• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    LIVE! music, life et cetera…

    Hemingway Lounge | Uhlandstr. 26 | 76135 Karlsruhe

    LIVE! . music, life et cetera . 

    Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen: “Von Freiheitsliebe und der Sehnsucht nach Kontrolle” .

     
    Ullrich Eidenmüller im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

     

    Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt verändert und wird sie noch verändern? Welche Tiefen hat das Virus in der Gesellschaft bloßgelegt? — Könnte es zu solchen Fragen am Beginn der „Rückkehr der Freiheit“ einen kompetenteren Gesprächspartner geben als ein Professor für Philosophie an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)?

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen Gesprächspartner von Ullrich Eidenmüller beim traditionellen Talk in der Hemingway Lounge sein. Der Philosoph, der seine Zeitgeist–Analysen seit Jahren aus seinem Wohnmobil am Kanal in Münster schreibt, analysiert die Auswirkungen auf das tägliche Leben, den „Verlust an Nähe, den wir zu verkraften haben, die Unkultur der Verunglimpfung Andersdenkender, das frühe Schließen der gesellschaftlichen Diskurse schon im März 2020“.

    Freuen Sie sich auf ein spritziges und tiefgehendes Gespräch in der wiedereröffneten Lounge, untermalt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen mitbringt.

  • Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Heilsame Phase innerer Einkehr

    Die Pandemie zwischen kritischer und positive Betrachtung

    Interview, Vorarlberger Nachrichten,  5. Juni 2021

    Die Pandemie zwischen kritischer und positiver Betrachtung.

    Es ist sehr viel die Rede von einer verlorenen Generation. Ist es wirklich so schlimm? 

    NENNEN Wer von einer „verlorenen Generation“ spricht, stellt einen Vergleich her, der nicht angemessen sein kann. Bezeichnet wurden damit die Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs. Erst allmählich verstehen wir, was das bewirkt hat an Leiden. Da sind nicht physische, sondern psychische Existenzen auf Dauer vernichtet worden. Wir können heute erst allmählich nachvollziehen, was Traumatisierung eigentlich bedeutet. Erschreckend ist vor allem eines: dass so etwas weitergegeben wird, weil eine Generation überfordert ist mi der Aufarbeitung solcher Erlebnisse.

    Oft verwehren sich Jugendliche gegen eine solche Bezeichnung. Ist die Jugend doch stärker, als wir es ihr zutrauen?

    NENNEN Es kommt immer auf die Relation an. Corona hat die üblichen Erwartbarkeiten erheblich verunsichert, gerade das würde ich nicht als schlimm betrachten, sondern eher als Chance. Unsichere Zeiten bieten immer auch neue Möglichkeiten. Wir leben ohnehin in einer Zeit, in der die Jugend im Aufwind begriffen ist. Corona war nur eine Verzögerung des anstehenden Generationenwechsels.

    Insofern ist es ein solider Selbstbezug, sich nicht in die Opferrolle drängen zu lassen. Es ist keine verlorene, es ist eine kommende Generation. Was mir aber von Studierenden mitgeteilt wird, zeigt, dass die Belastungen gerade für die unter 30–Jährigen ganz erheblich sind.

    Können/sollten da nicht eher die Erwachsenen etwas lernen?

    NENNEN Allerdings. Es sind von Anfang an in der Coronakrise bestimmte Zeichen gesetzt worden, die ein generelles Misstrauen in die Jugend signalisiert haben. Das widerspricht den Prinzipien humaner Pädagogik und humaner Psychologie. Offenbar sind Gesellschaft und Staat noch immer nicht reif genug, vom Obrigkeitsdenken abzusehen.

    Aber dieser Paradigmenwechsel ist längst überfällig. Es ist zu erwarten, dass vieles, was bislang für unmöglich gehalten wurde, plötzlich nicht nur machbar, sondern lebbar werden kann.

    Wo spielt sich der größte Wandel ab, wenn es denn einen solchen gibt?

    NENNEN Der größte Wandel spielt sich in Machtfragen ab. Fast über Nacht sind Politik und Staat ermächtigt worden, die Geschicke der Gesellschaft nicht nur zu bestimmen, sondern auch zu formen. Das wird so bleiben. Die Krise hat uns vor Augen geführt, wie verwundbar unsere Systeme sind. Das Gleichgewicht der Gewalten ist gestört, daher müssen die Gegengewichte stärker werden. Wir brauchen mehr Partizipation, auch Basisdemokratie und vor allem auch mehr Richter und richterliche Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Pandemie wurde viel von neuen Tugenden gesprochen, wie Entschleunigung, bewussteres Wahrnehmen von allem usw. Was wird davon bleiben?

    NENNEN Es war eine heilsame und immer wieder verlängerte Phase der inneren Einkehr. Man konnte die Erfahrung machen, was so alles von den vielen Selbstverständlichkeiten eigentlich auch verzichtbar sein kann. Aber Corona war nicht gleich und schon gar nicht gerecht, es hat die Schwächeren sehr viel härter getroffen. Darauf muss eine Gesellschaft reagieren, und der Staat hat die Aufgabe, ihr dabei zu helfen.

    Gibt es Werte, von denen wir uns trennen sollten?

