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Anthropologie, Diskurs, Ethik, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Ironie, Kunst, Lüge, Melancholie, Moderne, Moral, Motive der Mythen, Platon, Psyche, Psychosophie, Religion, Seele, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Zeitgeist
Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat
Ein Kritiker vor dem Herrn
Nur in bestimmten Religionen ist der Teufel nicht wohl gelitten, sondern gefürchtet und sogar verhaßt. Das sagt mehr über den schlechten Charakter mancher Religionen, als über den Teufel selbst aus. Natürlich muß auch er ein Geschöpf Gottes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stammen soll.
Wenn es nur einen einzigen, noch dazu wahren, allgegenwärtigen, allwissenden und gütigen Gott geben soll, dann darf es keinen zweiten und schon gar keinen Gegen–Gott geben. Warum? — Eher aus Gründen der Konkurrenz, die Priester nicht mögen. Sie möchten vielmehr das Monopol für alles Göttliche.
Mit dem sogenannten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Herausforderung einher, so daß sich das sogenannte Gute bewähren muß.
An seiner Aufgabe, die er sich selbst gegeben hat, läßt sich der Teufel am ehesten verstehen: Er ist der Versucher , das ist seine Sache. — Mephistopheles stellt sich in Goethes Faust vor als:
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
(…)
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
(…)
Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, …(Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Werke; Bd. 3. S. 47.)
Ein Geschöpf Gottes soll er sein, sogar einer der Mächtigsten, wenn nicht der Mächtigste überhaupt, dann aber sei er abtrünnig geworden. — Das soll so gekommen sein: Als der mit sich selbst jeden Schöpfungstag immer zufriedener werdende Schöpfer seinen Engeln endlich die fertige Schöpfung und dann auch deren vermeintliche Krone vorstellte, soll er von den Geistwesen verlangt haben, vor dem Menschen niederzuknien.
Das haben auch fast alle folgsam getan, nur einer nicht. Luzifer, einer vom Schlage der Erzengel mit dem Flammenschwert soll diese Huldigung ebenso selbstbewußt wie konsequent verweigert haben. — Und jetzt kommt, was nur Philosophen sich getrauen: Der Sache nachgehen, die möglichen Gründe prüfen, um dann zu dem ketzerischen Ergebnis zu kommen: Recht hat er, der Luzifer!
Es gehört stets gewisser Mut dazu, auszuscheren und aus der Reihe zu tanzen, und das bringen nur wenige fertig. Wenn man sich in die so feierliche Situation hineinversetzt: Da ist der Schöpfer dieser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt dieser Kritiker daher. Die allererste Lektion erteilt Luzifer dem Schöpfergott. — Das Selberdenken macht ihn philosophisch höchst interessant, so wird er zum Kritiker aller Kritiker.
Unermüdlich wie Sisyphos versucht der Teufel seither, möglichst konkret nachzuweisen, daß der Mensch es nicht verdient, daß Engel sich tatsächlich vor ihm verneigen. — Da wir uns den Sisyphos aufgrund einer Bemerkung von Albert Camus als einen glücklichen Menschen vorstellen sollten, dürfte es sich auch bei Luzifer um einen glücklichen Engel handeln, weil er sich seine Aufgabe selbst gegeben hat.
Im jüdischen Glauben werden Engel sehr viel differenzierter vorgestellt. Das findet sich auch bei Rainer Maria Rilke in seinen Duineser Elegien. — Dort sind sie nicht einfach nur lammfromm, vielmehr mystische Wesen. Sie sind schön und schrecklich zugleich, und sie stehen dort, wo große Geheimnisse zu erwarten sind. Der Anfang der ersten Elegie hat etwas von dem, was hier dargestellt werden soll:
Wer, wenn ich
schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich
ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren
Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen
Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern
es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.(Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Sämtl. Werke; Bd. 1. S. 685.)
Der Mensch ist zwischen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hause bei sich, wie Rilke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigentliche Grund, warum Luzifer in seiner Eigenschaft als Lichtbringer und als der Oberste aller Teufel gewisse Entwicklungsdienste leistet. Der Teufel ist also ein Selbstdenker, mehr noch, er ist ein Schöpfungskritiker und dabei nicht unbedingt ein Feind des Menschen, sondern eher einer, der sich vom sogenannten allzu Menschlichen ebensowenig abhalten läßt in seinem Urteil, wie der ägyptische Schreibergott Thot beim Jüngsten Gericht. Auf der Seelenwaage wird das Gewicht einer Feder, in der einen Schale, gegen die mit Erdenschwere belastete Seele, in der anderen Schale, abgewogen. Derweil wirkt die Waage wie ein Lügendetektor, der auf jede Unwahrheit reagiert. Für den Fall ist die Seele verloren, sie wird verstoßen und dem hundsköpfigen Anubis zum Fraß zugeworfen.
