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ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Anthropologie

Grundrechte in der Corona-Krise

Das Schweigen der Richter

Von der Mond­lan­dung bis zum Lockdown

Wer die Mond­lan­dung am Fern­se­her live mit­er­lebt hat, hat viel­leicht auch die­ses Erweckungs­er­leb­nis. Wenn so etwas mög­lich war, dann schien eigent­lich alles mach­bar. Dann kam es 1972 mit den Stu­di­en des Club of Rome zu einer Fun­da­men­tal­kri­se aller die­ser Hoff­nun­gen. — Auch das Grund­ge­setz hat­te immer etwas von die­ser Mond­lan­dung, es war und ist eine über­zeit­li­che Lei­stung mit Ewig­keits­cha­rak­ter. Die­ses Sicher­heits­ge­fühl hat sich gehal­ten, wohl weil die Per­for­mance stets stim­mig schien, wenn >Karls­ru­he< sprach.

Leben oder Frei­heit – Ist die Coro­na-Poli­tik mit dem Grund­ge­setz ver­ein­bar? — SWR2-Forum,

Tho­mas Ihm dis­ku­tiert mit

Gigi Dep­pe, SWR-Rechts­exper­tin,
Prof. Dr. Chri­sti­an Kirch­berg, Rechts­an­walt
Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, Phi­lo­soph

Das hat­te etwas von Del­phi, wo die Prie­ster in ihren Sit­zun­gen dar­über berie­ten, was Apol­lo als Herr des Hau­ses wohl gesagt haben wür­de. Aller­dings ist ein Ora­kel wie das von Del­phi auch nur ein Unter­neh­men mit dem Bestre­ben, mög­lichst immer wie­der kon­sul­tiert zu wer­den. Und 1000 Jah­re kamen Men­schen und Staats­ver­tre­ter aus dem gan­zen Mit­tel­meer­raum mit höchst ent­schei­den­den Fra­gen, es kann also kein Hokus­po­kus gewe­sen sein.

Wenn die Rich­ter in den roten Roben zusam­men­tra­gen, dann hat­te das etwas von die­ser Aura: Immer wenn bewe­gen­de Urtei­le anstan­den, fand sich mit­un­ter auch eine Spur jener Weis­heit, wie sie nun ein­mal einer letz­ten Instanz anste­hen. — Auch das ist kein Hokus­po­kus, erfor­der­lich ist gutes Hand­werk, hohe Intel­li­genz, Dis­kurs­ver­mö­gen und vor allem eines, der gemein­sa­me Wil­le im Kol­le­gi­um, her­aus­zu­brin­gen, was wohl die Stim­me der Ver­nunft gesagt haben würde.

 

(Mein Bei­trag beginnt ab: 23:30)

Tie­fen und Untie­fen der Corona-Krise
Online-Dis­kus­si­on vom 9. Febru­ar 2021. Einf. u. Mod.: Ull­rich Eiden­mül­ler,

1. Vor­sit­zen­der des För­der­ver­eins FORUM RECHT e. V. 
Refe­ren­ten:
Prof. Dr. Chri­sti­an Kirch­berg (* 1947), Rechts­an­walt in Karls­ru­he und Vor­sit­zen­der des Ver­fas­sungs­rechts­aus­schus­ses der Bundesrechtsanwaltskammer. 

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen (* 1955), Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT). 

Black­out mit Notstromdiesel

Wer am 31. Janu­ar 2008 gegen 17:35 Uhr per Stra­ßen­bahn die Innen­stadt von Karls­ru­he auf dem Weg zum Haupt­bahn­hof pas­sie­ren woll­te, konn­te erle­ben, wie ein Strom­aus­fall sich vor Ort dar­stellt: Das Licht ging aus, die Bahn hielt mit­ten auf der Strecke, drau­ßen war nichts mehr zu sehen. Spär­li­ches Licht flacker­te auf, die Umge­bung wirk­te gespen­stisch. Nur sche­men­haft war erkenn­bar, wie Per­so­nal an den Türen der Geschäf­te sich postierte.

Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).

Carl Spitz­weg: Das Auge des Geset­zes (Justi­tia) (1857).

Ich ent­schloß mich, die Not­ent­rie­ge­lung der Stra­ßen­bahn­tür zu betä­ti­gen, aus­zu­stei­gen und ein Taxi zu neh­men, um die Fahrt zum Bahn­hof wei­ter fort­zu­set­zen. Die Impres­sio­nen auf die­ser Taxi­fahrt waren beein­druckend und lehr­reich: Der Weg führ­te an der Badi­schen Lan­des­bank vor­bei. Sie war beleuch­tet, die Not­strom­ver­sor­gung war also ange­sprun­gen. Dann fiel der näch­ste Blick auf das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Das Gebäu­de war hell erleuch­tet, so, als wenn nichts wäre.

Der­weil lag die Uni­ver­si­tät Karls­ru­he im Dunk­len und nur das Rechen­zen­trum hat­te spär­li­ches Licht. Ein ein­zi­ger Hotel­flur war noch beleuch­tet. — An einem Kran­ken­haus führ­te der Weg nicht vor­bei. Dabei ist es wesent­lich, daß gera­de auch dort die stö­rungs­freie Strom­ver­sor­gung gewähr­lei­stet sein muß. Auch der Haupt­bahn­hof war hell erleuch­tet, denn die Deut­sche Bun­des­bahn ver­fügt über ein eige­nes Netz und eige­ne Strom­ver­sor­gung. Man hat­te nicht ein­mal etwas bemerkt von der Störung.

Es ist wich­tig, sich vor Augen zu füh­ren, wie fra­gil unse­re sozio­tech­ni­schen Wel­ten eigent­lich sind. Es braucht nur klei­ne Unbe­dacht­sam­kei­ten, die zum Super­gau füh­ren kön­nen. – Ein war­nen­des Bei­spiel dazu sind die nicht über­flu­tungs­si­cher instal­lier­ten Not­strom­ag­gre­ga­te der Kern­kraft­werks­blöcke 1–3 von Fuku­shi­ma I.

Mul­ti­ples Systemversagen

Wir erwar­ten von unse­rer Tech­nik, daß Not­fall­sy­ste­me auto­ma­tisch hoch­fah­ren, das wird regel­mä­ßig geprobt — in der Tech­nik. Dabei soll­ten wir die­sel­ben Anfor­de­run­gen auch an die Sozia­len Syste­me stel­len. Gera­de in Kri­sen sind wir dar­auf ange­wie­sen, daß schlicht und ergrei­fend längst Vor­keh­run­gen getrof­fen wor­den sind.

Immer wie­der wur­de die Unver­brüch­lich­keit des Grund­ge­set­zes beschwo­ren. Plan­spie­le und Sze­na­ri­en für Aus­nah­me­zu­stän­de wären bes­ser gewe­sen als Sonn­tags­re­den. Tat­säch­lich haben wir es mit einem mul­ti­plen System­ver­sa­gen zu tun. — Das Gleich­ge­wicht der Kräf­te ist in der Coro­na-Kri­se von Anfang an ins Ungleich­ge­wicht gera­ten und es hat >sich< auch nicht wie­der ein­ge­pen­delt. Was das bedeu­tet, läßt sich an einem Plat­ten­spie­ler erläu­tern, wenn auf der einen Sei­te der Ton­arm, also die Exe­ku­ti­ve und auf der ande­ren Sei­te das Gegen­ge­wicht, also die Judi­ka­ti­ve und vor allem auch die Legis­la­ti­ve für den rich­ti­gen Aus­gleich sorgen.

Am 14. Mai 2020 hat das ober­ste Gericht zwei Ver­fas­sungs­be­schwer­den um Coro­na und Grund­rech­te nicht zur Ent­schei­dung ange­nom­men. Dabei boten gera­de die­se bei­den, fast muster­gül­ti­gen Ver­fas­sungs­kla­gen die Gele­gen­heit für die Ver­fas­sungs­rich­ter, sich gene­rell in Sachen Coro­na zu äußern. Das hät­te dann wie­der­um der Poli­tik sehr viel mehr Ori­en­tie­rung gegeben.