    NENNEN Einige Haltungen, die zuvor noch Anerkennung fanden, haben sich selbst ad absurdum geführt: Konsumismus ist nicht Freiheit, Neoliberalismus ist nicht Verantwortung, Misanthropismus ist nicht Sorge, Glaubenskriege sind keine Diskurse. Das alles hilft überhaupt nicht, den Weg in eine Zukunft zu finden, in der die Menschheit allmählich den Weg zur Selbstverantwortung finden und gehen sollte.

    Welche Werte sind es wert, beibehalten zu werden?

    NENNEN Die „Werte“, von denen immerzu gesprochen wird, sind oft nicht wirklich die eigenen. Wir alle glauben zu wissen, wie Familienglück, Mutterliebe, wie Jugend, Liebe oder eine romantische Situation perfekt auszusehen haben, und wir alle können uns dabei beobachten, wie wir entscheidende Situationen so inszenieren, dass sie auch tatsächlich „richtig“ aussehen. Kurzum, wir inszenieren uns und unser Leben nach Maßstäben, die nicht die eigenen sind. Ich möchte in meinem Vortrag eine elementare Kritik an der Selbstorientierung, wie sie gerade gelebt wird, vorbringen. Zugleich möchte ich Wege weisen, wie es möglich sein könnte, tatsächlich zu sich selbst zu finden. 

    Was sollte uns die Pandemie gelehrt haben?

    NENNEN Wir sollten endlich gesehen und erkannt haben, wie kostbar menschliche Verbindungen sind und wie sehr es auf Berührungen ankommt, im umfassenden Sinne des Wortes. Das ist meines Erachtens die eigentliche Lehre aus der Pandemie.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Grundrechte in der Corona-Krise

    Das Schweigen der Richter

    Von der Mondlandung bis zum Lockdown

    Wer die Mondlandung am Fernseher live miterlebt hat, hat vielleicht auch dieses Erweckungserlebnis. Wenn so etwas möglich war, dann schien eigentlich alles machbar. Dann kam es 1972 mit den Studien des Club of Rome zu einer Fundamentalkrise aller dieser Hoffnungen. — Auch das Grundgesetz hatte immer etwas von dieser Mondlandung, es war und ist eine überzeitliche Leistung mit Ewigkeitscharakter. Dieses Sicherheitsgefühl hat sich gehalten, wohl weil die Performance stets stimmig schien, wenn >Karlsruhe< sprach.

    Leben oder Freiheit – Ist die Corona-Politik mit dem Grundgesetz vereinbar? — SWR2-Forum,

    Thomas Ihm diskutiert mit

    Gigi Deppe, SWR-Rechtsexpertin,
    Prof. Dr. Christian Kirchberg, Rechtsanwalt
    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen, Philosoph

    Das hatte etwas von Delphi, wo die Priester in ihren Sitzungen darüber berieten, was Apollo als Herr des Hauses wohl gesagt haben würde. Allerdings ist ein Orakel wie das von Delphi auch nur ein Unternehmen mit dem Bestreben, möglichst immer wieder konsultiert zu werden. Und 1000 Jahre kamen Menschen und Staatsvertreter aus dem ganzen Mittelmeerraum mit höchst entscheidenden Fragen, es kann also kein Hokuspokus gewesen sein.

    Wenn die Richter in den roten Roben zusammentragen, dann hatte das etwas von dieser Aura: Immer wenn bewegende Urteile anstanden, fand sich mitunter auch eine Spur jener Weisheit, wie sie nun einmal einer letzten Instanz anstehen. — Auch das ist kein Hokuspokus, erforderlich ist gutes Handwerk, hohe Intelligenz, Diskursvermögen und vor allem eines, der gemeinsame Wille im Kollegium, herauszubringen, was wohl die Stimme der Vernunft gesagt haben würde.

     

    (Mein Beitrag beginnt ab: 23:30)

     

    Tiefen und Untiefen der Corona-Krise
    Online-Diskussion vom 9. Februar 2021.  Einf. u. Mod.:  Ullrich Eidenmüller,

    1. Vorsitzender des Fördervereins FORUM RECHT e. V.
    Referenten:
    Prof. Dr. Christian Kirchberg (* 1947), Rechtsanwalt in Karlsruhe und Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer.

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nennen (* 1955), Professor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). 

    Blackout mit Notstromdiesel

    Wer am 31. Januar 2008 gegen 17:35 Uhr per Straßenbahn die Innenstadt von Karlsruhe auf dem Weg zum Hauptbahnhof passieren wollte, konnte erleben, wie ein Stromausfall sich vor Ort darstellt: Das Licht ging aus, die Bahn hielt mitten auf der Strecke, draußen war nichts mehr zu sehen. Spärliches Licht flackerte auf, die Umgebung wirkte gespenstisch. Nur schemenhaft war erkennbar, wie Personal an den Türen der Geschäfte sich postierte.

    Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).
    Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).

    Ich entschloß mich, die Notentriegelung der Straßenbahntür zu betätigen, auszusteigen und ein Taxi zu nehmen, um die Fahrt zum Bahnhof weiter fortzusetzen. Die Impressionen auf dieser Taxifahrt waren beeindruckend und lehrreich: Der Weg führte an der Badischen Landesbank vorbei. Sie war beleuchtet, die Notstromversorgung war also angesprungen. Dann fiel der nächste Blick auf das Bundesverfassungsgericht. Das Gebäude war hell erleuchtet, so, als wenn nichts wäre.