Es ist in der Tat befremdlich, desöfteren dabei zu sein, wenn Zeitgenossen sich selbst und anderen einiges vormachen wollen, was einfach nicht stimmt. Das ist schon eine wundersame Art der Urteilsbildung, sich auf den eigenen Leim zu kriechen. — Es braucht nicht viel an geistiger Durchdringungskraft und empathischer Beobachtungsgabe, um zu sehen, daß manche sich selbst und anderen gewissenlos etwas vormachen wollen.
Wir haben allerdings auch ein Gespür für Unstimmigkeiten: Zumeist warten Sprache und Grammatik mit Seltsamkeiten auf, wobei man sehen kann, was alles zueinander passen muß, wenn etwas wirklich stimmt. — Wahrheit ist weit mehr als eine Frage der Logik, sondern ein ganzes Ensemble unterschiedlichster Aspekte, die nicht nur in der Aussage, sondern in ihrer ganzen Darbietung harmonisch abgestimmt sein müssen. Es zeigt sich, was alles im Kleinen und auch im Großen zusammenstimmen und im Einklang miteinander sein muß.
Wenn eine Seele belastet ist durch die Erdenschwere solcher Selbstbetrügereien, dann wird sie gewiß keinen Freispruch erhalten. Es würde ohnehin nicht funktionieren, sich im Leben zu belasten, um dann nach dem Tode entlastet zu sein. — Da wirkt das Manöver der Christlichen Kirchen, daß die Schuld wie eine Lokalrunde schon für alle Zeiten im Voraus abgetragen sei, kaum besser als eine durchsichtige Abofalle.
Erlösen müssen wir uns schon selbst. Luzifer ist dabei einer der besten Ratgeber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schweben. Dabei würden wir so gern engelsgleich abheben.
Bei Platon gibt es dazu einen phantastischen Mythos vom gemeinsamen Zug mit den Göttern über das nächtliche Firmament bis zum Reich der Ideen am Rande der Welt.
Die Götter haben allerdings ein Gespann mit zwei sehr guten Pferden. — Beim Seelenwagen der Menschen ist jedoch nur eines der Pferde wirklich tauglich für den Aufstieg ins Reich der Ideen.
Der Versucher ist ein begnadeter Prüfer und wir tun gut daran, ihm zu vertrauen, denn wo er sich nicht bereit finden kann für seine Zustimmung, da haben wir sie auch noch nicht verdient. — Man sollte daher eher auf die Hilfestellung achten, die Luzifer als Versucher zu leisten imstande ist.
Bei Goethe ist Mephisto ein Ironiker und manchmal zynisch, aus guten Gründen. Aber seine Ironie hat Empathie und sein Intellekt ist messerscharf, man kann ihm nicht mit dummen Ausreden kommen, denn er kennt sie alle.
Das Teuflische am Alkohol
Da sich der Teufel aber nicht ständig um alle höchstpersönlich kümmern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesentlich, das Teuflische am Alkohol zu verstehen, um darüber sich selbst zu verstehen.
Udo Jürgens irrt, wenn er meint, der Teufel habe den Schnaps gemacht, um uns zu verderben. Das ist zu kurz gegriffen.— Wie bereits dargestellt, geht es ihm darum, uns zu prüfen, ob wir es verdient haben, seine Achtung zu erhalten und eine Fluglizenz ins Transzendentale.
Der Songtext von Udo Jürgens, hat allerdings eine bemerkenswerte Pointe. Da sitzt ein Antiheld in seiner Stammkneipe. Ein Mädchen von der Heilsarmee versucht ihn engelsgleich zu retten, indem sie dem Trinker ins Gewissen redet, was natürlich mitnichten verfängt. — Bekanntlich können alle, immer und zu jeder Zeit aufhören, nur momentan gerade nicht, und darauf trinken wir erst mal noch einen.
