• Anthropologie,  Diskurs,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Ist die Aufklärung gescheitert?

    Es läßt sich stets konstatieren, alles sei gescheitert.

    Aber wer sind wir, wenn wir glaubten, das feststellen zu können und dann auch noch ein für alle Male und für immer? Wie absolut soll so ein Befund gelten, ungefähr solange wie der Zorn oberster Götter, wenn sie Sintfluten schicken und danach ihren kindlichen Jähzorn ablegen? Ja, auch Götter haben ihre Entwicklungsphasen.

    William Turner: Der Brand des Parlamentsgebäudes in London 1835.
    Mit der Aufklärung verhält es sich wie mit dem aufrechten Gang. Es bereitet Rückenschmerzen, erschwert die Geburt, weil das Becken zu eng wird.  Aber, es werden die Hände frei als universelle Werkzeuge. Seither können wir Sachen be–greifen.

    Aber die Sprache ist das Werkzeug aller Werkzeuge. Es kommt also darauf an, die richtigen Worte zu kreieren. Es gibt vieles in der Welt, von denen wir die Worte nicht einmal ahnen.  

    Solange aber etwas nicht gesagt und auch noch nicht von mindestens einem Menschen verstanden worden ist, hat der Geist der Menschheit noch erhebliche Lücke genau dort, wo dieses Phänomen eigentlich hingehört, wenn man es „einordnen“ könnte.

    Aufklärung ist wie Laufen, was bedeutet, es wird ständig die Balance aufgegeben. Man destabilisiert die Stellung, neigt sich, stürzt nach vorn und fängt sich dann durch den nächsten Schritt wieder auf.  Nicht anders verhält es sich mit der Psychogenese. Wir sind wie die Kinder uns selbst immer einen Schritt voraus, einen Schritt mehr, als wir beherrschen, verantworten, verstehen können.
     
    So ähnlich vollzieht sich die ganze Menschheitsentwicklung und die Suche nach der Antwort auf die Frage, was denn die ganze Anthropogenese eigentlich soll. – Aber Philosophen arbeiten nicht gern mit Hypothesen wie die vom intelligenten Designer, also rufen sie die Anthropologie zum Zwecke der universellen Beratung.
     
    Die anspruchsvollste Hypothese dabei, Entwicklung zu denken, ist die Annahme, alles hätte sich allmählich entwickelt ohne intelligenten Designer oder sonstwas. Eine der größten intellektuellen Herausforderungen liegt tatsächlich im Nihilismus. Dazu müßte man sich dann aber auch der Herausforderung stellen, einfach zuzugeben, daß der „Sinn des Ganzen“ immer nur von uns selbst kommen kann.
     
    Wir müssen ihn uns also selbst geben und wir sind dann auch völlig frei, uns jeden beliebigen Sinn zu geben. Und das „Ziel“, also dieser „geheime Plan“, den die Natur – nur hypothetische – mit dem Menschheitsprojekt verfolgt, liegt darin, daß die Natur sich selbst in den Blick nehmen möchte.
     
    Aber dazu muß sich das Wesen, das diese Aufgabe leisten soll, erst selbst in den Blick bekommen. Und da gibt es noch sehr viel menschliches Potential zu entfalten, im Guten wie im Bösen, im Vernünftigen wie auch in der Dummheit.
     
    Und jeder neue Schritt im Zuge der Aufklärung bringt nicht nur neue Verunsicherungen mit sich, sondern zunächst immer erst einmal einen neuen Aberglauben. In solchen Zeiten leben ganz offenbar alle stets daneben. Und nur der Phänomenologe bleibt in Sichtweite und auf Abstand zum Schiffbruch, der ja nun den obligatorischen Zuschauer braucht.
     
    Eine Maxime lautet: Wer heilt, hat Recht! – Dieser Tage möchte man fast glauben, es gelte eine neue Maxime: Wer Angst kommuniziert, hat Recht.
     
    Davor, genau davor hat der heilige Niklas (Luhmann) immer gewarnt, vor „Entdifferenzierung“.
    Der Spruch „Werdet wie die Kinder“, ist schließlich auch keine Aufforderung zur heiligen Einfalt.   Gemeint ist tatsächlich eine unvoreingenommene Offenheit, wie sie fast nur Kinder zustande bringen, mit Ausnahme von Phänomenologen versteht sich.
     
  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Technikethik

    Kolloquium 

    Technikethik

    Technische Entwicklungen kontrovers reflektieren

    SS 2021 | donnerstags | 14:00–15:30 | Online
    Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Von Verantwortung ist immer wieder die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles andere als vertrauenserweckend. Der gute Wille allein genügt nicht. Zu unterscheiden sind mindestens das Subjekt der Verantwortung, der Verantwortungsbereich und die Verantwortungsinstanz, (ehedem Gott und jetzt?).

    Es gilt näher hinzusehen, wenn wir Fragen der Verantwortung angehen wollen, denn der Begriff ist mehrdimensional. Der Karlsruher Technikphilosoph Günter Ropohl hat das Ganze auf eine Formel mit sieben Variablen gebracht: Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann, wie? Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Wie weit geht ihre (persönliche) Verantwortung wirklich?

    Dieses Kolloquium soll Fragen der Technikethik praktisch erfahrbar machen. Das wird anhand von Fallstudien aus ihren eigenen zukünftigen Berufsfeldern geschehen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren lassen. Dabei kommt es weniger auf das Ergebnis an, sondern auf die Qualität und den Austausch der vorgebrachten Argumente.

    Betreiben wir also Technikethik ganz konkret. Nehmen wir uns reale Situationen vor: seien es der Abgasskandal, Stellungnahmen zum Einsatz von Genmanipulation, der Einsturz der Brücke in Genua, Unfälle im Rahmen von Fahrten mit autonomen Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmittelbar dabei und hätten etwas zu sagen. Inszenieren wir die Kontroversen, in denen Techniklinien gestaltet werden, um sie am eigenen Leib zu
    erfahren. Die Veranstaltung soll Ihnen dazu dienen, Erfahrungen zu machen, die später womöglich auf Sie zukommen. Es ist dann fast wie ein Privileg, sich später daran zurückerinnern zu können, so etwas Ähnliches schon einmal durchgespielt zu haben.

    Nein, wir müssen es nicht.
    Aber?
    Aber wir werden es machen.
    Und weshalb?
    Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt,
    ob wir es wirklich können.

    (Hans Blumenberg)

    Dirck van Baburen: Prometheus wird von Vulkan angekettet (1623). — Quelle: Public Domain via Wikimedia. — Prometheus, der Gott des Fortschritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Aufsicht des Götterboten Hermes, vom Gott der Technik Vulkan an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet. Sein Vergehen: Er hat aus Menschenliebe die Technik zu den Menschen gebracht. Diese sollten darauf den Fortschritt einige Jahrtausende nicht mehr zu Gesicht bekommen.

    Die Zeiten sind vorbei, als Ingenieure und Ingenieurinnen fast jede weitere Verantwortung noch zurückwiesen mit den Worten, sie würden die Technik nur herstellen, seien aber nicht verantwortlich dafür, was daraus würde. — Aber machen wir uns nichts vor, Versuche, den technischen Fortschritt auf ›bessere‹ Bahnen zu lenken, gab es viele. Unvergessen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die Rolle einer Fahrradbremse am Intercontinental Flugzeug. 

    Forderungen nach Ethik, Verantwortung, Technikfolgenabschätzung, nachhaltigem Wachstum und Kilmaschutz werden tagtäglich erhoben und sind nicht unproblematisch, denn es ist auch Überforderung im Spiel. Wofür sind wir als Einzelne verantwortlich und wie soll denn die Gesamtverantwortung wahrgenommen werden? Allmählich wird es Zeit. Wer gibt die Technikziele vor oder generieren sie sich selbst?

    Was viele Verschwörungstheorien noch unterstellen: Es gibt sie nicht, die Schaltzentralen der Macht, in denen die Ziele des Fortschritts vorgegeben, der Kurs eingestellt und die Entwicklungen koordiniert werden. Zweifelsohne spielen Technik und Wirtschaft eine große Rolle, aber auch Politik und Kultur.

    Der blaue Planet ist zur Anthroposphäre geworden. Inzwischen wurde bereits ein neues Erdzeitalter ausgerufen, das Anthropozän. Die Zivilisation ist nunmehr alles entscheidend für das Schicksal des ganzen Planeten und die Zukunft der Menschheit. Die Erde ist zum Raumschiff geworden. Wir rasen durch einen lebensfeindlichen Raum, hinter uns eine erst kurze Episode der Zivilisation und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kollisionskurs geht.

    Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navigation vorgenommen wird, wenn wir dorthinein gelangen könnten, es wäre der Schock unseres Lebens. Denn die Pilotenkanzel ist leer, alles steht auf Autopilot und niemand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steuern. Dabei ist das Ganze keineswegs nur eine Frage der Technik, sondern auch eine von Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur, Wissenschaft und vielem anderen mehr.

    Jan Cossiers: Carrying Fire (ca. 1630). Prometheus stiehlt das Feuer aus der Werkstatt des Vulkan. Es ist nicht das Herdfeuer, das hatten die Menschen schon sehr lang. Es ist das Metallurgenfeuer, womit die Bronzezeit begann und
    dann auch die Zivilisation. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Daher genügt es längst nicht mehr, einfach nur ›gute‹ Technik zu machen, Probleme pragmatisch zu lösen, im Sinne des ›state of the art‹ zu entwickeln, Normen und Vorschriften einzuhalten usw. usf. — Darüber hinaus stellt sich vor allem auch die Frage, wie weit denn die persönliche Verantwortung reichen soll. Es ist nicht allein die Technik, die den Fortschritt bestimmt, es sind viele verschiedenen Faktoren, die eine Rolle spielen. — Die Rollen im Mythos vom Prometheus, der den technischen Fortschritt zur Darstellung bringt, lassen die Zusammenhänge erahnen.

    Da ist der Menschenfreund Prometheus, der mit besten Absichten die Entwicklung anfacht, aber eigentlich nicht sehr glücklich agiert. Da ist Vulkan, der Techniker, der alles tut, was ihm aufgetragen wird. Er murrt zwar, als er den geschätzten Kollegen anketten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambivalentes Verhältnis zur Menschheit hat und daher hin und hergerissen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athene, die Göttin der Weisheit, die den neuen Zivilisationsmenschen eine Seele einhaucht. Sie spendet auch die Wissenschaft und die Vernunft. Außerdem ist da noch Pandora, die mit allen Gaben Beschenkte, die die Gaben der abdankenden Götter zu den Menschen bringt, aber eben auch die damit verbundenen Übel. Und da ist noch Epimetheus, ein Melancholiker, der sich in Pandora verliebt. — Das dürfte genügen, die verschiedenen Seiten und Interessen zu charakterisieren, die dafür sorgen, daß der Fortschritt eben einen bestimmten Gang nimmt.

    Als der Münchener Soziologie Ulrich Beck im Jahre 1958 den Eintritt in die Risikogesellschaft diagnostizierte, sah er den technisch–ökonomischen Fortschritt überlagert von immer größeren, ungeplanten Nebenfolgen, grenzüberschreitenden Umweltproblemen und globalen Folgen Es gibt inzwischen einen Grad an Komplexität, der sich nicht mehr steuern oder gar beherrschen läßt. Eigentlich müßten alle unsere Innovationen unterhalb dieser Schwelle bleiben, aber das Gegenteil ist der Fall. Also wofür sind Techniker, Ingenieure und Ingenieurinnen wirklich verantwortlich? Welcher Teil der Verantwortung fällt anderen zu?

    Harry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wurde von Vulkan eine Frau erschaffen, mit allen Gaben der Götter ausgestattet und von Hermes zu den Menschen gebracht. Sie brachte jedoch nicht nur die Fähigkeiten der Götter, sondern auch die damit verbundenen Übel auf die Erde. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist keine unproblematische Entwicklung, daß in den letzten Jahrzehnten immer mehr Verantwortung auf Einzelne übertragen wurde, während die Gesamtverantwortung sich immer weiter verflüchtigt. Wer verantwortlich sein soll, muß gestalten, muß auch anders entscheiden können, erst dann kann Verantwortung zugeschrieben werden. — Insofern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz praktisch umgegangen werden kann, ist das andere. Sich verantwortlich zu fühlen für Verhältnisse, die nicht in der eigenen Macht stehen, ist daher nicht unproblematisch. Wer Verantwortung übernimmt, muß ›Nein sagen‹ können oder ›So nicht!‹.

    In diesem Seminar sollen solche Konflikte in Wertfragen, Zielkonflikten und der moralischen Integrität durchgespielt werden. Das geschieht anhand von Beispielen einschlägiger Dilemma–Situationen. Mitunter sind die Rahmenbedingungen schon problematisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedingungen schlechter Kommunikationsverhältnisse und aus Sorge um die eigene Reputation fachlich kompetent und moralisch integer zu handeln. Dazu bedarf es einiger Erfahrungen, die genauso wichtig sind wie das ganze technische Know–how.

    Dazu hat der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß eine hilfreiche Unterscheidung geprägt: Zum technischen Verfügungswissen gehört auch ein ebenso wichtiges Orientierungswissen. Das eine sagt uns wie, das andere aber wozu.  — Mitunter geraten aber das Wie und das Wozu in Widersprüche. Die Technikgeschichte ist voll solcher Beispiele, wo erst sehr viel später sich Nebenfolgen mit kolossalen Wirkungen zeigen, bis sie endlich wahrgenommen und thematisiert werden.

    Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, ob es nicht doch eine ›bessere‹ Technik gibt, eine, die von vornherein weniger Nebenfolgen hat. Technikutopien sind daher eine wichtige Orientierungshilfe, vor allem dann, wenn kritisch damit umgegangen wird. Wesentlich ist es, die verschiedenen Aspekte erörtern zu können und nicht zuletzt, andere zu überzeugen. Dazu ist kritisches Denken erforderlich. Daher geht es um die ethische, politische, ökonomische und ökologische Verantwortung im Ingenieurwesen. Erst das macht ›gute‹ Technik möglich, ein ›gutes‹ Gewissen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

    Bandicoot Robot: Converting manhole to robohole (2018). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

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    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    SS 2021 | freitags | 12:00-13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt.

    Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Philosophischen Café kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es um nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt vielmehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen tatsächlichen Fortschritt im Verstehen erreichen.

    Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wieder zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wir müssen selbst entscheiden, wann wir etwas auf sich beruhen lassen, für welche Themen wir offen sind, und wofür wir uns wirklich brennend interessieren. Die Zunahme an Informationen ist dabei von erheblicher Bedeutung, denn sie führt gegenwärtig ganz offenbar zu Überforderungen. Alles könnte man wissen, aber jedes Wissen ist eigentlich unsicherer denn je.

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    Der Corona-Diskurs als Katharsis

    Heinz–Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit: Der Corona–Diskurs als Katharsis. Panik, Absturz, Krise und Transformation. (ZeitGeister4); Hamburg 2021. Titelbild: Wolfgang Ganter: Bacteriality, Work in Progress. Mit freundl. Genehm. durch Wolfgang Ganter, Berlin. (Alle Rechte vorbehalten!)

    Erscheint im Herbst 2021

    Seit Urzeiten waren Menschen fast immer auf Wanderschaft. Aber vor 12.000 Jahren kam die Seßhaftigkeit auf, also Städte, Kriege, Reichtum, Armut, Hochkultur, Luxus, Elend und Epidemien.

    Innerhalb weniger Monate hat sich ein Virus weltweit ausbreiten können. Fast überall wurde der Ausnahmezustand ausgerufen mit tiefen Eingriffen in Grundrechte. Der Shut–Down schien vielen als einzig mögliche Konsequenz, ein Diskurs fand gar nicht erst statt.

    Eine Riege auserwählter Virologen und Epidemiologen insinuierte die Richtlinien der Politik und diese betätigte darauf den Not–Aus–Schalter. Ganze Länder sind seither in Agonie, mit immensen Folgen für die Existenz, die Kultur und nicht zuletzt für die Psyche.

    Dieses Buch wurde Mitte März 2020 in der Absicht begonnen, dem Zeitgeist eine Nasenlänge voraus zu sein, anfangs noch in der Erwartung, die Corona–Krise sei zwar eine lehrreiche Episode, aber bald schon wieder vorüber. Es galt, die Entwicklung im großen Ganzen zu verstehen, was war und sein würde, welche Verluste zu beklagen, welche sozialen, persönlichen, psychologischen und seelischen Katastrophen zu bewältigen sind. Dazu zählen neue Ängste, die bleiben, Traumata, die akut wurden und solche, die neu geschaffen worden sind. — Wie werden wir mit den vielen persönlichen Schicksalen umgehen in der Welt, die nach Corona kommt?

    85% eines Eisbergs liegen unter Wasser, so verhält es sich hier auch. Unsere Diskurse sind oberflächlich, bei weitem nicht umfassend und sie gehen nicht in die Tiefe. Wir haben nur den sichtbaren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, worauf zu achten wäre. Nicht minder entscheidend sind alle erdenklichen weiteren Folgen, kulturelle, existentielle und vor allem auch die psychischen und sozialen Nebenwirkung sämtlicher Maßnahmen.

    Man bekommt das Ganze gar nicht erst in den Blick. Die herrschende Strategie wird wie üblich als alternativlos hingestellt. Weil viele Ängste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schicksalsergebenheit hingenommen, die gar nicht angebracht ist. — Auch wird immer wieder konstatiert, man dürfe Menschenleben nicht aufrechnen, aber genau das geschieht die ganze Zeit. Es werden andauernd heikle Entscheidungen in Ziel– und Wertkonflikten gefällt aber nicht offengelegt.

    Es fehlt das Gespür für die angemessene Art, ergebnisoffene Debatten zu führen. Unsere Gesprächskultur hat sich im Zuge der Krise weiter verschlechtert. Mehr denn je wird Gesinnungskontrolle betrieben, Verunglimpfungen sind fast schon salonfähig geworden. Viele sind eingeschüchtert und wagen gar nicht mehr, sich überhaupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phantasie und Diversität in den Debatten, weil ständig mit Exkommunikation bedroht wird, wer auch nur Anstalten macht, in Alternativen zu denken. — Man kann allerdings die Maßnahmen kritisch sehen, ohne Corona zu leugnen. Die Kurzformel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidioten, Aluhut–Trägern und die Diffamierung jedweder Kritik ist zutiefst undemokratisch. Das alles sind keine Anzeichen für einen moralischen Fortschritt, ganz im Gegenteil.

    Die monatelange Engführung der Debatten ist verheerend, so kann gar keine Vernunft in den Diskursen aufkommen. Nur bestimmte Perspektiven sind überhaupt zugelassen. Wer anderes anspricht, läuft Gefahr, exkommuniziert zu werden. Es ist ein Klima der Einschüchterung entstanden, dabei käme es darauf an, alle erdenklichen Alternativen offen und öffentlich zu diskutieren. — Das gilt insbesondere für Restaurants und Kultureinrichtungen, die längst bewiesen haben, daß sie es können. Man läßt sie nicht, warum?

    ›Sorge‹ ist oft gar nicht so selbstlos, wie sie sich gibt. Sie spiegelt sich gern selbst und glaubt, unverzichtbar zu sein. Dabei steht sie der tatsächlichen Entwicklung nur im Wege. Die Politik möchte ganz offenbar nichts von der neu hinzugewonnenen Macht wieder abgeben. Dagegen spricht neben der Gewaltenteilung ein weiteres Prinzip, die Gewalt staatlicher Macht einzuschränken, die Subsidiarität. — Demnach wird ein Problem generell zunächst auf der untersten Ebene gelöst, also individuell, familiär oder in der Gemeinde. Erst dann, wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, sollen, dürfen und müssen staatliche Institutionen eingreifen.

    Für viele gibt es ausschließlich die Kategorien Richtig und Falsch. Was bedeutet diese Polarisierung für das Funktionieren der Gesellschaft? Das Beharren auf diese Unterscheidung entspricht einer bestimmten Entwicklungsstufe bei Kindern. Das Differenzierungsvermögen ist dann noch nicht so weit entwickelt. Tatsächlich ist aber erst dann die Übernahme persönlicher Verantwortung möglich. Je weniger Regeln vorgegeben sind, sondern nur noch Prinzipien, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils angemessen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

    Die schwarze Pädagogik setzte da noch ganz auf Strafen, was nur dazu führt, die Intelligenz herauszufordern. Dann werden Regeln nicht aus eigenen Motivation eingehalten, sondern nur, weil man nicht erwischt werden möchte. So wird genau derjenige Untertanengeist erzeugt, den wir eigentlich hatten überwinden wollen. Schwarze Pädagogik, die mit Zwang und Strafe operiert, ist seit Jahrzehnten passé. Aber in Politik und Staat sind die alten Zöpfe aus dem Kaiserreich offenbar noch immer nicht abgeschnitten. — Selbstverantwortung ist eine Frage der Kultur, sie muß eingeübt und dann ausgeübt werden, weil man ganz gewiß immer mal an Grenzen stößt, über die die Entwicklung hinausführen muß.

    Viel halten es aber nervlich nicht aus, sich selbst zu orientieren und das Denken in der Schwebe zu halten. Manche sehen sogar eine Schwäche darin, wenn nicht sofort entschieden und gehandelt wird, egal wie. Aber die, die das eilige Handeln versprechen, verfolgen oft ganz andere Interessen. — Noch immer herrscht die Vorstellung vor, beim Diskutieren ginge es ums Hauen und Stechen. Dabei fehlt das Lächeln der Weisen und die Freude daran, gemeinsam ein neues Denken zu entwickeln, um damit sehr viel mehr zu verstehen als jemals zuvor.

     

     

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    WS 2020 | freitags | 12:00-13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2020

    Anmeldung beim House of Competence

    Zum Kommentar als PDF

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt.

    Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Philosophischen Café kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es um nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt vielmehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen tatsächlichen Fortschritt im Verstehen erreichen.

    Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wieder zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wir müssen selbst entscheiden, wann wir etwas auf sich beruhen lassen, für welche Themen wir offen sind, und wofür wir uns wirklich brennend interessieren. Die Zunahme an Informationen ist dabei von erheblicher Bedeutung, denn sie führt gegenwärtig ganz offenbar zu Überforderungen. Alles könnte man wissen, aber jedes Wissen ist eigentlich unsicherer denn je.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Wir alle spielen Theater

    Wir alle spielen Theater

    WS 2020 | donnerstags | 12:00–13:30 | Raum: Online
    Beginn: 5. Nov. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

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    Matthieu Bourel: Selfconfidence, Autonomy. — Quelle: https://highlike.org.

    Die Metapher vom Theater ist neben der von der Schifffahrt von paradigmatischer Bedeutung. Im Mittelalter sah man die Welt als Bühne, mit nur einem einzigen Zuschauer, Gott. — Das ist nur eine von vielen Stationen in der Psychogenese, die sich so beschreiben läßt, daß wir im Verlaufe der Zeit vieles ›verinnerlichen‹.

    Ganz allmählich ist der innere Kosmos unserer Psyche immer umfangreicher geworden. Das wiederum führte dazu, daß wir auch in der Rollenübernahme inzwischen anders vorgehen. — Rollen werden immer weniger ›gespielt‹, sondern von innen her ›entwickelt‹. Wir suchen und finden in der eigenen Psyche den persönlichen Zugang zu einer Figur, deren Rolle übernommen werden soll.

    In diesem Sinne ist die Schauspieltheorie auch psychologisch von großer Bedeutung, gerade auch in Hinsicht auf Identitätsphilosophie. Die Vielfalt in der eigenen Psyche wird nicht nur immer komplexer, sondern auch widersprüchlicher. Dabei zeigt sich eine interessante Entwicklung, die das Thema dieses Seminars sein soll, die Möglichkeit, mit ›multiplen Identitäten‹ umgehen zu können. So hat der Schauspiellehrer Konstantin Sergejewitsch Stanislawski einen neuen Ansatz entwickelt, wie die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und im schöpferischen Prozeß des Erlebens einer Figur, des Verkörperns und der Arbeit an der Rolle sehr viel intensiver gestaltet werden kann. — Eine Rolle nur zu spielen, das genügt keineswegs, das wäre schlechtes Theater. Es kommt darauf an, die Figur, die Rolle, die Welt einer Handlung in sich zu suchen, zu finden und sich dann hineinzufühlen. 

    Auch der US–Amerikanische Schauspiellehrer Lee Strasberg entwickelte mit dem Method Acting einen neuen, tieferen Zugang zur Schauspielkunst, um die Natürlichkeit und die Intensität der schauspielerischen Darstellung zu steigern. Mit Hilfe eines von ihm entwickelten Instrumentariums sollten Schauspieler die Rolle in sich selbst finden, herauszubringen, um dann damit zu verschmelzen.

    Jean–Léon Gérôme: The Duel After the Masquerade (1857f.). Es ist ein Clown,
    ein Pirot, der nach der Vorstellung duelliert und tödlich getroffen niedersinkt.
    — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Aber nicht nur für Schauspiel und Schauspielkunst ist das alles von Interesse. Auch im Zuge der Psychogenese und vor dem Hintergrund, daß wir alle immer mehr Theater spielen und immer weiter ausdifferenzierte Rollen übernehmen, wird die Frage der Einfühlung von immer größerer Bedeutung. Wir leben in unruhigen Zeiten, was auch damit zusammenhängt, daß die Psychogenese wieder einen Schritt weiter vorangeschritten ist. Das ist der aktuelle Stand in dieser Entwicklung, daß wir nicht mehr Rollen übernehmen, sondern verschiedene Identitäten, um diese zunächst aus uns selbst heraus zu entwickeln. — Damit kommt eine weitere, sehr große Herausforderung in die Welt, es gilt, nicht mehr nur ›authentisch‹ zu sein, sondern eben auch ›vielfältig‹ in der Variation der Identitäten, die einander widersprechen können. Das ist offenbar eine ganz neue Errungenschaft, die allerdings mit erheblichen Irritationen einhergeht.

    Der Mensch in der Moderne ist ein Träger vieler Masken. Das ist eigentlich eine ganz entscheidende, höchst aktuelle Errungenschaft, die Fähigkeit, multiple Identitäten verkörpern zu können, die sogar miteinander im Widerstreit stehen können. Aber die Souveränität, dann auch tatsächlich darüber zu verfügen, hält sich derzeit noch in Grenzen. Um die neuen Kompetenzen an den Tag zu legen, fehlt noch immer der Mut, die Legitimität des eigenen Individualismus, der die eigene Autonomie erst selbst ernst nehmen müßte. Nur wenigen gelingt es bereits. Allüberall schämt man sich dessen, spricht von Wahrheit, Empathie, Authentizität, Aufmerksamkeit und vom wahren Selbst, als ob es das wirklich gäbe.

    Das unumgängliche Maskenspiel sollten wir tatsächlich ganz bewußt betreiben. Stattdessen wird jedoch immer so getan, als sei alles echt, als wüßte man zwischen Echtheit und Unechtheit sehr wohl zu unterscheiden. Dabei ist in der Tat vieles Theater oder manches nur ›Show‹, aber mitunter erscheint es so, als käme es ohnehin nur noch darauf an, daß die Show stimmt. — Diskurse wie die über ›Empathie‹, ›Aufmerksamkeit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ liegen daher als kritische Reaktionen geradezu auf der Hand. Aber auch das sind selbst wieder nur Rollen, eben solche, die Authentizität darstellen sollen, um aber genau darin wiederum Rollenspiel zu betreiben.

    Allerdings spielen wir alle Theater, nehmen Rollen wahr, verkörpern sie, gehen aber nicht restlos darin auf. Vorzeiten identifizierten sich Menschen noch mit ihrem ›Stand‹, mit ihrem vermeintlichen gesellschaftlichen ›Sein‹, und der Ausdruck individueller Freiheiten war als ›Spleen‹ nur wenigen vorbehalten, ganz exklusiv am liebsten den exzentrischen Attitüden alten Adels. 

    Die Universalisierung der Rollenübernahme ist dafür verantwortlich, daß inzwischen fast nur noch inszeniert wird. Wo zuvor eine geradezu sklavische Rollenbesetzung stattgefunden hat, herrscht nun der unbedingte Wille zur Meinung vor. Das Publikum inszeniert sich inzwischen selbst, so wie es Politik und Medien seit Jahrzehnten vorexerzieren. Daher wird die Konstellation immer unübersichtlicher, es gibt eigentlich kein Publikum mehr, nur noch Akteure. — Insbesondere das Subjektivieren, das Emotionalisieren und das Skandalisieren konkurrierender Auffassungen, einfach nur, weil sie nicht dem eigenen Standpunkt zuzuordnen sind, hat sich inzwischen flächendeckend ausgebreitet.

    Neuzeitliche Theatermaske für den Darsteller des Mephisto. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Manche der Instanzen unserer Psyche lassen sich wie politische Institutionen betrachten, zu denen nunmehr eine neue hinzukommen wird, einfach weil sie hinzukommen muß: Das multiple Selbst ist eine große Herausforderung, weil es nun darum geht, zwischen allen erdenklichen Perspektiven zu moderieren und zwar in dem Bewußtsein, daß keine dieser Hinsichten den Anspruch hegen darf, allein gültig zu sein. Es gilt, das eine zu tun ohne das andere zu lassen. — Allerdings kann es ein großes nicht nur rein intellektuelles Vergnügen bereiten, Gefühle einerseits authentisch zu erfahren, um zugleich ketzerisch das eigene Empfinden ironisch zu spiegeln.

    Zu jeder modernen Psyche gehört es eben, nicht nur die vormals externen Instanzen der Ordnung, der Disziplin und der Bestrafung als Selbstdisziplinierung in sich hineingenommen zu haben. Es gehört ebenso mit dazu, daß wir zugleich eine ganze Ketzerversammlung mit uns herumführen, die nur auf eine Gelegenheit wartet, alles, was heilig sein soll, vom Sockel zu stoßen. — Es kommt eben darauf an, selbstbewußt genug zu sein, alle diese inneren Widersprüche nicht zu kaschieren, sondern im Gegenteil, sie als Perspektiven zu würdigen, jede, wie es ihr zukommt.

    Also: Wird eine Situation als ›romantisch‹ empfunden, weil sie bestimmten Bildern, Vorstellungen und einschlägigen Narrativen entspricht? — Solche Fragen haben das Format von Glaubenskonflikten, wie sie Priester seit je hatten, wenn sie vor ihrer Gemeinde auftreten mußten, aber nicht offenbar werden lassen durften, daß sie vielleicht selbst sich ihres Glaubens gar nicht mehr so sicher waren. Lange Zeit wurde erwartet, daß sie nicht durchblicken lassen, wie es um den eigenen Glauben steht, weil sie doch die ihnen anvertrauten Schafe in einen panischen Schrecken versetzen könnten.

    Hawen King: Promotional masks
    for the DVD release of „V for Ven-
    detta“ at HMV in Tokyo. To get a
    mask you had to buy the DVD. 8.
    Sept. 2006, V for Vendetta. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Autonomie ist der Anspruch und die Fähigkeit, sich selbst ein eigenes Bild von der Welt und den Sachen zu machen, selbst wenn sie uns zutiefst berühren und vielleicht auch ängstigen. Dabei ist es möglich, zugleich mitten drin zu sein und dennoch sich selbst und das ganze Treiben von außen zu betrachten. Tatsächlich ist erst das wahres Glück, sich inmitten erfüllender Erlebnisses zu finden, die vielleicht tatsächlich mustergültig sind, so wie es die Narrative vorsehen. — Glück bedeutet, sich selbst in solchen Situationen als authentisch zu erfahren und zugleich selbstironisch den Überschwang der eigenen Gefühle zu spiegeln. Das erst wäre tatsächlich ein Ausdruck von Autonomie, Souveränität und Selbstbewußtsein. Entscheidend wäre nur, ob die Erlebnisse tatsächlich von Bedeutung sind, oder ob es nur rein äußerlich um Inszenierung, nur um das ›Als–Ob‹ geht.

    Es gilt, ein multiples Selbst und Multiperspektivität zu entwickeln. Denn wenn wir den bisherigen Verlauf der Psychogenese in die Zukunft verlängern, dann werden weitere Internalisierungen folgen. Das werden vor allem auch solche sein, die Probleme bereiten, weil sie immer mehr miteinander im Hader liegen wie Priester und Ketzer, wie Schamanen und Wissenschaftler, wie Natur– und Kulturwissenschaften. — Es wird ganz gewiß nicht einfacher, sondern komplizierter, wenn nunmehr weitere widersprüchliche Figuren und Narrative hinzukommen, so, wie wir inzwischen fast den ganzen Götterhimmel in uns haben als Teil unserer Psyche.

    Nicht nur die soziale Außenwelt, sondern auch die psychischen Innenwelten differenzieren sich im Verlauf der Kulturgeschichte immer weiter aus. Wenn die Welt, weniger die natürliche Umwelt, als vielmehr die soziokulturelle zweite Natur, immer komplexer wird, dann steigen die Anforderungen, wirklich noch zu verstehen, was eigentlich gespielt wird. — Es sollte daher möglich sein, die inhärente Dialektik verschiedener Perspektiven mit allen einschlägigen Differenzen ganz bewußt in Dienst zu nehmen, um sodann selbst denken und sich an die Stelle eines jeden anderen versetzen zu können, um schließlich im Bewußtsein aller dieser unterschiedlichen Stimmen aufzutreten.

    Seltsamerweise erscheinen gerade die griechischen Götter oft wie Darsteller ihrer selbst. Wenn sie ihre Masken wie ein Visier hochgeklappt haben, dann wirken sie wie Schauspieler während der Drehpause in einem der vielen Stücke, in denen sie sich selbst verkörpern. — Die Götter der Antike sind wie die Stars unserer Tage, die Sterne von damals sind die Sternchen von heute.

    Alle ihre Fähigkeiten, mit denen sie sich im Verlaufe der Zeit angereichert haben, lassen sich oft noch an den vielen Beinamen erkennen. Das sind Aspekte vereinnahmter Häuptlingstümer, es sind die internalisierten Geister der Clans, die längst aufgegangen sind im größeren Ganzen dieser Göttergestalten. — Götter verfügen über multiple Identitäten, daher fällt es ihnen so leicht, in fremder Gestalt aufzutreten, um sich doch selbst treu zu bleiben.

    Die Götter beherrschen das Spiel mit den Masken. Besonders Zeus wechselt ein ums andere Mal für Liebesabenteuer äußerst spektakulär die eigene Gestalt: Er nähert sich seiner späteren Gattin Hera als durchnäßter, zitternder Kuckuck, als Stier der Europa, als Schwan der Leda, als goldener Regen der Danaë und um den Herakles zu zeugen, verwandelt er sich in Amphitryon, den Gatten der Alkmene. — Ganz offenbar besteht für ihn nicht der geringste Anlaß zur Sorge, daß die fremde Gestalt auch vollkommen fremde Erfahrungen beim Liebesspiel mit sich bringen könnte.

    Götter wie Zeus beherrschen einfach dieses bedeutende Kunststück, sich auch in fremder Gestalt noch immer selbst treu zu bleiben. — Und das nunmehr im Zuge der Psychogenese anstehende multiple Selbst wird seinerseits über diese entscheidende göttliche Fähigkeit verfügen, sich anverwandeln zu können. Das ist eigentlich der höchsten Götter Kunst, die Gestalt wechseln zu können. Die Einwände dagegen, da sei keine Wahrhaftigkeit, sondern nur Inszenierung aber keine Authentizität, sondern Vorspiegelung im Spiele, können nicht verfangen, weil unterstellt wird, was gar nicht der Fall kann: Wir haben nicht die eine einzig wahre Natur, das innere, einzig verbindliche Selbst oder irgendeine ein für alle Mal fixierte Identität in uns, die ehrlichkeitshalber nur zum Ausdruck gebracht werden muß, während alles andere nur Lug und Trug sein würde.

    Die Frage nach der Wahrhaftigkeit eines Gottes, der eine Metamorphose vollzogen hat, ist unangebracht, sowohl einem Schamanen wie auch einem Schauspieler gegenüber. Es ist irrelevant, ob der Clown hinter seiner Maske weint und daß im Schamanenkostüm oder in der Rolle noch immer derselbe Mensch steckt, es kommt darauf an, was sich darauf ereignet. — Auf die äußerlichen Fakten kommt es nicht an, entscheidend ist vielmehr das innere Erleben: Selbstverständlich ist der Darsteller, was er vorgibt zu sein, ebenso wie auch der Schamane den gerufenen Geist möglichst authentisch verkörpert.

    Paul Klee: Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen
    sich (1903). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Wir alle spielen Theater, was keineswegs bedeutet, daß es uns nicht mit der jeweiligen Rolle ernst wäre. Maskenspiel ist eine ausgezeichnete Metapher für das, was sich da eigentlich ereignet, es ist der Bruch mit der naiven Erwartung, daß wir immer dieselben sind und es auch bleiben. — Wer eine Maske aufsetzt, übernimmt eine Rolle, wird somit zu jemand anderem, wechselt also die Identität.

    Im Zentrum dieser Erörterungen stehen die Handlungsursachen, die Motive und die Orientierung in Entscheidungssituationen. Dabei waren die Menschen der vorklassischen Zeit, so diese Theorie, offenbar noch gänzlich außengeleitet. Erst allmählich beginnt dann die Internalisierung, so daß wir inzwischen fast stets innengeleitete Handlungsmotive unterstellen dürfen.

    Auf irgendeine Weise müssen also die vormaligen Geister, Götter und Autoritäten oder vielleicht auch Anti–Autoritäten, allmählich ins Innere, in die Innenwelt unserer Psyche gelangt sein. — Denn: Wir tragen die Götter in uns. Sie wurden internalisiert, und die Internalisierung der ehedem externen Stimmen gelingt ganz offenbar in einem Prozeß, der an Schizophrenie denken läßt.

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    Pandora: Das schöne Übel

    Über die dunklen Seiten der Vernunft

    Wenn mit der Zivilisation die ersten Städte aufkommen, dann verkörpert Pandora den Typus der mondänen Städterin. Sie steht allegorisch für die zunehmende Vielfalt in den Geschlechterrollen. Dabei zeigt sich eine neue Dialektik, die von der Heiligen und der Hure. — Pandora ist eine ebenso begnadete wie exaltierte Diva, ein seltsames Mischwesen, Göttin, Androidin und Mensch zugleich, auch ist sie der Prototyp der ›weiblichen Frauen‹.

    Heinz–Ulrich Nennen: Pandora: Das schöne Übel. Über die dunklen Seiten der Vernunft. (ZeitGeister 3); Hamburg 2019. Titelbild: Dante Gabriel Rossetti: Helen of Troy (1863). Hamburger Kunsthalle. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Im Hintergrund brennt Troja, siehe hierzu S. 59f.

    Zu allen Zeiten glaubte man ohne viel Federlesens zu verstehen, wer sie ist, was mit ihr los sei. Entsprechend schnell sind ihre Interpreten mit Charakterstudien fertig, die doch nur unzulänglich sind: Ein durch und durch verruchtes Weib, eine Strafe der Götter soll sie sein, mit der alle Übel in die Welt gekommen sind… — So einfach kann man es sich machen, ganz so einfach ist es aber nicht. Es sind mit ihr nämlich auch alle göttlichen Gaben vom Himmel auf die Erde gebracht worden.

    Die Entsendung der Pandora ist Teil einer zutiefst beeindruckenden Götterdämmerung. Was der Mythos den Göttern da unterstellt, könnte als Geste kaum generöser sein. Bevor sie abdanken, übergeben sie zuvor noch alle ihre vormaligen Zuständigkeiten — ganz. So erscheint die Sendung der Pandora in anderem Licht, als hätten die Götter damit sagen wollen: Dann macht doch alles selbst, wenn ihr ernsthaft glaubt, es besser zu können als wir!

    Pandora ist zweifelsohne die Figur mit dem allergrößten Deutungspotential, denn sie steht als Allegorie für die  Selbstermächtigung des Menschen, für Willensfreiheit und dabei vor allem für jenen fragilen Individualismus, der erst sehr viel später mit der Moderne vollends zum Ausdruck kommen wird. Sie ist unvergleichlich in jeder Hinsicht, als Künstlerin, als Intellektuelle, als Frau, Femme fatale, als Muse und Freundin, aber auch ›nur‹ als Mensch.

    Als schönes Übel verkörpert Pandora gediegenen Luxus. Wie auch anders? Sie ist in allen ihren Attributen göttlicher Natur! Aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Attraktivität, ihrer Bedeutung und nicht zuletzt aufgrund ihrer Talente ist sie nicht von dieser Welt. Aber sie wird nicht aufgrund ihrer göttlichen Attribute geschätzt, sondern nur wegen der mitgebrachten Güter.

    Für die Übel wird sie nur zu gern verantwortlich gemacht. Ansonsten entspricht alles dem neuen Frauenbild, daß sich erfolgreiche Jäger nur zu sehr gern mit ihr schmücken. Ihre verborgenen Kapazitäten werden nicht gesehen. Eigentlich ist sie nur eine Trophäe wie die Helena, nichts weiter als ein Zeichen des Erfolgs. — Wer die Schönste aller Frauen in seinen Besitz bringen konnte, war damit auch der Mächtigste unter denen, die seinerzeit dieses Projekt in Gang gesetzt hatten, das sich seither immer weiter selbst perpetuiert.

     

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    Philosophischer Salon

    Philosophischer Salon

    Literaturhaus im Prinz-Max-Palais

    WS 2019 | donnerstags | 18:00-20:00 Uhr

    Wassily Kandinsky: Thirty (1937). Musée national d’art moderne, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Kultur ist ein Mittel, nicht einfach nur verrückt zu werden, angesichts der überfordernden Komplexität einer Welt, der wir als Individuen und auch als Gattung ziemlich gleichgültig sind. — Es gilt, darüber hinaus zu gehen und Ordnung zu schaffen, also Bedeutungen. Kultur bietet Orientierung und Schutz, sie gewährt Erwartungssicherheit, basale Gefühle und die Erfahrung, getragen sein von wieder erkennbaren Strukturen, die verläßlich sind.

    Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich daran das eigene Orientierungsvermögen selbst wieder orientieren läßt. Daher ist Orientierungsorientierung von so große Bedeutung, denn Sinn verschafft Sicherheit im Geiste, und das in einer Welt, die übermächtig und eigentlich auch unbeherrschbar erscheint.

    Aber die Welt läßt sich in Geschichten verstricken, so daß wir uns wie an einem Ariadnefaden im Labyrinth einer immer unübersichtlicher werdenden Welt orientieren können, obwohl wir sie als ganze gar nicht überschauen.

    Literaturhaus | Karlsruhe | Prinz-Max-Palais | Karlstraße 10 | Foto: Bernhard Schmitt

    Menschen sind Orientierungswaisen. Jedes Tier ist vollkommen integriert in den angestammten Lebensraum. — Man möchte annehmen, daß ›die‹ Natur mit dem Menschen das Spiel eröffnet hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaffen, das sich selbst orientieren kann. Inzwischen ist die Welt fast vollständig umgebaut worden. Schon bald werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben.

    Der Anspruch, sich in diesen künstlichen Welten zu orientieren, steigt ständig. Zur  Orientierung braucht es inzwischen Orientierungsorientierung. Dabei soll gerade auch die Individualität zum Zuge kommen. — Die Zeiten sind vorbei, in denen traditionelle Rollen mustergültig gelebt werden mußten, vor allem Geschlechteridentitäten, die keinen Ausbruch, keine Abweichung, keine Sperenzien duldeten. Immer weniger ›Sinn‹ ist vorgegeben, was eben bedeutet, sich selbst zu orientieren.

    Seit alters her werden einschlägige Antworten auf letzte Fragen immer wieder neu von den Mythen gegeben, die das Kunststück beherrschen, Weltvertrauen und Zuversicht zu schaffen. Wie das geschieht, das soll mit immer wieder neuen Einsichten im Philosophischen Salon zur Erfahrung gebracht werden. — Menschen sind kosmische Waisen, ausgesetzt in dem Bewußtsein, sich selbst bedenken zu müssen.

     

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    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    WS 2019 | freitags | 11:30-13:00 Uhr | Raum: 30.91-110 (OG)

    Beginn: 23. Okt. 2019 | Ende: 7. Febr. 2020

     

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie

    der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswech sel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

     

    [gview file=”https://nennen-online.de/wp-content/uploads/Nennen-Philosophische_Ambulanz-WS19.pdf” save=”1″]

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.