• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Schule,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Amok und Nihilismus

    Über transzendentale Obdachlosigkeit

    Ich habe Amok nie ver­stan­den. Bei Charles Bukow­ski, durch den man eben­so hin­durch muß, wie durch Niklas Luh­mann, geschieht das so neben­her. Irgend­wer hat mal so rich­tig schlech­te Lau­ne, legt sich dann irgend­wo auf die Lau­er, nimmt sich ein Gewehr, wird Hecken­schüt­ze und bal­lert irgend­wel­che Leu­te ab, die ein­fach nur das Unglück haben, gera­de in die­sem Augen­blick vor Ort zu sein.

    Nun, mir geht es ums Ver­ste­hen, nicht unbe­dingt um Ver­ständ­nis. Das ist ein him­mel­wei­ter Unterschied.

    Man legt sich dann irgend­wel­che Erklä­run­gen zurecht, so etwas die bei Schul­mas­sa­kern, daß da jemand mit nar­ziss­ti­scher Stö­rung zutiefst ver­letzt wor­den sein muß, der dar­auf “Rache” aus­übt. Das ist auch dürf­tig, weil es nicht die tie­fe­ren Grün­de erklärt. Wir alle sind schon mal so rich­tig mies ver­letzt wor­den und waren ernst­zu­neh­mend sau­er, haben aber in der Regel nicht ein­mal dar­an gedacht, auf die­se Wei­se damit umzu­ge­hen, um die Sache wie­der “aus der Welt zu schaffen”.

    Edvard Munch: Melan­cho­lie (1894f).

    Ein­mal habe ich, um bes­ser zu emp­fin­den, in mei­ner Vor­le­sung einen Amok­lauf aus der Per­spek­ti­ve des­je­ni­gen Schü­lers ver­sucht zu beschrei­ben, der nun mit sei­ner Waf­fe durch den Flur läuft, wäh­rend die ihm per­sön­lich bekann­ten und doch viel­leicht auch ehe­dem freund­schaft­lich ver­bun­den Mit­schü­ler vor ihm fliehen. 

    Dar­auf bin ich auf die Idee gekom­men, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir näm­lich so vor, als wür­de man­cher Täter sich womög­lich den Flüch­ten­den anschlie­ßen, gewis­ser­ma­ßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eige­nen Horror.

    Aber bei dem Anschlag in Hei­del­berg waren es Stu­den­ten, die zumeist per­sön­lich ein­an­der gar nicht bekannt sein dürf­ten. Hier ent­fällt also ein zen­tra­les Argu­ment, per­sön­li­che Rache auf­grund per­sön­li­cher Demü­ti­gun­gen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leu­te zu “bestra­fen”, die so rein gar nichts mit irgend­et­was zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

    Mir tut es leid für alle die, die da in die­sem Hör­saal waren, für die Ver­letz­ten und noch mehr für die Toten, ihre Ange­hö­ri­gen, Freun­de und Freun­des­freun­de. Sie alle haben mein Mitgefühl.

    Den­noch will man immer etwas über die Moti­ve hören, als ob es doch irgend­wel­che zurei­chen­de Grün­de gäbe. Fast schon ent­la­stend wirkt da, wenn die­se Moti­ve reli­giö­ser oder poli­ti­schen Natur sind. Dadurch wird die Absur­di­tät nicht gerin­ger, aber irgend­wie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich hal­ten kann.

    Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amok­läu­fer an der Uni in Hei­del­berg hör­te. Er soll per Whats­app kurz zuvor mit­ge­teilt und ange­kün­digt haben, nach­dem er sich die Waf­fen zuvor im Aus­land beschafft hat­te, „daß Leu­te jetzt bestraft wer­den müs­sen“. Die­ses “Motiv” hat wei­ter gear­bei­tet in mir. Irgend­wie scheint das ein Schlüs­sel zu sein für ein tie­fe­res Ver­ste­hen ohne Verständnis.

    Dabei ist mir auf­ge­fal­len, daß die­se For­mel vom “Bestra­fen” häu­fig ver­wen­det wird, nicht nur von reli­gi­ös moti­vier­ten Amok­tä­tern, son­dern auch von sol­chen, die eigent­lich nicht reli­gi­ös moti­viert sein dürf­ten, weil ihnen dazu jeder Back­round fehlt. Dann bin ich heu­te beim Ver­fas­sen eines Tex­tes auf den Zeit­geist der Moder­ne zu spre­chen gekom­men und dar­auf, daß mit der Ent­zau­be­rung der Welt, mit dem Ver­lust eines Glau­bens und einer tran­szen­den­ta­len Obdach­lo­sig­keit die­se grund­ver­zwei­fel­ten Leu­te zunächst in Russ­land auf­kom­men, wie sie Dosto­jew­ski so ein­dring­lich zur Dar­stel­lung bringt.

    Das hilft nun den Opfern und allen Betrof­fe­nen nicht wirk­lich, weil ihnen das die gesuch­te und nicht zu fin­den­de Erklä­rung nicht geben kann. Und den­noch, es hat mit dem “Bestra­fen” eine eige­ne Bewandt­nis. Stra­fe, Süh­ne und Buße sind näm­lich als Moti­ve zutiefst reli­gi­ös in einem tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne. Das bedeu­tet, man muß nicht unbe­dingt auf irgend­ei­ne Wei­se gläu­big sein, die­se Arche­ty­pen sind ein­fach vor­han­den im kol­lek­ti­ven Unbewußten.

    Edvard Munch: Der Schrei.

    Also, in der Moder­ne, wo nicht ein­mal mehr die Idee vom gro­ßen Gan­zen noch mög­lich scheint, dort zer­springt die Welt in tau­send Stücke und alle die­se Frag­men­te erschei­nen nur noch pro­fan. Dar­auf wird dann die unse­li­ge Pro­fa­ni­tät selbst zum Skan­dal und zum ver­zwei­fel­ten Anlaß für Selbst­ver­let­zung, sei es am eige­nen Leib oder auch am ›Kör­per‹ der Gemein­schaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die See­le der Akteu­re in der von ihnen ver­ach­te­ten Welt seit gerau­mer Wei­le kei­ne Nah­rung mehr fin­det, zumal der Blick für See­len­nah­rung ent­we­der gar nicht ent­wickelt oder ein­ge­trübt ist.

    Auf die­se Wei­se läßt sich nach­voll­zie­hen, war­um es unter psy­cho­lo­gisch pre­kä­ren Umstän­den in den völ­lig ent­zau­ber­ten und pro­fa­ni­sier­ten Frag­men­ten moder­ne Wel­ten immer wie­der zu die­sen äußerst spek­ta­ku­lä­ren und demon­stra­ti­ven Ter­ror­ak­ten kommt, und woher die vie­len reli­giö­sen Moti­ve vor allem doch bei eigent­lich reli­gi­ös gar nicht moti­vier­ten Tätern rühren.

    Es läßt sich spe­ku­lie­ren, ob das Unvor­stell­ba­re nicht doch vor­stell­bar wird, wenn wir ernst neh­men, was vie­le die­ser Täter als Motiv bekun­den, sie woll­ten ›stra­fen‹. Als wür­de da ein gei­stig voll­kom­men ent­wur­zel­tes Pro­phe­ten­tum exer­ziert. Tat­säch­lich läßt sich aber anneh­men, daß die Ver­let­zun­gen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sol­len, nur, in einem Kon­ti­nu­um, das selbst völ­lig ver­irrt ist.