Dann aber kommt die wirklich luziferische Pointe: Er bringt das Mädchen nach Hause und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zimmer. — Aber dort macht der verhinderte Held eine teuflische Selbsterfahrung:
Sie lud mich in ihr Zimmer ein
Und dort erfuhr ich dann
Wer zuviel trinkt
Ist leider oft
Nur noch ein halber Mann.(Udo Jürgens: Der Teufel hat den Schnaps gemacht (1973).
Unvergeßlich ist auch Wilhelm Busch:
Es ist ein Brauch von alters her,
wer Sorgen hat, hat auch Likör!(Wilhelm Busch: Die Fromme Helene. In: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 282.)
Der Spruch bringt es zuverlässig auf den Punkt. Man achte wieder auf den Kontext: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Helene, dann hätte sie nicht ganz so viele Sorgen und bräuchte auch nicht so viel Likör. — Wer der alkoholischen Versuchung nicht widerstehen kann, tröstet sich also über etwas ganz Anderes hinweg.
Der Alkohol ist wie ein Eisberg, bei dem auch vier von fünf Teilen unter der Oberfläche liegen. Aber weder Luzifer, noch der Alkohol ist das Problem, sondern der vermeintliche Trost, den er spendet, durch Betäubung seelischer Schmerzen. — Aber die Linderungen halten nicht vor, denn es werden nur die Symptome bekämpft. Dann kommen die Schmerzen wieder, um erneut im Alkohol ertränkt zu werden. Alles schreit förmlich danach.
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Die Schönheit der Seele
Psyche und Seele
Das Symposion ist schon weit fortgeschritten, als sich unerwartet ein illustrer Gast einstellt. Alkibiades, reichlich berauscht und gestützt auf zwei Flötenspielerinnen, begehrt Einlaß, was ihm selbstredend gewährt wird. — Und wie es in solchen Situationen häufig so ist, läßt er sich kurz erläutern, daß man sich nicht zum Zechen, sondern zu einem weiteren Dichterwettstreit zusammengefunden haben. Es gelte, ein Loblied auf den Gott der Liebe, auf Eros aufzuführen.
Wer so spektakulär auftritt, steht ohnehin im Mittelpunkt. Also legt der später nicht unumstrittene Machtpolitiker einstweilen los mit seinem Lobgesang auf den Gott der Liebe. Er läßt sich nieder und erzählt von einer ungeheuren Liebe, der er verfallen sei, die ihm aber unerfüllt blieb. Dabei sei die Verführung bestens vorbereitet worden. Er habe die Diener weggeschickt, die Bettdecken bis auf eine reduziert, so daß man einander zwangsläufig habe näherkommen müssen, und dennoch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Person, um die es ging, rein äußerlich nicht nur nicht schön, sondern eigentlich häßlich, wäre da nicht diese Schönheit der Seele, die von innen her kommt.
Platon ist ein Schalk, wenn er dem überschwenglichen Alkibiades erst in diesem Augenblick erlaubt, sich der anderen Seite hinzuwenden, um dann unmittelbar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen seinen Liebesbekundungen die ganz Zeit geht: Sokrates. Dieser hatte zuvor seine Lobrede auf den Gott der Liebe gehalten, aber durch die Wiedergabe eines wegweisenden Dialogs über die Liebe, mit einer Lehrerin namens Diotima. — Diese prägende Unterweisung hat er in jungen Jahren erfahren. Die weise Frau aus Mantineia in Arkadien muß
ihn sehr beeindruckt haben.Erneut geht es, wie bereits im Höhlengleichnis oder beim Seelengespann um einen Aufstieg, nunmehr aber in der Liebe.—Diotima empfiehlt eine Orientierung am Begehren des Schönen, wobei nicht typischerweise die Erotik schlecht geredet und dann ausgegrenzt wird. Vielmehr wird zugestanden, daß diese Form der Liebe zum Schönen den Anfang macht.
Insofern ist die Rede von ›platonischer Liebe‹ als einer ohne Begehren philosophisch nicht berechtigt, weil ausdrücklich jede Form der Liebe zugelassen wird. — Sie sei ein ›heiliger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hinaus in transzendente Höhe führen werde, wenn sich dem nichts entgegengestellt. Den Anfang macht das erotische Begehren und die Fixierung auf äußere und individuelle Schönheit, dann aber erweitert sich diese Liebe zur Schönheit und wandelt sich zur Freude an der Schönheit der Liebe. Allmählich wird man mehr die innere und universelle Schönheit schätzen lernen, was sich schließlich auf den ganzen Kosmos erweitern kann.
