• Anthropologie,  Diskurs,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Ist die Aufklärung gescheitert?

    Es läßt sich stets konstatieren, alles sei gescheitert.

    Aber wer sind wir, wenn wir glaub­ten, das fest­stel­len zu kön­nen und dann auch noch ein für alle Male und für immer? Wie abso­lut soll so ein Befund gel­ten, unge­fähr solan­ge wie der Zorn ober­ster Göt­ter, wenn sie Sint­flu­ten schicken und danach ihren kind­li­chen Jäh­zorn able­gen? Ja, auch Göt­ter haben ihre Entwicklungsphasen.

    Wil­liam Tur­ner: Der Brand des Par­la­ments­ge­bäu­des in Lon­don 1835.
    Mit der Auf­klä­rung ver­hält es sich wie mit dem auf­rech­ten Gang. Es berei­tet Rücken­schmer­zen, erschwert die Geburt, weil das Becken zu eng wird.  Aber, es wer­den die Hän­de frei als uni­ver­sel­le Werk­zeu­ge. Seit­her kön­nen wir Sachen be–greifen.

    Aber die Spra­che ist das Werk­zeug aller Werk­zeu­ge. Es kommt also dar­auf an, die rich­ti­gen Wor­te zu kre­ieren. Es gibt vie­les in der Welt, von denen wir die Wor­te nicht ein­mal ahnen. 

    Solan­ge aber etwas nicht gesagt und auch noch nicht von min­de­stens einem Men­schen ver­stan­den wor­den ist, hat der Geist der Mensch­heit noch erheb­li­che Lücke genau dort, wo die­ses Phä­no­men eigent­lich hin­ge­hört, wenn man es „ein­ord­nen“ könnte.

    Auf­klä­rung ist wie Lau­fen, was bedeu­tet, es wird stän­dig die Balan­ce auf­ge­ge­ben. Man desta­bi­li­siert die Stel­lung, neigt sich, stürzt nach vorn und fängt sich dann durch den näch­sten Schritt wie­der auf.  Nicht anders ver­hält es sich mit der Psy­cho­ge­ne­se. Wir sind wie die Kin­der uns selbst immer einen Schritt vor­aus, einen Schritt mehr, als wir beherr­schen, ver­ant­wor­ten, ver­ste­hen können.
    So ähn­lich voll­zieht sich die gan­ze Mensch­heits­ent­wick­lung und die Suche nach der Ant­wort auf die Fra­ge, was denn die gan­ze Anthro­po­ge­ne­se eigent­lich soll. – Aber Phi­lo­so­phen arbei­ten nicht gern mit Hypo­the­sen wie die vom intel­li­gen­ten Desi­gner, also rufen sie die Anthro­po­lo­gie zum Zwecke der uni­ver­sel­len Beratung.
    Die anspruchs­voll­ste Hypo­the­se dabei, Ent­wick­lung zu den­ken, ist die Annah­me, alles hät­te sich all­mäh­lich ent­wickelt ohne intel­li­gen­ten Desi­gner oder sonst­was. Eine der größ­ten intel­lek­tu­el­len Her­aus­for­de­run­gen liegt tat­säch­lich im Nihi­lis­mus. Dazu müß­te man sich dann aber auch der Her­aus­for­de­rung stel­len, ein­fach zuzu­ge­ben, daß der „Sinn des Gan­zen“ immer nur von uns selbst kom­men kann.
    Wir müs­sen ihn uns also selbst geben und wir sind dann auch völ­lig frei, uns jeden belie­bi­gen Sinn zu geben. Und das „Ziel“, also die­ser „gehei­me Plan“, den die Natur – nur hypo­the­ti­sche – mit dem Mensch­heits­pro­jekt ver­folgt, liegt dar­in, daß die Natur sich selbst in den Blick neh­men möchte. 
    Aber dazu muß sich das Wesen, das die­se Auf­ga­be lei­sten soll, erst selbst in den Blick bekom­men. Und da gibt es noch sehr viel mensch­li­ches Poten­ti­al zu ent­fal­ten, im Guten wie im Bösen, im Ver­nünf­ti­gen wie auch in der Dummheit.
    Und jeder neue Schritt im Zuge der Auf­klä­rung bringt nicht nur neue Ver­un­si­che­run­gen mit sich, son­dern zunächst immer erst ein­mal einen neu­en Aber­glau­ben. In sol­chen Zei­ten leben ganz offen­bar alle stets dane­ben. Und nur der Phä­no­me­no­lo­ge bleibt in Sicht­wei­te und auf Abstand zum Schiff­bruch, der ja nun den obli­ga­to­ri­schen Zuschau­er braucht.
    Eine Maxi­me lau­tet: Wer heilt, hat Recht! – Die­ser Tage möch­te man fast glau­ben, es gel­te eine neue Maxi­me: Wer Angst kom­mu­ni­ziert, hat Recht.
    Davor, genau davor hat der hei­li­ge Niklas (Luh­mann) immer gewarnt, vor „Ent­dif­fe­ren­zie­rung“.
    Der Spruch „Wer­det wie die Kin­der“, ist schließ­lich auch kei­ne Auf­for­de­rung zur hei­li­gen Ein­falt.  Gemeint ist tat­säch­lich eine unvor­ein­ge­nom­me­ne Offen­heit, wie sie fast nur Kin­der zustan­de brin­gen, mit Aus­nah­me von Phä­no­me­no­lo­gen ver­steht sich.
  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Technikethik

    Kol­lo­qui­um 

    Tech­nik­ethik

    Tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen kon­tro­vers reflektieren

    SS 2021 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
    Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

    Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

    Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

    Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
    erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

    Nein, wir müs­sen es nicht.
    Aber?
    Aber wir wer­den es machen.
    Und wes­halb?
    Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
    ob wir es wirk­lich können.

