• Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Anthropologie der modernen Welt

    Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia
    Wal­ter Cra­ne: Die Ros­se des Nep­tun. Neue Pina­ko­thek Mün­chen, Public Domain @ Wiki­me­dia

    Das multible Selbst

    Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heu­te. Alle ihre ein­zel­nen Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen, es sind Spu­ren ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die Gei­ster von Clans, Land­schaf­ten und Kul­tu­ren, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. Gera­de Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich selbst dabei doch treu zu blei­ben. Daher beherr­schen sie das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alkmene.

    Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. Im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on wird nicht nur die Außen­welt, son­dern auch die Innen­welt immer wei­ter aus­dif­fe­ren­ziert. Mit der Zivi­li­sa­ti­on, Ratio­na­li­tät und Moder­ne geht daher stets auch ein Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se ein­her. Göt­ter haben uns dabei stets etwas vor­aus, sie ver­kör­pern die Idea­le, auf die es ankommt. Dem­entspre­chend läßt sich anhand der außer­or­dent­li­chen Fähig­kei­ten von Göt­ter die Zukunft der Psy­che able­sen. Das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu können.

    Die klas­si­schen Ein­wän­de dage­gen, das sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit mehr, son­dern eben Insze­nie­rung, es sei kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern nur Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht mehr ver­fan­gen. Wir haben nicht eine ein­zig wah­re Natur, das ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein wür­de. Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, es kommt dar­auf an, was sich in der Wahr­neh­mung ereig­net. Ent­schei­dend ist das Erle­ben, etwa einem Schau­spie­ler abneh­men zu kön­nen, was er vor­gibt zu sein.

    Wir alle spie­len Thea­ter, was eben nicht bedeu­tet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Mas­ken­spiel ist dabei mehr als nur eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pho­rik für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand Ande­ren, wech­selt also die Identität.

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    Psychologie in Mythen und Märchen

    Gustave Moreau [Public domain], via Wikimedia Commons
    Gust­ave Moreau [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

    Über die todessehnsüchtige Melancholie der Ungeheuer

    Die Plots aus­neh­mend vie­ler Mär­chen und Mythen ran­ken sich immer wie­der um abson­der­li­che Gestal­ten und Figu­ren, um selt­sa­me Wesen. Nicht sel­ten sind es Mon­ster, deren Exi­stenz äußerst pro­ble­ma­tisch ist. Oft sind sie ent­stellt, der Zugang zu ihrer eige­nen Natur ist ihnen genom­men. Eigent­lich dürf­ten sie gar nicht sein, aber es ist etwas Unge­heu­er­li­ches vorgefallen. 

    Ein Fluch, ein böser Zau­ber liegt über dem gan­zen Land und läßt sich ein­fach nicht lösen. Irgend etwas hat die­ses Mon­ster auf den Plan geru­fen, das Unge­heu­re ist nicht ein­fach nur da. Es taucht nicht ein­fach nur auf, son­dern ist selbst ver­ur­sacht. Und nun gehen von Stund an ganz erheb­li­che Wir­kun­gen davon aus. Nichts kann so blei­ben wie es ist, aber nichts läßt sich ändern. Die Lage ist aus­sichts­los, zu vie­le haben es bereits ver­sucht, sind kläg­lich geschei­tert und haben dabei ihr Leben verloren.

    Es ist bemer­kens­wert, wie erstaun­lich anschluß­fä­hig mär­chen­haf­te Unge­heu­er und mythi­sche Mon­ster eigent­lich sind. Sie sind nicht sel­ten unglück­lich über sich selbst. Aber der Zau­ber einer Untat hat Macht über sie, hat sie ins Leben, in die Wirk­lich­keit geru­fen, hat ihnen zu erschei­nen befoh­len und nun sind sie da, eben­so unge­heu­er­lich wie bere­chen­bar, nach­fühl­bar, in ihrer Exi­stenz nach­voll­zieh­bar, wenn man ihnen nur Gele­gen­heit bie­tet, zu sagen, was es mit ihnen auf sich hat. – Das Mon­ster betritt die Büh­ne stets in dem Augen­blick, von dem ab die Hand­lung ihren unum­kehr­ba­ren Ver­lauf neh­men wird, alles läuft zunächst auf die Kon­stel­la­ti­on abso­lu­ter Aus­weg­lo­sig­keit hin­aus. Der Schlaf der Ver­nunft gebiert die­se Ungeheuer.

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Ironie und Ironiker

    Stuck-Dissonanz
    Franz von Stuck: Dissonanz.<fn>München, Vil­la Stuck via @ www.zeno.org.</fn>

    Irrtum verschleiert

    Der geläu­fig­ste Vor­wurf gegen Iro­nie dürf­te noch immer der sein, sie der Ver­stel­lung, des Betrugs, ja sogar der Lüge zu bezich­ti­gen. Das aber ist nicht wirk­lich der Fall, zwar ver­schlei­ert sich jede Iro­nie nur zu gern, sie schätzt die Anspie­lung, das­Wort­spiel, den Über­griff, aber im Unter­schied zur Lüge ist sie durch­aus dar­auf anlegt, ent­deckt zu werden.

    Bei­de, sowohl die Lüge als auch die Iro­nie ver­let­zen das Wahr­heits­ge­bot, aber sie wäh­len unter­schied­li­che Stra­te­gien, um zu errei­chen, was sie sich zum Ziel gesetzt haben: Die Lüge wird die für sie ent­schei­den­de Dif­fe­renz zwi­schen Sagen und Mei­nen, zwi­schen Behaup­tung und Wirk­lich­keit als per­sön­li­ches und bela­sten­des Geheim­nis mög­lichst dau­er­haft ver­heim­li­chen; sie wird gege­be­nen­falls wei­te­re Schutz­be­haup­tun­gen auf­stel­len, neue Legen­den bil­den, um die tat­säch­lich vor­han­de­ne Dif­fe­renz zwi­schen Wahr­heit und Unwahr­heit nur nicht spür­bar, offen­sicht­lich und offen­bar wer­den zu lassen.

    Anders dage­gen die Iro­nie, auch sie arbei­tet auf der Grund­la­ge sol­cher Dif­fe­ren­zen, aber es geht ihr nicht dar­um, eine Täu­schung auf­recht zu erhal­ten, son­dern sie möch­te gera­de von einem Irr­tum befrei­en. Für den Lüg­ner ist die Unwahr­heit ein Zweck, für die Iro­nie ist sie nur ein Mit­tel. Der Lüg­ner ver­spricht sich von der Behaup­tung der Unwahr­heit einen per­sön­li­chen Vor­teil, dem Iro­ni­ker ist dar­an gar nicht gele­gen. Er ver­sucht einen Irr­tum als sol­chen zu ent­schlei­ern, aber aus bestimm­ten Grün­den geht er nicht direkt son­dern nur indi­rekt vor. – Wür­den Iro­ni­ker und Lüg­ner auf­ein­an­der­tref­fen und soll­te der Iro­ni­ker die Lügen durch­schau­en, er wür­de auf die Ver­si­che­run­gen des Lüg­ners nicht mit der übli­chen Ent­rü­stung reagie­ren. Er wür­de viel­mehr ein Spiel mit dem Lüg­ner und mit sei­ner Lüge beginnen.

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