Durch Nicht­ein­las­sung haben die Karls­ru­her Rich­ter jedoch selbst das Gleich­ge­wicht der Kräf­te zwi­schen Legis­la­ti­ve, Judi­ka­ti­ve, Exe­ku­ti­ve und auch zwi­schen Bund und Län­dern aus dem Gleich­ge­wicht und außer Kon­trol­le gebracht. — Hät­ten die Rich­ter sich über­wun­den, den Mut und die Weit­sicht gefun­den, im lau­fen­den Pro­zeß der Coro­na-Kri­se das Spek­trum des ver­fas­sungs­recht­lich Gebo­te­nen zu skiz­zie­ren, sie hät­ten die Poli­tik davor bewahrt, zum Opfer der eige­nen Angst­po­li­tik zu werden.

Schön­wet­ter­de­mo­kra­tie?

Das Par­la­ment als Ort öffent­li­cher Mei­nungs­bil­dung wur­de kur­zer­hand ersetzt durch eine ver­fas­sungs­recht­lich gar nicht vor­ge­se­he­ne Mini­ster­prä­si­den­ten-Kon­fe­renz unter Lei­tung der Bun­des­kanz­le­rin, in der man seit einem Jahr alle ent­schei­den­den Erwä­gun­gen unter Aus­schluß der Öffent­lich­keit vor­nimmt. — Dabei wur­de immer wie­der der Föde­ra­lis­mus schlecht gere­det, der aller­dings ein unver­füg­ba­res Gebot der Ver­fas­sung dar­stellt. Am Bei­spiel von Frank­reich läßt sich zei­gen, was es bedeu­tet, wenn kei­ne effek­ti­ven kom­mu­na­len Struk­tu­ren vor Ort vor­han­den sind.

Auch die immer wie­der auf­ge­brach­te For­de­rung nach Gleich­be­hand­lung, ohne Rück­sicht auf die vor Ort tat­säch­lich vor­lie­gen­den Ver­hält­nis­se, ist stets unwi­der­spro­chen erho­ben wor­den. Dage­gen kam nur noch durch die Län­der­ho­heit über­haupt noch so etwas wie eine Pflicht zur Ver­hand­lung ins Spiel. Inso­fern wur­de das Land durch den Föde­ra­lis­mus vor einem radi­ka­len Zen­tra­lis­mus mit noch mehr Kol­la­te­ral­schä­den bewahrt.

Alle die­se Vor­keh­run­gen der Gewal­ten­tei­lung sind vor dem Hin­ter­grund der Erfah­run­gen mit der Wei­ma­rer Repu­blik und der Mög­lich­keit einer >Gleich­schal­tung< getrof­fen wor­den. Aus guten Grün­den wur­de ein durch­dach­tes Kon­zept von Checks and Balan­ces mit dem Grund­ge­setz eta­bliert. Alle die­se ver­brief­ten Siche­run­gen durch das syste­ma­ti­sche Aus­ba­lan­cie­ren der Gewal­ten gal­ten bis­lang als ver­trau­ens­wür­dig, ver­läß­lich, ja eigent­lich als robust und gera­de­zu unver­wüst­lich. Dabei stell­te sich im Zuge derCoro­na-Kri­se her­aus, daß viel davon offen­bar nur >gefühl­teSicher­heit< war.

Die Ver­trau­ens­wür­dig­keit des Grund­ge­set­zes und sei­ner Orga­ne wur­de in Sonn­tags­re­den immer wie­der gefei­ert. Als es aber zum Schwur kam, da schwie­gen die hohen Rich­ter. Das Mobilé der Gewal­ten kam aus dem Gleich­ge­wicht und ver­hak­te sich end­gül­tig. Ver­hält­nis­se kamen auf, die nicht hat­ten mög­lich sein sol­len, auch und gera­de in einer Kri­se nicht. — Für den Satz >Not kennt kein Gebot< gibt es nicht einen ein­zi­gen denk­ba­ren Anwen­dungs­fall, weil eine Ver­fas­sung genau dann ver­läß­lich sein muß, wenn es dar­auf ankommt. Wir leben nicht in einer Schön­wet­ter­de­mo­kra­tie. Ganz offen­bar fehlt aller­dings ein fun­da­men­ta­ler Dis­kurs über Not­stand und Grund­ge­setz. Kevin allein zu Haus

Nun war die Poli­tik ganz >allein zu Hau­se<. Kei­ne ande­ren Gewal­ten, kei­ne Lob­bys und auch kei­ne Kri­ti­ker moch­ten sich noch zu Wort mel­den, denn vie­le von ihnen waren bereits exkom­mu­ni­ziert. In den vie­len Talk­shows sah man immer wie­der die Anspan­nung in den Gesich­tern, bloß nicht ein womög­lich ver­rä­te­ri­sches Wort zu benut­zen, das unmit­tel­bar zur Exkom­mu­ni­ka­ti­on geführt hätte.

Die­ser Zustand ist eine sozio-kul­tu­rel­le Kata­stro­phe, denn die­se Kon­stel­la­ti­on ent­spricht genau dem, wovor der Sozio­lo­ge Niklas Luh­mann immer wie­der gewarnt hat: Angst­kom­mu­ni­ka­ti­on und Ent­dif­fe­ren­zie­rung. Das bedeu­tet in Ana­lo­gie nichts gerin­ge­res als ein mul­ti­ples System­ver­sa­gen. Es ist ein Rück­fall in den Abso­lu­tis­mus, wenn die Gesell­schaft in künst­li­ches Koma ver­setzt wird. — Die Poli­tik ist völ­lig über­for­dert, sie kann nicht lei­sten, was sie sich da auf­bür­den läßt. Daher wer­den die Maß­nah­men immer radi­ka­ler und immer end­lo­ser.

Das Schwei­gen der Richter

Gewal­ten­tei­lung, Föde­ra­lis­mus, Mei­nungs­ver­schie­den­heit, Dis­kur­se, der Anspruch auf Selbst­ver­ant­wor­tung und Mün­dig­keit, das alles sind kei­ne Stö­run­gen, gera­de in einer Kri­se nicht. Aber vie­len wur­de weis­ge­macht, daß dem so wäre. Man­che gaben dem nach, ande­re blie­ben beim Zwei­fel und durch die Gesell­schaft ging ein Riß, bei dem sich die unter­schied­li­chen Ansich­ten nicht mehr mit­ein­an­der ins Gespräch brin­gen lie­ßen. — Dabei ist gera­de die Viel­falt der Hin­sich­ten die alles ent­schei­den­de Bedin­gung für die Mög­lich­keit einer umsich­ti­gen Poli­tik und einer zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur, die dem Unter­ta­nen­geist, Fremd­be­stim­mung und der Bevor­mun­dung end­gül­tig Valet sagen sollte. 

Die Corona–Krise bie­tet auch eine Chan­ce, den Unter­ta­nen­geist in Deutsch­land end­lich zu über­win­den, den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter und vor allem das mis­an­thro­pi­sche Men­schen­bild. War­um über­tra­gen wir nicht den Geist der Reform­päd­ago­gik auch auf ein neu­es Ver­ständ­nis einer zeit­ge­mä­ßen Poli­tik? In Psy­cho­lo­gie und Päd­ago­gik wird spä­te­stens seit den 70er Jah­ren nicht mehr mit Bevor­mun­dung, son­dern mit Ein­ver­neh­men agiert.

Wir müs­sen unbe­dingt unter­schei­den zwi­schen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft. Wer das alles zusam­men­bringt, führt zumeist nichts Gutes im Schil­de. – Ein Staat ist kei­ne Gemein­schaft, auch eine Gesell­schaft ist er nicht. Unge­hin­dert ver­geht sich der Staat nicht sel­ten an der Gesell­schaft, denn Staat und Gesell­schaft zie­hen nicht unbe­dingt an einem Strang. Daher ist die Ver­fas­sung so ent­schei­dend, weil sie erst die Rah­men­be­din­gun­gen schafft und sicher­stellt, daß alle die­se Gewal­ten getrenn­ter Wege gehen müs­sen. Sie sol­len nicht eins sein, sie sol­len und müs­sen mit­ein­an­der rin­gen: “Audi­ta­tur et alte­ra pars” — Man höre auch die ande­re Sei­te. Das fin­det wie­der­um im Art. 103 Abs. 1 des Grund­ge­set­zes sei­ne Ent­spre­chung: Vor Gericht hat jeder­mann Anspruch auf recht­li­ches Gehör.”

Die Prü­fung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit obliegt den Ver­fas­sungs- und Ver­wal­tungs­ge­rich­ten. Seit Beginn der Coro­na-Kri­se wur­de erwar­tet, daß enor­me Unver­hält­nis­mä­ßig­kei­ten kon­sta­tiert wür­den. Das war aber nicht der Fall. Auch war es nicht der Fall, daß klä­ren­de Wor­te durch ober­ste Rich­ter gespro­chen wor­den wären. — Ein nicht unbe­trächt­li­cher Anteil an der Pro­test­kul­tur läßt sich auch auf das Schwei­gen der Rich­ter zurück­füh­ren und die Unsi­cher­heit, in der die Gesell­schaft sich selbst über­las­sen wurde.

Die Corona–Krise ist ein umfas­sen­der, mehr als nur poli­ti­scher, son­dern viel­mehr sozio­kul­tu­rel­ler Kon­flikt von höch­ster Bri­sanz. Über Wochen und Mona­te wur­den grund­sätz­li­che Urtei­le und Ein­las­sun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts förm­lich gewar­tet, aber nichts geschah. — Es mutet an, als hät­ten die Rich­ter in den roten Roben, wie wei­land der römi­sche Stadt­hal­ter Pon­ti­us Pila­tus, sich eine Schüs­sel mit Was­ser rei­chen las­sen, um die Hän­de in Unschuld zu waschen.


Technikethik

Kol­lo­qui­um 

Tech­nik­ethik

Tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen kon­tro­vers reflektieren

SS 2021 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
Beginn: 22 April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

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Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

Nein, wir müs­sen es nicht.
Aber?
Aber wir wer­den es machen.
Und wes­halb?
Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
ob wir es wirk­lich können.

(Hans Blu­men­berg)

Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Pro­me­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

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Philosophische Ambulanz

Philosophische Ambulanz

SS 2021 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

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Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

Und sie lau­fen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid’s gewe­sen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
Erst her­vor der alte Meister.

(Goe­the: Der Zauberlehrling)

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Verstehen ist Erfahrungssache

Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.


Das erschöpfte Selbst

Ober­se­mi­nar:

Das erschöpf­te Selbst — Die Psy­che und die Narrative

Don­ners­tags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 15. April 2021 | Ende: 22. Juli 2021

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Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen folgen. 

Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. 

Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Vor­ge­stellt wird uns Nar­ziß als ein anmu­ti­ger all­seits begehr­ter Jüng­ling, nur daß die­ser, ganz anders als der noch anmu­ti­ge Jüng­ling im Mario­net­ten­thea­ter von Kleist, auch im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Jugend rein gar nichts von sei­ner Anmut ein­büßt. Man kön­ne ihn als ein Bild der när­ri­schen Eigen­lie­be anse­hen, nach wel­cher einer ande­re Leu­te ver­ach­tet, end­lich aber ein Narr wer­de, und selbst ver­geht, heißt es im gründ­li­chen mytho­lo­gi­schen Lexi­kon von Ben­ja­min Hede­rich, das bereits Goe­the, Schil­ler und Kleist inspi­riert hat.

Bei Ovid erfah­ren wir sein doch recht jugend­li­ches Alter, Nar­ziß habe soeben eines zu fünf­zehn Jah­ren hin­zu gefügt und kön­ne eben­so noch als Kna­be erschei­nen aber auch bereits als Jüng­ling. Wir haben es also mit einem recht jun­gen Men­schen zu tun, und ver­wun­der­lich ist eigent­lich, daß allen Ern­stes erwar­tet wird, die­ser sol­le sich in die­sem Alter bereits zu irgend­ei­ner Lie­be bekennen. 

Über­tra­gen in unse­re Gegen­wart müß­ten wir pro­te­stie­ren und anfüh­ren, daß ein hal­bes Kind sehr wohl auch sein Recht auf einen Rest Kind­heit, auf Jugend­lich­keit, Unge­bun­den­heit, auch auf Selbst­ver­liebt­heit habe und daß nicht erwar­tet und schon gar nicht gefor­dert wer­den sol­le, er möge als­bald den soge­nann­ten Ernst des Lebens oder gar der Grün­dung einer Fami­lie ins Auge zu fas­sen. — Aber unter­stel­len wir wei­ter­hin, der Mythos wol­le uns anhand des Nar­ziß etwas ande­res vor Augen füh­ren, geste­hen wir ihm also zu, woge­gen wir durch­aus Ein­spruch erhe­ben könnten.

War­um es einen sol­chen Mythos geben muß, der uns den Nar­ziß­mus näher vor Augen führt, läßt sich anhand einer Neben­be­mer­kung bei Ovid zumin­dest erah­nen, es ist die ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ bei Nar­ziß, dar­in läge dann also das eigent­li­che Motiv für die­sen Mythos. 

Am Anfang steht der geheim­nis­vol­le Spruch des Sehers, der noch aus der Kin­der­zeit stammt, der über lan­ge Zeit nicht in Erfül­lung gehen soll­te: »Wenn er sich nicht kennt!« sei ihm ein lan­ges Leben beschie­den, hat­te The­re­si­as vorhergesagt.

“Lang schien eitel und leer sein Aus­spruch. Doch ihn bewäh­ren That und Erfolg und die Art des Tods und die Neu­heit des Wahn­sinns.” (Ovid: Metamorphosen)

Die­se ›Neu­heit des Wahn­sinns‹ wäre dem­nach der eigent­li­che Anlaß, war­um es die­sen Mythos, war­um es Nar­ziß hat­te geben müs­sen, um zu demon­strie­ren, daß etwas in sei­ner Ent­wick­lung schief gegan­gen ist, was nicht schief gehen soll­te. — Der neu­ar­ti­ge Wahn­sinn soll­te nun justa­ment in dem Augen­blick aus­bre­chen, als sich Nar­ziß doch noch selbst ken­nen ler­nen sollte.

Es scheint zugleich, als wol­le der Mythos auch pro­te­stie­ren, als sei er gegen irgend­et­was Neu­es gerich­tet, vor des­sen Fol­gen hier gewarnt wer­den soll, anhand eines schlim­men Fall­bei­spiels. — Wenn dem so wäre, daß der Mythos selbst und sei­ne Autor­inten­ti­on einer Epo­che ent­stammt, in der das, wovor hier gewarnt wer­den soll, noch gar nicht bekannt war, so daß es Befürch­tun­gen gab, gegen die sich das mythi­sche Modell des Nar­ziß rich­ten soll­te, dann steht ver­mut­lich im Hin­ter­grund die Erfah­rung eines ein­schnei­den­den kul­tu­rel­len Wandels.

Wir haben es hier also ver­mut­lich mit einem ent­schei­den­den Schritt im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se zu tun. — Die Neu­heit des Wahn­sinns von Nar­ziß läge dem­zu­fol­ge dar­in, nicht mehr ein­fach wie üblich von Lie­be ergrif­fen zu wer­den, als wil­len­lo­ses Objekt eines Angriffs des Hecken­schüt­zen Amor, der, selbst noch ein ver­ant­wor­tungs­lo­ses Kind, ein­fach mit Lie­bes­fei­len nur so um sich schießt und der nicht sel­ten auch Zeus zu allen erdenk­li­chen Eska­pa­den verleitet. 

Wir hät­ten dann im Nar­ziß einen ange­hen­den jun­gen Mann vor uns, der sich das Urteil dar­über, in wen er sich ver­liebt und ob über­haupt, selbst vor­be­hält. Auch das wäre eine Les­art, wobei die Neu­ar­tig­keit des Wahn­sinns, die Unver­schämt­heit aus der Per­spek­ti­ve der Alten zwei­fels­oh­ne im Anspruch auf Indi­vi­dua­li­tät liegt. 

Nar­ziß wäre einer, der sich nicht so ein­fach ergrei­fen läßt, der sich sei­ne Kind­heit und sei­ne Jugend­lich­keit bewahrt. — Nar­ziß dürf­te dem­nach in ganz beson­ders einem Wesens­zug als arro­gant, selbst­ver­liebt und auch hoch­mü­tig erschie­nen sein, in sei­nem Anspruch ein eigen­stän­di­ges, selbst­be­stimm­tes Indi­vi­du­um sein zu wollen.


EPGII

Ober­se­mi­nar

EPG II

Ethisch–Philosophisches Grund­la­gen­stu­di­um II


SS 2021 | freitags | 14:00–15:30 Uhr | Raum: online 

Beginn: 23. April 2021 | Ende: 23. Juli 2021

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Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.
Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Der Corona-Diskurs als Katharsis

Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2021. Titel­bild: Wolf­gang Gan­ter: Bac­te­ria­li­ty, Work in Pro­gress. Mit freundl. Genehm. durch Wolf­gang Gan­ter, Ber­lin. (Alle Rech­te vorbehalten!)

Erscheint im Herbst 2021

Seit Urzei­ten waren Men­schen fast immer auf Wan­der­schaft. Aber vor 12.000 Jah­ren kam die Seß­haf­tig­keit auf, also Städ­te, Krie­ge, Reich­tum, Armut, Hoch­kul­tur, Luxus, Elend und Epidemien.

Inner­halb weni­ger Mona­te hat sich ein Virus welt­weit aus­brei­ten kön­nen. Fast über­all wur­de der Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen mit tie­fen Ein­grif­fen in Grund­rech­te. Der Shut–Down schien vie­len als ein­zig mög­li­che Kon­se­quenz, ein Dis­kurs fand gar nicht erst statt.

Eine Rie­ge aus­er­wähl­ter Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen insi­nu­ier­te die Richt­li­ni­en der Poli­tik und die­se betä­tig­te dar­auf den Not–Aus–Schalter. Gan­ze Län­der sind seit­her in Ago­nie, mit immensen Fol­gen für die Exi­stenz, die Kul­tur und nicht zuletzt für die Psyche.

Die­ses Buch wur­de Mit­te März 2020 in der Absicht begon­nen, dem Zeit­geist eine Nasen­län­ge vor­aus zu sein, anfangs noch in der Erwar­tung, die Corona–Krise sei zwar eine lehr­rei­che Epi­so­de, aber bald schon wie­der vor­über. Es galt, die Ent­wick­lung im gro­ßen Gan­zen zu ver­ste­hen, was war und sein wür­de, wel­che Ver­lu­ste zu bekla­gen, wel­che sozia­len, per­sön­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und see­li­schen Kata­stro­phen zu bewäl­ti­gen sind. Dazu zäh­len neue Äng­ste, die blei­ben, Trau­ma­ta, die akut wur­den und sol­che, die neu geschaf­fen wor­den sind. — Wie wer­den wir mit den vie­len per­sön­li­chen Schick­sa­len umge­hen in der Welt, die nach Coro­na kommt?

85% eines Eis­bergs lie­gen unter Was­ser, so ver­hält es sich hier auch. Unse­re Dis­kur­se sind ober­fläch­lich, bei wei­tem nicht umfas­send und sie gehen nicht in die Tie­fe. Wir haben nur den sicht­ba­ren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, wor­auf zu ach­ten wäre. Nicht min­der ent­schei­dend sind alle erdenk­li­chen wei­te­ren Fol­gen, kul­tu­rel­le, exi­sten­ti­el­le und vor allem auch die psy­chi­schen und sozia­len Neben­wir­kung sämt­li­cher Maßnahmen.

Man bekommt das Gan­ze gar nicht erst in den Blick. Die herr­schen­de Stra­te­gie wird wie üblich als alter­na­tiv­los hin­ge­stellt. Weil vie­le Äng­ste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schick­sals­er­ge­ben­heit hin­ge­nom­men, die gar nicht ange­bracht ist. — Auch wird immer wie­der kon­sta­tiert, man dür­fe Men­schen­le­ben nicht auf­rech­nen, aber genau das geschieht die gan­ze Zeit. Es wer­den andau­ernd heik­le Ent­schei­dun­gen in Ziel– und Wert­kon­flik­ten gefällt aber nicht offengelegt.

Es fehlt das Gespür für die ange­mes­se­ne Art, ergeb­nis­of­fe­ne Debat­ten zu füh­ren. Unse­re Gesprächs­kul­tur hat sich im Zuge der Kri­se wei­ter ver­schlech­tert. Mehr denn je wird Gesin­nungs­kon­trol­le betrie­ben, Ver­un­glimp­fun­gen sind fast schon salon­fä­hig gewor­den. Vie­le sind ein­ge­schüch­tert und wagen gar nicht mehr, sich über­haupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phan­ta­sie und Diver­si­tät in den Debat­ten, weil stän­dig mit Exkom­mu­ni­ka­ti­on bedroht wird, wer auch nur Anstal­ten macht, in Alter­na­ti­ven zu den­ken. — Man kann aller­dings die Maß­nah­men kri­tisch sehen, ohne Coro­na zu leug­nen. Die Kurz­for­mel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidio­ten, Aluhut–Trägern und die Dif­fa­mie­rung jed­we­der Kri­tik ist zutiefst unde­mo­kra­tisch. Das alles sind kei­ne Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, ganz im Gegenteil.

Die mona­te­lan­ge Eng­füh­rung der Debat­ten ist ver­hee­rend, so kann gar kei­ne Ver­nunft in den Dis­kur­sen auf­kom­men. Nur bestimm­te Per­spek­ti­ven sind über­haupt zuge­las­sen. Wer ande­res anspricht, läuft Gefahr, exkom­mu­ni­ziert zu wer­den. Es ist ein Kli­ma der Ein­schüch­te­rung ent­stan­den, dabei käme es dar­auf an, alle erdenk­li­chen Alter­na­ti­ven offen und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. — Das gilt ins­be­son­de­re für Restau­rants und Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die längst bewie­sen haben, daß sie es kön­nen. Man läßt sie nicht, warum?

›Sor­ge‹ ist oft gar nicht so selbst­los, wie sie sich gibt. Sie spie­gelt sich gern selbst und glaubt, unver­zicht­bar zu sein. Dabei steht sie der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung nur im Wege. Die Poli­tik möch­te ganz offen­bar nichts von der neu hin­zu­ge­won­ne­nen Macht wie­der abge­ben. Dage­gen spricht neben der Gewal­ten­tei­lung ein wei­te­res Prin­zip, die Gewalt staat­li­cher Macht ein­zu­schrän­ken, die Sub­si­dia­ri­tät. — Dem­nach wird ein Pro­blem gene­rell zunächst auf der unter­sten Ebe­ne gelöst, also indi­vi­du­ell, fami­li­är oder in der Gemein­de. Erst dann, wenn die­se Mög­lich­kei­ten erschöpft sind, sol­len, dür­fen und müs­sen staat­li­che Insti­tu­tio­nen eingreifen.

Für vie­le gibt es aus­schließ­lich die Kate­go­rien Rich­tig und Falsch. Was bedeu­tet die­se Pola­ri­sie­rung für das Funk­tio­nie­ren der Gesell­schaft? Das Behar­ren auf die­se Unter­schei­dung ent­spricht einer bestimm­ten Ent­wick­lungs­stu­fe bei Kin­dern. Das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ist dann noch nicht so weit ent­wickelt. Tat­säch­lich ist aber erst dann die Über­nah­me per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung mög­lich. Je weni­ger Regeln vor­ge­ge­ben sind, son­dern nur noch Prin­zi­pi­en, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils ange­mes­sen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

Die schwar­ze Päd­ago­gik setz­te da noch ganz auf Stra­fen, was nur dazu führt, die Intel­li­genz her­aus­zu­for­dern. Dann wer­den Regeln nicht aus eige­nen Moti­va­ti­on ein­ge­hal­ten, son­dern nur, weil man nicht erwischt wer­den möch­te. So wird genau der­je­ni­ge Unter­ta­nen­geist erzeugt, den wir eigent­lich hat­ten über­win­den wol­len. Schwar­ze Päd­ago­gik, die mit Zwang und Stra­fe ope­riert, ist seit Jahr­zehn­ten pas­sé. Aber in Poli­tik und Staat sind die alten Zöp­fe aus dem Kai­ser­reich offen­bar noch immer nicht abge­schnit­ten. — Selbst­ver­ant­wor­tung ist eine Fra­ge der Kul­tur, sie muß ein­ge­übt und dann aus­ge­übt wer­den, weil man ganz gewiß immer mal an Gren­zen stößt, über die die Ent­wick­lung hin­aus­füh­ren muß.

Viel hal­ten es aber nerv­lich nicht aus, sich selbst zu ori­en­tie­ren und das Den­ken in der Schwe­be zu hal­ten. Man­che sehen sogar eine Schwä­che dar­in, wenn nicht sofort ent­schie­den und gehan­delt wird, egal wie. Aber die, die das eili­ge Han­deln ver­spre­chen, ver­fol­gen oft ganz ande­re Inter­es­sen. — Noch immer herrscht die Vor­stel­lung vor, beim Dis­ku­tie­ren gin­ge es ums Hau­en und Ste­chen. Dabei fehlt das Lächeln der Wei­sen und die Freu­de dar­an, gemein­sam ein neu­es Den­ken zu ent­wickeln, um damit sehr viel mehr zu ver­ste­hen als jemals zuvor.


Philosophische Ambulanz

Philosophische Ambulanz

WS 2020 | freitags | 12:00–13:30 Uhr | Raum: online

Beginn: 6. Nov. 2020 | Ende: 19. Febr. 2020

Anmeldung beim House of Competence

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Fer­di­nand Bart: Der Zau­ber­lehr­ling, (1882). Zeich­nung aus dem Buch Goethe’s Wer­ke, 1882. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia

Und sie lau­fen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch ent­setz­li­ches Gewässer!
Herr und Mei­ster! hör mich rufen! —
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
»In die Ecke,
Besen! Besen!
Seid’s gewe­sen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu sei­nem Zwecke,
Erst her­vor der alte Meister.

(Goe­the: Der Zauberlehrling)

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. 

Es kommt viel mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen Fort­schritt errei­chen. Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Verstehen ist Erfahrungssache

Im Phi­lo­so­phi­schen Café kommt die Phi­lo­so­phie wie­der zurück auf den Markt­platz, wo Sokra­tes sei­ne Dis­pu­te führ­te, immer auf der Suche nach einer Phi­lo­so­phie, die es bes­ser auf­neh­men kann mit der Wirk­lich­keit. In den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz soll es dar­um gehen, in gemein­sa­men Gedan­ken­gän­gen die bes­se­ren, höhe­ren und tie­fe­ren Ein­sich­ten zu gewinnen.

Ver­ste­hen ist Erfah­rungs­sa­che, Ver­stän­di­gung ist eine Fra­ge der Übung. Oft herr­schen aber fal­sche Vor­stel­lun­gen vor: Gemein­sa­mes Ver­ste­hen ent­steht im Dia­log und in Dis­kur­sen, bei denen es um nicht vor­ran­gig um Mei­nungs­äu­ße­run­gen und Stel­lung­nah­men geht. Es kommt auch nicht dar­auf an, Recht zu behal­ten, sich zu behaup­ten oder etwa ver­meint­li­che ›Geg­ner‹ mund­tot zu machen. — Gewalt ent­steht, wo Wor­te ver­sa­gen, wenn nicht gesagt und ver­stan­den wer­den kann, was einem wirk­lich am Her­zen liegt. Es kommt viel­mehr dar­auf an, im gemein­sa­men Ver­ste­hen wei­ter­zu­kom­men, so daß sich die Dis­kur­se anrei­chern und ihre Suk­zes­si­on, also einen tat­säch­li­chen Fort­schritt im Ver­ste­hen erreichen.

Daher ist es so wich­tig, gera­de im Kon­flikt aus einem Dis­sens her­aus wie­der zu neu­em Ein­ver­neh­men zu fin­den. Erst das macht uns zu mün­di­gen Zeit­ge­nos­sen, wenn wir auch über die eige­ne Stel­lung­nah­me noch frei ver­fü­gen kön­nen. — Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen nicht schleu­nigst auf­zu­lö­sen, weil sie anstren­gend sind. Viel­mehr gilt es, das Den­ken selbst in der Schwe­be zu hal­ten. Der Weg ist das Ziel, gera­de auch beim Philosophieren.

Es gilt, nicht nur die übli­chen Stand­punk­te zu ver­tre­ten, son­dern neue und gänz­lich unbe­kann­te Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Daher ist der Posi­ti­ons­wech­sel von so emi­nen­ter Bedeu­tung. Genau das ist ›Bil­dung‹, den Stand­ort der Betrach­tung wech­seln, um eine Stel­lung­nah­me ggf. auch aus einer belie­bi­gen ande­ren Per­spek­ti­ve vor­neh­men, kom­men­tie­ren und beur­tei­len zu können.

Auf­merk­sam­keit ist eine begrenz­te Res­sour­ce. Wir müs­sen selbst ent­schei­den, wann wir etwas auf sich beru­hen las­sen, für wel­che The­men wir offen sind, und wofür wir uns wirk­lich bren­nend inter­es­sie­ren. Die Zunah­me an Infor­ma­tio­nen ist dabei von erheb­li­cher Bedeu­tung, denn sie führt gegen­wär­tig ganz offen­bar zu Über­for­de­run­gen. Alles könn­te man wis­sen, aber jedes Wis­sen ist eigent­lich unsi­che­rer denn je.


Wir alle spielen Theater

Wir alle spielen Theater

WS 2020 | donnerstags | 12:00–13:30 | Raum: Online
Beginn: 5. Nov. 2020 | Ende: 18. Febr. 2021

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Mat­thieu Bou­rel: Self­con­fi­dence, Auto­no­my. — Quel­le: https://​high​li​ke​.org.

Die Meta­pher vom Thea­ter ist neben der von der Schiff­fahrt von para­dig­ma­ti­scher Bedeu­tung. Im Mit­tel­al­ter sah man die Welt als Büh­ne, mit nur einem ein­zi­gen Zuschau­er, Gott. — Das ist nur eine von vie­len Sta­tio­nen in der Psy­cho­ge­ne­se, die sich so beschrei­ben läßt, daß wir im Ver­lau­fe der Zeit vie­les ›ver­in­ner­li­chen‹.

Ganz all­mäh­lich ist der inne­re Kos­mos unse­rer Psy­che immer umfang­rei­cher gewor­den. Das wie­der­um führ­te dazu, daß wir auch in der Rol­len­über­nah­me inzwi­schen anders vor­ge­hen. — Rol­len wer­den immer weni­ger ›gespielt‹, son­dern von innen her ›ent­wickelt‹. Wir suchen und fin­den in der eige­nen Psy­che den per­sön­li­chen Zugang zu einer Figur, deren Rol­le über­nom­men wer­den soll.

In die­sem Sin­ne ist die Schau­spiel­theo­rie auch psy­cho­lo­gisch von gro­ßer Bedeu­tung, gera­de auch in Hin­sicht auf Iden­ti­täts­phi­lo­so­phie. Die Viel­falt in der eige­nen Psy­che wird nicht nur immer kom­ple­xer, son­dern auch wider­sprüch­li­cher. Dabei zeigt sich eine inter­es­san­te Ent­wick­lung, die das The­ma die­ses Semi­nars sein soll, die Mög­lich­keit, mit ›mul­ti­plen Iden­ti­tä­ten‹ umge­hen zu kön­nen. So hat der Schau­spiel­leh­rer Kon­stan­tin Ser­ge­je­witsch Sta­nis­law­ski einen neu­en Ansatz ent­wickelt, wie die Arbeit des Schau­spie­lers an sich selbst und im schöp­fe­ri­schen Pro­zeß des Erle­bens einer Figur, des Ver­kör­perns und der Arbeit an der Rol­le sehr viel inten­si­ver gestal­tet wer­den kann. — Eine Rol­le nur zu spie­len, das genügt kei­nes­wegs, das wäre schlech­tes Thea­ter. Es kommt dar­auf an, die Figur, die Rol­le, die Welt einer Hand­lung in sich zu suchen, zu fin­den und sich dann hineinzufühlen. 

Auch der US–Amerikanische Schau­spiel­leh­rer Lee Strasberg ent­wickel­te mit dem Method Acting einen neu­en, tie­fe­ren Zugang zur Schau­spiel­kunst, um die Natür­lich­keit und die Inten­si­tät der schau­spie­le­ri­schen Dar­stel­lung zu stei­gern. Mit Hil­fe eines von ihm ent­wickel­ten Instru­men­ta­ri­ums soll­ten Schau­spie­ler die Rol­le in sich selbst fin­den, her­aus­zu­brin­gen, um dann damit zu verschmelzen.

Jean–Léon Gérô­me: The Duel After the Mas­quer­a­de (1857f.). Es ist ein Clown,
ein Pirot, der nach der Vor­stel­lung duel­liert und töd­lich getrof­fen niedersinkt.
— Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Aber nicht nur für Schau­spiel und Schau­spiel­kunst ist das alles von Inter­es­se. Auch im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se und vor dem Hin­ter­grund, daß wir alle immer mehr Thea­ter spie­len und immer wei­ter aus­dif­fe­ren­zier­te Rol­len über­neh­men, wird die Fra­ge der Ein­füh­lung von immer grö­ße­rer Bedeu­tung. Wir leben in unru­hi­gen Zei­ten, was auch damit zusam­men­hängt, daß die Psy­cho­ge­ne­se wie­der einen Schritt wei­ter vor­an­ge­schrit­ten ist. Das ist der aktu­el­le Stand in die­ser Ent­wick­lung, daß wir nicht mehr Rol­len über­neh­men, son­dern ver­schie­de­ne Iden­ti­tä­ten, um die­se zunächst aus uns selbst her­aus zu ent­wickeln. — Damit kommt eine wei­te­re, sehr gro­ße Her­aus­for­de­rung in die Welt, es gilt, nicht mehr nur ›authen­tisch‹ zu sein, son­dern eben auch ›viel­fäl­tig‹ in der Varia­ti­on der Iden­ti­tä­ten, die ein­an­der wider­spre­chen kön­nen. Das ist offen­bar eine ganz neue Errun­gen­schaft, die aller­dings mit erheb­li­chen Irri­ta­tio­nen einhergeht.

Der Mensch in der Moder­ne ist ein Trä­ger vie­ler Mas­ken. Das ist eigent­lich eine ganz ent­schei­den­de, höchst aktu­el­le Errun­gen­schaft, die Fähig­keit, mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten ver­kör­pern zu kön­nen, die sogar mit­ein­an­der im Wider­streit ste­hen kön­nen. Aber die Sou­ve­rä­ni­tät, dann auch tat­säch­lich dar­über zu ver­fü­gen, hält sich der­zeit noch in Gren­zen. Um die neu­en Kom­pe­ten­zen an den Tag zu legen, fehlt noch immer der Mut, die Legi­ti­mi­tät des eige­nen Indi­vi­dua­lis­mus, der die eige­ne Auto­no­mie erst selbst ernst neh­men müß­te. Nur weni­gen gelingt es bereits. All­über­all schämt man sich des­sen, spricht von Wahr­heit, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät, Auf­merk­sam­keit und vom wah­ren Selbst, als ob es das wirk­lich gäbe.

Das unum­gäng­li­che Mas­ken­spiel soll­ten wir tat­säch­lich ganz bewußt betrei­ben. Statt­des­sen wird jedoch immer so getan, als sei alles echt, als wüß­te man zwi­schen Echt­heit und Unecht­heit sehr wohl zu unter­schei­den. Dabei ist in der Tat vie­les Thea­ter oder man­ches nur ›Show‹, aber mit­un­ter erscheint es so, als käme es ohne­hin nur noch dar­auf an, daß die Show stimmt. — Dis­kur­se wie die über ›Empa­thie‹, ›Auf­merk­sam­keit‹ und ›Wahr­haf­tig­keit‹ lie­gen daher als kri­ti­sche Reak­tio­nen gera­de­zu auf der Hand. Aber auch das sind selbst wie­der nur Rol­len, eben sol­che, die Authen­ti­zi­tät dar­stel­len sol­len, um aber genau dar­in wie­der­um Rol­len­spiel zu betreiben.

Aller­dings spie­len wir alle Thea­ter, neh­men Rol­len wahr, ver­kör­pern sie, gehen aber nicht rest­los dar­in auf. Vor­zei­ten iden­ti­fi­zier­ten sich Men­schen noch mit ihrem ›Stand‹, mit ihrem ver­meint­li­chen gesell­schaft­li­chen ›Sein‹, und der Aus­druck indi­vi­du­el­ler Frei­hei­ten war als ›Spleen‹ nur weni­gen vor­be­hal­ten, ganz exklu­siv am lieb­sten den exzen­tri­schen Atti­tü­den alten Adels. 

Die Uni­ver­sa­li­sie­rung der Rol­len­über­nah­me ist dafür ver­ant­wort­lich, daß inzwi­schen fast nur noch insze­niert wird. Wo zuvor eine gera­de­zu skla­vi­sche Rol­len­be­set­zung statt­ge­fun­den hat, herrscht nun der unbe­ding­te Wil­le zur Mei­nung vor. Das Publi­kum insze­niert sich inzwi­schen selbst, so wie es Poli­tik und Medi­en seit Jahr­zehn­ten vor­ex­er­zie­ren. Daher wird die Kon­stel­la­ti­on immer unüber­sicht­li­cher, es gibt eigent­lich kein Publi­kum mehr, nur noch Akteu­re. — Ins­be­son­de­re das Sub­jek­ti­vie­ren, das Emo­tio­na­li­sie­ren und das Skan­da­li­sie­ren kon­kur­rie­ren­der Auf­fas­sun­gen, ein­fach nur, weil sie nicht dem eige­nen Stand­punkt zuzu­ord­nen sind, hat sich inzwi­schen flä­chen­deckend ausgebreitet.

Neu­zeit­li­che Thea­ter­maske für den Dar­stel­ler des Mephi­sto. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Man­che der Instan­zen unse­rer Psy­che las­sen sich wie poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen betrach­ten, zu denen nun­mehr eine neue hin­zu­kom­men wird, ein­fach weil sie hin­zu­kom­men muß: Das mul­ti­ple Selbst ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, weil es nun dar­um geht, zwi­schen allen erdenk­li­chen Per­spek­ti­ven zu mode­rie­ren und zwar in dem Bewußt­sein, daß kei­ne die­ser Hin­sich­ten den Anspruch hegen darf, allein gül­tig zu sein. Es gilt, das eine zu tun ohne das ande­re zu las­sen. — Aller­dings kann es ein gro­ßes nicht nur rein intel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen berei­ten, Gefüh­le einer­seits authen­tisch zu erfah­ren, um zugleich ket­ze­risch das eige­ne Emp­fin­den iro­nisch zu spiegeln.

Zu jeder moder­nen Psy­che gehört es eben, nicht nur die vor­mals exter­nen Instan­zen der Ord­nung, der Dis­zi­plin und der Bestra­fung als Selbst­dis­zi­pli­nie­rung in sich hin­ein­ge­nom­men zu haben. Es gehört eben­so mit dazu, daß wir zugleich eine gan­ze Ket­zer­ver­samm­lung mit uns her­um­füh­ren, die nur auf eine Gele­gen­heit war­tet, alles, was hei­lig sein soll, vom Sockel zu sto­ßen. — Es kommt eben dar­auf an, selbst­be­wußt genug zu sein, alle die­se inne­ren Wider­sprü­che nicht zu kaschie­ren, son­dern im Gegen­teil, sie als Per­spek­ti­ven zu wür­di­gen, jede, wie es ihr zukommt.

Also: Wird eine Situa­ti­on als ›roman­tisch‹ emp­fun­den, weil sie bestimm­ten Bil­dern, Vor­stel­lun­gen und ein­schlä­gi­gen Nar­ra­ti­ven ent­spricht? — Sol­che Fra­gen haben das For­mat von Glau­bens­kon­flik­ten, wie sie Prie­ster seit je hat­ten, wenn sie vor ihrer Gemein­de auf­tre­ten muß­ten, aber nicht offen­bar wer­den las­sen durf­ten, daß sie viel­leicht selbst sich ihres Glau­bens gar nicht mehr so sicher waren. Lan­ge Zeit wur­de erwar­tet, daß sie nicht durch­blicken las­sen, wie es um den eige­nen Glau­ben steht, weil sie doch die ihnen anver­trau­ten Scha­fe in einen pani­schen Schrecken ver­set­zen könnten.

Hawen King: Pro­mo­tio­nal masks
for the DVD release of „V for Ven-
det­ta“ at HMV in Tokyo. To get a
mask you had to buy the DVD. 8.
Sept. 2006, V for Ven­det­ta. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Auto­no­mie ist der Anspruch und die Fähig­keit, sich selbst ein eige­nes Bild von der Welt und den Sachen zu machen, selbst wenn sie uns zutiefst berüh­ren und viel­leicht auch äng­sti­gen. Dabei ist es mög­lich, zugleich mit­ten drin zu sein und den­noch sich selbst und das gan­ze Trei­ben von außen zu betrach­ten. Tat­säch­lich ist erst das wah­res Glück, sich inmit­ten erfül­len­der Erleb­nis­ses zu fin­den, die viel­leicht tat­säch­lich muster­gül­tig sind, so wie es die Nar­ra­ti­ve vor­se­hen. — Glück bedeu­tet, sich selbst in sol­chen Situa­tio­nen als authen­tisch zu erfah­ren und zugleich selbst­iro­nisch den Über­schwang der eige­nen Gefüh­le zu spie­geln. Das erst wäre tat­säch­lich ein Aus­druck von Auto­no­mie, Sou­ve­rä­ni­tät und Selbst­be­wußt­sein. Ent­schei­dend wäre nur, ob die Erleb­nis­se tat­säch­lich von Bedeu­tung sind, oder ob es nur rein äußer­lich um Insze­nie­rung, nur um das ›Als–Ob‹ geht.

Es gilt, ein mul­ti­ples Selbst und Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät zu ent­wickeln. Denn wenn wir den bis­he­ri­gen Ver­lauf der Psy­cho­ge­ne­se in die Zukunft ver­län­gern, dann wer­den wei­te­re Inter­na­li­sie­run­gen fol­gen. Das wer­den vor allem auch sol­che sein, die Pro­ble­me berei­ten, weil sie immer mehr mit­ein­an­der im Hader lie­gen wie Prie­ster und Ket­zer, wie Scha­ma­nen und Wis­sen­schaft­ler, wie Natur– und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. — Es wird ganz gewiß nicht ein­fa­cher, son­dern kom­pli­zier­ter, wenn nun­mehr wei­te­re wider­sprüch­li­che Figu­ren und Nar­ra­ti­ve hin­zu­kom­men, so, wie wir inzwi­schen fast den gan­zen Göt­ter­him­mel in uns haben als Teil unse­rer Psyche.

Nicht nur die sozia­le Außen­welt, son­dern auch die psy­chi­schen Innen­wel­ten dif­fe­ren­zie­ren sich im Ver­lauf der Kul­tur­ge­schich­te immer wei­ter aus. Wenn die Welt, weni­ger die natür­li­che Umwelt, als viel­mehr die sozio­kul­tu­rel­le zwei­te Natur, immer kom­ple­xer wird, dann stei­gen die Anfor­de­run­gen, wirk­lich noch zu ver­ste­hen, was eigent­lich gespielt wird. — Es soll­te daher mög­lich sein, die inhä­ren­te Dia­lek­tik ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven mit allen ein­schlä­gi­gen Dif­fe­ren­zen ganz bewußt in Dienst zu neh­men, um sodann selbst den­ken und sich an die Stel­le eines jeden ande­ren ver­set­zen zu kön­nen, um schließ­lich im Bewußt­sein aller die­ser unter­schied­li­chen Stim­men aufzutreten.

Selt­sa­mer­wei­se erschei­nen gera­de die grie­chi­schen Göt­ter oft wie Dar­stel­ler ihrer selbst. Wenn sie ihre Mas­ken wie ein Visier hoch­ge­klappt haben, dann wir­ken sie wie Schau­spie­ler wäh­rend der Dreh­pau­se in einem der vie­len Stücke, in denen sie sich selbst ver­kör­pern. — Die Göt­ter der Anti­ke sind wie die Stars unse­rer Tage, die Ster­ne von damals sind die Stern­chen von heute.

Alle ihre Fähig­kei­ten, mit denen sie sich im Ver­lau­fe der Zeit ange­rei­chert haben, las­sen sich oft noch an den vie­len Bei­na­men erken­nen. Das sind Aspek­te ver­ein­nahm­ter Häupt­lings­tü­mer, es sind die inter­na­li­sier­ten Gei­ster der Clans, die längst auf­ge­gan­gen sind im grö­ße­ren Gan­zen die­ser Göt­ter­ge­stal­ten. — Göt­ter ver­fü­gen über mul­ti­ple Iden­ti­tä­ten, daher fällt es ihnen so leicht, in frem­der Gestalt auf­zu­tre­ten, um sich doch selbst treu zu bleiben.

Die Göt­ter beherr­schen das Spiel mit den Mas­ken. Beson­ders Zeus wech­selt ein ums ande­re Mal für Lie­bes­aben­teu­er äußerst spek­ta­ku­lär die eige­ne Gestalt: Er nähert sich sei­ner spä­te­ren Gat­tin Hera als durch­näß­ter, zit­tern­der Kuckuck, als Stier der Euro­pa, als Schwan der Leda, als gol­de­ner Regen der Danaë und um den Hera­kles zu zeu­gen, ver­wan­delt er sich in Amphi­try­on, den Gat­ten der Alk­me­ne. — Ganz offen­bar besteht für ihn nicht der gering­ste Anlaß zur Sor­ge, daß die frem­de Gestalt auch voll­kom­men frem­de Erfah­run­gen beim Lie­bes­spiel mit sich brin­gen könnte.

Göt­ter wie Zeus beherr­schen ein­fach die­ses bedeu­ten­de Kunst­stück, sich auch in frem­der Gestalt noch immer selbst treu zu blei­ben. — Und das nun­mehr im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se anste­hen­de mul­ti­ple Selbst wird sei­ner­seits über die­se ent­schei­den­de gött­li­che Fähig­keit ver­fü­gen, sich anver­wan­deln zu kön­nen. Das ist eigent­lich der höch­sten Göt­ter Kunst, die Gestalt wech­seln zu kön­nen. Die Ein­wän­de dage­gen, da sei kei­ne Wahr­haf­tig­keit, son­dern nur Insze­nie­rung aber kei­ne Authen­ti­zi­tät, son­dern Vor­spie­ge­lung im Spie­le, kön­nen nicht ver­fan­gen, weil unter­stellt wird, was gar nicht der Fall kann: Wir haben nicht die eine ein­zig wah­re Natur, das inne­re, ein­zig ver­bind­li­che Selbst oder irgend­ei­ne ein für alle Mal fixier­te Iden­ti­tät in uns, die ehr­lich­keits­hal­ber nur zum Aus­druck gebracht wer­den muß, wäh­rend alles ande­re nur Lug und Trug sein würde.

Die Fra­ge nach der Wahr­haf­tig­keit eines Got­tes, der eine Meta­mor­pho­se voll­zo­gen hat, ist unan­ge­bracht, sowohl einem Scha­ma­nen wie auch einem Schau­spie­ler gegen­über. Es ist irrele­vant, ob der Clown hin­ter sei­ner Mas­ke weint und daß im Scha­ma­nen­ko­stüm oder in der Rol­le noch immer der­sel­be Mensch steckt, es kommt dar­auf an, was sich dar­auf ereig­net. — Auf die äußer­li­chen Fak­ten kommt es nicht an, ent­schei­dend ist viel­mehr das inne­re Erle­ben: Selbst­ver­ständ­lich ist der Dar­stel­ler, was er vor­gibt zu sein, eben­so wie auch der Scha­ma­ne den geru­fe­nen Geist mög­lichst authen­tisch verkörpert.

Paul Klee: Zwei Män­ner, ein­an­der in höhe­rer Stel­lung ver­mu­tend, begegnen
sich (1903). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Wir alle spie­len Thea­ter, was kei­nes­wegs bedeu­tet, daß es uns nicht mit der jewei­li­gen Rol­le ernst wäre. Mas­ken­spiel ist eine aus­ge­zeich­ne­te Meta­pher für das, was sich da eigent­lich ereig­net, es ist der Bruch mit der nai­ven Erwar­tung, daß wir immer die­sel­ben sind und es auch blei­ben. — Wer eine Mas­ke auf­setzt, über­nimmt eine Rol­le, wird somit zu jemand ande­rem, wech­selt also die Identität.

Im Zen­trum die­ser Erör­te­run­gen ste­hen die Hand­lungs­ur­sa­chen, die Moti­ve und die Ori­en­tie­rung in Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen. Dabei waren die Men­schen der vor­klas­si­schen Zeit, so die­se Theo­rie, offen­bar noch gänz­lich außen­ge­lei­tet. Erst all­mäh­lich beginnt dann die Inter­na­li­sie­rung, so daß wir inzwi­schen fast stets innen­ge­lei­te­te Hand­lungs­mo­ti­ve unter­stel­len dürfen.

Auf irgend­ei­ne Wei­se müs­sen also die vor­ma­li­gen Gei­ster, Göt­ter und Auto­ri­tä­ten oder viel­leicht auch Anti–Autoritäten, all­mäh­lich ins Inne­re, in die Innen­welt unse­rer Psy­che gelangt sein. — Denn: Wir tra­gen die Göt­ter in uns. Sie wur­den inter­na­li­siert, und die Inter­na­li­sie­rung der ehe­dem exter­nen Stim­men gelingt ganz offen­bar in einem Pro­zeß, der an Schi­zo­phre­nie den­ken läßt.


Philosophischer Salon: Corona–Sprechstunde

Karlsruhe Institut für Technologie
House of Competence

Online–Seminar via ZOOM, 

ab Frei­tag, den 8. Mai 2020, 11:30–13:00 Uhr. 

Kom­men­tar:

Coro­na all­über­all. Es ist das erste Virus mit umfas­sen­der Ansteckung.

Johann Heinrich Füssli: Die schlafwandelnde Lady Macbeth.

Johann Hein­rich Füss­li: Die schlaf­wan­deln­de Lady Mac­beth. Über­tra­gung einer Mono­log-Situa­ti­on aus Shake­speare’s Tra­gö­die (1784). Lou­vre, Room 719, Paris.

›Infi­ziert‹ wur­den nicht nur die Kör­per, son­dern auch die Köp­fe, die Medi­en, die sozia­len Netz­wer­ke, die Poli­tik, die Wirt­schaft, Kul­tur und die Frei­zeit, eigent­lich alles. Das reicht bis ins Sozi­al­ver­hal­ten: Nähe scheint plötz­lich fahr­läs­sig, ja gefähr­lich gewor­den zu sein. Es ist eine umfas­sen­de Krise.

Aber Kri­sen bie­ten auch Chan­cen. Es sind beson­de­re Zei­ten, ein schnel­ler Wan­del kün­digt sich an, mit vie­lem ist Schluß. Zugleich kom­men aber neue Mög­lich­kei­ten auf. Die alte Welt wird unter­ge­hen, es ist die Fra­ge, wie die neue sein wird oder sein sollte.

Es gilt viel zu beden­ken und noch mehr zu bere­den. Per­sön­li­che Erfah­run­gen sind eben­so wich­tig wie Visio­nen vom Gro­ßen und Gan­zen. – Wie wird das eige­ne Leben wei­ter­ge­hen, in wel­cher Gesell­schaft wol­len wir leben? Was ist mit den Äng­sten? Was ist mit der Ver­ant­wor­tung, nicht ande­re zu infi­zie­ren? Was, wenn die Wel­le wiederkommt…

Fra­gen über Fra­gen und Ant­wor­ten, von denen noch viel zu weni­ge in der Welt sind. – Kommt jetzt eine Wen­de­zeit? Was läßt sich tun? Wie steht es um Fri­days for Future?

Wie steht es mit dem eige­nen Lebens­ent­wurf, mit dem Stu­di­um, den Jobs, mit Freun­den und der Familie?

In der Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz geht es dar­um, daß alle erdenk­li­chen Sachen the­ma­ti­siert wer­den kön­nen. Alle­dem gemein­sam auf den Grund zu gehen, mit eige­nen Wor­ten, dar­in liegt der Reiz. – Dis­kur­se sol­len ent­ste­hen, über die unter­schied­lich­sten The­men, so wie sie gera­de auf den Nägeln bren­nen. Eine ganz beson­de­re Erfah­rung ist dabei von gro­ßer Bedeu­tung, daß es wirk­lich mög­lich ist, sich gemein­sam zu ver­stän­di­gen, so daß sich dabei über­ra­schen­de Ein­sich­ten auftun.

Vor­erst fin­det die­se Ver­an­stal­tung wöchent­lich via Zoom statt, ab Frei­tag, den 8. Mai 2020, 11:30–13:00 Uhr. 


Pandora: Das schöne Übel

Über die dunklen Seiten der Vernunft

Wenn mit der Zivi­li­sa­ti­on die ersten Städ­te auf­kom­men, dann ver­kör­pert Pan­do­ra den Typus der mon­dä­nen Städ­te­rin. Sie steht alle­go­risch für die zuneh­men­de Viel­falt in den Geschlech­ter­rol­len. Dabei zeigt sich eine neue Dia­lek­tik, die von der Hei­li­gen und der Hure. — Pan­do­ra ist eine eben­so begna­de­te wie exal­tier­te Diva, ein selt­sa­mes Misch­we­sen, Göt­tin, Andro­idin und Mensch zugleich, auch ist sie der Pro­to­typ der ›weib­li­chen Frauen‹.

Heinz–Ulrich Nen­nen: Pan­do­ra: Das schö­ne Übel. Über die dunk­len Sei­ten der Ver­nunft. (Zeit­Gei­ster 3); Ham­burg 2019. Titel­bild: Dan­te Gabri­el Ros­set­ti: Helen of Troy (1863). Ham­bur­ger Kunst­hal­le. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. Im Hin­ter­grund brennt Tro­ja, sie­he hier­zu S. 59f.

Zu allen Zei­ten glaub­te man ohne viel Feder­le­sens zu ver­ste­hen, wer sie ist, was mit ihr los sei. Ent­spre­chend schnell sind ihre Inter­pre­ten mit Cha­rak­ter­stu­di­en fer­tig, die doch nur unzu­läng­lich sind: Ein durch und durch ver­ruch­tes Weib, eine Stra­fe der Göt­ter soll sie sein, mit der alle Übel in die Welt gekom­men sind… — So ein­fach kann man es sich machen, ganz so ein­fach ist es aber nicht. Es sind mit ihr näm­lich auch alle gött­li­chen Gaben vom Him­mel auf die Erde gebracht worden.

Die Ent­sen­dung der Pan­do­ra ist Teil einer zutiefst beein­drucken­den Göt­ter­däm­me­rung. Was der Mythos den Göt­tern da unter­stellt, könn­te als Geste kaum gene­rö­ser sein. Bevor sie abdan­ken, über­ge­ben sie zuvor noch alle ihre vor­ma­li­gen Zustän­dig­kei­ten — ganz. So erscheint die Sen­dung der Pan­do­ra in ande­rem Licht, als hät­ten die Göt­ter damit sagen wol­len: Dann macht doch alles selbst, wenn ihr ernst­haft glaubt, es bes­ser zu kön­nen als wir!

Pan­do­ra ist zwei­fels­oh­ne die Figur mit dem aller­größ­ten Deu­tungs­po­ten­ti­al, denn sie steht als Alle­go­rie für die Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen, für Wil­lens­frei­heit und dabei vor allem für jenen fra­gi­len Indi­vi­dua­lis­mus, der erst sehr viel spä­ter mit der Moder­ne voll­ends zum Aus­druck kom­men wird. Sie ist unver­gleich­lich in jeder Hin­sicht, als Künst­le­rin, als Intel­lek­tu­el­le, als Frau, Femme fata­le, als Muse und Freun­din, aber auch ›nur‹ als Mensch.

Als schö­nes Übel ver­kör­pert Pan­do­ra gedie­ge­nen Luxus. Wie auch anders? Sie ist in allen ihren Attri­bu­ten gött­li­cher Natur! Auf­grund ihrer Schön­heit, ihrer Attrak­ti­vi­tät, ihrer Bedeu­tung und nicht zuletzt auf­grund ihrer Talen­te ist sie nicht von die­ser Welt. Aber sie wird nicht auf­grund ihrer gött­li­chen Attri­bu­te geschätzt, son­dern nur wegen der mit­ge­brach­ten Güter.

Für die Übel wird sie nur zu gern ver­ant­wort­lich gemacht. Anson­sten ent­spricht alles dem neu­en Frau­en­bild, daß sich erfolg­rei­che Jäger nur zu sehr gern mit ihr schmücken. Ihre ver­bor­ge­nen Kapa­zi­tä­ten wer­den nicht gese­hen. Eigent­lich ist sie nur eine Tro­phäe wie die Hele­na, nichts wei­ter als ein Zei­chen des Erfolgs. — Wer die Schön­ste aller Frau­en in sei­nen Besitz brin­gen konn­te, war damit auch der Mäch­tig­ste unter denen, die sei­ner­zeit die­ses Pro­jekt in Gang gesetzt hat­ten, das sich seit­her immer wei­ter selbst perpetuiert.