Damit hat die Schönheit einen bedeutenden Rang erhalten, der kaum mehr übertroffen werden kann. Und tatsächlich gibt es einige Hinweise, die Anlaß geben können, darüber zu spekulieren, ob womöglich diese ›innere‹ Schönheit nicht tatsächlich dem Absoluten noch am allernächsten kommen kann.
Auch über die Vernunft läßt sich gleichermaßen spekulieren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Ganzes als solches vor Augen zu führen, sich dabei stets auf die Perspektiven der Ästhetik und der ästhetischen Urteilskraft zu stützen versteht. Das Interessante daran liegt darin, daß beim Empfinden von Schönheit nur noch plädiert aber nicht mehr argumentiert und schon gar nicht mehr bewiesen werden kann.—Das wiederum hat Hannah Arendt zu einem bemerkenswerten Experimentieren motiviert, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln.
Damit ist ein tiefes Geheimnis angesprochen, es geht darum, daß wahre Schönheit von innen herkommt, von der Schönheit der Seele. — Und wie sich den begehrlich Vorwürfen des Alkibiades dem Sokrates entnehmen läßt, ist der Politiker in seinen Besitzansprüchen und seinen Eifersüchteleien eben weit weniger an wahrer Liebe interessiert, sondern vielmehr an seiner eigenen Eitelkeit. Er wird damit zu einem mustergültigen Beispiel, wie man es besser nicht halten sollte, mit der Liebe.
Hier läßt sich der Faden aufnehmen, um zu untersuchen und zu verstehen, wie denn der Zusammenhang zwischen Seele und Psyche beschaffen sein mag. Vor allem interessiert eines: Die zunehmenden Depressionen mögen auch als Hinweis genommen werden, daß wir uns viel zu sehr mit der Psyche, aber viel zu wenig mit der Seele befassen.
Es ist an der Zeit, manche Begriffe endlich auch allgemeinsprachlich wieder in Gebrauch zu nehmen, die allenfalls noch von Theologen bemüht werden, die daher in diesen Sachen über das bessere Artikulationsvermögen verfügen. — Wir sollten nicht mehr nur vom Körper , sondern auch vom Leib sprechen, was nicht dasselbe ist. Wir sollten nicht mehr nur von der Psyche, sondern auch von der Seele reden. Wir sollten nicht mehr nur von Rationalität, sondern auch von Vernunft sprechen. Und wir sollten nicht mehr nur Rationalität, Verstand und Vernunft bemühen, sondern auch, was nicht leicht faßbar ist, den Geist.
Psyche und Seele
Nur bei oberflächlicher Betrachtung scheinen Psyche und Seele dasselbe zu meinen. Während die Seele häufig in religiösen, meditativen und esoterischen Kontexte thematisiert wird, erscheint die Psyche inzwischen eher wie ein Part of the game mit alltäglichen Belangen. — Und mögen wir noch so verheißungsvoll von unserem vermeintlichen Inneren sprechen, die Psyche ist nicht selten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.
Es scheint, als habe die Psyche viel weniger von jener Tiefe, wie sie der Seele zugesprochen wird. Die Psyche ist offenbar sehr viel jüngeren Datums und damit auch ein Spiegel narzißtischer, selbstbezüglicher und materialistischer Belange, von denen sich viele versprechen, große Sehnsüchte zu stillen. Es sin Illusionen, die durch Konsumismus nicht bewältigt werden können.
Vordergründig wirkt die Psyche als besonderer Teil unserer Seele, den wir uns über uns selbst bewußt machen möchten. — Das Gerede von der ›Suche nach dem wahren Selbst‹ kann die Sehnsucht nicht stillen, denn die Psyche ist selbst ein Teil des Theaters, das wir uns und anderen vorspielen. Ist die Theatermaske erst einmal mit dem eigenen Gesicht und den üblichen Oberflächlichkeiten fest verwachsen, dann kann auch kein Ausdruck von Tiefe mehr aufkommen, denn damit gehen auch Empathie und Authentizität verloren.
Der Geist der Narrative
Zugang zu den Tiefen in uns hat nur der Geist, der in den Narrativen wohnt. Es kommt darauf an, mit Feingefühl die eigene Geschichte in tiefgründigen Dialogen ganz allmählich bewußt werden zu lassen. — Um Freundschaft mit sich selbst zu schließen, sollte man sich einstweilen näher kennenlernen. Dann kann man mithilfe der Philosophischen Psychologie noch einige wesentliche Schritte darüber hinaus gehen.