    (Hans Blu­men­berg)

    Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

    Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

    For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

    Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

    Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

    Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

    Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
    dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Pro­me­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

    Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

    Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

    Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

    In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

    Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

    Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

    Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

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  • Anthropologie,  Corona-Diskurs,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Technikethik,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    SS 2021 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

    Und sie lau­fen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
    Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewe­sen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
    Erst her­vor der alte Meister.

    (Goe­the: Der Zauberlehrling)

    In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

    Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

    Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

    Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

    Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

    Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Corona-Diskurs als Katharsis

    Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2021. Titel­bild: Wolf­gang Gan­ter: Bac­te­ria­li­ty, Work in Pro­gress. Mit freundl. Genehm. durch Wolf­gang Gan­ter, Ber­lin. (Alle Rech­te vorbehalten!)

    Erscheint im Herbst 2021

    Seit Urzei­ten waren Men­schen fast immer auf Wan­der­schaft. Aber vor 12.000 Jah­ren kam die Seß­haf­tig­keit auf, also Städ­te, Krie­ge, Reich­tum, Armut, Hoch­kul­tur, Luxus, Elend und Epidemien.

    Inner­halb weni­ger Mona­te hat sich ein Virus welt­weit aus­brei­ten kön­nen. Fast über­all wur­de der Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen mit tie­fen Ein­grif­fen in Grund­rech­te. Der Shut–Down schien vie­len als ein­zig mög­li­che Kon­se­quenz, ein Dis­kurs fand gar nicht erst statt.

    Eine Rie­ge aus­er­wähl­ter Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen insi­nu­ier­te die Richt­li­ni­en der Poli­tik und die­se betä­tig­te dar­auf den Not–Aus–Schalter. Gan­ze Län­der sind seit­her in Ago­nie, mit immensen Fol­gen für die Exi­stenz, die Kul­tur und nicht zuletzt für die Psyche.

    Die­ses Buch wur­de Mit­te März 2020 in der Absicht begon­nen, dem Zeit­geist eine Nasen­län­ge vor­aus zu sein, anfangs noch in der Erwar­tung, die Corona–Krise sei zwar eine lehr­rei­che Epi­so­de, aber bald schon wie­der vor­über. Es galt, die Ent­wick­lung im gro­ßen Gan­zen zu ver­ste­hen, was war und sein wür­de, wel­che Ver­lu­ste zu bekla­gen, wel­che sozia­len, per­sön­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und see­li­schen Kata­stro­phen zu bewäl­ti­gen sind. Dazu zäh­len neue Äng­ste, die blei­ben, Trau­ma­ta, die akut wur­den und sol­che, die neu geschaf­fen wor­den sind. — Wie wer­den wir mit den vie­len per­sön­li­chen Schick­sa­len umge­hen in der Welt, die nach Coro­na kommt?

    85% eines Eis­bergs lie­gen unter Was­ser, so ver­hält es sich hier auch. Unse­re Dis­kur­se sind ober­fläch­lich, bei wei­tem nicht umfas­send und sie gehen nicht in die Tie­fe. Wir haben nur den sicht­ba­ren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, wor­auf zu ach­ten wäre. Nicht min­der ent­schei­dend sind alle erdenk­li­chen wei­te­ren Fol­gen, kul­tu­rel­le, exi­sten­ti­el­le und vor allem auch die psy­chi­schen und sozia­len Neben­wir­kung sämt­li­cher Maßnahmen.

    Man bekommt das Gan­ze gar nicht erst in den Blick. Die herr­schen­de Stra­te­gie wird wie üblich als alter­na­tiv­los hin­ge­stellt. Weil vie­le Äng­ste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schick­sals­er­ge­ben­heit hin­ge­nom­men, die gar nicht ange­bracht ist. — Auch wird immer wie­der kon­sta­tiert, man dür­fe Men­schen­le­ben nicht auf­rech­nen, aber genau das geschieht die gan­ze Zeit. Es wer­den andau­ernd heik­le Ent­schei­dun­gen in Ziel– und Wert­kon­flik­ten gefällt aber nicht offengelegt.

