Rang abläuft. 

Die „Gene­ra­ti­on Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Pri­vat­le­ben für sich bean­sprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kon­trol­le zu haben, denn das ist mit­nich­ten der Fall. Wir sind zu unse­ren eige­nen Aus­beu­tern gewor­den und das Plan­ziel ist nicht mehr das, was sich gehört.—Es geht viel­mehr um das Erfül­len von Zie­len, die vom Ideal–Ich aus­ge­hen. Nicht weni­ge sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

Der Nar­ziß­mus ist eine gesell­schaft­li­che For­de­rung an jeden Ein­zel­nen: „Du mußt mehr wer­den, als du bist, du mußt zu dei­nem Ide­al wer­den.” Aller­dings ist das Prin­zip dahin­ter höchst unso­zi­al, es geht nur noch um den per­sön­li­chen Erfolg, um das Errin­gen von äußer­li­chem Sta­tus und mon­dä­ne Luxus-Sym­bo­le, wie sie die Wer­bung als Ersatz­dro­gen längst parat hält. 

Wir sind in eine neue Pha­se der Prä­de­sti­na­ti­ons­leh­re gera­ten. Max Weber hat dar­auf sei­ne Theo­rie des Kapi­ta­lis­mus ent­wickelt, daß der Erfolg des bür­ger­li­chen Kauf­manns selbst ein Zei­chen sein soll­te dafür, von Gott aus­er­wählt wor­den zu sein, weil ja jetzt schon, im irdi­schen Leben eini­ges an Erfolg offen­sicht­lich gewor­den ist. 

Jetzt machen sich vie­le selbst unglück­lich mit Zie­len, die nicht wirk­lich zu errei­chen sind. Und der Gott, der da die Zei­chen gibt, daß man zu den von ihm Aus­er­wähl­ten gehört, ist die nar­ziß­ti­sche Vari­an­te eines Ide­al-Ichs, dem es vor allem dar­um geht, daß die Show stimmt. 

Der neue Para­dig­men­wech­sel in der Selbst­kon­trol­le ist einer­seits zu begrü­ßen, aber eine wirk­li­che Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genü­gen, ist nicht wirk­lich gerin­ger, son­dern sogar sehr viel grö­ßer gewor­den. Jetzt gibt es kei­ne Aus­flüch­te mehr, nicht zu genü­gen, weil man Idea­len ent­spre­chen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt.—Das Über–Ich wur­de abge­löst vom Ich–Ideal, das viel radi­ka­ler beschaf­fen ist, weil es kei­ne Aus­flüch­te mehr duldet.

Es ist gar nicht so ein­fach, dem tra­gi­schen Hel­den eines klas­si­schem Mythos gerecht zu wer­den. Zur Not kommt er uns zur Hil­fe, auf daß wir uns selbst bes­ser verstehen. 

Sie­he hier­zu: Isol­de Cha­rim: Die Qua­len des Nar­ziss­mus. Paul Zsol­nay Ver­lag, 2022.


Burnout der Gesellschaft

Über die Macht der Medien und das
Unbehagen in der Kultur

Seit Jahr­mil­lio­nen erklä­ren, ver­stän­di­gen und deu­ten Men­schen sich mit­hil­fe von Spra­che, in Dia­lo­gen und Dis­kur­sen, vor dem Hin­ter­grund spi­ri­tu­el­ler, reli­giö­ser oder und spä­ter auch phi­lo­so­phi­scher Weltanschauungen.—Vor etwa 6000 Jah­ren kommt zuerst die Schrift auf, dann der Buch­druck und schließ­lich die Digitalisierung.

Die Schrift macht poten­ti­ell alle Men­schen zu Lesern, ver­bun­den mit dem Anspruch auf Bil­dung, Geschmacks- und Urteils­fä­hig­keit. Und mit dem Inter­net wer­den nun prin­zi­pi­ell alle Men­schen zu Autoren.—Eine neue Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die dem des Buch­drucks in nichts nach­steht, hat soeben erst begonnen…

Wir erle­ben nur den Anfang die­ser Zei­ten­wen­de und sind jetzt schon maß­los über­for­dert. Das alles führt zum Burn­out der Gesell­schaft, zum Ver­lust der Dia­log­fä­hig­keit und zum Rück­fall in längst über­wun­de­ne Zei­ten. Die neu­en Her­aus­for­de­run­gen könn­ten nicht grö­ßer sein: Wir müs­sen den Umgang mit der neu­en Viel­falt, mit den vie­len neu­en Mög­lich­kei­ten erst ent­wickeln, wir müs­sen uns wei­ter entwickeln.

Gust­ave Doré: Die
baby­lo­ni­sche Sprach­ver­wir­rung, 1865ff.

Das ist der heim­li­che Hin­ter­sinn sol­cher Kri­sen und Wen­de­zei­ten: Die Mensch­heit wird sich ange­sichts die­ser neu­en glo­ba­len Ver­bun­den­heit ent­we­der wei­ter ent­wickeln oder im Cha­os unter­ge­hen und dann zumin­dest eini­ge Stu­fen her­un­ter­fal­len in ihrer Ent­wick­lung vom Tier zum qua­si gött­li­chen Wesen.

Der­zeit ver­hält es sich wie mit der baby­lo­ni­schen Sprach­ver­wir­rung: Alle wol­len reden und Gehör fin­den, aber nie­mand will mehr zuhö­ren, um vom Ver­ste­hen ganz zu schwei­gen, denn dazu haben die mei­sten gar nicht mehr die Nerven.

Bei alle­dem ist eine all­ge­mei­ne Ten­denz erkenn­bar, die offen­bar von Anfang an hin­ter der Anthro­po­ge­ne­se steht: Es geht um immer mehr Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie und Selbst­ori­en­tie­rung, also um mehr Bewußt­sein, Empa­thie­ver­mö­gen, Selbst­be­wußt­sein und Geist.

Die Natur hat im Men­schen ein Auge auf­ge­schla­gen, um sich selbst in den Blick zu neh­men. Dabei spielt Reli­gi­on nach wie vor eine ganz bemer­kens­wer­te Rol­le, nicht unbe­dingt im her­kömm­li­chen Sinne.—Aber als Gespür für Höhe­res, ins­be­son­de­re für Auf­klä­rung und Huma­nis­mus, wer­den reli­giö­se Moti­ve noch über lan­ge Zeit erfor­der­lich sein. Denn was der Psy­che gut tut, muß nicht unbe­dingt auch gut sein für die Seele.

Die näch­sten Stu­fen in die­ser gei­sti­gen Höher-Ent­wick­lung des Men­schen­ge­schlechts zeich­nen sich bereits ab. Es geht um mehr Selbst­be­wußt­sein, Geist und Selbst­ori­en­tie­rung. Dazu aber sind sehr viel mehr Nar­ra­ti­ve erfor­der­lich und sehr viel mehr Dia­lo­ge, in denen die­se Nar­ra­ti­ve erst noch ent­wickelt wer­den müssen.—Jeder Mensch braucht sei­ne indi­vi­du­el­le Geschich­te, um sich selbst erklä­ren zu kön­nen. Das wesent­li­che dabei ist aller­dings, in die­ser Indi­vi­dua­li­tät auch ver­stan­den zu werden.

Der Ein­gang ins Ver­ste­hen läßt sich fin­den, indem wir unter den vie­len Mythen die­je­ni­gen aus­wäh­len, die viel­ver­spre­chend erschei­nen, weil ähn­li­che Pro­ble­me ver­han­delt werden.—Das ›pas­sen­de‹ Nar­ra­tiv einer mythi­schen Bege­ben­heit wird dann ›über­tra­gen‹ auf unse­ren indi­vi­du­el­len Sachverhalt.

Wir ver­ste­hen nur auf dem Umweg über Ana­lo­gien, in denen über­zeit­li­che Erfah­run­gen nie­der­ge­legt wor­den sind, die dann im per­sön­li­chen Gespräch über­tra­gen wer­den auf die eige­ne Indi­vi­dua­li­tät, den eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus als Konzept.

Richard Gei­ger: Ari­ad­ne und The­seus, 1900.

In die­sem Fall scheint Ari­ad­ne hilf­reich zu sein, weil sie sich gene­rell mit Laby­rin­then aus­kennt. Die Prin­zes­sin von Kre­ta war The­seus dabei behilf­lich, sich im eigens für den stier­köp­fi­gen Mino­tau­rus geschaf­fe­nen Laby­rinth zu orientieren.

Daß es sich beim Ari­ad­ne­fa­den aber um ein bana­les Woll­knäu­el gehan­delt haben soll, ist nicht wirk­lich überzeugend.—Selbstverständlich steht es uns frei, im Zwei­fels­fall unzu­frie­den zu sein, ins­be­son­de­re mit dem, was uns die kinds­ge­rech­ten Les­ar­ten bieten.

Die Mythen sind von einer Kul­tur auf die näch­ste über­ge­gan­gen, so daß wir über vie­le Mög­lich­kei­ten ver­fü­gen, in den Fein­hei­ten zwi­schen den Vari­an­ten genau­er zu lesen, um den dar­in ver­bor­ge­nen Sinn her­aus­zu­le­sen: Ari­ad­ne ist Schü­le­rin der Cir­ce, die wie­der­um auf die Isis zurück geht, einer über­aus mäch­ti­gen ägyp­ti­schen Göt­tin der Zauberkunst.

Wie Medea ist auch Ari­ad­ne bestens mit dem Zau­bern ver­traut, die Wege blockie­ren aber auch öff­nen kön­nen. Dabei wird das Laby­rinth bald zum Sym­bol für den Lebens­weg, der oft in aus­weg­lo­se Lagen führt aber nicht wie­der heraus.—Die eigent­li­che Bedeu­tung von Ari­ad­ne liegt also dar­in, Ori­en­tie­rung zu bie­ten, gera­de in Kon­stel­la­tio­nen, die etwas von einem Laby­rinth haben.

Der Zau­ber, mit dem Ari­ad­ne gan­ze Laby­rin­the zu bewäl­ti­gen hilft, liegt jedoch rät­sel­haf­ter­wei­se im Geheim­nis von Schönheit.—Das Prin­zip lau­tet: Bezäh­mung der Wild­heit durch die Schönheit.

Auf die­se geheim­nis­vol­le For­mel kommt der würt­tem­ber­gi­sche Bild­hau­er Johann Hein­rich von Dannecker auf­grund sei­ner Stu­di­en­rei­se nach Rom. Damit bringt er sei­ne Inspi­ra­ti­on auf den Begriff.—Der Geist sei­ner vor­zei­ten über­aus popu­lär gewor­de­nen Skulp­tur: Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, offen­bart eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on von ganz beson­de­rer Bedeutung.

Der Pan­ther ist das Wap­pen­tier für den Wein– und Rausch­gott Dio­ny­sos, der im übri­gen nicht nur der Vor­läu­fer von Jesus Chri­stus in vie­len Aspek­ten sei­ner Sym­bo­lik ist, son­dern der dabei auch noch tie­fer blicken läßt in die Tie­fen einer bipo­la­ren Psyche.

Dio­ny­sos auf dem Rücken eines Pan­thers; links ein Pap­po­si­le­nus, der ein Tam­bu­rin hält; ca. 370 v. Chr., gefun­den in Paestum.

Die­ser Gott der Eksta­se hat selbst eine über­aus kom­pli­zier­te Ver­gan­gen­heit, die macht ihn zum Bor­der­li­ner macht. Sobald er auch nur den gering­sten Ver­dacht spürt, er könn­te even­tu­ell auch nur schief ange­schaut wor­den sein, greift er zu dra­ko­ni­schen, uner­bitt­li­chen und scheuß­li­chen Rache­ak­ten, die völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig sind.

Da wird dann das, was die­se Skulp­tur zu sagen ver­steht, zur fro­hen Bot­schaft über die Poten­tia­le einer not­wen­di­gen hei­li­gen Hand­lung: Ari­ad­ne bewäl­tigt das Wil­de, Rohe und Unmensch­li­che sol­cher Rach­sucht durch Schön­heit! Die­ser Gedan­ke ist vor allem phi­lo­so­phisch von der­ar­ti­ger Bri­sanz, so daß ich sagen wür­de, ver­su­chen wir es doch!

Immer­hin hat sich bereits Han­nah Are­ndt an die­sem Pro­jekt nicht ganz ver­geb­lich ver­sucht, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu entwickeln.—Wir soll­ten end­lich wie­der nach den Ster­nen greifen!

Es gibt inzwi­schen hin­rei­chen­de Anhalts­punk­te für die Annah­me, daß die Ver­nunft als Mei­ste­rin der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit Ästhe­tik vor­geht, wenn es gilt, in irgend­ei­ner Ange­le­gen­heit ›das Gan­ze‹ zu verstehen.—Erst dann kom­men Dia­lo­ge und Dis­kur­se wirk­lich zur Ent­fal­tung, wenn alle, die nur Recht­ha­ben wol­len, end­lich ergrif­fen wer­den und sich zu fas­sen versuchen.

Es kann näm­lich in der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft gar nicht mehr ums Recht­ha­ben gehen.—Wir kön­nen nur noch an den Ande­ren appel­lie­ren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimm­tes so emp­fin­den wie wir, um dann auf die tie­fe­ren Beweg­grün­de zu spre­chen zu kom­men, die sich ein­stel­len, wenn man es ver­steht, sich end­lich für Höhe­res zu öffnen.

Im Mit­tel­al­ter wur­de die Höfi­sche Gesell­schaft auf ähn­li­che Wei­se geschaf­fen, als man die rauh­bei­ni­gen War­lords von Raub­rit­tern auf ihren zugi­gen Bur­gen abbrin­gen woll­te, von ihrem lukra­ti­ven Tun und Trei­ben, nach eige­nem Gesetz auf Beu­te­zug zu gehen.

Sie wur­den nach­hal­tig ›gezähmt‹ im Min­ne­sang, also durch Schönheit.—Für ihre Dame ihres Her­zens opfer­ten sie ihre Wild­heit, ihr Unge­stümt­sein und wohl auch einen nicht unbe­trächt­li­chen Teil einer Männ­lich­keit, die inzwi­schen man­chen Frau­en bei Män­nern fehlt.

Es kommt dar­auf an, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit allen ihren Zumu­tun­gen und Her­aus­for­de­rung zu wür­di­gen in einer Welt, die immer mehr zum Amok­lau­fen neigt.—Irgendwas muß den stän­dig dro­hen­den Irr­sinn im Zaum hal­ten. Und genau das macht sie, die Göt­tin der ästhe­ti­schen Urteils­kraft: Ariadne.

MP3 – Mitt­schnitt des Vortrags.