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Stoibern und Drosten
Inkompetenzkompensationskompetenz
Ja, die gibt es wirklich. Odo Marquardt hat sie entdeckt, die Kompetenz der Philosophen als Stuntman in Kompetenzfragen. Wenn man des nächtens durch universitäre Katakomben streifte und aus irgendeinem der Räume große Heiterkeit zu vernehmen war, dann konnte man sich vielleicht daran erfreuen, einer Rede des begnadeten Bedeutungskünstlers Odo Marquardt beizuwohnen.
So beginnt er seinen Vortrag “Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie” mit einer makabren Geschichte, die gleich auf den Kopf zu sprechen kommt, um den es gehen soll, den philosophischen Kopf.
Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: nicken Sie mal.
Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müßte doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber.
Wenn genügend hintersinniger Witz, also Geist vorhanden ist, dann ist auch die Sprache in ihrem Element. Schließlich muß der Geist die Worte, denen wir anvertrauen wollen, was wir mitteilen möchten, erst ‘beseelen’. Diese geisterhafte Geistigkeit kommt von den Metaphern, die man sich herbeiruft, um mit ihnen wie im Zirkus nicht ungefährliche Dressurstückchen vorzuführen. – Das Spannende daran ist allerdings, daß Metaphorisieren schief gehen kann und zwar ganz gewaltig.
Auch das hat wiederum einen ausgezeichneten Unterhaltungswert. Dann fehlt allerdings der Geist, der dem Gesagten die Seele einhaucht. Aber in den Vorstellungswelten aufmerksamer Zuhörer können Geister auch durch demonstrative Abwesenheit eine Botschaft absetzen. Dann geht so gut wie alles schief, was schief gehen kann. – Dann steckt der Geist im unberücksichtigten Hintersinn, der in der letzten Reihe seine Faxen macht und den ordnungsgemäßen Ablauf der Ziehung der Worte als Glückstreffer so richtig sabotiert.
Eines der erlesensten Demonstrationen sprachlicher Inkompetenz ist die unvergeßliche Rede des damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der sich für eine Strecke mit dem Transrapid zwischen Münchener Hauptbahnhof und Flughafen stark machen wollte. Er hatte dabei etwas vor Augen, das ihm aufgrund sprachlichen Unvermögens oder auch, weil er einen schlechten Tag gehabt haben mag, einfach nicht gelang, eigentlich eine Banalität zum Ausdruck zu bringen: Eine Flugreise vom Münchener Flughafen könnte bereits im Hauptbahnhof beginnen, deshalb solle man sich doch die Vorzüge nicht nur vor Augen führen, sondern nicht entgehen lassen und die Strecke für den Transrapid endlich befürworten und bauen.
Es ist ein unvergessenes Werk der Sprachkunst, weil man sieht, was alles schief gehen kann. Ich weiß, es ist böse, aber die Schadenfreude bereitet gerade auch eine große, halbverbotene Freude, die in diesen finsteren Zeiten auch etwas Entlastendes haben kann. – Also katholisch gesehen, ist es nur eine läßliche Sünde, auf eine Sammlung hinzuweisen, die Kenner der Redekunst bei Youtube zusammengetragen haben unter dem Titel “Stoibers Gestammelte Werke”. Die Trans-Rapid-Rede findet sich dort gleich zu Beginn.
Gut gestoibert ist halb gedrostet. Ich komme darauf, weil mir manche Ähnlichkeiten ist Auge fallen und ich gerade dabei bin, nachzuvollziehen, warum der NDR-Podcast von Prof. Dr. Christian Heinrich Maria Drosten sich so großer Beliebtheit erfreut, seit den Anfängen unserer Pan-Hysterie.
Ich denke mal, daß es viele Geisteswissenschaftler sein müssen, die ehrfurchtsvoll lauschen, wenn da jemand so ähnlich stammelt, wie Stoiber. Und ich frage mich: Kann es sein, daß viele Kollegen aus den Geisteswissenschaften dem Naturwissenschaftler seinen unbeholfenen Umgang mit Sprache gern nachsehen? – Ist es möglich, daß sie darin sogar eine besonderes Zeichen von Kompetenz sehen?