    Das hat Fjo­dor Michai­lo­witsch Dosto­jew­ski in der gan­zen see­li­schen Dra­ma­tik vor Augen geführt. Er war ein Seis­mo­graph der Kon­flik­te, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moder­ne geriet. In sei­nen Wer­ken spie­gel­te er die irr­lich­tern­de mensch­li­che See­le, ihre Sehn­süch­te, Regun­gen und Träu­me, dann aber auch die Zwän­ge und Befrei­ungs­ver­su­che bis hin zum Verbrechen.

    Seit die Welt nur noch in Frag­men­ten erscheint, die alle­samt nur noch pro­fa­ner Natur sein kön­nen, kon­zen­triert man sich ersatz­hal­ber auf Äußer­lich­kei­ten, spricht allen­falls von ›Wer­ten‹ und ver­liert jede Vor­stel­lung von Geist und Ver­nunft in ihrem Bezug zum Schö­nen, Erha­be­nen und daher auch zum Gött­li­chen. — Fol­ge­rich­tig führt Fried­rich Nietz­sche die­ser Befund zu einer ver­hee­ren­den Dia­gno­se: Nihilismus.

    Der jun­ge Nietz­sche selbst ver­warf bereits in jun­gen Jah­ren die­se Welt­sicht der Halt­lo­sig­keit und wand­te sich der Phi­lo­so­phie von Arthur Scho­pen­hau­er zu, die nicht nur die Ver­zweif­lung auf eine sehr kon­struk­ti­ve Wei­se deu­tet, son­dern die auch eine Phi­lo­so­phie des Mit­leids ent­wickelt und dabei bedeu­ten­de Gemein­sam­kei­ten mit fern­öst­li­chem Den­ken ent­wickelt. — Es gäbe also schon phi­lo­so­phi­sche Alter­na­ti­ven, die vor allem eige­nes Han­deln wie­der mög­lich machen und nicht nur die akti­ve Welt­ver­nei­nung und noch dazu die völ­lig unbe­rech­tig­te “Bestra­fung” zufäl­lig anwe­sen­der Men­schen, die dann zu Opfern wer­den. Kein Gott, kein Geist und nicht ein­mal ein Ungeist wird ein sol­ches Opfer akzeptieren.

    Das ist kei­ne Erklä­rung, die Trost spen­den kann, es ist aller­dings eine beun­ru­hi­gen­de Ein­sicht in die see­li­sche Käl­te unse­rer Welt, die man­che ein­fach nicht ertra­gen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hil­fe nicht ein­mal mehr vor­stel­len kön­nen son­dern mei­nen, sie könn­ten durch sol­che Taten irgend­et­was bewir­ken, was alten Wun­den heilt. – Statt­des­sen wer­den neue aufgerissen.

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    Die Urbanisierung der Seele

    Die Urbanisierung der Seele. 

    Über Zivilisation und Wildnis

    Das Ewig-Weib­li­che als Motiv aller Moti­ve ist weit weni­ger bio­lo­gi­scher Natur, als gemein­hin ange­nom­men wird, denn gera­de die Geschlech­ter­rol­len sind eine Fol­ge der Zivi­li­sa­ti­on. Zuvor waren die Ver­hält­nis­se der Geschlech­ter stets anders arrangiert.

    Heinz-Ulrich Nennen: Die Urbanisierung der Seele.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Die Urba­ni­sie­rung der See­le. Über Zivi­li­sa­ti­on und Wild­nis; (Zeit­Gei­ster 2). tre­di­ti­on, Ham­burg. 312 S. – Paper­back 18,99 €, ISBN: 978–3‑7482–1319‑2. Hard­co­ver 28,99 €, ISBN: 978–3‑7482–1320‑8. Erschei­nungs­da­tum: 07.03.2019

    Wild­beu­ter sind nicht sess­haft, daher wäre es unsin­nig, Besitz­tü­mer anzu­häu­fen und ver­er­ben zu wol­len. Inso­fern ist auch nicht das Haben, son­dern das Sein ent­schei­dend, wenn und wo es um Aner­ken­nung geht. – Unter den Bedin­gun­gen der Zivi­li­sa­ti­on geht es jedoch um Besitz und Sta­tus, vor allem in Bezug auf Frau­en, was sich anhand von Alle­go­rien über Weib­lich­keit demon­trie­ren läßt. Pan­do­ra steht sym­bo­lisch für die Ver­lockun­gen, Fol­gen und Neben­fol­gen im Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on. Aphro­di­te ver­kör­pert als Göt­tin der Lie­be den Ver­drän­gungs-Wett­be­werb unter Frau­en und die Ent­schie­den­heit, im Zwei­fels­fall alles ein­zu­set­zen. Der­weil steht die schö­ne Hele­na für das Schick­sal, im Spiel der Mäch­te zum wil­len­lo­sen Opfer und zur schö­nen Beu­te gemacht zu wer­den, um als Trumpf, Tro­phäe, viel­leicht sogar im Tri­umph gewalt­sam genom­men zu wer­den. Es gibt eine Foto­gra­fie, die minu­ti­ös von Fried­rich Nietz­sche gegen den Ein­spruch der Betei­lig­ten arran­giert wor­den ist. – Lou Andre­as-Salo­mé hat Fried­rich Nietz­sche und Paul Rée vor ihren Kar­ren gespannt. So könn­te eine Inter­pre­ta­ti­on lau­ten, zumal die Begehr­te kurz zuvor die Hei­rats­an­trä­ge bei­der Män­ner abge­lehnt hat­te. – Es mag sein, dass Nietz­sche sich von die­ser ent­täu­schen­den Lie­be inspi­rie­ren ließ. Aber neben der bio­gra­phi­schen Inter­pre­ta­ti­on ist eine ande­re noch tief­grün­di­ger, es geht um das Motiv aller Moti­ve. Das berühm­te Foto spot­tet jeder land­läu­fi­gen Inter­pre­ta­ti­on des gemei­nen Spruchs: »Wenn Du zum Wei­be gehst, ver­giss die Peit­sche nicht«. Gera­de die­ser Satz hat Nietz­sche in Ver­ruf gebracht. Betrach­tet man aber das Foto genau­er, so zeigt sich, wer hier die Peit­sche führt: Es ist das Weib. 


    Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­load frei­ge­ge­ben. 

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Vor­le­sun­gen und Semi­na­re. Word­cloud 2016.

  • Götter und Gefühle,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theographien,  Vorlesung

    Persiphaé

    Pasiphae-Gustave-Moreau
    Gust­ave Moreau: Pasi­phaé. Musée Gust­ave Moreau, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Götter als Allegorien menschlicher Belange

    Die Nähe zum pan­dä­mo­ni­schen, pan­psy­chi­schen oder auch zum poly­the­isti­schen Welt­bild liegt fast schon auf der Hand: Stets wer­den wir näm­lich ergrif­fen von frem­den Mäch­ten und von über­per­sön­li­chen Moti­va­tio­nen. Daher ist die Vor­stel­lung so nahe­lie­gend, als wür­den wir ein­ge­nom­men von dämo­ni­schen Mäch­ten, die Besitz von uns ergrei­fen, um ihre Moti­ve zu den unse­ren zu machen. — Inso­fern sind wir wohl nicht wirk­lich Herr unse­rer selbst, denn wer sucht sich schon die eige­ne Grund­stim­mung, die Grund­ge­füh­le und vor allem auch die Gefühls­schwan­kun­gen selbst aus. Göt­ter ver­kör­pern nicht nur Emo­ti­on, von denen wir uns bewe­gen las­sen, sie geben sie mit­un­ter auch ein.

    Göt­ter kön­nen sich rächen, indem sie unwi­der­steh­li­che Nei­gun­gen ein­ge­ben: König Minos von Kre­ta hat­te einen eigens von Posei­don geschaf­fe­nen Stier mit außer­ge­wöhn­lich herr­li­cher Gestalt dem Mee­res­gott auf des­sen aus­drück­li­chen Wunsch nicht geop­fert, son­dern zur Ver­ed­lung der eige­nen Her­de ver­wandt. Dar­auf ließ Posei­don die Ehe­gat­tin des Minos Pasi­phae in hei­ßem Begeh­ren zu jenem Stier ent­bren­nen. Der sagen­um­wo­be­ne Erfin­der Däda­lus wur­de geru­fen, der eine höl­zer­ne Kuh kon­stru­ier­te. Die Köni­gin kriecht hin­ein, läßt sich von die­sem Stier begat­ten und gebiert dar­auf den Mino­tau­rus, der spä­ter dann im Laby­rinth gefan­gen gehal­ten und von The­seus unter Mit­hil­fe von Ari­ad­ne getö­tet wird.

    Weil Minos dem Nep­tun einen Och­sen nicht opfer­te, wel­chen er ihm doch ver­spro­chen hat­te, so habe sie sich in den­sel­ben ver­lie­ben müs­sen. Ihre Brunst wur­de auch eher nicht gestil­let, als bis Däda­lus eine Kuh von Hol­ze ver­fer­tig­te, sol­che mit einer Kuh­haut über­zog, und die Pasi­phae hin­ein steckete. (Ben­ja­min Hede­rich: Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 1899.)

    Man­ches spricht dafür, die Göt­ter des Pan­the­on zu sehen als das, was sie von Anfang an waren, Alle­go­rien für alle erdenk­li­chen mensch­li­chen Belan­ge. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie alles, was an Moti­ven, Inter­es­sen, an Schick­sals­schlä­gen, Schwä­chen oder auch Stär­ken, Fer­tig­kei­ten und Talen­ten eine Rol­le spie­len kann.

    Wenn dem­entspre­chend genau­er gefragt wird, etwa, was denn eigent­lich hin­ter der Empa­thie steht, und was denn dann die Sehn­sucht der Sehn­sucht aus­macht, dann könn­ten wir wei­ter­kom­men in die­ser Fra­ge, wenn uns ein Gott dazu ein­fie­le, der zustän­dig zu sein scheint. — Die Kunst, mit der ver­wir­ren­den Viel­falt eines Göt­ter­him­mels umzu­ge­hen, liegt eben dar­in, hin­ter den Alle­go­rien der Göt­ter ihre Zustän­dig­kei­ten zu eru­ie­ren. Die Fra­ge wäre also: Wel­cher Gott ver­kör­pert eigent­lich die Sehn­sucht der Sehn­sucht und wie gehen Göt­ter ihrer­seits damit um, Träu­me zu haben, die sie womög­lich selbst nicht leben kön­nen, etwa weil es zu ihrer Rol­le und zu ihrem Selbst­ver­ständ­nis ein­fach nicht paßt.

  • Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

    Nur wer die Sehnsucht kennt

    Goethe-Lotte-Werther
    Goe­the Lot­te Wert­her. Stadt– und Indu­strie­mu­se­um, Wetz­lar 2014. — Quel­le: 3StepsCrew, Gie­ssen, Ger­ma­ny via Wiki­me­dia, Lizenz: CC-BY-SA‑2.0.

    Mit sei­nem Wert­her trifft Goe­the das epo­cha­le Lebens­ge­fühl jun­ger Leu­te im Span­nungs­feld zwi­schen der neu­en Emp­find­sam­keit und einer über­kom­me­nen Moral, die eigent­lich alles Per­sön­li­che im Keim erstick­te. Dage­gen grün­de­te sich die sei­ner­zeit als Lese­sucht bezeich­ne­te Suche nach den Moti­ven einer neu­en Sehn­sucht auf Indi­vi­dua­li­tät und auch auf Nar­ziss­mus. So ent­stand der neue Zeit­geist mit einem Hang zum sen­ti­men­ta­li­schen Cha­rak­ter, der erst in der Roman­tik ganz zum Aus­druck kom­men und auch sei­ne Schat­ten­sei­ten ent­wickeln sollte.

    Das neu her­an­brau­sen­de Zeit­al­ter der Emp­find­sam­keit war selbst­ver­ständ­lich höchst umstrit­ten, denn damit wur­de ein ganz bedeu­ten­der Schub in der Psy­cho­ge­ne­se aus­ge­löst. Anstel­le der stets so tugend­haft und alter­na­tiv­los hin­ge­stell­ten Füg­sam­keit, sich den Anfor­de­run­gen eines über­kom­me­nen Kon­ven­tio­na­lis­mus klag­los zu über­ant­wor­ten, wur­de nun der Aus­druck eines neu­en Indi­vi­dua­lis­mus mög­lich, der Welt­schmerz und Melan­cho­lie zum Aus­druck brach­te und dabei bis zum Nar­ziss­mus füh­ren konn­te. — Die Figur des Wert­her war dabei der Pro­to­typ eines neu­en Zeit­ge­nos­sen, der mit sei­ner unstill­ba­ren Sehn­sucht, sei­nem über­bor­den­dem Nar­ziss­mus und mit sei­ner Melan­cho­lie an der herr­schen­den Moral ein­fach scheitert.

    Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugend­be­we­gung‹. Wei­te­re Reak­tio­nen in Kunst und Lite­ra­tur lie­ßen nicht auf sich war­ten. Mas­si­ve Ver­än­de­run­gen im Selbst­ver­ständ­nis und im Selbst­ver­hält­nis gin­gen damit ein­her. Es kam zur Vor­bild­funk­ti­on, zur Iden­ti­fi­ka­ti­on, zur Nach­ah­mung der Haupt­fi­gur und schließ­lich zum Werther–Kult mit einer Rei­he von Sui­zi­den oder Sui­zid­ver­su­chen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tra­di­ti­on der Fremd­be­stim­mung, son­dern eine Demon­stra­ti­on des Anspruchs auf Indi­vi­dua­li­tät jen­seits der her­kömm­li­chen Moral. Und so wur­de dann auch der Selbst­mord die­ses tra­gi­schen Hel­den nicht mehr als Sün­de tabui­siert, son­dern als ›Frey­tod‹ betrach­tet, als Aus­druck einer indi­vi­du­el­len Frei­heit, sich gegen gesell­schaft­li­che Zwän­ge zu behaup­ten, indem man sich dem Wei­ter­le­ben ›ent­zieht‹.

    Im Wil­helm Mei­ster wird die­se träu­men­de Sehn­sucht wei­ter zum Aus­druck gebracht, aber auch eine Nai­vi­tät, die zustan­de kommt, wo Empa­thie ohne Theo­rie ein­fach nur auf eine neue Sehn­sucht zielt, von der nicht inhalt­lich gesagt wer­den kann, was denn nun die Sehn­sucht die­ser Sehn­sucht sein soll:

    Er ver­fiel in eine träu­men­de Sehn­sucht, und wie ein­stim­mend mit
    sei­nen Emp­fin­dun­gen war das Lied, das eben in die­ser Stun­de Mi-
    gnon und der Harf­ner als ein unre­gel­mä­ßi­ges Duett mit dem herz-
    lich­sten Aus­drucke sangen:

    Nur wer die Sehn­sucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich ans Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite.
    Es schwin­delt mir, es brennt
    Mein Ein­ge­wei­de.
    Nur wer die Sehn­sucht kennt,
    Weiß, was ich leide!

    (Johann Wolf­gang von Goe­the: Wil­helm Mei­sters Lehrjahre.

    In: Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

    So träumt dann Wil­helm Mei­ster noch in träu­men­der Sehn­sucht, kommt aber aus dem Lei­den am Lei­den nicht her­aus. Es bleibt bei der Sehn­sucht nach dem, was der Sehn­sucht wert ist. Und so geht Goe­thes Faust weit dar­über hin­aus: Er greift wirk­lich nach den Ster­nen und macht dabei die­je­ni­gen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu ange­tan sind, für sich selbst bes­ser wahr­neh­men zu kön­nen, was denn gewollt wer­den sollte.

    Faust ist rast­los, uner­füllt, umtrie­big und vol­ler Sehn­sucht nach einer Sehn­sucht, deren Beweg­grün­de ihm selbst aber unbe­kannt sind. Er täuscht sich dar­über, was und wo denn nun das Land sei­ner Träu­me liegt, was das Ziel aller Seh­süch­te sein soll. — Im Dia­log mit der Sor­ge, die sehr melan­cho­li­sche Züge trägt, erläu­tert er die zuneh­men­de Ruhe der Weis­heit, die mit der Erfah­ren­heit einhergeht:

    FAUST.
    Ich bin nur durch die Welt gerannt;
    Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
    Was nicht genüg­te, ließ ich fahren,
    Was mir ent­wisch­te, ließ ich ziehn.
    Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
    Und aber­mals gewünscht und so mit Macht
    Mein Leben durch­ge­stürmt; erst groß und mächtig,
    Nun aber geht es wei­se, geht bedächtig.
    Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
    Nach drü­ben ist die Aus­sicht uns verrannt;
    Tor, wer dort­hin die Augen blin­zelnd richtet,
    Sich über Wol­ken sei­nes­glei­chen dichtet!
    Er ste­he fest und sehe hier sich um;
    Dem Tüch­ti­gen ist die­se Welt nicht stumm.
    Was braucht er in die Ewig­keit zu schweifen!
    Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
    Er wand­le so den Erden­tag entlang;
    Wenn Gei­ster spu­ken, geh’ er sei­nen Gang,
    Im Wei­ter­schrei­ten find’ er Qual und Glück,
    Er, unbe­frie­digt jeden Augenblick!
    SORGE.
    Wen ich ein­mal mir besitze,

    Dem ist alle Welt nichts nütze;
    Ewi­ges Düst­re steigt herunter,
    Son­ne geht nicht auf noch unter,
    Bei voll­kom­men äußern Sinnen
    Woh­nen Fin­ster­nis­se drinnen,
    Und er weiß von allen Schätzen
    Sich nicht in Besitz zu setzen.
    Glück und Unglück wird zur Grille,
    Er ver­hun­gert in der Fülle; …

    (Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Ham­bur­ger Ausgabe
    Ham­bur­ger Aus­ga­be, Ham­burg 1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

    Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfah­rung brin­gen und braucht dafür einen Teu­fels­pakt mit dem genia­len Mephi­sto, der das all­um­fas­sen­de Pro­bie­ren und Stu­die­ren ihm erst mög­lich macht. — In der Faust­wet­te geht es schließ­lich um die Lösung der Fra­ge nach der Sehn­sucht der Sehnsucht:

    FAUST.
    Werd’ ich zum Augen­blicke sagen:
    Ver­wei­le doch! du bist so schön!
    Dann magst du mich in Fes­seln schlagen,
    Dann will ich gern zugrun­de gehn!
    Dann mag die Toten­glocke schallen,
    Dann bist du dei­nes Dien­stes frei,
    Die Uhr mag stehn, der Zei­ger fallen,
    Es sei die Zeit für mich vor­bei! (Ebd. S. 57.)

    Der­weil wirkt Mephi­sto stets so, als habe er das alles längst hin­ter sich und wüß­te um das Wesen des Men­schen, um Träu­me und Schäu­me. Die­ser Dämon spricht wie ein Nihi­list, der sich längst zum Zyni­ker gewan­delt hat, und in der Tat ist Mephi­sto bar jeder Sehn­sucht, so daß man sich fra­gen muß, woher er dann noch sei­ne Ener­gie nimmt.

    Aus­zug aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. S. 148ff.

  • Anthropologie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung

    Blick und Gegenblick

    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.
    Giu­sep­pe Cesa­ri: Dia­na und Aktai­on. Muse­um der fei­nen Kün­ste, Buda­pest. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Jean Paul Sart­re hat in Das Sein und das Nichts eine Blick­ana­ly­se vor­ge­führt, die das Erblicken und das Erblickt­wer­den zur Dar­stel­lung bringt und dabei demon­striert, wie der Blick auf den Ande­ren die­sen zum Objekt degra­diert, selbst wenn das womög­lich gar nicht beab­sich­tigt ist. 

    Das ist wie­der einer die­ser kon­sti­tu­ti­ven Brü­che, die mit dem Bewußt­sein in die Welt gekom­men sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir wer­den nicht nur gese­hen, son­dern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt gewor­den ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt wor­den sind.

    Ich befin­de mich in einem öffent­li­chen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stüh­le. Ein Mensch geht an den Stüh­len vor­bei. Ich sehe die­sen Men­schen, ich erfas­se ihn gleich­zei­tig als einen Gegen­stand und als einen Men­schen. Was bedeu­tet das? Was will ich sagen, wenn ich von die­sem Gegen­stand behaup­te, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sart­re: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Ham­burg 1993. S. 457.) 

    Der Blick, der den ande­ren erfaßt, ist weit mehr als nur ein­fa­ches Sehen, denn er nimmt dem Ande­ren die Eigen­heit, sei­ne Sub­jek­ti­vi­tät und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degra­diert den Ande­ren in sei­nem Sub­jekt­sta­tus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begeh­ren­den oder taxie­ren­den Blick geht, denn dann ist es ein abschät­zen­der, viel­leicht auch abschät­zi­ger Blick. Inter­es­san­ter­wei­se geschieht das mit jedem Blick, der unbe­dacht auf Jeman­den fällt, der viel­leicht in die­sem Augen­blick selbst unbe­dacht sein mag. Sobald die­ser Blick aber selbst wie­der­um erblickt und mit einem Gegen­blick erwi­dert wird, sobald das Sehen als Gese­hen­wer­den gewahr wird, als Erblicken des Erblickt­wor­den­seins, geschieht die­se selt­sa­me Über­wäl­ti­gung: Das vor­ma­li­ge Sub­jekt des Blicks wird vom vor­ma­li­gen Objekt nun­mehr selbst zum Objekt eines wei­te­ren Blicks. Nicht nur unse­re Spra­che hat daher Magie, son­dern auch unser Blick hat irgend­ei­ne selt­sa­me magi­sche Macht.

    Kul­tu­ren geben sich viel Mühe, die­se Kraft, die im Blick liegt, zu zäh­men, um die Kräf­te auf ihre Müh­len zu len­ken. Blicke wer­den geführt, gelenkt, gerich­tet und sie wer­den wie­der­um gede­mü­tigt, umer­zo­gen oder auch abge­lenkt. Der Blick, der bezeich­nen­de Aus­druck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Poli­tik, ohne daß über­haupt irgend­et­was gesagt wer­den müß­te. — Kul­tur poli­ti­siert jeden Blick, denn sie legt es dar­auf an, vor­zu­schrei­ben, wer gewis­se Ein­blicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Ver­dacht, daß es neben der exo­te­ri­schen– noch eine eso­te­ri­sche Leh­re geben müs­sen, daß es eben Wahr­heit gibt, die nicht für die All­ge­mein­heit, son­dern die nur für Aus­er­wähl­te bestimmt sind.

    Dabei brin­gen Taschen­spie­ler, Zau­ber­künst­ler, eben ›Illu­sio­ni­sten‹ genau die­se Wahr­heit stets wie­der aufs Neue her­vor. Blicke las­sen sich len­ken, füh­ren, ver­füh­ren, ablen­ken und völ­lig ver­wir­ren. Also wer­den nicht sel­ten frei­mü­tig Ein­blicke gewährt, nicht sel­ten um zu ver­ber­gen und zu ver­schlei­ern, was nicht gese­hen wer­den soll, was ande­re nicht nur nicht begeh­ren, son­dern gar nicht erst zu Gesicht bekom­men sol­len. — Die vie­len und nicht sel­ten mit dra­sti­schen Stra­fen beleg­ten Blick­ver­bo­te, den Gott­kö­ni­gen und Prie­ster­göt­tern, ins­be­son­de­re aber den Göt­tern gegen­über, zeu­gen davon, daß man immer schon ver­sucht war, die unge­bän­dig­te Magie des frei­en, unge­zwun­ge­nen, unge­zü­gel­ten und viel­leicht auch begehr­li­chen Blicks zu bezähmen.

    Wenn jeder Blick mit die­ser selt­sa­men magi­schen Kraft aus­ge­stat­tet ist, das Erblick­te zum Objekt zu degra­die­ren, dann wären in der Tat auch Kai­ser, Hei­li­ge und sogar Göt­ter nicht davor gefeit. Also steht dar­auf der Tod, wie bei der Jagd­göt­tin Dia­na, die von Aktai­on rein zufäl­lig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nym­phen beim Baden erfreut. — Die Göt­tin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jun­gen Mann ihre Blö­ße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so man­che ande­re unter den ein­schlä­gi­gen Göt­tin­nen eiser­ne Jung­frau. Das dürf­te dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, daß die Selb­stän­dig­keit einer Frau zu die­sen Zei­ten nur dann über­haupt vor­stell­bar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

    Die Göt­tin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will par­tout kei­ne Liebes–Erfahrungen mit Män­nern. Der begehr­li­che Blick des Aktai­on macht sie jedoch in einem ein­zi­gen Augen­blick zum Objekt sei­ner Begier­de. Aber gera­de Dia­na steht dafür ein, Jung­frau zu sein und es auch zu blei­ben. Über­rascht und über­rum­pelt ver­sucht sie sich dem begehr­li­chen Blick zu ent­zie­hen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voy­eur mit Was­ser, wor­auf die­sem augen­blick­lich ein Hirsch­ge­weih wächst, das Sym­bol der Jagdgöttin.

    Dem Jäger wer­den mehr als nur alle­go­ri­sche Hör­ner auf­ge­setzt, sie wach­sen ihm wirk­lich, er wird zum Beu­te­tier sei­ner eige­nen Jagd­lust. Ganz im Sin­ne der Dia­lek­tik von Blick und Gegen­blick wird der Jäger selbst zum Gejag­ten. Die eige­nen Jagd­hun­de spü­ren ihn auf, er will sich ihnen zu erken­nen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hir­schen und in Erman­ge­lung des Sprach­ver­mö­gens schwer­lich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stel­le zer­fleischt. Immer­hin han­delt es sich hier um eine Theo­pha­nie. Da muß die Fra­ge auf­kom­men, nicht nur wie und war­um es über­haupt dazu kommt, son­dern auch, was eigent­lich mit einem Men­schen geschieht, der eine sol­che schick­sal­haf­te Begeg­nung hat. Wenn wir uns ober­fläch­lich mit dem Mär­chen­haf­ten die­ser Situa­ti­on abfin­den las­sen, dann ist es ein­fach nur eine unglück­li­che Lie­be. Der jun­ge Held ver­liebt sich eben augen­blick­lich in die gött­li­che Schö­ne, aber er ver­geht bereits an und in sei­ner Lie­be. Oder: Die hol­de Schö­ne ist so prü­de, so eitel, so panisch auf ihre Unbe­rührt­heit bedacht, so daß sie ein­fach alle, die ihr Avan­cen machen, die womög­lich auch noch anzüg­li­che Blicke wer­fen, augen­blick­lich töten muß. — Das alles ist viel zu kind­lich gedacht, wir wür- den damit ledig­lich ein wenig auf dem Kamm der mär­chen­haf­te Schaum­kro­ne sol­cher Mythen surfen.

    Der vor allem doch auf­grund sei­ner erstaun­lich moder­nen Spe­ku­la­tio­nen über Gott, den Kos­mos und über den Men­schen, von der Kir­che als Ket­zer ver­brann­te Giord­a­no Bru­no, gibt nun die­ser Begeg­nung eine sehr viel tie­fe­re Bedeu­tung. Bei ihm wird alles zur Alle­go­rie: Der Jäger, das ist die Ver­nunft, die Jagd­hun­de, das ist der Ver­stand, die Göt­tin, das ist, was wir nur zu gern erken­nen wür­den aber nicht wirk­lich ertra­gen könnten.

    Aktai­on steht hier für den Intel­lekt, auf der Jagd nach gött­li­cher Weis­heit im Augen­blick des Erfas­sens der gött­li­chen Schön­heit. (Giord­a­no Bru­no: Von den heroi­schen Lei­den­schaf­ten. Ham­burg 1989. S. 64.)

    So kommt es dann zu die­ser erstaun­li­chen Wen­dung, zu einer Alle­go­re­se, die sehr viel mehr zu den­ken gibt, als die Ober­fläch­lich­kei­ten der mär­chen­haf­ten Züge die­ser Sto­ry, wenn Bru­no ver­lau­ten läßt: Er sah der gro­ße Jäger, er begriff, soweit das mög­lich ist, und ward zur Beu­te: er ging, um zu jagen und wur­de dann selbst die Beu­te. (Ebd. S. 65.)

    Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in sei­ner ursprüng­li­chen Vor­stel­lung etwas Besitz­ergrei­fen­des hat, daß aber, wer den Blick unbe­dacht schwei­fen läßt, durch­aus auch Gefahr lau­fen kann, selbst ergrif­fen zu wer­den. Wir geben uns her­me­neu­tisch inso­fern viel zu schnell zufrie­den, wenn etwa ver­laut­bart wird, irgend­wer sei am Lie­bes­kum­mer zu Grun­de gegan­gen, wir soll­ten uns viel­mehr genau­er vor­stel­len, wodurch ein sol­cher Lie­bes­tod ver­ur­sacht wird.

    Das Pro­blem ist, daß sich hier ein Mensch unbe­dach­ter­wei­se an einer Göt­tin ver­sucht, was bedeu­tet, daß ein Intel­lekt sich mal eben mit dem Gött­li­chen mißt. Wir kön­nen aber nicht erken­nen, wie die Göt­ter, wir müs­sen alles über einen Intel­lekt, über die Müh­len einer dis­kur­si­ven Ver­nunft, über unser Sprach- ver­mö­gen und qua Empa­thie müs­sen wir dann auch noch alles über unse­ren Kör­per als Medi­um erst in Erfah­rung brin­gen, was ein Gott eigent­lich von einem Moment zum ande­ren bereits erfaßt haben dürfte.

    Wir müs­sen uns bei der Empa­thie, beim Ver­ste­hen und eben­so auch beim Ver­lie­ben erst in den her­me­neu­ti­schen Zir­kel hin­ein­be­ge­ben und uns anver­wan­deln, sobald wir uns für Jeman­den ernst­haft inter­es­sie­ren. Blick und Gegen­blick haben ihre urei­gen­tüm­li­che Dia­lek­tik, sie heben sich wech­sel­sei­tig auf. Die Jagd mag ja eine Alle­go­rie auch für die Lie­be sein, aber sie ist eben nicht wech­sel­sei­tig, wenn schluß­end­lich dann doch irgend­wer der Jäger und irgend­wer ande­res den Gejag­ten abge­ben muß. — Hier ist es kein mensch­li­ches Gegen­über, son­dern eine Gott­heit, mit der es die­ser Jäger auf­zu­neh­men ver­sucht, es ist Dia­na, die Göt­tin der Jagd.

    In der Tat hat sie sich über­ra­schen las­sen, denn so, wie sie sich sehen las­sen muß, so, wie sie Aktai­on zu Gesicht bekommt, so woll­te sie sich nie einem Mann zei­gen und ›erge­ben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in die­ser Situa­ti­on eigent­lich zur Jagd–Beute gewor­den, aber sie wird sich ganz gewiß nicht erge­ben. — Es fal­len kei­ne Wor­te, was zwi­schen Göt­tern und Men­schen ohne­hin pro­ble­ma­tisch zu sein scheint. Dia­na bespritzt Aktai­on mit Was­ser und sie wirft einen empör­ten, stra­fen­den Blick auf den Ein­dring­ling, der die Idyl­le beim Baden so nach­hal­tig stört. Das jeden­falls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stel­le verwandelt.

    Es gilt zu ver­ste­hen, was da in die­sem Moment zwi­schen Aktai­on und Dia­na eigent­lich vor sich geht. Inner­halb von Sekun­den muß sich der Jäger unsterb­lich in die Jagd­göt­tin ver­liebt haben. Es genügt ein ein­zi­ger Blick, so daß er wie an einer offe­nen Wun­de förm­lich ver­blu­tet, weil ihm alle Ener­gie ein­fach ver­geht, bis eben das Auge erlo­schen ist, wobei hier die eige­nen Jagd­hun­de dem Dra­ma ein schnel­les Ende bereiten.

    Der Jäger wird durch sei­nen begehr­li­chen Blick selbst zur Beu­te. Er wird zum Opfer sei­nes eige­nen Wil­lens, sei­ner viel zu gro­ßen Begier­de nach die­sem ver­meint­li­chen Objekt sei­ner Sehn­süch­te. Ange­sichts die­ser Göt­tin ver­liert er als Sub­jekt augen­blick­lich sei­ne Posi­ti­on und schon beginnt er damit, sich anzu­ver­wan­deln. Aber er schießt weit über das Ziel hin­aus, ver­liert sich selbst und ver­geht in dem, was er sieht. Er wird nicht wie­der auf sich selbst zurück­kom­men kön­nen, weil er sich mit die­sem ein­zi­gen Blick selbst aus den Augen ver­liert. Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giord­a­no Bru­no vor­ge­führt wer­den, lie­fern tie­fe­re Ein­sich­ten in die alle­go­ri­schen Abgrün­de und sie bie­ten dann auch einen inter­es­san­te­ren Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis einer sol­chen Sze­ne­rie. Die Göt­tin mag ihn erbost mit Was­ser bespritzt haben, wor­auf ihm dann Hör­ner wach­sen, das Geweih eines Hir­schen. Aber die­se Anver­wand­lung ist nur eine Ver­zau­be­rung in dem Sin­ne, als daß der Jäger selbst zum Gejag­ten, zum Objekt einer Ver­zau­be­rung wird. So zeigt sich, wie ein­neh­mend mit­un­ter gera­de empa­thi­sche Impres­sio­nen sein können.

    Zu Ehren der Jagd­göt­tin wird der Jäger selbst zu einem Hir­schen. Das ist bei­lei­be kei­ne Eben­bür­tig­keit mehr, statt­des­sen wird ein Opfer dar­aus, ein Selbst­op­fer. Der Jäger wird selbst zur schö­nen Beu­te, weil eben der mensch­li­che Intel­lekt sich die Din­ge auf eige­ne Wei­se aneig­nen muß und weil er dabei über­la­stet wer­den kann und dann ver­ge­hen, ja förm­lich ver­glü­hen muß:

    Du weißt ja, daß der Intel­lekt sich die Din­ge auf dem Wege des Intel­lekts aneig­net, d. h. gemäß sei­ner eige­nen Wei­se. Und der Wil­le ver­folgt die Din­ge deren Natur nach, d. h. gemäß der Art, wie sie in sich selbst sind. So wur­de Aktai­on durch jene Gedan­ken, jene Hun­de, die außer­halb von ihm das Gute, die Weis­heit, die Schön- heit, das wil­de Wal­des­tier such­ten, und durch die Art, wie er die­ser schließ­lich ansich­tig wur­de, über soviel Schön­heit außer sich gera­ten, zur Beu­te. Er sah sich in das ver­wan­delt, was er such­te, und er merk­te, daß er sei­nen Hun­den, sei­nen Gedan­ken selbst zur ersehn­ten Beu­te wur­de. Weil er näm­lich die Gott­heit in sich zusam­men­ge­zo­gen hat­te, war es nicht mehr not­wen­dig, sie außer­halb sei­ner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

    Aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. (Kapi­tel: Blick und Gegenblick)

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Psychodizee

    Ernst-Klimt-Pan-troestet-Psyche-1892
    Ernst Klimt: Pan trö­stet Psy­che. Pri­vat­be­sitz. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Die Recht­fer­ti­gung der Gesell­schaft und die Bela­stung des Ein­zel­nen gehen Hand in Hand. Aber das Skan­da­lon bleibt: Die Welt ist schlecht ein­ge­rich­tet und unge­recht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöp­fer­gott, son­dern ein­zig und allein von Men­schen zu ver­ant­wor­ten ist. Die Theo­di­zee ist zur Sozio­di­zee gewor­den und auf die­se folgt nun die Psy­cho­di­zee. Auf die Ankla­ge Got­tes und dem Ver­such sei­ner Recht­fer­ti­gung, folg­te zunächst die Ankla­ge der Gesell­schaft und schluß­end­lich die Bela­stung der Psy­che. — So kehrt die Höl­le im Inne­ren wie­der zurück, wir berei­ten sie uns für­der­hin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahr­hun­der­ten kaum etwas wirk­lich ver­än­dert in den Tie­fen unse­res Selbst. Und so zeigt sich dann, war­um die Angst vor dem Jüng­sten Gericht und vor der Höl­le bis in die Gegen­wart hin­ein noch immer eine so gro­ße Rol­le spielt.