    Derweil lag die Universität Karlsruhe im Dunklen und nur das Rechenzentrum hatte spärliches Licht. Ein einziger Hotelflur war noch beleuchtet. — An einem Krankenhaus führte der Weg nicht vorbei. Dabei ist es wesentlich, daß gerade auch dort die störungsfreie Stromversorgung gewährleistet sein muß. Auch der Hauptbahnhof war hell erleuchtet, denn die Deutsche Bundesbahn verfügt über ein eigenes Netz und eigene Stromversorgung. Man hatte nicht einmal etwas bemerkt von der Störung.

    Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, wie fragil unsere soziotechnischen Welten eigentlich sind. Es braucht nur kleine Unbedachtsamkeiten, die zum Supergau führen können. – Ein warnendes Beispiel dazu sind die nicht überflutungssicher installierten Notstromaggregate der Kernkraftwerksblöcke 1–3 von Fukushima I.

    Multiples Systemversagen

    Wir erwarten von unserer Technik, daß Notfallsysteme automatisch hochfahren, das wird regelmäßig geprobt — in der Technik. Dabei sollten wir dieselben Anforderungen auch an die Sozialen Systeme stellen. Gerade in Krisen sind wir darauf angewiesen, daß schlicht und ergreifend längst Vorkehrungen getroffen worden sind.

    Immer wieder wurde die Unverbrüchlichkeit des Grundgesetzes beschworen. Planspiele und Szenarien für Ausnahmezustände wären besser gewesen als Sonntagsreden. Tatsächlich haben wir es mit einem multiplen Systemversagen zu tun. — Das Gleichgewicht der Kräfte ist in der Corona-Krise von Anfang an ins Ungleichgewicht geraten und es hat  >sich< auch nicht wieder eingependelt. Was das bedeutet, läßt sich an einem Plattenspieler erläutern, wenn auf der einen Seite der Tonarm, also die Exekutive und auf der anderen Seite das Gegengewicht, also die Judikative und vor allem auch die Legislative für den richtigen Ausgleich sorgen.

    Am 14. Mai 2020 hat das oberste Gericht zwei Verfassungsbeschwerden um Corona und Grundrechte nicht zur Entscheidung angenommen. Dabei boten gerade diese beiden, fast mustergültigen Verfassungsklagen die Gelegenheit für die Verfassungsrichter, sich generell in Sachen Corona zu äußern. Das hätte dann wiederum der Politik sehr viel mehr Orientierung gegeben.

    Durch Nichteinlassung haben die Karlsruher Richter jedoch selbst das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Legislative, Judikative, Exekutive und auch zwischen Bund und Ländern aus dem Gleichgewicht und außer Kontrolle gebracht. — Hätten die Richter sich überwunden, den Mut und die Weitsicht gefunden, im laufenden Prozeß der Corona-Krise das Spektrum des verfassungsrechtlich Gebotenen zu skizzieren, sie hätten die Politik davor bewahrt, zum Opfer der eigenen Angstpolitik zu werden.

    Schönwetterdemokratie?

    Das Parlament als Ort öffentlicher Meinungsbildung wurde kurzerhand ersetzt durch eine verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehene Ministerpräsidenten-Konferenz unter Leitung der Bundeskanzlerin, in der man seit einem Jahr alle entscheidenden Erwägungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit vornimmt. — Dabei wurde immer wieder der Föderalismus schlecht geredet, der allerdings ein unverfügbares Gebot der Verfassung darstellt. Am Beispiel von Frankreich läßt sich zeigen, was es bedeutet, wenn keine effektiven kommunalen Strukturen vor Ort vorhanden sind.

    Auch die immer wieder aufgebrachte Forderung nach Gleichbehandlung, ohne Rücksicht auf die vor Ort tatsächlich vorliegenden Verhältnisse, ist stets unwidersprochen erhoben worden. Dagegen kam nur noch durch die Länderhoheit überhaupt noch so etwas wie eine Pflicht zur Verhandlung ins Spiel. Insofern wurde das Land durch den Föderalismus vor einem radikalen Zentralismus mit noch mehr Kollateralschäden bewahrt.

    Alle diese Vorkehrungen der Gewaltenteilung sind vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Weimarer Republik und der Möglichkeit einer >Gleichschaltung< getroffen worden. Aus guten Gründen wurde ein durchdachtes Konzept von Checks and Balances mit dem Grundgesetz etabliert. Alle diese verbrieften Sicherungen durch das systematische Ausbalancieren der Gewalten galten bislang als vertrauenswürdig, verläßlich, ja eigentlich als robust und geradezu unverwüstlich. Dabei stellte sich im Zuge derCorona-Krise heraus, daß viel davon offenbar nur >gefühlteSicherheit< war.