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EPG II b (online und Block)
Oberseminar
EPG II b (Online)
Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II
SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
Ab 30. Juni 2022: 5 Seminare online | donnerstags: 14:00–15:30 Uhr, sowie3 Workshops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91-110Zum Kommentar als PDF
Zwischen den Stühlen
Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.
Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.
Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.
Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.
Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.
Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.
„Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“
Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.
Ausbildung oder Bildung?
Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.
Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.
Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.
So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.
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Studienleistung
Eine regelmäßige und aktive Teilnahme am Diskurs ist wesentlich für das Seminargeschehen und daher obligatorisch. — Studienleistung: Gruppenarbeit, Präsentation und Hausarbeit.
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Anthropologie, Ausnahmezustand, Diskurs, Ethik, Lüge, Moral, Politik, Professionalität, Wahrheit, Zeitgeist, Zivilisation
“I’m not convinced.”
Die Vorwahl für das Land mit der Lizenz zum Lügen: 001
Am 5. Februar 2003 warf US-Außenminister Colin Powell dem Irak den Besitz von Massenvernichtungswaffen vor und begründete damit die US-Intervention im Irak. Später entschuldigte sich Powell für die in der Rede verbreiteten Lügen.
Die „Beweise“ für die Existenz von Massenvernichtungswaffen, die Powell an diesem Tag vorgelegt hatte und die als Begründung für die spätere Intervention herhalten mußten, bestanden aus Material, daß vom amerikanischen Geheimdienst manipuliert worden war.
Powell sagte: „Dies sind nicht Behauptungen. Wir geben ihnen Fakten und Schlussfolgerungen auf der Basis solider geheimdienstlicher Erkenntnisse.“ Zu den „Fakten und Schlussfolgerungen“ gehört, dass der Irak weiterhin über biologische und chemische Waffen verfügt. „Hier wird getäuscht, hier wird versteckt und verborgen.“
Durch Lug und Trug war ein Krieg begründet worden. Der demokratische US-Senator Henry Waxman untersuchte ein Jahr nach Beginn des Irakkrieges alle Äußerungen der Bush-Regierung und registrierte bei 125 Auftritten 237 Irreführungen. Ausschmückungen, Unterlassungen, Verdrängungen und Übertreibungen waren die Regel, nicht die Ausnahme.
(Malte Lehming: Als mich ein Lügner überzeugte. In: Der Tagesspiegel. 14.06.2019.)
“I’m not convinced.” (Joschka Fischer)
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2003 kam es zu einem Wortlaut, der seither wie in Stein gemeißelt stets in Erinnerung gehalten werden sollte.
You have to make the case,
and to make the case in a democracy
you have to be convinced yourself,
and excuse me I am not convinced.
Um in einer Demokratie eine Entscheidung zu treffen, müsse man erst mal selbst davon überzeugt sein. “Entschuldigung, aber ich bin nicht überzeugt und ich kann mich nicht vor die Öffentlichkeit stellen und sagen, laßt uns in den Krieg ziehen, wenn ich nicht daran glaube.“
Public Relations ist nur ein anderes Wort für Propaganda
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, heißt es. Nun, die Wahrheit ist das zweite Opfer des Krieges, weil die Neutralität schon vorher verloren geht.“
(Carolin Emcke: Von den Kriegen. Briefe an Freunde. 1. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main 2004. S. 287.)
Es ist daher sehr zu empfehlen, genau darauf zu achten, welche Medien bei Hetzkampagnen mitmachen. Diese können nicht die Medien des Vertrauens sein, weil sie selbst den Beweis gegen ihre Vertrauenswürdigkeit antreten.
Es kann einfach nicht mehr akzeptabel sein, daß Lügen immer wieder vergessen werden, verziehen auch?
„Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.“
(Edward Bernays, Meister der Manipulation, Papst der Propaganda, Erfinder der Public Relations)
Die Lizenz zur Lüge kann und darf keinem Land dieser Welt zugestanden werden.
Auf die Diskurse kommt es an, auf die Wahrheit, auf alle Wahrheiten.
Alles, wirklich alles an Menschen- und Lebenserfahrung, alle erdenklichen Narrative raten dringend davon ab, durch fortgesetztes Lügen am Ende jede Vertrauenswürdigkeit zu verlieren.
Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen,
deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt,
sind unrecht.(Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werke, Bd. VI. S. 245.)
Nur ein Beispiel: Die Brutkastenlüge
Die besonders dreiste Baby-Lüge für den Ersten Irakkrieg stammt von einer PR-Agentur: