Heinz-Ulrich Nennen | www.nennen-online.de

ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Schönheit

Kann das weg?

Das Schloßcafé—eine Herzenssache

Schloßgarten–Restaurant Mün­ster, 2020. Foto von Rox­Fuchs via Wiki­me­dia. Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons: CC-BY‑4.0.

Der Ort hat(te) Flair.—Tagsüber, sonn­tags, mit­tags, abends oder auch bis tief in der Nacht, es sind viel­fäl­ti­ge Momen­te, die Men­schen hier mit­ein­an­der ver­bun­den haben. So etwas läßt sich nicht ein­fach abreißen.

Das Restau­rant im Schloß­gar­ten von Mün­ster ist ein ganz beson­de­rer Ort in der Intim­ge­schich­te der Stadt.—Ein Abbruch des Hau­ses, ein Bruch mit die­ser Tra­di­ti­on wäre wirk­lich nicht wünsch­bar. Die Kon­ti­nui­tät soll­te auf irgend­ei­ne Wei­se gewahrt bleiben.

Das Schloß­ca­fé ist etwas beson­de­res. Wir brau­chen Loka­li­tä­ten mit gutem Geist, an denen wir uns auf­ge­ho­ben füh­len. Das Wohl­ge­fühl gelingt an tra­di­tio­nel­len Orten mit eige­ner Geschich­te und einer Aura, die sich spü­ren läßt.

Das gilt gera­de auch für Loka­le, ›wo wir damals immer hin­gin­gen, wenn das eine oder das ande­re stattfand.‹—Bei allem ange­sag­ten Indi­vi­dua­lis­mus ist es erhe­bend, sich selbst an einem sol­chen Ort zu erle­ben; wo ande­re schon vor lan­ger Zeit sich und ein­an­der gefun­den haben. Davon abge­trennt zu wer­den, hät­te etwas von einer geistig–seelischen Amputation.

Das Schloß­ca­fé im Win­ter, 2021. Foto von Rai­ner Hala­mar via Wiki­me­dia. Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons: CC-BY‑4.0.

War­um sol­len wir uns nicht beken­nen, gera­de auch für ›Sen­ti­men­ta­li­sches‹, für Träu­me, Phan­ta­sien und für Orte, die uns wirk­lich etwas gege­ben haben.

Aber das alles wird uns pein­lich gemacht. Daher sind wir sprach­lich nur sel­ten bereit und in der Lage, zum Aus­druck zu brin­gen, was denn nun das Beson­de­re an jenem Ort war, von dem so vie­le ande­re auch reden.

Ich selbst habe eini­ge Näch­te im Schloß­ca­fé ver­bracht. Und die­se Näch­te hat­ten etwas Bewe­gen­des. Es war kaum ein Durch­kom­men, andau­ernd gab es Blicke und Begeg­nun­gen, Gesten, Hoch­ge­füh­le und Ver­ab­re­dun­gen …—Es herrsch­te eine dich­te Atmo­sphä­re, wie man sie nur sel­ten erlebt.

Philosophisches Café im Erker

Der Erker im Schloß­ca­fé Münster.—Quelle: Eige­nes Foto.

Der Erker in die­sem Kaf­fee­haus ist mehr als ide­al, die Kon­stel­la­ti­on ist ein­fach wie geschaf­fen für phi­lo­so­phi­sche Diskurse.—Es ging ja nicht um Vor­trä­ge, son­dern um Dia­lo­ge auf Augen­hö­he, die ihren eige­nen Weg suchen und fin­den soll­ten. Das gelang dort immer wieder.

Phi­lo­so­phi­sches Café im Schloß­ca­fé 2009/10.—Quelle: Eige­nes Foto

Hiobsbotschaften

In letz­ter Zeit hör­te ich immer wie­der, das Schloß­ca­fé sei geschlos­sen wegen Umbau­ar­bei­ten. Jetzt ist noch etwas hin­zu­ge­kom­men: Von Bau­fäl­lig­keit ist die Rede, so daß es scheint, hin­ter den Kulis­sen stün­de bereits der Abrißbagger.—Aber ganz so ein­fach ist das nicht, dafür zu sor­gen, daß mal wie­der ein Haus mit Geist und Geschich­te ein­fach weg ist.

Was wer­den unse­re Emo­tio­nen wohl dann mit uns machen, wenn sie den Ort und das Haus sol­cher Erin­ne­run­gen ver­lo­ren haben?—Sie wer­den zuerst an sich selbst zwei­feln und sich zuletzt noch tie­fer in die zeit­ge­mä­ße, immer grö­ßer wer­den­de Ver­bit­te­rung begeben.

Wie­der ein­mal wur­de bewie­sen, daß es auf unse­re Sen­ti­men­ta­li­tät in die­ser Welt nun wirk­lich nicht ankom­men kann. Es gibt eben Wichtigeres?


Über mich

Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen

Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he.

Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis Münster,

für alle Zwei­fels­fäl­le des Lebens, des Den­kens und nicht zuletzt der Gefühle.

Email: heinz-ulrich.nennen@t‑online.de

Motto:

Zunächst muß

das Eigent­li­che

zur Spra­che gebracht werden,

denn nur so kommt das Neue ins Denken.

Von dort kann es in die Welt gelan­gen und spätestens

dann wird es auch im eige­nen Leben nicht ganz ohne Wir­kung bleiben.

Etwas ausführlicher:

Ich bin Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he (KIT). Im west­fä­li­schen Mün­ster betrei­be ich eine Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz, eine Bera­tung zur Selbst­be­ra­tung, denn Phi­lo­so­phie ist ein Gespräch der See­le mit sich selbst.

In Mün­ster habe ich Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaft stu­diert und 1989 mit einer Dis­ser­ta­ti­on unter dem Titel Öko­lo­gie im Dis­kurs pro­mo­viert. Dar­in habe ich den sei­ner­zeit auf­kom­men­de Dis­kur­se über Öko­lo­gie in sei­ner gan­zen Viel­falt der Tech­nik- und Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik doku­men­tiert und die Hin­ter­grün­de syste­ma­tisch rekon­stru­iert. – Dem­nach gibt es drei mög­li­che Begrün­dun­gen für Umweltschutz:

  • prag­ma­tisch-anthro­po­zen­trisch, weil es auf Dau­er unsin­nig ist, sich selbst die Lebens- und Exi­stenz­grund­la­gen zu entziehen
  • ethisch-mora­lisch, weil es gebo­ten erscheint, sich ver­pflich­tet zu füh­len, nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, ande­ren Lebe­we­sen oder auch Göt­tern gegenüber
  • ästhe­tisch, weil etwa ein Baum weit mehr ist als eine Sau­er­stoff­spen­der, son­dern eben auch ein Erleb­nis, was übri­gens alles ande­re als banal ist

Mit der Dis­ser­ta­ti­on zeig­te sich bereits der Schwer­punkt mei­ner Arbeit: Mich inter­es­sie­ren Dis­kur­se im Gro­ßen und Gan­zen aber auch Dia­lo­ge im Klei­nen und Per­sön­li­chen. Ich bin Dia­log­part­ner und Dis­kurs­ana­ly­ti­ker: Einer­seits inter­es­siert mich die Fra­ge, wie das Neue ins Den­ken kommt, ande­rer­seits, wie Dia­lo­ge und Dis­kur­se sol­che Trans­for­ma­tio­nen schaf­fen. – Daher arbei­te ich gern inter-dis­zi­pli­när, an den Gren­zen zwi­schen Psy­cho­lo­gie, Anthro­po­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaft und eben Philosophie.

Nach einer 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, hat­te ich gestie­ge­nes Inter­es­se dar­an, ein­mal einen Dis­kurs im Pro­zeß, also in “Wild­form” zu beob­ach­ten, zu beschrei­ben und wäh­rend­des­sen zeit­gleich zu analysieren.

Im Som­mer 1999 bot sich die­se Gele­gen­heit. Anläß­lich des Skan­dals um die Elmau­er Rede, die der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk gehal­ten hat­te, kam es zu einem Medi­en-Hype son­der­glei­chen, mit mehr als 1000 Zei­tungs­ar­ti­keln, Kom­men­ta­ren und Berich­ten. Als ich sei­ner­zeit im Radio davor erfuhr, wuß­te ich, daß es “mein” The­ma sein würde.