    Die Vertrauenswürdigkeit des Grundgesetzes und seiner Organe wurde in Sonntagsreden immer wieder gefeiert. Als es aber zum Schwur kam, da schwiegen die hohen Richter. Das Mobilé der Gewalten kam aus dem Gleichgewicht und verhakte sich endgültig. Verhältnisse kamen auf, die nicht hatten möglich sein sollen, auch und gerade in einer Krise nicht. — Für den Satz >Not kennt kein Gebot< gibt es nicht einen einzigen denkbaren Anwendungsfall, weil eine Verfassung genau dann verläßlich sein muß, wenn es darauf ankommt. Wir leben nicht in einer Schönwetterdemokratie. Ganz offenbar fehlt allerdings ein fundamentaler Diskurs über Notstand und Grundgesetz. Kevin allein zu Haus

    Nun war die Politik ganz >allein zu Hause<. Keine anderen Gewalten, keine Lobbys und auch keine Kritiker mochten sich noch zu Wort melden, denn viele von ihnen waren bereits exkommuniziert. In den vielen Talkshows sah man immer wieder die Anspannung in den Gesichtern, bloß nicht ein womöglich verräterisches Wort zu benutzen, das unmittelbar zur Exkommunikation geführt hätte.

    Dieser Zustand ist eine sozio-kulturelle Katastrophe, denn diese Konstellation entspricht genau dem, wovor der Soziologe Niklas Luhmann immer wieder gewarnt hat: Angstkommunikation und Entdifferenzierung. Das bedeutet in Analogie nichts geringeres als ein multiples Systemversagen. Es ist ein Rückfall in den Absolutismus, wenn die Gesellschaft in künstliches Koma versetzt wird. — Die Politik ist völlig überfordert, sie kann nicht leisten, was sie sich da aufbürden läßt. Daher werden die Maßnahmen immer radikaler und immer endloser.

    Das Schweigen der Richter

    Gewaltenteilung, Föderalismus, Meinungsverschiedenheit, Diskurse, der Anspruch auf Selbstverantwortung und Mündigkeit, das alles sind keine Störungen, gerade in einer Krise nicht. Aber vielen wurde weisgemacht, daß dem so wäre. Manche gaben dem nach, andere blieben beim Zweifel und durch die Gesellschaft ging ein Riß, bei dem sich die unterschiedlichen Ansichten nicht mehr miteinander ins Gespräch bringen ließen. — Dabei ist gerade die Vielfalt der Hinsichten die alles entscheidende Bedingung für die Möglichkeit einer umsichtigen Politik und einer zeitgenössischen Kultur, die dem Untertanengeist, Fremdbestimmung und der Bevormundung endgültig Valet sagen sollte.

    Die Corona–Krise bietet auch eine Chance, den Untertanengeist in Deutschland endlich zu überwinden, den autoritären Charakter und vor allem das misanthropische Menschenbild. Warum übertragen wir nicht den Geist der Reformpädagogik auch auf ein neues Verständnis einer zeitgemäßen Politik? In Psychologie und Pädagogik wird spätestens seit den 70er Jahren nicht mehr mit Bevormundung, sondern mit Einvernehmen agiert.

    Wir müssen unbedingt unterscheiden zwischen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft. Wer das alles zusammenbringt, führt zumeist nichts Gutes im Schilde. – Ein Staat ist keine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft ist er nicht. Ungehindert vergeht sich der Staat nicht selten an der Gesellschaft, denn Staat und Gesellschaft ziehen nicht unbedingt an einem Strang. Daher ist die Verfassung so entscheidend, weil sie erst die Rahmenbedingungen schafft und sicherstellt, daß alle diese Gewalten getrennter Wege gehen müssen. Sie sollen nicht eins sein, sie sollen und müssen miteinander ringen: “Auditatur et altera pars” — Man höre auch die andere Seite. Das findet wiederum im Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes seine Entsprechung: Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.”

    Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit obliegt den Verfassungs- und Verwaltungsgerichten. Seit Beginn der Corona-Krise wurde erwartet, daß enorme Unverhältnismäßigkeiten konstatiert würden. Das war aber nicht der Fall. Auch war es nicht der Fall, daß klärende Worte durch oberste Richter gesprochen worden wären. — Ein nicht unbeträchtlicher Anteil an der Protestkultur läßt sich auch auf das Schweigen der Richter zurückführen und die Unsicherheit, in der die Gesellschaft sich selbst überlassen wurde.

    Die Corona–Krise ist ein umfassender, mehr als nur politischer, sondern vielmehr soziokultureller Konflikt von höchster Brisanz. Über Wochen und Monate wurden grundsätzliche Urteile und Einlassungen des Bundesverfassungsgerichts förmlich gewartet, aber nichts geschah. — Es mutet an, als hätten die Richter in den roten Roben, wie weiland der römische Stadthalter Pontius Pilatus, sich eine Schüssel mit Wasser reichen lassen, um die Hände in Unschuld zu waschen.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Technikethik

    Kolloquium 

    Technikethik

    Technische Entwicklungen kontrovers reflektieren

    SS 2021 | donnerstags | 14:00–15:30 | Online
    Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

    Zum Kommentar als PDF

    Von Verantwortung ist immer wieder die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles andere als vertrauenserweckend. Der gute Wille allein genügt nicht. Zu unterscheiden sind mindestens das Subjekt der Verantwortung, der Verantwortungsbereich und die Verantwortungsinstanz, (ehedem Gott und jetzt?).

    Es gilt näher hinzusehen, wenn wir Fragen der Verantwortung angehen wollen, denn der Begriff ist mehrdimensional. Der Karlsruher Technikphilosoph Günter Ropohl hat das Ganze auf eine Formel mit sieben Variablen gebracht: Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann, wie? Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. Wie weit geht ihre (persönliche) Verantwortung wirklich?