    Es fehlt das Gespür für die ange­mes­se­ne Art, ergeb­nis­of­fe­ne Debat­ten zu füh­ren. Unse­re Gesprächs­kul­tur hat sich im Zuge der Kri­se wei­ter ver­schlech­tert. Mehr denn je wird Gesin­nungs­kon­trol­le betrie­ben, Ver­un­glimp­fun­gen sind fast schon salon­fä­hig gewor­den. Vie­le sind ein­ge­schüch­tert und wagen gar nicht mehr, sich über­haupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phan­ta­sie und Diver­si­tät in den Debat­ten, weil stän­dig mit Exkom­mu­ni­ka­ti­on bedroht wird, wer auch nur Anstal­ten macht, in Alter­na­ti­ven zu den­ken. — Man kann aller­dings die Maß­nah­men kri­tisch sehen, ohne Coro­na zu leug­nen. Die Kurz­for­mel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidio­ten, Aluhut–Trägern und die Dif­fa­mie­rung jed­we­der Kri­tik ist zutiefst unde­mo­kra­tisch. Das alles sind kei­ne Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, ganz im Gegenteil.

    Die mona­te­lan­ge Eng­füh­rung der Debat­ten ist ver­hee­rend, so kann gar kei­ne Ver­nunft in den Dis­kur­sen auf­kom­men. Nur bestimm­te Per­spek­ti­ven sind über­haupt zuge­las­sen. Wer ande­res anspricht, läuft Gefahr, exkom­mu­ni­ziert zu wer­den. Es ist ein Kli­ma der Ein­schüch­te­rung ent­stan­den, dabei käme es dar­auf an, alle erdenk­li­chen Alter­na­ti­ven offen und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. — Das gilt ins­be­son­de­re für Restau­rants und Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die längst bewie­sen haben, daß sie es kön­nen. Man läßt sie nicht, warum?

    ›Sor­ge‹ ist oft gar nicht so selbst­los, wie sie sich gibt. Sie spie­gelt sich gern selbst und glaubt, unver­zicht­bar zu sein. Dabei steht sie der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung nur im Wege. Die Poli­tik möch­te ganz offen­bar nichts von der neu hin­zu­ge­won­ne­nen Macht wie­der abge­ben. Dage­gen spricht neben der Gewal­ten­tei­lung ein wei­te­res Prin­zip, die Gewalt staat­li­cher Macht ein­zu­schrän­ken, die Sub­si­dia­ri­tät. — Dem­nach wird ein Pro­blem gene­rell zunächst auf der unter­sten Ebe­ne gelöst, also indi­vi­du­ell, fami­li­är oder in der Gemein­de. Erst dann, wenn die­se Mög­lich­kei­ten erschöpft sind, sol­len, dür­fen und müs­sen staat­li­che Insti­tu­tio­nen eingreifen.

    Für vie­le gibt es aus­schließ­lich die Kate­go­rien Rich­tig und Falsch. Was bedeu­tet die­se Pola­ri­sie­rung für das Funk­tio­nie­ren der Gesell­schaft? Das Behar­ren auf die­se Unter­schei­dung ent­spricht einer bestimm­ten Ent­wick­lungs­stu­fe bei Kin­dern. Das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ist dann noch nicht so weit ent­wickelt. Tat­säch­lich ist aber erst dann die Über­nah­me per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung mög­lich. Je weni­ger Regeln vor­ge­ge­ben sind, son­dern nur noch Prin­zi­pi­en, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils ange­mes­sen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

    Die schwar­ze Päd­ago­gik setz­te da noch ganz auf Stra­fen, was nur dazu führt, die Intel­li­genz her­aus­zu­for­dern. Dann wer­den Regeln nicht aus eige­nen Moti­va­ti­on ein­ge­hal­ten, son­dern nur, weil man nicht erwischt wer­den möch­te. So wird genau der­je­ni­ge Unter­ta­nen­geist erzeugt, den wir eigent­lich hat­ten über­win­den wol­len. Schwar­ze Päd­ago­gik, die mit Zwang und Stra­fe ope­riert, ist seit Jahr­zehn­ten pas­sé. Aber in Poli­tik und Staat sind die alten Zöp­fe aus dem Kai­ser­reich offen­bar noch immer nicht abge­schnit­ten. — Selbst­ver­ant­wor­tung ist eine Fra­ge der Kul­tur, sie muß ein­ge­übt und dann aus­ge­übt wer­den, weil man ganz gewiß immer mal an Gren­zen stößt, über die die Ent­wick­lung hin­aus­füh­ren muß.

    Viel hal­ten es aber nerv­lich nicht aus, sich selbst zu ori­en­tie­ren und das Den­ken in der Schwe­be zu hal­ten. Man­che sehen sogar eine Schwä­che dar­in, wenn nicht sofort ent­schie­den und gehan­delt wird, egal wie. Aber die, die das eili­ge Han­deln ver­spre­chen, ver­fol­gen oft ganz ande­re Inter­es­sen. — Noch immer herrscht die Vor­stel­lung vor, beim Dis­ku­tie­ren gin­ge es ums Hau­en und Ste­chen. Dabei fehlt das Lächeln der Wei­sen und die Freu­de dar­an, gemein­sam ein neu­es Den­ken zu ent­wickeln, um damit sehr viel mehr zu ver­ste­hen als jemals zuvor.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    WS 2020 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2020

    Anmeldung beim House of Competence

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    Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

    Und sie lau­fen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
    Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewe­sen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
    Erst her­vor der alte Meister.

    (Goe­the: Der Zauberlehrling)

    In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

    Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

    Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

    Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

    Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

    Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Wir alle spielen Theater

    Wir alle spielen Theater

    WS 2020 | donnerstags | 12:00–13:30 | Raum: Online
    Beginn: 5. Nov. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

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    Mat­thieu Bou­rel: Self­con­fi­dence, Auto­no­my. — Quel­le: https://​high​li​ke​.org.

    Die Meta­pher vom Thea­ter ist neben der von der Schiff­fahrt von para­dig­ma­ti­scher Bedeu­tung. Im Mit­tel­al­ter sah man die Welt als Büh­ne, mit nur einem ein­zi­gen Zuschau­er, Gott. — Das ist nur eine von vie­len Sta­tio­nen in der Psy­cho­ge­ne­se, die sich so beschrei­ben läßt, daß wir im Ver­lau­fe der Zeit vie­les ›ver­in­ner­li­chen‹.

    Ganz all­mäh­lich ist der inne­re Kos­mos unse­rer Psy­che immer umfang­rei­cher gewor­den. Das wie­der­um führ­te dazu, daß wir auch in der Rol­len­über­nah­me inzwi­schen anders vor­ge­hen. — Rol­len wer­den immer weni­ger ›gespielt‹, son­dern von innen her ›ent­wickelt‹. Wir suchen und fin­den in der eige­nen Psy­che den per­sön­li­chen Zugang zu einer Figur, deren Rol­le über­nom­men wer­den soll.

    In die­sem Sin­ne ist die Schau­spiel­theo­rie auch psy­cho­lo­gisch von gro­ßer Bedeu­tung, gera­de auch in Hin­sicht auf Iden­ti­täts­phi­lo­so­phie. Die Viel­falt in der eige­nen Psy­che wird nicht nur immer kom­ple­xer, son­dern auch wider­sprüch­li­cher. Dabei zeigt sich eine inter­es­san­te Ent­wick­lung, die das The­ma die­ses Semi­nars sein soll, die Mög­lich­keit, mit ›mul­ti­plen Iden­ti­tä­ten‹ umge­hen zu kön­nen. So hat der Schau­spiel­leh­rer Kon­stan­tin Ser­ge­je­witsch Sta­nis­law­ski einen neu­en Ansatz ent­wickelt, wie die Arbeit des Schau­spie­lers an sich selbst und im schöp­fe­ri­schen Pro­zeß des Erle­bens einer Figur, des Ver­kör­perns und der Arbeit an der Rol­le sehr viel inten­si­ver gestal­tet wer­den kann. — Eine Rol­le nur zu spie­len, das genügt kei­nes­wegs, das wäre schlech­tes Thea­ter. Es kommt dar­auf an, die Figur, die Rol­le, die Welt einer Hand­lung in sich zu suchen, zu fin­den und sich dann hineinzufühlen. 

    Auch der US–Amerikanische Schau­spiel­leh­rer Lee Strasberg ent­wickel­te mit dem Method Acting einen neu­en, tie­fe­ren Zugang zur Schau­spiel­kunst, um die Natür­lich­keit und die Inten­si­tät der schau­spie­le­ri­schen Dar­stel­lung zu stei­gern. Mit Hil­fe eines von ihm ent­wickel­ten Instru­men­ta­ri­ums soll­ten Schau­spie­ler die Rol­le in sich selbst fin­den, her­aus­zu­brin­gen, um dann damit zu verschmelzen.

    Jean–Léon Gérô­me: The Duel After the Mas­quer­a­de (1857f.). Es ist ein Clown,
    ein Pirot, der nach der Vor­stel­lung duel­liert und töd­lich getrof­fen niedersinkt.
    — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Aber nicht nur für Schau­spiel und Schau­spiel­kunst ist das alles von Inter­es­se. Auch im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se und vor dem Hin­ter­grund, daß wir alle immer mehr Thea­ter spie­len und immer wei­ter aus­dif­fe­ren­zier­te Rol­len über­neh­men, wird die Fra­ge der Ein­füh­lung von immer grö­ße­rer Bedeu­tung. Wir leben in unru­hi­gen Zei­ten, was auch damit zusam­men­hängt, daß die Psy­cho­ge­ne­se wie­der einen Schritt wei­ter vor­an­ge­schrit­ten ist. Das ist der aktu­el­le Stand in die­ser Ent­wick­lung, daß wir nicht mehr Rol­len über­neh­men, son­dern ver­schie­de­ne Iden­ti­tä­ten, um die­se zunächst aus uns selbst her­aus zu ent­wickeln. — Damit kommt eine wei­te­re, sehr gro­ße Her­aus­for­de­rung in die Welt, es gilt, nicht mehr nur ›authen­tisch‹ zu sein, son­dern eben auch ›viel­fäl­tig‹ in der Varia­ti­on der Iden­ti­tä­ten, die ein­an­der wider­spre­chen kön­nen. Das ist offen­bar eine ganz neue Errun­gen­schaft, die aller­dings mit erheb­li­chen Irri­ta­tio­nen einhergeht.

    Der Mensch in der Moder­ne ist ein Trä­ger vie­ler Mas­ken. Das ist eigent­lich eine ganz ent­schei­den­de, höchst aktu­el­le Errun­gen­schaft, die Fähig­keit, mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten ver­kör­pern zu kön­nen, die sogar mit­ein­an­der im Wider­streit ste­hen kön­nen. Aber die Sou­ve­rä­ni­tät, dann auch tat­säch­lich dar­über zu ver­fü­gen, hält sich der­zeit noch in Gren­zen. Um die neu­en Kom­pe­ten­zen an den Tag zu legen, fehlt noch immer der Mut, die Legi­ti­mi­tät des eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus, der die eige­ne Auto­no­mie erst selbst ernst neh­men müß­te. Nur weni­gen gelingt es bereits. All­über­all schämt man sich des­sen, spricht von Wahr­heit, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät, Auf­merk­sam­keit und vom wah­ren Selbst, als ob es das wirk­lich gäbe.

    Das unum­gäng­li­che Mas­ken­spiel soll­ten wir tat­säch­lich ganz bewußt betrei­ben. Statt­des­sen wird jedoch immer so getan, als sei alles echt, als wüß­te man zwi­schen Echt­heit und Unecht­heit sehr wohl zu unter­schei­den. Dabei ist in der Tat vie­les Thea­ter oder man­ches nur ›Show‹, aber mit­un­ter erscheint es so, als käme es ohne­hin nur noch dar­auf an, daß die Show stimmt. — Dis­kur­se wie die über ›Empa­thie‹, ›Auf­merk­sam­keit‹ und ›Wahr­haf­tig­keit‹ lie­gen daher als kri­ti­sche Reak­tio­nen gera­de­zu auf der Hand. Aber auch das sind selbst wie­der nur Rol­len, eben sol­che, die Authen­ti­zi­tät dar­stel­len sol­len, um aber genau dar­in wie­der­um Rol­len­spiel zu betreiben.

    Aller­dings spie­len wir alle Thea­ter, neh­men Rol­len wahr, ver­kör­pern sie, gehen aber nicht rest­los dar­in auf. Vor­zei­ten iden­ti­fi­zier­ten sich Men­schen noch mit ihrem ›Stand‹, mit ihrem ver­meint­li­chen gesell­schaft­li­chen ›Sein‹, und der Aus­druck indi­vi­du­el­ler Frei­hei­ten war als ›Spleen‹ nur weni­gen vor­be­hal­ten, ganz exklu­siv am lieb­sten den exzen­tri­schen Atti­tü­den alten Adels. 

    Die Uni­ver­sa­li­sie­rung der Rol­len­über­nah­me ist dafür ver­ant­wort­lich, daß inzwi­schen fast nur noch insze­niert wird. Wo zuvor eine gera­de­zu skla­vi­sche Rol­len­be­set­zung statt­ge­fun­den hat, herrscht nun der unbe­ding­te Wil­le zur Mei­nung vor. Das Publi­kum insze­niert sich inzwi­schen selbst, so wie es Poli­tik und Medi­en seit Jahr­zehn­ten vor­ex­er­zie­ren. Daher wird die Kon­stel­la­ti­on immer unüber­sicht­li­cher, es gibt eigent­lich kein Publi­kum mehr, nur noch Akteu­re. — Ins­be­son­de­re das Sub­jek­ti­vie­ren, das Emo­tio­na­li­sie­ren und das Skan­da­li­sie­ren kon­kur­rie­ren­der Auf­fas­sun­gen, ein­fach nur, weil sie nicht dem eige­nen Stand­punkt zuzu­ord­nen sind, hat sich inzwi­schen flä­chen­deckend ausgebreitet.

    Neu­zeit­li­che Thea­ter­maske für den Dar­stel­ler des Mephi­sto. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Man­che der Instan­zen unse­rer Psy­che las­sen sich wie poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen betrach­ten, zu denen nun­mehr eine neue hin­zu­kom­men wird, ein­fach weil sie hin­zu­kom­men muß: Das mul­ti­ple Selbst ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, weil es nun dar­um geht, zwi­schen allen erdenk­li­chen Per­spek­ti­ven zu mode­rie­ren und zwar in dem Bewußt­sein, daß kei­ne die­ser Hin­sich­ten den Anspruch hegen darf, allein gül­tig zu sein. Es gilt, das eine zu tun ohne das ande­re zu las­sen. — Aller­dings kann es ein gro­ßes nicht nur rein intel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen berei­ten, Gefüh­le einer­seits authen­tisch zu erfah­ren, um zugleich ket­ze­risch das eige­ne Emp­fin­den iro­nisch zu spiegeln.

    Zu jeder moder­nen Psy­che gehört es eben, nicht nur die vor­mals exter­nen Instan­zen der Ord­nung, der Dis­zi­plin und der Bestra­fung als Selbst­dis­zi­pli­nie­rung in sich hin­ein­ge­nom­men zu haben. Es gehört eben­so mit dazu, daß wir zugleich eine gan­ze Ket­zer­ver­samm­lung mit uns her­um­füh­ren, die nur auf eine Gele­gen­heit war­tet, alles, was hei­lig sein soll, vom Sockel zu sto­ßen. — Es kommt eben dar­auf an, selbst­be­wußt genug zu sein, alle die­se inne­ren Wider­sprü­che nicht zu kaschie­ren, son­dern im Gegen­teil, sie als Per­spek­ti­ven zu wür­di­gen, jede, wie es ihr zukommt.

    Also: Wird eine Situa­ti­on als ›roman­tisch‹ emp­fun­den, weil sie bestimm­ten Bil­dern, Vor­stel­lun­gen und ein­schlä­gi­gen Nar­ra­ti­ven ent­spricht? — Sol­che Fra­gen haben das For­mat von Glau­bens­kon­flik­ten, wie sie Prie­ster seit je hat­ten, wenn sie vor ihrer Gemein­de auf­tre­ten muß­ten, aber nicht offen­bar wer­den las­sen durf­ten, daß sie viel­leicht selbst sich ihres Glau­bens gar nicht mehr so sicher waren. Lan­ge Zeit wur­de erwar­tet, daß sie nicht durch­blicken las­sen, wie es um den eige­nen Glau­ben steht, weil sie doch die ihnen anver­trau­ten Scha­fe in einen pani­schen Schrecken ver­set­zen könnten.

    Hawen King: Pro­mo­tio­nal masks
    for the DVD release of „V for Ven-
    det­ta“ at HMV in Tokyo. To get a
    mask you had to buy the DVD. 8.
    Sept. 2006, V for Ven­det­ta. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Auto­no­mie ist der Anspruch und die Fähig­keit, sich selbst ein eige­nes Bild von der Welt und den Sachen zu machen, selbst wenn sie uns zutiefst berüh­ren und viel­leicht auch äng­sti­gen. Dabei ist es mög­lich, zugleich mit­ten drin zu sein und den­noch sich selbst und das gan­ze Trei­ben von außen zu betrach­ten. Tat­säch­lich ist erst das wah­res Glück, sich inmit­ten erfül­len­der Erleb­nis­ses zu fin­den, die viel­leicht tat­säch­lich muster­gül­tig sind, so wie es die Nar­ra­ti­ve vor­se­hen. — Glück bedeu­tet, sich selbst in sol­chen Situa­tio­nen als authen­tisch zu erfah­ren und zugleich selbst­iro­nisch den Über­schwang der eige­nen Gefüh­le zu spie­geln. Das erst wäre tat­säch­lich ein Aus­druck von Auto­no­mie, Sou­ve­rä­ni­tät und Selbst­be­wußt­sein. Ent­schei­dend wäre nur, ob die Erleb­nis­se tat­säch­lich von Bedeu­tung sind, oder ob es nur rein äußer­lich um Insze­nie­rung, nur um das ›Als–Ob‹ geht.

    Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen fol­gen. Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

    Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. — Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

    Selt­sa­mer­wei­se erschei­nen gera­de die grie­chi­schen Göt­ter oft wie Dar­stel­ler ihrer selbst. Wenn sie ihre Mas­ken wie ein Visier hoch­ge­klappt haben, dann wir­ken sie wie Schau­spie­ler wäh­rend der Dreh­pau­se in einem der vie­len Stücke, in denen sie sich selbst ver­kör­pern. — Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heute.

    Alle ihre Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen. Das sind Aspek­te ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die inter­na­li­sier­ten Gei­ster der Clans, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. — Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich doch selbst treu zu bleiben.

    Die Göt­ter beherr­schen das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alk­me­ne. — Ganz offen­bar besteht für ihn nicht der gering­ste Anlaß zur Sor­ge, daß die frem­de Gestalt auch voll­kom­men frem­de Erfah­run­gen beim Lie­bes­spiel mit sich brin­gen könnte.

    Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. — Und das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu kön­nen. Das ist eigent­lich der höch­sten Göt­ter Kunst, die Gestalt wech­seln zu kön­nen. Die Ein­wän­de dage­gen, da sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit, son­dern nur Insze­nie­rung aber kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht ver­fan­gen, weil unter­stellt wird, was gar nicht der Fall kann: Wir haben nicht die eine ein­zig wah­re Natur, das inne­re, ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne ein für alle Mal fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein würde.

    Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, sowohl einem Scha­ma­nen wie auch einem Schau­spie­ler gegen­über. Es ist irrele­vant, ob der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und daß im Scha­ma­nen­ko­stüm oder in der Rol­le noch immer der­sel­be Mensch steckt, es kommt dar­auf an, was sich dar­auf ereig­net. — Auf die äußer­li­chen Fak­ten kommt es nicht an, ent­schei­dend ist viel­mehr das inne­re Erle­ben: Selbst­ver­ständ­lich ist der Dar­stel­ler, was er vor­gibt zu sein, eben­so wie auch der Scha­ma­ne den geru­fe­nen Geist mög­lichst authen­tisch verkörpert.

    Paul Klee: Zwei Män­ner, ein­an­der in höhe­rer Stel­lung ver­mu­tend, begegnen
    sich (1903). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Wir alle spie­len Thea­ter, was kei­nes­wegs bedeu­tet, daß es uns nicht mit der jewei­li­gen Rol­le ernst wäre. Mas­ken­spiel ist eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pher für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. — Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand ande­rem, wech­selt also die Identität.

    Im Zen­trum die­ser Erör­te­run­gen ste­hen die Hand­lungs­ur­sa­chen, die Moti­ve und die Ori­en­tie­rung in Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen. Dabei waren die Men­schen der vor­klas­si­schen Zeit, so die­se Theo­rie, offen­bar noch gänz­lich außen­ge­lei­tet. Erst all­mäh­lich beginnt dann die Inter­na­li­sie­rung, so daß wir inzwi­schen fast stets innen­ge­lei­te­te Hand­lungs­mo­ti­ve unter­stel­len dürfen.

    Auf irgend­ei­ne Wei­se müs­sen also die vor­ma­li­gen Gei­ster, Göt­ter und Auto­ri­tä­ten oder viel­leicht auch Anti–Autoritäten, all­mäh­lich ins Inne­re, in die Innen­welt unse­rer Psy­che gelangt sein. — Denn: Wir tra­gen die Göt­ter in uns. Sie wur­den inter­na­li­siert, und die Inter­na­li­sie­rung der ehe­dem exter­nen Stim­men gelingt ganz offen­bar in einem Pro­zeß, der an Schi­zo­phre­nie den­ken läßt.

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    Pandora: Das schöne Übel

    Über die dunklen Seiten der Vernunft

    Wenn mit der Zivi­li­sa­ti­on die ersten Städ­te auf­kom­men, dann ver­kör­pert Pan­do­ra den Typus der mon­dä­nen Städ­te­rin. Sie steht alle­go­risch für die zuneh­men­de Viel­falt in den Geschlech­ter­rol­len. Dabei zeigt sich eine neue Dia­lek­tik, die von der Hei­li­gen und der Hure. — Pan­do­ra ist eine eben­so begna­de­te wie exal­tier­te Diva, ein selt­sa­mes Misch­we­sen, Göt­tin, Andro­idin und Mensch zugleich, auch ist sie der Pro­to­typ der ›weib­li­chen Frauen‹.

    Heinz–Ulrich Nen­nen: Pan­do­ra: Das schö­ne Übel. Über die dunk­len Sei­ten der Ver­nunft. (Zeit­Gei­ster 3); Ham­burg 2019. Titel­bild: Dan­te Gabri­el Ros­set­ti: Helen of Troy (1863). Ham­bur­ger Kunst­hal­le. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. Im Hin­ter­grund brennt Tro­ja, sie­he hier­zu S. 59f.

    Zu allen Zei­ten glaub­te man ohne viel Feder­le­sens zu ver­ste­hen, wer sie ist, was mit ihr los sei. Ent­spre­chend schnell sind ihre Inter­pre­ten mit Cha­rak­ter­stu­di­en fer­tig, die doch nur unzu­läng­lich sind: Ein durch und durch ver­ruch­tes Weib, eine Stra­fe der Göt­ter soll sie sein, mit der alle Übel in die Welt gekom­men sind… — So ein­fach kann man es sich machen, ganz so ein­fach ist es aber nicht. Es sind mit ihr näm­lich auch alle gött­li­chen Gaben vom Him­mel auf die Erde gebracht worden.

    Die Ent­sen­dung der Pan­do­ra ist Teil einer zutiefst beein­drucken­den Göt­ter­däm­me­rung. Was der Mythos den Göt­tern da unter­stellt, könn­te als Geste kaum gene­rö­ser sein. Bevor sie abdan­ken, über­ge­ben sie zuvor noch alle ihre vor­ma­li­gen Zustän­dig­kei­ten — ganz. So erscheint die Sen­dung der Pan­do­ra in ande­rem Licht, als hät­ten die Göt­ter damit sagen wol­len: Dann macht doch alles selbst, wenn ihr ernst­haft glaubt, es bes­ser zu kön­nen als wir!

    Pan­do­ra ist zwei­fels­oh­ne die Figur mit dem aller­größ­ten Deu­tungs­po­ten­ti­al, denn sie steht als Alle­go­rie für die Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen, für Wil­lens­frei­heit und dabei vor allem für jenen fra­gi­len Indi­vi­dua­lis­mus, der erst sehr viel spä­ter mit der Moder­ne voll­ends zum Aus­druck kom­men wird. Sie ist unver­gleich­lich in jeder Hin­sicht, als Künst­le­rin, als Intel­lek­tu­el­le, als Frau, Femme fata­le, als Muse und Freun­din, aber auch ›nur‹ als Mensch.

    Als schö­nes Übel ver­kör­pert Pan­do­ra gedie­ge­nen Luxus. Wie auch anders? Sie ist in allen ihren Attri­bu­ten gött­li­cher Natur! Auf­grund ihrer Schön­heit, ihrer Attrak­ti­vi­tät, ihrer Bedeu­tung und nicht zuletzt auf­grund ihrer Talen­te ist sie nicht von die­ser Welt. Aber sie wird nicht auf­grund ihrer gött­li­chen Attri­bu­te geschätzt, son­dern nur wegen der mit­ge­brach­ten Güter.

    Für die Übel wird sie nur zu gern ver­ant­wort­lich gemacht. Anson­sten ent­spricht alles dem neu­en Frau­en­bild, daß sich erfolg­rei­che Jäger nur zu sehr gern mit ihr schmücken. Ihre ver­bor­ge­nen Kapa­zi­tä­ten wer­den nicht gese­hen. Eigent­lich ist sie nur eine Tro­phäe wie die Hele­na, nichts wei­ter als ein Zei­chen des Erfolgs. — Wer die Schön­ste aller Frau­en in sei­nen Besitz brin­gen konn­te, war damit auch der Mäch­tig­ste unter denen, die sei­ner­zeit die­ses Pro­jekt in Gang gesetzt hat­ten, das sich seit­her immer wei­ter selbst perpetuiert.

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    Philosophischer Salon

    Philosophischer Salon

    Literaturhaus im Prinz-Max-Palais

    WS 2019 | donnerstags | 18:00–20:00 Uhr

    Was­si­ly Kan­din­sky: Thir­ty (1937). Musée natio­nal d’art moder­ne, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Kul­tur ist ein Mit­tel, nicht ein­fach nur ver­rückt zu wer­den, ange­sichts der über­for­dern­den Kom­ple­xi­tät einer Welt, der wir als Indi­vi­du­en und auch als Gat­tung ziem­lich gleich­gül­tig sind. — Es gilt, dar­über hin­aus zu gehen und Ord­nung zu schaf­fen, also Bedeu­tun­gen. Kul­tur bie­tet Ori­en­tie­rung und Schutz, sie gewährt Erwar­tungs­si­cher­heit, basa­le Gefüh­le und die Erfah­rung, getra­gen sein von wie­der erkenn­ba­ren Struk­tu­ren, die ver­läß­lich sind.

    Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich dar­an das eige­ne Ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen selbst wie­der ori­en­tie­ren läßt. Daher ist Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung von so gro­ße Bedeu­tung, denn Sinn ver­schafft Sicher­heit im Gei­ste, und das in einer Welt, die über­mäch­tig und eigent­lich auch unbe­herrsch­bar erscheint. 

    Aber die Welt läßt sich in Geschich­ten ver­stricken, so daß wir uns wie an einem Ari­ad­ne­fa­den im Laby­rinth einer immer unüber­sicht­li­cher wer­den­den Welt ori­en­tie­ren kön­nen, obwohl wir sie als gan­ze gar nicht überschauen.

    Lite­ra­tur­haus | Karls­ru­he | Prinz-Max-Palais | Karl­stra­ße 10 | Foto: Bern­hard Schmitt

    Men­schen sind Ori­en­tie­rungs­wai­sen. Jedes Tier ist voll­kom­men inte­griert in den ange­stamm­ten Lebens­raum. — Man möch­te anneh­men, daß ›die‹ Natur mit dem Men­schen das Spiel eröff­net hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaf­fen, das sich selbst ori­en­tie­ren kann. Inzwi­schen ist die Welt fast voll­stän­dig umge­baut wor­den. Schon bald wer­den zwei Drit­tel der Welt­be­völ­ke­rung in Städ­ten leben.

    Der Anspruch, sich in die­sen künst­li­chen Wel­ten zu ori­en­tie­ren, steigt stän­dig. Zur Ori­en­tie­rung braucht es inzwi­schen Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung. Dabei soll gera­de auch die Indi­vi­dua­li­tät zum Zuge kom­men. — Die Zei­ten sind vor­bei, in denen tra­di­tio­nel­le Rol­len muster­gül­tig gelebt wer­den muß­ten, vor allem Geschlech­ter­iden­ti­tä­ten, die kei­nen Aus­bruch, kei­ne Abwei­chung, kei­ne Spe­ren­zi­en dul­de­ten. Immer weni­ger ›Sinn‹ ist vor­ge­ge­ben, was eben bedeu­tet, sich selbst zu orientieren.

    Seit alters her wer­den ein­schlä­gi­ge Ant­wor­ten auf letz­te Fra­gen immer wie­der neu von den Mythen gege­ben, die das Kunst­stück beherr­schen, Welt­ver­trau­en und Zuver­sicht zu schaf­fen. Wie das geschieht, das soll mit immer wie­der neu­en Ein­sich­ten im Phi­lo­so­phi­schen Salon zur Erfah­rung gebracht wer­den. — Men­schen sind kos­mi­sche Wai­sen, aus­ge­setzt in dem Bewußt­sein, sich selbst beden­ken zu müssen.

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    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    WS 2019 | freitags | 11:30–13:00 Uhr | Raum: 30.91–110 (OG)

    Beginn: 23. Okt. 2019 | Ende: 7. Febr. 2020

    Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

    Und sie lau­fen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
    Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewe­sen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
    Erst her­vor der alte Meister.

    (Goe­the: Der Zauberlehrling)

    In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Marktplatz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

    Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Meinungsäußerungen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie

    der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Vor­le­sun­gen und Semi­na­re. Word­cloud 2016.