In einem 700-sei­ti­gen Buch, das auch der Habi­li­ta­ti­on dien­te, habe ich die­sen soeben auf­kom­men­den Skan­dal um die angeb­lich faschi­sto­ide Rede des Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk in Echt­zeit rekon­stru­iert. Es war ein Phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment mit der Fra­ge, ob es gelin­gen kann, einen Dis­kurs nicht nur zu beob­ach­ten, son­dern zugleich auch auf den Aus­gang der Slo­ter­di­jk-Debat­te zu spe­ku­lie­ren, noch wäh­rend der Aus­gang des Skan­dals noch offen war.

Die War­nung dage­gen ist bekannt: 

“Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblieben.” 

Ich bin davon über­zeugt, daß es mög­lich ist, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betrei­ben zu kön­nen, also wäh­rend der Pro­zeß noch läuft. Erst dann hat auch unser Ver­nunft­ver­mö­gen wirk­lich eine Chan­ce, sich zu bewei­sen. – Bei die­sem phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment ging es mir um den Beweis, daß es unter gewis­sen metho­di­schen Bedin­gun­gen sehr wohl mög­lich sein kann, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betreiben.

Die Metho­de geht auf man­che Über­le­gung und Beob­ach­tung mei­ner rund 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zurück. Dort wur­de 1993 im Zuge der Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Atom­kraft (wie Geg­ner sagen), resp.  Kern­ener­gie (wie Befür­wor­ter sagen) und Kli­ma­schutz, von der Lan­des­re­gie­rung in Baden-Würt­tem­berg ein “Thinktank” zur Erfor­schung und zur Bewer­tung von Tech­nik­fol­gen gegrün­det, um mehr Wis­sen­schaft und mehr Dis­kurs in die mit­un­ter sehr dra­ma­tisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um neue Tech­no­lo­gien zu brin­gen. Die Poli­tik war sei­ner­zeit in die­sen Fra­gen mit ihrem Latein am Ende, – das ist eben der Augen­blick, in dem neue Insti­tu­tio­nen wie eine sol­che TA-Aka­de­mie gegrün­det werden.

Zu Metho­de: Schaut man sich unse­re Urtei­le, Bewer­tun­gen und Ein­schät­zun­gen genau­er an, so set­zen sie sich zusam­men aus einer Viel­zahl von Aus­sa­gen, die aus unter­schied­lich­sten Sek­to­ren stam­men, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Die Fra­ge ist dann immer, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men wirk­lich sind. Noch ent­schei­den­der ist es, zu spü­ren, wo die Grund­la­gen und Vor­aus­set­zun­gen nicht wirk­lich sicher sind. 

Das erzeugt eine gewis­sen Offen­heit, auch unge­wohn­ten und ande­ren Per­spek­ti­ven gegen­über. Es geht ums Ver­ste­hen, daher ist jedes „Mit­tel” Recht. Im Hin­ter­grund steht schließ­lich eine Phi­lo­so­phie, die schon beur­tei­len und bewer­ten wird, ob der neue, viel­leicht unge­wohn­te Gedan­ke es mög­lich macht, zu sehen, was sich hin­ter den Kulis­sen abspielt. 

Die Kunst besteht nun genau dar­in, ein jedes mög­li­che Gesamt­ur­teil immer wie­der auf­zu­lö­sen in sei­ne Tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist, um das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst beur­tei­len zu können.

Wer sich des­sen bewußt ist, soll­te daher wis­sen, was wir eigent­lich wis­sen müß­ten aber viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen, so daß wir uns die Begrenzt­heit unse­res eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er vor Augen füh­ren können.

„Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblie­ben!” Die­se War­nung hat gute Grün­de, denn zwi­schen dem Erha­be­nen und dem Lächer­li­chen liegt nur ein ein­zi­ger Schritt. 

In der Phi­lo­so­phie geht es daher um die Fra­ge, wie­viel wir vom Gan­zen wirk­lich ver­stan­den haben. Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann.

Daher arbei­te ich sehr inten­siv über Sym­bo­le, Mythen und Mär­chen und ins­be­son­de­re auch über Göt­ter­fi­gu­ren, weil sich dar­in, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben und Geist ver­mit­teln kann.

Phi­lo­so­phie ist weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de. Sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.


Die Heldenreise

Geschichte aller Geschichten

Alle ein­schlä­gi­gen Mythen fol­gen oft dem Muster der Hel­den­rei­se: Ein Held oder auch eine Hel­din, die anfangs rein gar nichts ahnen, wer­den bald schon auf­bre­chen, um end­lich zu sich zu kom­men und ›ganz‹ zu wer­den. – Aber bis dahin ist es noch ein wei­ter Weg.

Die Hel­den­rei­se ist das Nar­ra­tiv aller Nar­ra­ti­ve, ›die‹ Geschich­te aller Geschich­ten. Anfangs drängt sich eine bedroh­li­che Ange­le­gen­heit immer mehr in den Vordergrund.—So wie bis­her kann es ein­fach nicht mehr weitergehen.

Eine schon lang anste­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung muß end­lich aus­ge­tra­gen wer­den, um mit sich und der Welt wie­der ins Rei­ne zu kom­men. – Erst kommt es zur Kri­se und dann zum Auf­bruch auf eine Rei­se, die zu den Quel­len des Übels füh­ren soll.

Gust­ave Moreau: Her­ku­les und die Ler­näi­sche Hydra (1876).

Nach alle­dem läßt sich auch der feh­len­de Teil der eige­nen Per­sön­lich­keit ent­wickeln und inte­grie­ren, um neben dem Ani­mus die nicht min­der wesent­li­che Ani­ma zu ›befrei­en‹.

Es geht schluß­end­lich um die Schat­ten in unse­rer Psy­che. Das ist dann auch die Erklä­rung, war­um die­se Erzähl­wei­se so über­aus popu­lär ist. Der­ar­ti­ge Geschich­ten fas­zi­nie­ren, weil sie immer auch etwas mit uns zu tun haben…

Einer 2019 im Lite­ra­tur­haus Karls­ru­he ver­an­stal­te­ten Rei­he Phi­lo­so­phi­scher Salons zum The­ma Hel­den­rei­se, ver­dan­ke ich wert­vol­le Ein­sich­ten. Eine Ver­an­stal­tung mit dem Schrift­stel­ler, Film­wis­sen­schaft­ler und Dreh­buch­au­tor Joa­chim Ham­mann, dem Autor einer bemer­kens­wer­ten Stu­die über ›Die Hel­den­rei­se‹, gab tie­fe Ein­blicke in die Abgrün­de der Nar­ra­ti­ve schick­sal­haf­ter Geschlech­ter­rol­len. (Joa­chim Ham­mann: Die Hel­den­rei­se im Film. Dreh­bü­cher, aus denen die Fil­me gemacht wer­den, die wirk­lich berüh­ren; Frank­furt am Main 2007.)

Die Kli­schees ver­mit­teln einen männ­li­chen Hel­den, der auf­bricht in der Absicht, eine ›gefan­ge­ne‹ Prin­zes­sin zu befrei­en. Dage­gen ist es eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on, ein­mal bewußt zwi­schen Hel­den und Hel­din­nen zu unterscheiden.

Die Ant­wort von Joa­chim Ham­mann war eben­so frap­pie­rend wie erhel­lend: Bei Män­nern gin­ge es dar­um, sich in der Welt zu bewei­sen, also erst die eige­ne Posi­ti­on zu finden.—Bei Frau­en hin­ge­gen gin­ge es zumeist dar­um, daß sie ›gebun­den‹ sei­en und sich aus die­ser fata­len Bin­dung erst befrei­en müßten.

Tat­säch­lich wird männ­li­chen Hel­den häu­fig ein ihnen eigent­lich zuste­hen­des Pri­vi­leg ver­wehrt. Zumeist hat sich ein Anver­wand­ter etwa des Throns zu Unrecht bemäch­tigt. Legi­ti­me Ansprü­che wer­den ver­wei­gert, statt­des­sen sol­len die Abge­wie­se­nen haar­sträu­ben­de Mut­pro­ben absol­vie­ren. Das geschieht in der Erwar­tung, daß sie nicht wie­der zurück­kom­men, son­dern den Tod finden.

Bei Hel­din­nen ver­hält es sich anders: Sie haben den sozia­len Schutz­raum ver­lo­ren. Häu­fig ist die Mut­ter gestor­ben und nun herrscht ein ande­res Regiment.—Die ange­hen­de Hel­din ist in eine pre­kä­re Lage ohne Aus­weg gera­ten. Das ist bei Aschen­put­tel der Fall: Die Mut­ter ist gestor­ben, der Vater hat eine ande­re Frau mit eige­nen Töchtern. 

Aber auf dem Grab der Mut­ter steht ein Strauch mit Zaubernüssen…

Die erstaunliche Rettung der Romantik

Es ist nun inter­es­sant, dar­über zu spe­ku­lie­ren, ob sich nicht in jeder Hel­den­rei­se stets zwei Hel­den auf den Weg begeben.—Ein männ­li­cher Held und eine weib­li­che Hel­din zugleich, die zwar getrenn­ter Wege gehen, aber im ent­schei­den­den Moment gemein­sam auftreten.

Hin­ter jeder muster­gül­ti­gen Hel­den­rei­se steht das dra­ma­ti­sche Gesche­hen einer Initia­ti­on: Der Kna­be oder auch das Mäd­chen wird sich selbst über­win­den und ›ster­ben‹ müs­sen.—Nach Bewäl­ti­gung ihrer schick­sal­haf­ten Lebens­kri­se wer­den die Prot­ago­ni­sten in neu­er Gestalt ›wie­der­ge­bo­ren‹, nicht ›nur‹ als Mann oder Frau, son­dern als ›gan­zer‹, viel­leicht auch als ›neu­er‹ Mensch.

Die typi­schen Kan­di­da­ten die­ser Plots sind anfangs nicht im gering­sten moti­viert, sich irgend­wie her­vor­zu­he­ben. Eher not­ge­drun­gen machen sie sich schließ­lich doch auf den Weg, zunächst zu ihrem Men­tor und dann ins Aben­teu­er. Es gilt, sich zu ent­fal­ten, denn da stecken eini­ge bis­lang unbe­kann­te, noch schlum­mern­de Fähig­kei­ten in ihnen.

Der eigent­li­che ›Sinn‹ und das Ziel jeder Hel­den­rei­se liegt dar­in, fast schick­sal­haf­te Hemm­nis­se durch Ent­wick­lung zu überwinden.—Das ist nur mög­lich durch Kon­fron­ta­ti­on mit einem tief sit­zen­den, viel­leicht noch gar nicht bewußt gewor­de­nem trau­ma­ti­schen Ereig­nis. Das alles wird ver­deckt von einem Schat­ten, der das alles ver­deckt; auch die ver­bor­ge­nen Kräf­te, die wäh­rend der Hel­den­rei­se all­mäh­lich ent­wickelt werden. 

Längst gehen bereits merk­wür­di­ge Zei­chen der kom­men­den Zeit vor­aus. Aber sie wer­den nicht wahr­ge­nom­men. Man ist durch tag­täg­li­che Ver­drän­gungs­ar­beit auf der Hut vor wei­te­ren Bela­stun­gen und will auf gar kei­nen Fall dar­an erin­nert zu wer­den, daß etwas im Argen liegt.—Aber die­ser Bann wird jetzt gelöst, denn der Held oder die Hel­din wer­den sich dem Problem nun­mehr bewußt aus­set­zen. Man wird das Unge­heu­er auf­su­chen, um per­sön­lich mit ihm zu sprechen.

Tho­mas Coo­per Gotch: Unschuld (1904).

Bis es jedoch zu die­ser alles ent­schei­den­den Begeg­nung kommt, sind lan­ge Wege zu gehen, tie­fe Äng­ste zu über­win­den und neue Fähig­kei­ten zu erwer­ben, was erst all­mäh­lich zur Los­lö­sung vom Alt­her­ge­brach­ten füh­ren wird.

Auf dem Weg zur Selbst­be­geg­nung in den Schat­ten­wel­ten der unbe­wuß­ten Erfah­run­gen, wer­den die zuvor trau­ma­ti­sie­ren­den und daher unter­drück­ten Erfah­run­gen all­mäh­lich offen­bar. Es sind immer auch Bewäh­rungs­pro­ben, an denen nicht weni­ge schei­tern. Aber mit dem auf­kom­men­den hel­den­haf­ten Mut und zusätz­lich erwor­be­nen Kom­pe­ten­zen ent­ste­hen neue, unge­ahn­te Potentiale.—Mit zuneh­men­der Selbst­er­fah­rung und durch Bewäl­ti­gung man­cher Kri­sen, kommt immer mehr Selbst­ver­trau­en auf. 

Der Weg führt nicht nur an Gren­zen, son­dern weit dar­über hin­aus: Ent­schei­dend ist ech­te Ver­zweif­lung und wah­re Lie­be, erst das moti­viert die Bereit­schaft zur ulti­ma­ti­ven Selbstaufgabe.—Im oft dra­ma­tisch insze­nier­ten Show­down kommt es sogar zur unver­hoff­ten Erret­tung längst ver­lo­ren geglaub­ter Idea­le: Die wie­der­hol­te Selbst­über­win­dung aus Grün­den der Lie­be, ist bei alle­dem das heim­li­che Motiv aller Motive.

Sogar die eigent­lich längst dekon­stru­ier­ten Idea­le roman­ti­scher Lie­be fei­ern dann fröh­li­che Urständ. Tat­säch­lich wird Hel­den eben­so wie Hel­din­nen abver­langt, in der Wahl zwi­schen Lie­be und Risi­ko die Lie­be zu wäh­len, was eigent­lich Selbst­auf­ga­be, also die Bereit­schaft zur Selbst­auf­op­fe­rung bedeutet.

Erst die­se Arran­ge­ments gehen bis zum Äußer­sten. Erst die­se füh­ren zum Mei­stern der gewal­tig­sten Wag­nis­se, bis hin zu ›Tod‹ und ›Wiedergeburt‹.—Tatsächlich schrecken die Hel­den und Hel­din­nen die­ser Mei­ster­er­zäh­lun­gen auch vor ulti­ma­ti­ver Selbst­über­win­dung nicht mehr zurück. Sie gehen wirk­lich bis ans Äußer­ste und dar­über hin­aus. Genau das ent­spricht der roman­ti­schen Uto­pie und erret­tet schluß­end­lich ihre Idea­le doch.

Wo Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Bücher, Fil­me oder Theo­rien vie­le Leser und Zuschau­er fes­seln, tief berüh­ren und ihnen viel­leicht sogar aus der See­le spre­chen, dort steht die Nar­ra­ti­ve der Hel­den­rei­se stets im Hintergrund. 

In den Mythen geht es immer wie­der um Ori­en­tie­rungs­wis­sen, also wer­den uni­ver­sel­le Erfah­rungs­mu­ster neu in Sze­ne gesetzt. Das hat der US–Amerikanische Kul­tur­anthro­po­lo­ge Joseph Camp­bell in Ver­gleichs­stu­di­en über die­se Mei­ster­er­zäh­lun­gen aus der gan­zen Welt zei­gen können. 

In sei­nen Stu­di­en ließ sich Camp­bell von der Tie­fen­psy­cho­lo­gie von Carl Gustav Jung lei­ten, durch fern­öst­li­che Schrif­ten, die der Indo­lo­ge Hein­rich Zim­mer über­setzt und kom­men­tiert hat, durch die Expe­ri­men­tal­phi­lo­so­phie von Fried­rich Nietz­sche und durch das Kon­zept von Wil­le und Ver­zweif­lung bei Arthur Scho­pen­hau­er.

Sei­ne Meta­theo­rie der Mythen hat­te Joseph Camp­bell in den 50er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts bereits publik gemacht, fand zunächst aber kaum Anklang.—Erst nach einer Rei­he von Fern­seh­in­ter­views auf der Sky­wal­ker Ranch von Geor­ge Lucas, dem Dreh­buch­au­tor, Pro­du­zen­ten und Regis­seur von Star Wars, wur­den die­ses Theo­rie­kon­zept auch einem brei­ten Publi­kum bekannt.

Inzwi­schen waren längst Film­schaf­fen­de auf die­ses Meta­kon­zept auf­merk­sam gewor­den. All­mäh­lich wur­den ent­spre­chen­de Dreh­bü­cher zum Erfolgsrezept.—Seither las­sen sich Autoren, Dreh­buch­schrei­ber, Fil­me­ma­cher, aber auch Psy­cho­the­ra­peu­ten von der hin­ter­grün­di­gen Dra­ma­tur­gie einer Hel­den­rei­se an den ein­zel­nen, muster­gül­ti­gen Weg­sta­tio­nen inspirieren.

Das Theo­rie­kon­zept der Hel­den­rei­se ist ein Genie­streich, weil wir damit in die Lage ver­setzt wer­den, uns selbst beim Zuhö­ren, Mit­er­le­ben und Nach­emp­fin­den über die Schul­tern zu schau­en: Was macht einen ›guten‹ Plot aus? Wor­um geht es wirk­lich in einer aktu­el­len Kri­se? Bei wel­cher der 64 Weg­sta­tio­nen befin­det sich die betrof­fe­ne Per­son gerade?

Wenn wir uns nun in einer sol­chen Erzäh­lung spie­geln, wenn Leser und Zuschau­er sich iden­ti­fi­zie­ren kön­nen, weil sie sich selbst wie­der­erken­nen, dann ste­hen uns nicht mehr nur die Nar­ra­ti­ve selbst zur Ver­fü­gung, son­dern gleich die gan­ze Dra­ma­tur­gie aller die­ser Geschichten.

Nicht von unge­fähr sehen wir anfangs allen­falls durch­schnitt­li­che Men­schen in einer unspek­ta­ku­lä­ren All­tags­welt, die viel­leicht schon erste Ris­se bekommt. Aber die­se Noch–Nicht–Helden den­ken noch nicht im Traum dar­an, bald schon auf eine aben­teu­er­li­che Rei­se zu gehen…

Alle Mythen und Mär­chen fol­gen in immer neu­en Vari­an­ten die­ser muster­gül­ti­gen Dra­ma­tur­gie: Das Gilgamesch–Epos, die Odys­see von Homer oder Amor und Psy­che von Apu­lei­us, Wil­helm Mei­ster von Goe­the eben­so wie die Phä­no­me­no­lo­gie des Gei­stes von Hegel, alle die­se Wer­ke ent­spre­chen dem Metaplot einer Heldenreise.—Derweil ist Kaf­kas Pro­zeß ein war­nen­des Bei­spiel, was pas­siert, wenn sich der ver­meint­li­che Held nicht auf den Weg macht, son­dern nur war­tet, bis es zu spät ist: Das Leben wird dann in erschrecken­der Selbst­ver­fan­gen­heit ein­fach nur ver­wirkt.


Was ist Bewußtsein?

Beobachtung, Bewertung und Beurteilung 

Unse­re Spra­che macht uns vie­les mög­lich: Wir kön­nen ein­an­der durch Erzäh­len mit­tei­len, was wir erlebt und erfah­ren haben.—Allein durch Zuhö­ren läßt sich bereits man­ches ler­nen.

Gastón Charó: Obras sob­re papel (2020). Via: Wikimedia.

Wir kön­nen vie­les zum Objekt unse­rer Beob­ach­tun­gen machen. Es zäh­len dabei nicht nur die gemach­ten Erfah­run­gen, son­dern auch die Art und Wei­se, wie etwas in Erfah­rung gebracht wurde. 

Dar­über hin­aus las­sen sich nicht nur Wahr­neh­mun­gen, son­dern auch Selbst­wahr­neh­mun­gen zur Spra­che brin­gen. Wir arbei­ten dabei mit Über­tra­gun­gen, um uns beim Ver­ste­hen an die Stel­le ande­rer ver­set­zen zu kön­nen.—Der Dia­log ist die Königs­dis­zi­plin sol­cher Begeg­nun­gen, die tief­grei­fend sein können.

Sobald neue Erfah­run­gen ins Spiel gebracht wer­den, tun sich auch neue Dif­fe­ren­zen auf.—Phänomene wer­den „von innen“ ganz anders erlebt, als wenn wir sie nur „von außen“ betrach­ten. Dann wird uns bewußt, daß wir den Stand­punkt wech­seln müs­sen, um zu verstehen. 

Es ist ein gro­ßer Unter­schied, ande­ren nur zuzu­schau­en oder aber selbst aktiv zu wer­den. Wer nur beob­ach­tet, hat zwar eher einen unvor­ein­ge­nom­me­nen Blick, aber kei­ne wirk­li­che Vor­stel­lung davon, wie es ist, selbst zu handeln.—Zu han­deln bedeu­tet, einen Ent­schluß zu fas­sen, der dann aber auch kri­ti­siert wer­den kann. 


Im Dialog

Schwebendes Denken

Spra­che erlaubt uns, ein­zel­ne Sicht­wei­sen und Urtei­le der Rei­he nach durch­zu­spie­len. Jede ein­zel­ne Hin­sicht soll ihren gro­ßen Auf­tritt haben.—Ver­ste­hen ist eine beson­de­re Wei­se des Miteinanderseins. 

Paul Klee: Aben­teu­rer­schiff (1929).

Im Dia­log zele­brie­ren wir unser Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, jeder ein­zel­nen Per­spek­ti­ve ihre Eigen­art zuzugestehen.—Verstehen ist aller­dings mit viel Auf­wand ver­bun­den, daher fra­gen wir uns oft, ob es aus­sichts­reich sein kann, uns auf neue Per­spek­ti­ven näher einzulassen. 

Ent­schei­dend sind umfas­sen­de Ein­blicke in die Hin­ter­grün­de. Wir erwar­ten schließ­lich von uns einen hohen Grad an Auf­merk­sam­keit, um dann sou­ve­rän dar­auf zu reagieren.—Unser Bewußt­sein erlaubt uns, von uns selbst zu wis­sen, daß und was wir wissen. 

Daher spielt Spra­che eine außer­or­dent­li­che Rol­le. In Dia­lo­gen und Dis­kur­sen ver­stän­di­gen wir uns dar­über, wie sich Wahr­neh­mun­gen machen las­sen, was sie bedeu­ten und wie mit mög­li­chen Wider­sprü­chen umge­gan­gen wer­den kann.—Jedes Bewußt­sein lebt in einer eige­nen Welt und man­che davon sind eigentümlich. 

Das Durch­spie­len von Mög­lich­kei­ten und das Erwä­gen ent­schei­den­der Hin­ter­grün­de ist eine anspruchs­vol­le Kunst, die ihre Anre­gun­gen von weit her­holt. Aber dazu ver­fü­gen wir über Mythen, Sym­bo­le und Geschich­ten, so daß es mög­lich ist, jede davon als eige­ne Innen­welt zu erleben.

Aller­dings haben neue Per­spek­ti­ven oft auch etwas Ket­ze­ri­sches. Sie neh­men nicht die gebo­te­ne Rück­sicht auf eta­blier­te Stan­dards und gehen statt­des­sen unvor­ein­ge­nom­men vor. — Sie möch­ten sich bewäh­ren, was oft zu Über­ra­schun­gen führt, mit denen nie­mand rech­nen konnte. 

Dazu müs­sen mit­un­ter fun­da­men­ta­le Äng­ste über­wun­den wer­den, weil man­cher Gedan­ke an etwas rührt, das viel­leicht noch nie zur Spra­che gebracht wurde.—Das wie­der­um kön­nen jedoch vie­le gar nicht ertra­gen. Sie möch­ten bei einem mög­lichst ein­fa­chen, oft auch beim bereits gefäll­ten Urteil bleiben. 

In neu­em Licht betrach­tet wirkt man­ches höchst bedroh­lich. Des­halb ist es so bedeu­tend, sich auf den Weg zu bege­ben, um die neu­en Erfah­run­gen nicht nur zu machen, son­dern auch zu ver­ste­hen. — Wir kön­nen gan­ze Wel­ten in Erfah­rung brin­gen und erläu­tern, war­um sie sich wie ver­hal­ten. Aber die­se Viel­falt bringt auch Unsi­cher­heit mit sich.

Hin­ter den Kulis­sen steht das „Selbst”, es sorgt sich um Inte­gri­tät. Wir sind in Geschich­ten ver­strickt und set­zen sie auch wie Mas­ken auf, weil wir ins selbst anhand unse­rer Geschich­ten verstehen.—Wir iden­ti­fi­zie­ren uns mit unse­rem Selbst und sei­ner Geschich­te. Mit­hil­fe die­ser Instanz ver­su­chen wir uns auf Selbst­kon­zep­te, die im Dia­log gesucht und durch­ge­spielt werden.


Selbsterkenntnis

John Col­lier (1850–1934): Col­lier: Priest­ess of Del­phi (1891).—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

„Erkenne Dich selbst“

Der berühm­te Spruch war über dem Ein­gang zum Tem­pel des Apol­lon in Del­phi ange­bracht. Dort resi­dier­te das berühm­te Ora­kel, zu dem die Fra­ge­stel­ler oft auch in offi­zi­el­lem Auf­trag von weit­her kamen. 

Eine Tem­pel­prie­ste­rin, die Pythia saß auf einem Drei­spitz über einer Erd­spal­te, aus der nar­ko­ti­sie­ren­de Dämp­fe her­vor­tra­ten, so daß sie in Trance ver­fiel. Daher hat sie oft eher gemur­melt, so daß sie von Prie­stern inter­pre­tiert wer­den mußte. 

Hin­ter den Kulis­sen wirk­te eine Prie­ster­schaft, die sich auf das Ora­kel­we­sen offen­bar sehr gut ver­stand. Anson­sten hät­ten Fra­ge­stel­ler nicht jahr­tau­sen­de­lang die­ses Ora­kel immer wie­der aufgesucht.

Kom­ple­xe Anfra­gen wur­den schrift­lich ein­ge­reicht und auch schrift­lich beantwortet.—Normalsterblichen ant­wor­te­te die Pythia nur mit „Ja“ oder „Nein“. 

Es kommt also dar­auf an, die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len. Dazu wäre es aber erfor­der­lich, sich zunächst ein­mal mit Selbst­er­kennt­nis näher zu befassen.

Zwangs­läu­fig kommt die Fra­ge nach dem „Selbst“ auf. Dar­in liegt auch die Vor­aus­set­zung, sich selbst ori­en­tie­ren oder auch umori­en­tie­ren zu kön­nen. Das ist die Stun­de für Dia­lo­ge über Phi­lo­so­phie in der Erwar­tung, sie möch­te anstel­le des Ora­kels sprechen. 

Aber dazu ist es erfor­der­lich, in den Tie­fen der eige­nen Per­son nach den Struk­tu­ren zu suchen, von denen alles ande­re getra­gen wird. 


Was tun, wenn ‚die‘ Frau wütend ist?

Michail Ser­ge­je­witsch Gor­bat­schow, der ehren­wer­te und letz­te Staats­prä­si­dent der Sowjet­uni­on, hat­te bekann­ter­ma­ßen ein äußerst inni­ges Ver­hält­nis zu sei­ner Frau Rais­sa Maxi­mow­na Gorbatschowa. 

Man hat ihn spä­ter hier in Mün­ster des­öf­te­ren am Aasee spa­zie­ren gese­hen, als sei­ne Frau, übri­gens eine Phi­lo­so­phin, mit dem Krebs kämpf­te.

Bei­de kann­ten sich lang und waren, wie es nur weni­ge Paa­re fer­tig brin­gen, wirk­lich ein Team. In ihr hat­te er eine unbe­stech­li­che Rat­ge­be­rin, so wie es Pla­ton idea­li­siert hat. Er stellt die Phi­lo­so­phen­kö­ni­ge vor wie wel­che, die ein­fach des­we­gen nicht bestech­lich sind, weil sie schon „alles” haben, was nicht mit Geld zu bezah­len ist.

Gor­bat­schows Ver­zweif­lung über ihren Tod dürf­te nicht min­der groß gewe­sen sein, wie die ange­sichts der schier unlös­ba­ren Auf­ga­be, den Sau­ri­er Sowjet­uni­on mit einem heim­tückisch tak­tie­ren­den Westen im Nacken den­noch wie­der auf Kurs zu brin­gen. Von wegen kei­ne Ost­erwei­te­rung der NATO, von wegen „gemein­sa­mes Haus Europa”.

Ein Putsch mach­te alle Hoff­nun­gen zunich­te und brach­te einen Trun­ken­bold wie Jel­zin ans Ruder und Olig­ar­chen, die sich das ehe­ma­li­ge Volks­ver­mö­gen unter den Nagel geris­sen haben. Im Wind­schat­ten die­ser Ver­wer­fun­gen fand Putin als Nach­fol­ger sei­nen Weg zur Macht, der das alles natür­lich als demü­ti­gen­de Kata­stro­phe emp­fun­den hat.

Gustav Klimt: Umarmung (1909).

Gustav Klimt: Umar­mung (1909).

Aber nun zur Fra­ge: Was hat Gor­bat­schow gemacht, wenn Rais­sa Maxi­mow­na Gor­bat­scho­wa wütend war? Er hat es in einem Inter­view selbst aus­ge­plau­dert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Emp­feh­lung, was denn nun männ­li­cher­seits zu tun sei in sol­chen Fäl­len, wenn „die” Frau außer sich ist vor Wut.

Er habe sie in sei­ne Arme genom­men und fest umschlos­sen, um sie auch bei Gegen­wehr ganz nahe fest zu hal­ten, bis sich der Zorn, die Wut und die Ver­zweif­lung wie­der legten.—Das scheint in der Tat hilf­reich zu sein, denn ich habe gese­hen, daß es ins­be­son­de­re bei Kin­dern und Men­schen in psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stän­den posi­tiv wir­ken kann, ein­fach nur „gehal­ten zu wer­den”, bis es wie­der bes­ser geht.

Der Grund dürf­te dar­in lie­gen, daß die Wut selbst zum Aus­druck gebracht wer­den kann: Anfangs wehrt sie sich viel­leicht noch vehe­ment gegen die macht­vol­le Umklam­me­rung. Der Zorn wird also anfangs immer stär­ker, bis er selbst sein Limit erreicht hast, denn er kann ja nun aus­ge­lebt wer­den. All­mäh­lich ver­aus­gabt sich der Zorn jedoch, dann er kann den inne­ren Druck wie durch ein Ven­til ablas­sen. 

Es mag einen ande­ren Ein­druck machen aber es ist kei­ne Gewalt, es ist eher wie der Schutz vor wei­te­ren Zor­nes­aus­brü­chen. Das wird mög­lich, weil die Wut und die mit ihr ein­her­ge­hen­de Ver­zweif­lung nun ihren Aus­druck gefun­den hat und mit­ge­teilt wer­den kann. 

Wer zu woke ist, den bestraft das Leben

Aber wie es in die­sen des­ori­en­tier­ten Zei­ten üblich ist, wer­den man­che ganz gewiß jetzt Zeter und Mor­dio schrei­en: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau?—Oh je.

Wer zu woke ist, den bestraft das Leben.—Die For­mel stammt übri­gens nicht von ihm, son­dern von einem sei­ner Spre­cher. Das geflü­gel­te Wort wur­de zum Ora­kel­spruch. Es fiel auf einem infor­mel­len Tref­fen mit Pres­se­ver­tre­tern beim Staats­be­such von „Gor­bi” in Ost­ber­lin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Damit ist auch etwas dar­über gesagt, was das Leben aus­macht. Es bie­tet Gele­gen­hei­ten, die ver­tan sind, wenn sie nicht ergrif­fen wer­den. – Wir soll­ten Mög­lich­kei­ten für unse­re Sehn­süch­te dar­aus machen, die tief in uns schlum­mern, um wach­ge­küßt zu wer­den. Aber dazu braucht es Nähe, Ver­trau­en und wohl auch die Gewiß­heit, daß alles wie­der gut wer­den kann. 


Kunst als Traumarbeit

Langsame Annäherung

Es gibt eine Instal­la­ti­on der Bild­haue­rin Miri­am Jonas, die sich bei der Betrach­tung erst ganz all­mäh­lich erschließt. Dabei ist es wesent­lich, sich die­sem Werk aus der Distanz mit mäßi­gem Schritt anzu­nä­hern.

Auf wei­ßer Flä­che sind in Mustern ange­brach­te, eckig–abgerundete oder auch ova­le Objek­te zu sehen, die nicht auf­ge­malt, son­dern auf­ge­setzt sind.—Allerdings sind die 75 Objek­te die­ser Wand­ar­beit muster­gül­tig aufgebracht.

Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

Die Anord­nung ent­spricht den Pol­ka Dots, einem Stoff­mu­ster, das im 19. Jahr­hun­dert in Eng­land auf­kam: Gefüll­te Punk­te, die auf eng­stem Raum ver­teilt ein regel­mä­ßi­ges Muster abgeben.—Die Wahr­neh­mung beginnt zu flim­mern, weil das Hirn changiert.

Es kann offen­bar nicht eigen­mäch­tig ent­schei­den, wel­che Ord­nung denn nun vor­herr­schen soll. So geht es dann hin und her, bis die Punk­te zu tan­zen beginnen…

Kunst, Design und Kitsch

Der Unter­schied zur Kunst ist die See­len­lo­sig­keit beim Kitsch, weil es kein Ein­ge­den­ken ist, son­dern ledig­lich sinn­frei­es Andenken.

Der Unter­schied zwi­schen Kunst und Design liegt dar­in, daß der Anspruch auf Bedeu­tung zum Fetisch erho­ben wird.—Tatsächlich gehen die exklu­siv insze­nier­ten Ambi­tio­nen jedoch nicht auf, weil es nur Simu­la­tio­nen von Sinn sind, die kei­ne See­le und auch kei­nen Geist zum Blei­ben ani­mie­ren könnten.

Die Pol­ka Popes von Miri­am Jonas gehen auf eine Begeg­nung der Künst­le­rin mit der spa­ni­schen Folk­lo­re und der Volks­kul­tur in Bar­ce­lo­na zurück.—Es ist selbst wie ein Traum, was die­ses Werk in Sze­ne setzt, denn das macht Träu­me so bemer­kens­wert: Sie brin­gen ganz mühe­los unter­schied­li­che Sachen zusam­men, die eigent­lich von­ein­an­der geschie­den sind.

Der­weil wird in die­sem Werk das Kunst­schaf­fen selbst the­ma­ti­siert. Ambi­va­len­zen wer­den auf­ge­fä­chert, über­ra­schen­de Ver­bin­dun­gen wer­den geknüpft.—Die Fas­sun­gen der ver­meint­li­chen Edel­steine ent­pup­pen sich bei nähe­rem Hin­se­hen als Fisch­kon­ser­ven, und die Gem­men dar­in sind nicht aus Horn oder Edel­stein, son­dern aus kind­ge­rech­tem Pla­sti­lin, gehal­ten in der Palet­te authen­ti­scher Quietsch­far­ben.

Genau auf die­se Wei­se arbei­ten auch Träu­me, wenn sie auf der Grund­la­ge zunächst will­kür­lich erschei­nen­der Arran­ge­ments ganz über­ra­schen­de Ver­bin­dun­gen her­stel­len, die aller­dings zu lesen und noch mehr zu deu­ten und zu ver­ste­hen geben.—Es ist ein inte­ressan­ter Hin­weis, wenn ein Traum in Bar­ce­lo­na erwähnt wird.

Träume erschaffen ihre Wirklichkeit

Träu­me haben die Lizenz, ihre eige­ne Wirk­lich­keit zu kon­stru­ie­ren. Dabei sind sie mäch­tig genug, alles Erdenk­li­che über­ra­schend zusam­men­zu­fü­gen. Im Traum scheint es so, als wäre es voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich, mit traum­wand­le­ri­scher Sicher­heit das eine mit etwas voll­kom­men ande­rem zu kom­bi­nie­ren, um damit etwas zu ver­ste­hen zu geben.

Hin­ter den Träu­men ste­hen Bot­schaf­ten, wenn mit Über­tra­gun­gen, Alle­go­rien und Sym­bo­len bemer­kens­wer­te Umbe­set­zun­gen vor­genom­men wer­den, die spek­ta­ku­lär sein kön­nen in ihrer Bedeu­tung, wenn man die Traum­ar­beit zu deu­ten versteht.

So etwas geschieht auch in die­sem Werk: Die ein­zel­nen Bestandtei­le sind muster­gül­tig nach Art der Pol­ka Dots arran­giert, so daß die Objek­te bald aus der Rei­he tan­zen, kind­lich und doch wie­der nicht ganz so unschul­dig, weil sie viel­leicht auch nur so tun.

Im Traum wird alles zum Zei­chen, nichts muß sein und bedeu­ten, als was und wie es erscheint.—Schließlich kann auch das Kokettie­ren mit Unschuld selbst wie­der Ero­tik her­auf­be­schwö­ren. Nicht von unge­fähr ist daher die­ses Muster äußerst beliebt bei Des­sous, denn beim Spiel mit der Unschuld geht es auch um Koketterie.

Die Pol­ka Popes von Miri­am Jonas arran­gie­ren unter­schied­li­che Aspek­te zu einem künst­le­ri­schen Traum.—Entscheidend ist nicht nur daß, son­dern auch wie es ein Kunst­werk fer­tig­bringt, ein derarti­ges Netz bezie­hungs­rei­cher Span­nun­gen zu erzeu­gen, zwi­schen Ord­nung und Frei­heit, Kunst und Kitsch, Ori­gi­nal und Fäl­schung, zwi­schen dem Hei­li­gen und dem Profanen.


Hermeneutik

Verstehen ist kreativ

Nicht nur auf der Büh­ne, auch im Publi­kum wird man sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, um zu ver­ste­hen. Wer sich dabei selbst auf der Lei­tung steht, hat das Nachsehen.—Wer sich dabei aber über die eige­ne Schul­ter schaut, betreibt die Kunst des Ver­ste­hens: Hermeneutik. 

Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

Es kommt beim Ver­ste­hen dar­auf an, nicht ein­fach nur zu hören oder zu schau­en, son­dern der eige­nen Vor­stel­lung dabei zuzu­se­hen, wie sie von uns selbst zustan­de gebracht wird. Wir kön­nen das! 

Wir kön­nen allen Ern­stes pro­to­kol­lie­ren, was man in wel­cher Rei­hen­fol­ge gese­hen, gefühlt und gedacht hat.—Es gibt tat­säch­lich Log­bü­cher im Hirn, in denen alles auf­ge­zeich­net ist. Wer mag, kann sogar dar­in blättern. 

Unser Bewußt­sein ist ein Netz­werk von Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen. Da wird nicht ein­fach irgend etwas nur gese­hen, son­dern die­ses Sehen muß wie­der­um „gese­hen” wer­den. Nur dann kann es über­haupt als „wirk­lich” emp­fun­den wer­den, nur dann zählt es über­haupt. Anson­sten könn­ten wir uns alles Mög­li­che ein­fach nur einbilden. 

Es ist mit etwas Übung mög­lich, sich selbst beim Ver­ste­hen über die Schul­ter zu sehen. Man kann sogar den „Betriebs­funk” abhö­ren und sich einklin­ken in die Rou­ti­nen der inne­ren Verständigungsprozeduren.

Ver­ste­hen ist selbst ein krea­ti­ver Pro­zeß. Etwas Bedeu­tungs­vol­les nur wahr­neh­men und auf Anhieb ver­ste­hen, das kön­nen nur Götter.—Was Göt­tern mühe­los zufällt, dazu müs­sen wir uns aller­dings auch erst auf den Weg machen. 

Dazu haben wir sie schließ­lich kre­iert, um uns Idea­le zu bie­ten, in denen wir uns spie­geln kön­nen, um zu sehen, wie weit wir schon sind, wenn wir wis­sen wol­len, ob und inwie­fern wir ihnen als Ideal–Selbst schon das Was­ser rei­chen können. 

Wer also Wert legt auf ein beson­de­res Urteils­ver­mö­gen, wer etwas Eige­nes sein und sagen möch­te, soll­te sich dar­auf ein­las­sen, beim Ver­ste­hen lan­ge Wege mit vie­len Sta­tio­nen zu neh­men. Das „Heu­re­ka” mag am Ende ste­hen und in einem ein­zi­gen Augen­blick aus­ge­ru­fen wer­den, es ist aber die Krö­nung für einen gan­zen Prozeß. 

Ver­ste­hen ist weit mehr als nur das Lösen eines Rät­sels, ent­schei­dend sind Selbst­be­geg­nun­gen. Wir erfah­ren sehr viel über uns selbst, sobald wir uns beim Wahr­neh­men, Deu­ten und Ver­ste­hen selbst beob­ach­ten und begegnen. 

Es ist erstaun­lich, dem eige­nen Emp­fin­den, Ver­ste­hen und Reflek­tie­ren bei der Arbeit zuzu­se­hen. Man kommt sich dann vor wie der Eigen­tü­mer einer Fabrik, in der Wahr­neh­mun­gen pro­du­ziert wer­den, die auf Sinn hin aus­ge­legt sind. 

Wer sol­che Wag­nis­se unter­nimmt, wird belohnt mit Erfah­run­gen auf der Meta–Ebene. Es sind Selbst­er­fah­run­gen, die per­sön­li­cher, inten­si­ver und tie­fer nicht sein könnten.

Ich bin soeben im Netz der Net­ze auf Fotos von einem Kunst­werk gesto­ßen, das ich vor­zei­ten bespro­chen habe.—Die Begeg­nung fand rein zufäl­lig statt, auf einer Aus­stel­lung in der Kunst­aka­de­mie Münster.

Und im Semi­nar über „Die Schön­heit der See­le” ging es am letz­ten Frei­tag um „Her­me­neu­tik” und die „Kunst des Ver­ste­hens”. Das hat mich dar­auf gebracht, die­sen alten Spu­ren noch ein­mal nach­zu­ge­hen. —Das hat wie­der­um dazu geführt, daß ich den Text aus dem Jah­re 2011 über­ar­bei­tet und vor allem mit den damals noch nicht öffent­lich erhält­li­chen Fotos ver­se­hen habe. 


Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

Narzißmus als Selbst–Konzept 

Der Umgang mit der Figur des Nar­ziß läßt zu wün­schen übrig. Oft wer­den Dia­gno­sen vor­ge­bracht, wie sie üblich sind von Lie­ben­den, die sich ver­schmäht sehen. Dann ist auch noch von toxi­schen Bezie­hun­gen die Rede, um die Feh­ler beim Gelieb­ten zu fin­den. Aber zuletzt täuscht nichts dar­über hin­weg, daß Besitz-Ansprü­che oft als Aus­druck von Lie­be kaschiert werden. 

Schön­heit mag erstre­bens­wert sein, zu viel davon wird aber zu einem ganz gro­ßen Pro­blem. Nar­ziß hat die­ses Han­di­kap schon seit frü­he­ster Kind­heit erlebt und daß ist der dra­ma­ti­sche Kern die­ser mythi­schen Figur.—Er ist ein­fach zu schön. 

Er ist der­art schön, daß alle außer sich sind und ihn berüh­ren, besit­zen und sich vor allem mit ihm sehen las­sen wol­len. Aber nie­mand inter­es­siert sich für ihn als Per­son. Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

Die­se Schwie­rig­keit hat er weder in der Kind­heit, noch in sei­ner Jugend bewäl­tigt kön­nen. Und jetzt, wo er ein jun­ger Mann ist, in den sich alle unent­wegt unsterb­lich ver­lie­ben und ihn ver­fol­gen wie einen Super­star, ist es eigent­lich zu spät.—Narziß hat sich inzwi­schen eine äußerst schrof­fe Art der Zurück­wei­sung zu eigen gemacht. 

Er wehrt Ver­lieb­te nicht ein­fach nur ab, son­dern ver­sucht sie mit hef­tig­sten Wor­ten zu ver­let­zen. Mit mög­lichst schrof­fen Reak­tio­nen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schul­dig ist, sie alle ein­fach nur abzuwehren.—Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie ken­nen gelernt, weil ihm immer ande­re dazwi­schen kamen. 

Inso­fern wird man als Außen­ste­hen­der fra­gen, ob das denn nun wah­re, ehr­li­che, ech­te Lie­be sein kann, was da an ein­neh­men­den Begehr­lich­kei­ten an den Tag gelegt wird. Er ist schließ­lich einer, der dar­un­ter lei­det, daß er an Auf­merk­sam­keit zu viel hat und nichts davon will.—Also stößt er die ihn ver­meint­lich Lie­ben­den hef­tig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, war­um soll­te er sich lie­ben las­sen? Er muß die ent­täu­schen, die ihn erklär­ter­ma­ßen lie­ben. Er will nicht geliebt wer­den, weil er Lie­be als Ver­ein­nah­mung empfindet. 

Ein Ver­eh­rer will ihm ein Schwert schen­ken. Nar­ziß weist ihn der­art hef­tig zurück, daß die­ser die Göt­ter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit die­sem Schwert tötet.—Und tat­säch­lich machen es sich die Göt­ter zu eigen, den Ver­schmäh­ten in sei­ner Lie­bes­krank­heit zu rächen. 

Die Begeg­nung mit der Nym­phe Echo ist bereits Teil des gött­li­chen Plans.— Hera hat­te ihr die Stim­me genom­men, weil die­se sie damit täu­schen woll­te, um Zeus ein Ali­bi zu ver­schaf­fen, als die­ser in Lie­bes­an­ge­le­gen­hei­ten unter­wegs war.—Echo kann also nur noch wie­der­ho­len, was bereits gesagt wor­den ist, sie kann nicht von sich aus sprechen. 

Eines Tages ver­irrt sich Nar­ziß auf der Jagd und trifft auf die Stim­me der Nym­phe, die sich augen­blick­lich ver­liebt und schon bald vol­ler Hoff­nung auf sei­ne Gegen­lie­be ist. Ihr gan­zes Auf­tre­ten läßt an ein Grou­pie den­ken, denn sie gerät bei einer Begeg­nung mit ihrem Star völ­lig außer sich und kann noch stam­meln.—Aber sie täuscht sich, anstel­le eines Aus­drucks der Lie­be kommt nur eine schrof­fe Abwei­sung des unter sei­ner eige­nen Attrak­ti­vi­tät lei­den­den jun­gen Man­nes: Lie­ber wür­de er ster­ben, als sich von ihr auch nur umar­men zu lassen. 

John Wil­liam Water­hou­se: Echo und Nar­cissus, 1903.

Nun fragt man sich schon, ob so hef­ti­ge Reak­tio­nen wirk­lich not­wen­dig sind. Aber man soll­te nicht ver­ges­sen, daß Nar­ziß nichts ande­res kennt, als dau­ernd wegen sei­ner äuße­ren Vor­zü­ge begehrt zu wer­den, wäh­rend sich für ihn selbst in sei­ner Per­son nie­mand interessiert.—Er hat sich in sei­ner eige­nen Per­son gar nicht ent­wickeln und ent­fal­ten kön­nen. Es wur­de ihm alles geschenkt, auf­ge­drängt, auf­ge­nö­tigt, nur weil er schön und begeh­rens­wert ist. 

Dar­auf pas­siert, was der blin­de Seher Tere­si­as des­sen Mut­ter bereits pro­phe­zeit hat­te, als die­se wis­sen woll­te, ob er ein lan­ges und glück­li­ches Leben vor sich habe.—Solange er sich selbst nicht ken­nen lernt, ja, so lau­te­te die rät­sel­haf­ten Auskunft. 

Genau das soll­te jedoch gesche­hen. Er soll­te sich ken­nen ler­nen, weil die Göt­ter ihre Hän­de bereits im Spiel hat­ten. Er ver­lieb­te sich aber nicht ein­fach in sich selbst, das ist nur die kind­li­che Vari­an­te in der Deu­tung des Mythos. Als wür­de er den Spie­gel­test nicht bestehen und nicht ein­mal sich selbst erken­nen können.—Das Dra­ma ist tief­grün­di­ger, weil Nar­ziß offen­bar etwas tut, was „die Jugend” sei­ner­zeit erst­ma­lig zeig­te. Von einem neu­en Wahn ist die Rede, sich fort­an auf sich selbst zu kon­zen­trie­ren, aber die alten und ehren­wer­ten Sit­ten und Gebräu­che links lie­gen zu lassen. 

Nar­ziß wei­ger­te sich, den übli­chen Weg eines jun­gen Man­nes zu gehen. Er will nicht mit einem erfah­re­nen Mann als sein Men­tor für eini­ge Zeit in die Wild­nis gehen, um dort vom Jun­gen zum Mann zu werden.—Denn was brauch­te es, um ein „vor­treff­li­cher Mann” zu wer­den? Doch wohl urba­ne Fähig­kei­ten wie Lesen, Schrei­ben, Reden, Ver­han­deln und Ver­trä­ge aus­han­deln kön­nen. Man braucht Erfah­run­gen in der Län­der­kun­de aber weit weni­ger sol­che in der Natur. 

Nar­ziß beginnt also, sich nicht mehr im Äuße­ren zu suchen, son­dern im eige­nen Inne­ren. Und er trägt den Namen einer Nar­zis­se, weil auch die­se ihren Kopf so hän­gen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst ver­sun­ken, um sich zu „bespiegeln”.—Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Nar­ziß­mus ist inso­fern eine Dia­gno­se, die auf die­je­ni­gen zutrifft, die aus einer sol­chen Selbst­ver­sen­kung nicht wie­der herauskommen. 

Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Nar­ziss, 1594ff.

Tat­säch­lich hat die­ser tra­gi­sche Mythen­held aber erstaun­li­che Poten­tia­le, die ihn die­ser Tage zum Leit­bild einer Dia­gno­se über den Zeit­geist wer­den las­sen, die es in sich hat: Wir haben einen Para­dig­men­wech­sel zu ver­zeich­nen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

Das Über–Ich ist, der Ter­mi­no­lo­gie von Sig­mund Freud zufol­ge, eine Reprä­sen­ta­ti­on des „Vaters” im Sin­ne einer auto­ri­tä­ren Welt, in der Tra­di­ti­on und Sit­te noch ganz stren­ge Grenz­re­gime bewach­ten und sank­tio­nier­ten. Wehe denen, die da aus irgend­wel­chen Rol­len fal­len und aus der Rei­he tanz­ten! Und genau sol­che Dia­gno­sen fol­gen dann auch: Narzißmus. 

Das Über–Ich hat mit der Figur des auto­ri­tä­ren Got­tes, Königs, Ehe­gat­ten und Vaters vor allem eine Aus­prä­gung, es ist eine uner­bitt­li­che höchst rich­ter­li­che Instanz, die anders­ar­ti­ge Iden­ti­tä­ten gar nicht erst auf­kom­men läßt. Alle erdenk­li­chen Wün­sche und Traum­ge­spin­ste sind sank­tio­niert und allein der Wunsch danach kann zu kata­stro­pha­len Selbst­be­stra­fun­gen füh­ren, die sich in unter­schied­li­chen Sym­pto­men äußern. 

Das war solan­ge der Fall, wie Sit­ten­stren­ge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbst­ver­ständ­lich zu sein schie­nen und die, die sie hat­ten, sich lie­ber selbst etwas anta­ten, als dazu auch öffent­lich zu stehen. 

Aber eigent­lich wird die­se Geschlecht­er­ord­nung schon mit dem 1. Welt­krieg ganz erheb­lich gestört. Vie­le Män­ner zogen freu­dig in den Krieg, wie Hoo­li­gans, die sich ver­ab­re­det haben, ihre Kräf­te zu mes­sen. Aber der Krieg war inzwi­schen hoch tech­ni­siert wor­den, man lan­de­te in den Schüt­zen­grä­ben und ver­lor ganz und gar, was Män­ner bis dato noch glaub­ten für sich bean­spru­chen zu dür­fen, die­sen gewis­sen Schneid, der gern vor­ge­führt wird, dem die Uni­for­men die­nen sol­len und der angeb­lich bei Frau­en sehr gut ange­kom­men sein soll. 

Im Grun­de war das Ende des mar­tia­li­schen Männ­lich­keits­geh­abe eigent­lich schon mit dem Ersten Welt­krieg ein­ge­läu­tet. Aber die Lek­ti­on moch­te nicht wirk­lich ver­fan­gen, also „brauch­te” es noch einen Zwei­te Welt­krieg, bis end­lich ein ande­rer Geist zuge­las­sen wur­de, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hip­pies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glau­bens legitimierte. 

Tat­säch­lich kam es nur zum Bruch mit dem Über­kom­me­nen, aber nicht zu einem alter­na­ti­ven Weg. Das Auto­ri­tä­re war ver­pönt, das Patri­ar­cha­le wur­de immer ver­pön­ter und den­noch kam nicht wirk­lich so etwas wie eine Alter­na­ti­ve zum Über–Ich auf, das die Geschicke bis­her so restrik­tiv gelenkt und gelei­tet hatte. 

Man soll­te sich etwas Zeit neh­men und auf sich wir­ken las­sen, was da zu dia­gno­sti­zie­ren ist über die­sen Para­dig­men­wech­sel im Zeit­geist.—Die Patri­ar­chen ste­hen schon seit gerau­mer Wei­le nicht mehr wie die Legi­ons­füh­rer in ihren Über­wa­chungs­kan­zeln, von denen sich alles über­blicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabri­ken, die­se Chef–Büros mit gro­ßen Fen­stern nach über­all­hin und mit Blick auf den Hof. Aber heu­te sind dort die Werk­stät­ten von Künstlern. 

Inter­es­san­ter­wei­se wur­de ein Groß­teil der Über­wa­chung nicht nur ins Inne­re, also in die Psy­che ver­legt, son­dern auch indi­vi­dua­li­siert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu über­wa­chen, unser eige­ner Chef zu wer­den, dau­ernd an uns zu arbei­ten, um ein ande­rer, bes­se­rer, erfolg­rei­che­rer Mensch zu wer­den und dann auch zu sein.—So erklärt sich auch, war­um die Selbst­aus­beu­tung jeder Aus­beu­tung den Rang abläuft. 

Die „Gene­ra­ti­on Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Pri­vat­le­ben für sich bean­sprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kon­trol­le zu haben, denn das ist mit­nich­ten der Fall. Wir sind zu unse­ren eige­nen Aus­beu­tern gewor­den und das Plan­ziel ist nicht mehr das, was sich gehört.—Es geht viel­mehr um das Erfül­len von Zie­len, die vom Ideal–Ich aus­ge­hen. Nicht weni­ge sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

Der Nar­ziß­mus ist eine gesell­schaft­li­che For­de­rung an jeden Ein­zel­nen: „Du mußt mehr wer­den, als du bist, du mußt zu dei­nem Ide­al wer­den.” Aller­dings ist das Prin­zip dahin­ter höchst unso­zi­al, es geht nur noch um den per­sön­li­chen Erfolg, um das Errin­gen von äußer­li­chem Sta­tus und mon­dä­ne Luxus-Sym­bo­le, wie sie die Wer­bung als Ersatz­dro­gen längst parat hält. 

Wir sind in eine neue Pha­se der Prä­de­sti­na­ti­ons­leh­re gera­ten. Max Weber hat dar­auf sei­ne Theo­rie des Kapi­ta­lis­mus ent­wickelt, daß der Erfolg des bür­ger­li­chen Kauf­manns selbst ein Zei­chen sein soll­te dafür, von Gott aus­er­wählt wor­den zu sein, weil ja jetzt schon, im irdi­schen Leben eini­ges an Erfolg offen­sicht­lich gewor­den ist. 

Jetzt machen sich vie­le selbst unglück­lich mit Zie­len, die nicht wirk­lich zu errei­chen sind. Und der Gott, der da die Zei­chen gibt, daß man zu den von ihm Aus­er­wähl­ten gehört, ist die nar­ziß­ti­sche Vari­an­te eines Ide­al-Ichs, dem es vor allem dar­um geht, daß die Show stimmt. 

Der neue Para­dig­men­wech­sel in der Selbst­kon­trol­le ist einer­seits zu begrü­ßen, aber eine wirk­li­che Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genü­gen, ist nicht wirk­lich gerin­ger, son­dern sogar sehr viel grö­ßer gewor­den. Jetzt gibt es kei­ne Aus­flüch­te mehr, nicht zu genü­gen, weil man Idea­len ent­spre­chen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt.—Das Über–Ich wur­de abge­löst vom Ich–Ideal, das viel radi­ka­ler beschaf­fen ist, weil es kei­ne Aus­flüch­te mehr duldet.

Es ist gar nicht so ein­fach, dem tra­gi­schen Hel­den eines klas­si­schem Mythos gerecht zu wer­den. Zur Not kommt er uns zur Hil­fe, auf daß wir uns selbst bes­ser verstehen. 

Sie­he hier­zu: Isol­de Cha­rim: Die Qua­len des Nar­ziss­mus. Paul Zsol­nay Ver­lag, 2022.