    Dieses Kolloquium soll Fragen der Technikethik praktisch erfahrbar machen. Das wird anhand von Fallstudien aus ihren eigenen zukünftigen Berufsfeldern geschehen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren lassen. Dabei kommt es weniger auf das Ergebnis an, sondern auf die Qualität und den Austausch der vorgebrachten Argumente.

    Betreiben wir also Technikethik ganz konkret. Nehmen wir uns reale Situationen vor: seien es der Abgasskandal, Stellungnahmen zum Einsatz von Genmanipulation, der Einsturz der Brücke in Genua, Unfälle im Rahmen von Fahrten mit autonomen Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmittelbar dabei und hätten etwas zu sagen. Inszenieren wir die Kontroversen, in denen Techniklinien gestaltet werden, um sie am eigenen Leib zu
    erfahren. Die Veranstaltung soll Ihnen dazu dienen, Erfahrungen zu machen, die später womöglich auf Sie zukommen. Es ist dann fast wie ein Privileg, sich später daran zurückerinnern zu können, so etwas Ähnliches schon einmal durchgespielt zu haben.

    Nein, wir müssen es nicht.
    Aber?
    Aber wir werden es machen.
    Und weshalb?
    Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt,
    ob wir es wirklich können.

    (Hans Blumenberg)

    Dirck van Baburen: Prometheus wird von Vulkan angekettet (1623). — Quelle: Public Domain via Wikimedia. — Prometheus, der Gott des Fortschritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Aufsicht des Götterboten Hermes, vom Gott der Technik Vulkan an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet. Sein Vergehen: Er hat aus Menschenliebe die Technik zu den Menschen gebracht. Diese sollten darauf den Fortschritt einige Jahrtausende nicht mehr zu Gesicht bekommen.

    Die Zeiten sind vorbei, als Ingenieure und Ingenieurinnen fast jede weitere Verantwortung noch zurückwiesen mit den Worten, sie würden die Technik nur herstellen, seien aber nicht verantwortlich dafür, was daraus würde. — Aber machen wir uns nichts vor, Versuche, den technischen Fortschritt auf ›bessere‹ Bahnen zu lenken, gab es viele. Unvergessen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die Rolle einer Fahrradbremse am Intercontinental Flugzeug. 

    Forderungen nach Ethik, Verantwortung, Technikfolgenabschätzung, nachhaltigem Wachstum und Kilmaschutz werden tagtäglich erhoben und sind nicht unproblematisch, denn es ist auch Überforderung im Spiel. Wofür sind wir als Einzelne verantwortlich und wie soll denn die Gesamtverantwortung wahrgenommen werden? Allmählich wird es Zeit. Wer gibt die Technikziele vor oder generieren sie sich selbst?

    Was viele Verschwörungstheorien noch unterstellen: Es gibt sie nicht, die Schaltzentralen der Macht, in denen die Ziele des Fortschritts vorgegeben, der Kurs eingestellt und die Entwicklungen koordiniert werden. Zweifelsohne spielen Technik und Wirtschaft eine große Rolle, aber auch Politik und Kultur.

    Der blaue Planet ist zur Anthroposphäre geworden. Inzwischen wurde bereits ein neues Erdzeitalter ausgerufen, das Anthropozän. Die Zivilisation ist nunmehr alles entscheidend für das Schicksal des ganzen Planeten und die Zukunft der Menschheit. Die Erde ist zum Raumschiff geworden. Wir rasen durch einen lebensfeindlichen Raum, hinter uns eine erst kurze Episode der Zivilisation und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kollisionskurs geht.

    Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navigation vorgenommen wird, wenn wir dorthinein gelangen könnten, es wäre der Schock unseres Lebens. Denn die Pilotenkanzel ist leer, alles steht auf Autopilot und niemand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steuern. Dabei ist das Ganze keineswegs nur eine Frage der Technik, sondern auch eine von Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur, Wissenschaft und vielem anderen mehr.

    Jan Cossiers: Carrying Fire (ca. 1630). Prometheus stiehlt das Feuer aus der Werkstatt des Vulkan. Es ist nicht das Herdfeuer, das hatten die Menschen schon sehr lang. Es ist das Metallurgenfeuer, womit die Bronzezeit begann und
    dann auch die Zivilisation. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Daher genügt es längst nicht mehr, einfach nur ›gute‹ Technik zu machen, Probleme pragmatisch zu lösen, im Sinne des ›state of the art‹ zu entwickeln, Normen und Vorschriften einzuhalten usw. usf. — Darüber hinaus stellt sich vor allem auch die Frage, wie weit denn die persönliche Verantwortung reichen soll. Es ist nicht allein die Technik, die den Fortschritt bestimmt, es sind viele verschiedenen Faktoren, die eine Rolle spielen. — Die Rollen im Mythos vom Prometheus, der den technischen Fortschritt zur Darstellung bringt, lassen die Zusammenhänge erahnen.

    Da ist der Menschenfreund Prometheus, der mit besten Absichten die Entwicklung anfacht, aber eigentlich nicht sehr glücklich agiert. Da ist Vulkan, der Techniker, der alles tut, was ihm aufgetragen wird. Er murrt zwar, als er den geschätzten Kollegen anketten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambivalentes Verhältnis zur Menschheit hat und daher hin und hergerissen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athene, die Göttin der Weisheit, die den neuen Zivilisationsmenschen eine Seele einhaucht. Sie spendet auch die Wissenschaft und die Vernunft. Außerdem ist da noch Pandora, die mit allen Gaben Beschenkte, die die Gaben der abdankenden Götter zu den Menschen bringt, aber eben auch die damit verbundenen Übel. Und da ist noch Epimetheus, ein Melancholiker, der sich in Pandora verliebt. — Das dürfte genügen, die verschiedenen Seiten und Interessen zu charakterisieren, die dafür sorgen, daß der Fortschritt eben einen bestimmten Gang nimmt.

    Als der Münchener Soziologie Ulrich Beck im Jahre 1958 den Eintritt in die Risikogesellschaft diagnostizierte, sah er den technisch–ökonomischen Fortschritt überlagert von immer größeren, ungeplanten Nebenfolgen, grenzüberschreitenden Umweltproblemen und globalen Folgen Es gibt inzwischen einen Grad an Komplexität, der sich nicht mehr steuern oder gar beherrschen läßt. Eigentlich müßten alle unsere Innovationen unterhalb dieser Schwelle bleiben, aber das Gegenteil ist der Fall. Also wofür sind Techniker, Ingenieure und Ingenieurinnen wirklich verantwortlich? Welcher Teil der Verantwortung fällt anderen zu?

    Harry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wurde von Vulkan eine Frau erschaffen, mit allen Gaben der Götter ausgestattet und von Hermes zu den Menschen gebracht. Sie brachte jedoch nicht nur die Fähigkeiten der Götter, sondern auch die damit verbundenen Übel auf die Erde. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist keine unproblematische Entwicklung, daß in den letzten Jahrzehnten immer mehr Verantwortung auf Einzelne übertragen wurde, während die Gesamtverantwortung sich immer weiter verflüchtigt. Wer verantwortlich sein soll, muß gestalten, muß auch anders entscheiden können, erst dann kann Verantwortung zugeschrieben werden. — Insofern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz praktisch umgegangen werden kann, ist das andere. Sich verantwortlich zu fühlen für Verhältnisse, die nicht in der eigenen Macht stehen, ist daher nicht unproblematisch. Wer Verantwortung übernimmt, muß ›Nein sagen‹ können oder ›So nicht!‹.

    In diesem Seminar sollen solche Konflikte in Wertfragen, Zielkonflikten und der moralischen Integrität durchgespielt werden. Das geschieht anhand von Beispielen einschlägiger Dilemma–Situationen. Mitunter sind die Rahmenbedingungen schon problematisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedingungen schlechter Kommunikationsverhältnisse und aus Sorge um die eigene Reputation fachlich kompetent und moralisch integer zu handeln. Dazu bedarf es einiger Erfahrungen, die genauso wichtig sind wie das ganze technische Know–how.

    Dazu hat der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß eine hilfreiche Unterscheidung geprägt: Zum technischen Verfügungswissen gehört auch ein ebenso wichtiges Orientierungswissen. Das eine sagt uns wie, das andere aber wozu.  — Mitunter geraten aber das Wie und das Wozu in Widersprüche. Die Technikgeschichte ist voll solcher Beispiele, wo erst sehr viel später sich Nebenfolgen mit kolossalen Wirkungen zeigen, bis sie endlich wahrgenommen und thematisiert werden.

    Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, ob es nicht doch eine ›bessere‹ Technik gibt, eine, die von vornherein weniger Nebenfolgen hat. Technikutopien sind daher eine wichtige Orientierungshilfe, vor allem dann, wenn kritisch damit umgegangen wird. Wesentlich ist es, die verschiedenen Aspekte erörtern zu können und nicht zuletzt, andere zu überzeugen. Dazu ist kritisches Denken erforderlich. Daher geht es um die ethische, politische, ökonomische und ökologische Verantwortung im Ingenieurwesen. Erst das macht ›gute‹ Technik möglich, ein ›gutes‹ Gewissen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

    Bandicoot Robot: Converting manhole to robohole (2018). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    [gview file=”Nennen-Technikethik-SS21.pdf” save=”1″]

     

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Corona-Diskurs als Katharsis

    Heinz–Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit: Der Corona–Diskurs als Katharsis. Panik, Absturz, Krise und Transformation. (ZeitGeister4); Hamburg 2021. Titelbild: Wolfgang Ganter: Bacteriality, Work in Progress. Mit freundl. Genehm. durch Wolfgang Ganter, Berlin. (Alle Rechte vorbehalten!)

    Erscheint im Herbst 2021

    Seit Urzeiten waren Menschen fast immer auf Wanderschaft. Aber vor 12.000 Jahren kam die Seßhaftigkeit auf, also Städte, Kriege, Reichtum, Armut, Hochkultur, Luxus, Elend und Epidemien.

    Innerhalb weniger Monate hat sich ein Virus weltweit ausbreiten können. Fast überall wurde der Ausnahmezustand ausgerufen mit tiefen Eingriffen in Grundrechte. Der Shut–Down schien vielen als einzig mögliche Konsequenz, ein Diskurs fand gar nicht erst statt.

    Eine Riege auserwählter Virologen und Epidemiologen insinuierte die Richtlinien der Politik und diese betätigte darauf den Not–Aus–Schalter. Ganze Länder sind seither in Agonie, mit immensen Folgen für die Existenz, die Kultur und nicht zuletzt für die Psyche.

    Dieses Buch wurde Mitte März 2020 in der Absicht begonnen, dem Zeitgeist eine Nasenlänge voraus zu sein, anfangs noch in der Erwartung, die Corona–Krise sei zwar eine lehrreiche Episode, aber bald schon wieder vorüber. Es galt, die Entwicklung im großen Ganzen zu verstehen, was war und sein würde, welche Verluste zu beklagen, welche sozialen, persönlichen, psychologischen und seelischen Katastrophen zu bewältigen sind. Dazu zählen neue Ängste, die bleiben, Traumata, die akut wurden und solche, die neu geschaffen worden sind. — Wie werden wir mit den vielen persönlichen Schicksalen umgehen in der Welt, die nach Corona kommt?

    85% eines Eisbergs liegen unter Wasser, so verhält es sich hier auch. Unsere Diskurse sind oberflächlich, bei weitem nicht umfassend und sie gehen nicht in die Tiefe. Wir haben nur den sichtbaren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, worauf zu achten wäre. Nicht minder entscheidend sind alle erdenklichen weiteren Folgen, kulturelle, existentielle und vor allem auch die psychischen und sozialen Nebenwirkung sämtlicher Maßnahmen.

    Man bekommt das Ganze gar nicht erst in den Blick. Die herrschende Strategie wird wie üblich als alternativlos hingestellt. Weil viele Ängste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schicksalsergebenheit hingenommen, die gar nicht angebracht ist. — Auch wird immer wieder konstatiert, man dürfe Menschenleben nicht aufrechnen, aber genau das geschieht die ganze Zeit. Es werden andauernd heikle Entscheidungen in Ziel– und Wertkonflikten gefällt aber nicht offengelegt.

    Es fehlt das Gespür für die angemessene Art, ergebnisoffene Debatten zu führen. Unsere Gesprächskultur hat sich im Zuge der Krise weiter verschlechtert. Mehr denn je wird Gesinnungskontrolle betrieben, Verunglimpfungen sind fast schon salonfähig geworden. Viele sind eingeschüchtert und wagen gar nicht mehr, sich überhaupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phantasie und Diversität in den Debatten, weil ständig mit Exkommunikation bedroht wird, wer auch nur Anstalten macht, in Alternativen zu denken. — Man kann allerdings die Maßnahmen kritisch sehen, ohne Corona zu leugnen. Die Kurzformel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidioten, Aluhut–Trägern und die Diffamierung jedweder Kritik ist zutiefst undemokratisch. Das alles sind keine Anzeichen für einen moralischen Fortschritt, ganz im Gegenteil.

    Die monatelange Engführung der Debatten ist verheerend, so kann gar keine Vernunft in den Diskursen aufkommen. Nur bestimmte Perspektiven sind überhaupt zugelassen. Wer anderes anspricht, läuft Gefahr, exkommuniziert zu werden. Es ist ein Klima der Einschüchterung entstanden, dabei käme es darauf an, alle erdenklichen Alternativen offen und öffentlich zu diskutieren. — Das gilt insbesondere für Restaurants und Kultureinrichtungen, die längst bewiesen haben, daß sie es können. Man läßt sie nicht, warum?

    ›Sorge‹ ist oft gar nicht so selbstlos, wie sie sich gibt. Sie spiegelt sich gern selbst und glaubt, unverzichtbar zu sein. Dabei steht sie der tatsächlichen Entwicklung nur im Wege. Die Politik möchte ganz offenbar nichts von der neu hinzugewonnenen Macht wieder abgeben. Dagegen spricht neben der Gewaltenteilung ein weiteres Prinzip, die Gewalt staatlicher Macht einzuschränken, die Subsidiarität. — Demnach wird ein Problem generell zunächst auf der untersten Ebene gelöst, also individuell, familiär oder in der Gemeinde. Erst dann, wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, sollen, dürfen und müssen staatliche Institutionen eingreifen.

    Für viele gibt es ausschließlich die Kategorien Richtig und Falsch. Was bedeutet diese Polarisierung für das Funktionieren der Gesellschaft? Das Beharren auf diese Unterscheidung entspricht einer bestimmten Entwicklungsstufe bei Kindern. Das Differenzierungsvermögen ist dann noch nicht so weit entwickelt. Tatsächlich ist aber erst dann die Übernahme persönlicher Verantwortung möglich. Je weniger Regeln vorgegeben sind, sondern nur noch Prinzipien, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils angemessen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

    Die schwarze Pädagogik setzte da noch ganz auf Strafen, was nur dazu führt, die Intelligenz herauszufordern. Dann werden Regeln nicht aus eigenen Motivation eingehalten, sondern nur, weil man nicht erwischt werden möchte. So wird genau derjenige Untertanengeist erzeugt, den wir eigentlich hatten überwinden wollen. Schwarze Pädagogik, die mit Zwang und Strafe operiert, ist seit Jahrzehnten passé. Aber in Politik und Staat sind die alten Zöpfe aus dem Kaiserreich offenbar noch immer nicht abgeschnitten. — Selbstverantwortung ist eine Frage der Kultur, sie muß eingeübt und dann ausgeübt werden, weil man ganz gewiß immer mal an Grenzen stößt, über die die Entwicklung hinausführen muß.

    Viel halten es aber nervlich nicht aus, sich selbst zu orientieren und das Denken in der Schwebe zu halten. Manche sehen sogar eine Schwäche darin, wenn nicht sofort entschieden und gehandelt wird, egal wie. Aber die, die das eilige Handeln versprechen, verfolgen oft ganz andere Interessen. — Noch immer herrscht die Vorstellung vor, beim Diskutieren ginge es ums Hauen und Stechen. Dabei fehlt das Lächeln der Weisen und die Freude daran, gemeinsam ein neues Denken zu entwickeln, um damit sehr viel mehr zu verstehen als jemals zuvor.

     

     

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Religion,  Technikethik,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    WS 2020 | freitags | 12:00-13:30 Uhr | Raum: online

    Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2020

    Anmeldung beim House of Competence

    Zum Kommentar als PDF

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt.

    Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Verstehen ist Erfahrungssache

    Im Philosophischen Café kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es um nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt vielmehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen tatsächlichen Fortschritt im Verstehen erreichen.

    Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wieder zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswechsel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

    Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource. Wir müssen selbst entscheiden, wann wir etwas auf sich beruhen lassen, für welche Themen wir offen sind, und wofür wir uns wirklich brennend interessieren. Die Zunahme an Informationen ist dabei von erheblicher Bedeutung, denn sie führt gegenwärtig ganz offenbar zu Überforderungen. Alles könnte man wissen, aber jedes Wissen ist eigentlich unsicherer denn je.

  • Ausnahmezustand,  Corona,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Moral,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Die Corona-Krise als Katharsis – Fernsehinterview Juni 2020

    Philosoph Heinz-Ulrich Nennen: Die Corona-Krise als Katharsis

    04.06.2020 ∙ Lokalzeit Münsterland ∙ WDR Fernsehen

    Philosophie-Professor Heinz-Ulrich Nennen lebt seit Jahren im Wohnmobil am Kanal in Münster. Seit der Corona-Krise hält er auch seine Vorlesungen und Seminare von dort. Aber nicht nur das: Er schreibt gerade an einem Corona-Buch mit dem Titel “Die Corona-Krise als Katharsis”.

     

     

     

     

     

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Diskurs,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Religion,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophischer Salon: Corona–Sprechstunde

    Karlsruhe Institut für Technologie
    House of Competence

    Online–Seminar via ZOOM,

    ab Freitag, den 8. Mai 2020, 11:30-13:00 Uhr.  

     

    Kommentar:

    Corona allüberall. Es ist das erste Virus mit umfassender Ansteckung.

    Johann Heinrich Füssli: Die schlafwandelnde Lady Macbeth.
    Johann Heinrich Füssli: Die schlafwandelnde Lady Macbeth. Übertragung einer Monolog-Situation aus Shakespeare’s Tragödie (1784). Louvre, Room 719, Paris.

    ›Infiziert‹ wurden nicht nur die Körper, sondern auch die Köpfe, die Medien, die sozialen Netzwerke, die Politik, die Wirtschaft, Kultur und die Freizeit, eigentlich alles.  Das reicht bis ins Sozialverhalten: Nähe scheint plötzlich fahrlässig, ja gefährlich geworden zu sein. Es ist eine umfassende Krise.

    Aber Krisen bieten auch Chancen. Es sind besondere Zeiten, ein schneller Wandel kündigt sich an, mit vielem ist Schluß. Zugleich kommen aber neue Möglichkeiten auf. Die alte Welt wird untergehen, es ist die Frage, wie die neue sein wird oder sein sollte.

    Es gilt viel zu bedenken und noch mehr zu bereden. Persönliche Erfahrungen sind ebenso wichtig wie Visionen vom Großen und Ganzen. – Wie wird das eigene Leben weitergehen, in welcher Gesellschaft wollen wir leben? Was ist mit den Ängsten? Was ist mit der Verantwortung, nicht andere zu infizieren? Was, wenn die Welle wiederkommt…

    Fragen über Fragen und Antworten, von denen noch viel zu wenige in der Welt sind. – Kommt jetzt eine Wendezeit? Was läßt sich tun? Wie steht es um Fridays for Future?

    Wie steht es mit dem eigenen Lebensentwurf, mit dem Studium, den Jobs, mit Freunden und der Familie?

    In der Philosophischen Ambulanz geht es darum, daß alle erdenklichen Sachen thematisiert werden können. Alledem gemeinsam auf den Grund zu gehen, mit eigenen Worten, darin liegt der Reiz. – Diskurse sollen entstehen, über die unterschiedlichsten Themen, so wie sie gerade auf den Nägeln brennen. Eine ganz besondere Erfahrung ist dabei von großer Bedeutung, daß es wirklich möglich ist, sich gemeinsam zu verständigen, so daß sich dabei überraschende Einsichten auftun.

    Vorerst findet diese Veranstaltung wöchentlich via Zoom statt, ab Freitag, den 8. Mai 2020, 11:30-13:00 Uhr.