    Die alles ent­schei­den­den Fra­gen wer­den inzwi­schen syste­ma­tisch über­gan­gen, etwa die, wer uns nach dem Tod Got­tes noch unse­re ›Sün­den‹ ver­gibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht kön­nen. Das wie­der­um bringt zuneh­men­de Bela­stun­gen für die Psy­che mit sich, wor­auf nun ver­stärkt mit dem Ein­satz von Psy­cho­phar­ma­ka reagiert wird. Es ist aber ver­hee­rend, über die­se Höhen und Tie­fen ein­fach hin­weg­zu­ge­hen, denn dann wird fast schon wie im Mär­chen auch noch die eige­ne See­le ver­kauft. — Wo die eige­nen Gefüh­le syste­ma­tisch mani­pu­liert wer­den, dort fal­len wei­te­re Anpas­sungs­lei­stun­gen bis hin zur Gewis­sen­lo­sig­keit immer leich­ter. Unge­hemmt kommt dann die für so vie­le Spar­ten obli­ga­to­ri­sche Skru­pel­lo­sig­keit zum Zuge, als Aus­hän­ge­schild einer nega­ti­ven Iden­ti­tät, deren Ethos dar­in besteht, kei­nes zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spe­ku­la­ti­ven Beschrei­bun­gen die­ser Ten­den­zen sei­ner­zeit schon die mög­li­chen Vari­an­ten der wei­te­ren Ent­wick­lung ein­zu­krei­sen ver­stand. Sol­che Vor­her­sa­gen über lang­fri­sti­ge gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen sind sehr wohl mög­lich und haben nichts mit Pro­phe­tie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietz­sche gestützt, und wir dürf­ten den bei­den Den­kern daher erschei­nen, wie jene letz­ten Men­schen, von denen im Zara­thu­stra die Rede ist. Es ist die schlech­te­ste aller mög­li­chen Ent­wick­lungs­va­ri­an­ten, mit denen nicht nur Nietz­sche son­dern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir wer­den also dem ›letz­ten Men­schen‹ tat­säch­lich immer ähn­li­cher? Eines ist jeden­falls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epo­che von Fried­rich Nietz­sche, Max Weber und Sig­mund Freud mög­lich gewe­sen wäre. Man­che der Fort­schrit­te dürf­ten daher in Wirk­lich­keit eher Rück­schrit­te gewe­sen sein. — Was bei Weber das stäh­ler­ne Gehäu­se der Hörig­keit aus­macht, schil­dert Nietz­sche als Zukunfts–Diagnose im Zara­thu­stra und Freud sieht die Bela­stungs­gren­zen der Psy­che voraus.

    Schluß­end­lich kommt es zum Zynis­mus und zur Bor­niert­heit die­ser ›letz­ten Men­schen‹, die allen Ern­stes von sich behaup­ten, das Glück erfun­den zu haben, wohl­ge­merkt, nicht ge– son­dern erfun­den, und genau­so sieht es dann auch aus, die­ses Glück in aller gei­sti­gen Beschei­den­heit: »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blin­zeln, heißt es in Zara­thu­stras Vorrede.

    Kör­per, Psy­che, See­le und Geist, alles scheint aufs bequem­ste zurecht gerückt wor­den zu sein. Und man möch­te glau­ben, alles sei das­sel­be. Da wird dann die Psy­che zum stö­ren­den Bei­werk, um von See­le und Geist ganz zu schwei­gen. Wir sind eine rein tech­nisch unver­schämt erfolg­rei­che Spe­zi­es von Raub­af­fen, die inzwi­schen nur noch das Kör­per­li­che gel­ten las­sen. Woher soll da noch der Geist kom­men? — Nietz­sche rech­net mit dem Zeit­geist der Moder­ne ab.

    Die unge­heu­er­li­che Pro­phe­tie ist längst zum Klas­si­ker gewor­den, so daß eine jede Zeit, die spät gewor­den ist, ihr Spie­gel– und Zerr­bild dar­in wie­der­fin­den kann:

    Man hat sein Lüst­chen für den Tag und sein Lüst­chen für die Nacht: 

    aber man ehrt die Gesundheit. 

    »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blinzeln.

  • Anthropologie,  Melancholie,  Moderne,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zivilisation

    »Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.
    Wil­helm Otto Peters: Nero im Cir­cus. Holz­stich, um 1900, kolo­riert, nach dem Gemäl­de von Wil­helm Otto Peters. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Com­mons. — Der Dau­men als Zei­chen des Mit­ge­fühls: Mit dem nach unten zei­gen­den Dau­men signa­li­siert Nero den Gla­dia­to­ren in der Are­na »kein Mit­ge­fühl« zu zei­gen — ganz im Gegen­satz zum nach oben gestreck­ten Dau­men, der »Mit­ge­fühl« signalisiert.

    Bewußt­sein kommt nur zustan­de, wenn das, was bewußt wer­den soll, auf irgend­ei­ne Wei­se auch reprä­sen­tiert wer­den kann. Spie­gel­zel­len machen der­weil die eige­ne Selbst­wahr­neh­mung zum Medi­um, der Ande­re wird teil­wei­se gespie­gelt in der Wahr­neh­mung des eige­nen Kör­pers. Es scheint dann so, als wür­de der Beob­ach­ter zu dem, was eigent­lich nur beob­ach­tet wird. Dabei arbei­tet das System der Spie­gel­neu­ro­nen ganz offen­bar mit Pro­jek­tio­nen, die vom moto­ri­schen System aus­ge­hen, um dann über das Ner­ven­sy­stem gewis­se Wahr­neh­mun­gen zu simulieren.
    Emo­tio­nen wer­den dabei auf Bewe­gungs­mu­ster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Map­ping‹, was eben bedeu­tet, daß etwas auf etwas ande­res gelegt wird. So wird das Radio­si­gnal des Sen­ders auf eine Radio­wel­le gleich­sam ›oben‹ zusätz­lich noch ›drauf‹ gege­ben. Rein tech­nisch wer­den sol­che Ver­fah­ren als Modu­la­ti­on beschrie­ben, und in die­sem Sin­ne läßt sich nach­voll­zie­hen, wie auch die Spie­gel­zel­len die eige­ne Wahr­neh­mung so modu­lie­ren, bis sie sich öff­net für die Wahr­neh­mung Anderer.
    Es ist aller­dings bemer­kens­wert, daß wir oft nur etwas sehen müs­sen, um es zu ver­ste­hen, zu füh­len und zu mit­emp­fin­den. So wird dann die Empa­thie zur Erfah­rung am eige­nen Leib und wir kön­nen uns vor­stel­len, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betrof­fen sind. Das alles ist für die Ima­gi­na­ti­on, für das Erzäh­len und nicht zuletzt auch für das Ler­nen von unge­heu­rer Bedeu­tung, denn wir kön­nen auf die­se Wei­se zu Erfah­run­gen kom­men, ohne sie selbst je erle­ben zu müssen.
    Was in der Hirn­for­schung als Map­ping beschrie­ben wird, dem ent­spricht in der Kul­tur­wis­sen­schaft die Meta­pher , denn auch hier wird ein zumeist ganz kon­kre­ter Sinn ›über­tra­gen‹ und etwas ande­rem bei­gelegt. Durch die Wahl und den Ein­satz einer ange­mes­se­nen Meta­pho­rik wird das Ver­ste­hen und vor allem die Ver­stän­di­gung oft über­haupt erst ermög­licht. Und hier geht es ganz offen­bar dar­um, daß ein ›höhe­res‹ Bewußt­sein die Rou­ti­nen eines ande­ren Bewußt­seins jeweils mit ganz bestimm­ten Sinn­mu­stern belegt. So wer­den dann Bewe­gungs­mu­ster mit Emo­tio­nen ver­knüpft, die sich dann ihrer­seits wie­der­um als Bewegt­heit iden­ti­fi­zie­ren las­sen. Dann kön­nen wir uns nicht mehr nur vor­stel­len, wie wir uns bewe­gen. Wir kön­nen dar­über hin­aus auch Vor­stel­lun­gen dar­über haben, ›bewegt‹ zu wer­den — eben durch Empa­thie, durch Emotionen.
    Die Fra­ge, was eigent­lich Bewußt­sein ist und wie es zustan­de gebracht wird, bekommt auf die­se Wei­se ihren ein­schlä­gi­gen Modell­cha­rak­ter. Bewußt­sein ist immer Bewußt­sein von etwas, daher muß erwar­tet wer­den, daß die­ses Etwas dann auch in Erschei­nung tritt und wahr–genommen wer­den kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vie­les ist uns ver­bor­gen und dann ver­sa­gen auch noch die Wor­te, weil sie immer sofort alles fest­le­gen. Kein Wun­der also, daß das Reden gera­de dann beson­ders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst hei­kel erscheint, und wenn wir befürch­ten müs­sen, gar nicht ver­stan­den zu wer­den oder uns vor­schnell und falsch festzulegen.
    Oft haben wir uns selbst und die Situa­ti­on noch gar nicht ver­stan­den. Dann feh­len die Wor­te, so daß es unmög­lich erscheint, über­haupt irgend­et­was zu sagen, und trotz­dem sol­len wir uns erklä­ren, beken­nen und fest­le­gen. Aber die unter­schied­lich­sten Moti­ve, Emo­tio­nen und Wert­vor­stel­lun­gen lie­gen im Hader mit­ein­an­der wie die glück­li­chen Göt­ter Athens. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie die Eigen­tüm­lich­kei­ten der ver­schie­den­sten Per­spek­ti­ven und ste­hen dafür mit ihrem Cha­rak­ter ein.
    Die Viel­falt die­ser Mög­lich­kei­ten, ein– und die­sel­be Sache auch ganz anders sehen zu kön­nen, macht gelin­gen­des Ver­ste­hen so schwie­rig. Daher ist es nicht ein­fach, sich selbst zu the­ma­ti­sie­ren und die Ver­hält­nis­se syste­ma­tisch zu erör­tern. Das kann nur gelin­gen, wenn die unter­schied­lich­sten Momen­te zur Spra­che gebracht wer­den, um sich über alle mög­li­chen Moti­ve und Emo­tio­nen zu ver­stän­di­gen. — Kul­tur und Zeit­geist spie­len dabei eine ganz gro­ße Rol­le, denn immer­zu herr­schen bestimm­te Vor­bil­der, Vor­stel­lun­gen oder Muster­gül­tig­kei­ten vor und nicht sel­ten sind Erwar­tun­gen oder auch Erwar­tungs­er­war­tun­gen wie bei­spiels­wei­se Idea­le und Wert­vor­stel­lun­gen im Spiel.
    Erst was zur Spra­che gebracht, mit­ge­teilt und auch ver­stan­den wur­de, ist wirk­lich in der Welt. Alles ande­re ist und bleibt sche­men­haft im Nebel aller Mög­lich­kei­ten zurück. Solan­ge die rich­ti­gen Wor­te noch feh­len, besteht noch die Hoff­nung, daß sie gefun­den und zur Spra­che gebracht wer­den. Wo aber bereits die fal­schen Wor­te aus­ge­spro­chen wor­den sind, dort beherr­schen Irr­tü­mer die Sze­ne­rie wie ein böser Fluch, was oft nicht ein­mal bemerkt wird. — Dabei ist es gera­de­zu skan­da­lös, was Wor­te den Phä­no­me­nen antun kön­nen: Sie spie­ßen die Sachen wie Schmet­ter­lin­ge auf, kle­ben ihr Eti­kett dar­un­ter und behaup­ten, man habe damit wirk­lich alles im Griff. Tat­säch­lich ist jedoch das Leben ent­wi­chen, die See­le ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

    Ich fürch­te mich so vor der Men­schen Wort.
    Sie spre­chen alles so deut­lich aus:
    Und die­ses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

    In die­sem Gedicht aus dem Jah­re 1897 beschwört Rai­ner Maria Ril­ke eine Angst vor dem defi­ni­to­ri­schen Gebrauch der Wör­ter, wie ihn nur Poe­ten und Phä­no­me­no­lo­gen tei­len kön­nen. — Wor­te machen die Din­ge ver­füg­bar und ver­scheu­chen den Geist, der uns eigent­lich fas­zi­niert. Man glaubt, sich erklä­ren, sich ver­ständ­lich machen zu müs­sen und erreicht nicht sel­ten das Gegen­teil von alle­dem, so daß sich Ver­ste­hen in Ver­feh­len ver­wan­delt. — Daher soll­te die Empa­thie im Hin­ter­grund ste­hen, um zu erfüh­len, ob die Wor­te tat­säch­lich auch tun, was sie sol­len oder ob sie nur eigen­mäch­tig über alles her­fal­len, was ihnen nicht paßt.
    Wäh­rend die erste Stro­phe noch über die Angst spricht, wird in der näch­sten die Ankla­ge eröff­net um dann in der drit­ten den Apell vor­zu­brin­gen, die Welt der Din­ge gegen die Ansprü­che des Benen­nens und Aus­spre­chens in Schutz zu neh­men. — Ohne­hin ist die Welt selt­sam falsch moti­viert durch Wahr­neh­mungs­mu­ster, die mit der Moder­ne auf­ge­kom­men sind und die seit­her den Zeit­geist und damit das Sehen, Füh­len und Den­ken auf selt­sa­me Wei­se ver­fäl­schen, so daß das das Leben­di­ge stumm und das Star­re leben­dig erscheint.

    Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wis­sen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Gar­ten und Gut grenzt gra­de an Gott.

    Ich will immer war­nen und weh­ren: Bleibt fern.
    Die Din­ge sin­gen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Din­ge um.

  • Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Empathie

    Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
    Hans Makart: Die fünf Sin­ne. Hören, Sehen, Rie­chen, Schmecken. Öster­rei­chi­sche Gale­rie Bel­ve­de­re, Wien.

    Wer sich mit Äußer­lich­kei­ten zufrie­den gibt und glaubt, auf die­ser Grund­la­ge bereits umfas­sen­de Urtei­le abge­ben zu kön­nen, wird nur ange­paß­tes Den­kens zele­brie­ren. Da ist die­ser Hang, sich nie und nim­mer per­sön­lich auf die Sachen selbst ein­zu­las­sen. Es scheint, als wür­de man bereits ahnen, daß vie­le Gefah­ren damit ein­her­ge­hen, woll­te man dem Anspruch auf per­sön­li­che Urtei­le tat­säch­lich gerecht wer­den. Aber nichts der­glei­chen fin­det wirk­lich statt: Das Den­ken wird nicht auf­ge­schlos­sen, son­dern, noch ehe es über­haupt in Gang gekom­men ist, sofort wie­der still­ge­stellt und auf Üblich­kei­ten fixiert. Eige­nes Den­ken, Auf­merk­sam­keit, Empa­thie, — alles was mit hohem, höhe­rem oder höch­stem Anspruch daher­kommt, ist dann nur noch Attitüde.
    Die Kunst, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, kommt in der Regel nicht ein­mal im Ansatz zur Anwen­dung. In den herr­schen­den Dis­kur­sen geht es zumeist nur dar­um, sich gemein­schaft­lich zu erre­gen, sich an Feind­bil­dern zu ori­en­tie­ren, vor allem an jenen, die ganz gefähr­lich anders sind. Aber die eigent­li­chen Gefah­ren kom­men gar nicht von außen, son­dern von innen. Es sind Äng­ste im Spiel, die sich vor den unend­li­chen Wei­ten, vor den Unbe­re­chen­bar­kei­ten und Unge­wiß­hei­ten in der eige­nen Psy­che her­rüh­ren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar kei­ne Gewiß­hei­ten sind, von denen wir getra­gen wer­den. — Wer sich wirk­lich auf das offe­ne Den­ken ein­läßt, wird sich selbst über­zeu­gen, über­ra­schen, ja sogar über­ho­len, wird immer weni­ger Par­tei­gän­ger, wird sich statt­des­sen auf die Äng­ste im eige­nen Inne­ren ein­las­sen müssen.

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  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Motive der Mythen,  Religion,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Das erschöpfte Selbst

    Lucas Cra­nach der Älte­re: Melan­cho­lie. Natio­nal­ga­le­rie,
    Kopenhagen.<fn>Public domain via Wiki­me­dia Commons.</fn>

    Erläuterungen zur Psychogenese