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ZeitGeister | Philosophische Praxis

Akademie für Philosophische Psychologie

Category: Anthropologie

Kunst, Künstler und Gesellschaft

Video: Anmerkungen zum Projekt Hawerkamp

Seit 1988/89 hat sich auf dem ehe­ma­li­gen Gewer­be­ge­län­de „Am Hawerk­amp“ in Mün­ster mit städ­ti­scher Dul­dung bzw. Unter­stüt­zung ein „Kul­tur­ge­län­de“ ent­wickelt. Dort fin­den sich Ate­liers für Künst­ler, Clubs, Büh­nen, Werk­stät­ten und Initiativen.

Der Video­künst­ler Jür­gen Hil­le hat mit „Pro­jekt Hawerk­amp“ im Früh­som­mer 2021 an die­sem Ort mit einer Rei­he von Inter­views und Film­sze­nen auf sei­ne Wei­se eine „Rea­li­täts­for­schung“ betrie­ben, um den Geist des Ortes zu charakterisieren.

Mei­ne „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz“ fin­det sich in Sicht­wei­te, weni­ge Pro­jek­te, wie etwa mein „Public Wri­ting“ haben ich auch schon dort insze­niert.  Also wur­de ich zum Inter­view gebe­ten. Dabei nahm ich die Gele­gen­heit wahr, ein­mal das Ver­hält­nis zwi­schen Kunst, Künst­ler­tum und Gesell­schaft zur Spra­che zu bringen.

Jür­gen Hil­le: Rea­li­täts­for­schung, 2021. 

Der Ursprung von Kunst hat immer etwas Sakra­les. Sie dient dem Aus­druck einer Schön­heit, hin­ter der etwas Hei­li­ges steht.  Im Hin­ter­grund steht der wie­der­keh­ren­de Wunsch nach Begeg­nun­gen mit dem Hei­li­gen. In die­ser Tra­di­ti­on, in die­sen Dien­sten ste­hen die Kün­ste von Anfang an.

Je wei­ter der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on vor­an­schrei­tet, umso wei­ter kommt es zur Ent­zau­be­rung der Welt. Umso mehr brau­chen wir die Kün­ste, weil sie etwas bewah­ren, was Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen auf­ge­ben, weil es jen­seits der Gren­ze zwi­schen Zivi­li­sa­ti­on und Wild­nis liegt.

Inso­fern sind Künst­ler ganz beson­de­re, nicht sel­ten eigen­ar­ti­ge Men­schen, die gern über den Zaun schau­en. Inso­fern ist es die Auf­ga­be von Kunst­wer­ken, daß sich Geheim­nis­se auf­decken.  Auf die­se beson­de­ren Begeg­nun­gen mit dem Geheim­nis­vol­len kommt es an. Daher sind sol­che Sozio­to­pe von immenser Bedeutung.

Aber unse­rer Gesell­schaft fehlt inzwi­schen bereits sehr viel mehr. Eine Welt, die nur auf Geld aus ist und glaubt, sich See­len­heil erkau­fen zu kön­nen durch Selbst­in­sze­nie­run­gen, die ohne Herz und See­le sind, ist kaum mehr zu ret­ten und eigent­lich auch nicht der Ret­tung wert.  Was die Kunst als Arbeits- und Lebens­welt vor Augen führt, ist das gera­de Gegen­teil der Auf­spal­tung in Lebens­welt und Arbeits­welt, in Leben und Gegenleben.

Die Arbeits– und Lebens­wel­ten sind offen­bar nur erträg­lich, wenn es immer wie­der „Urlaub“ von alle­dem gibt. Nur ist die­se Tren­nung selbst das Pro­blem. Wir haben Lebens­kon­zep­te, die eigent­lich gar nicht zum Leben da sind, son­dern dazu, daß wir arbei­ten und kon­su­mie­ren sol­len.  Daher ist es so schön, daß es Künst­ler gibt, die ein­fach von die­sen vor­ge­fer­tig­ten Lebens­we­gen abwei­chen, die das Ihre tun und der Gesell­schaft vor­füh­ren, was alles anders sein kann.


Ist die Aufklärung gescheitert?

Es läßt sich stets konstatieren, alles sei gescheitert.

Aber wer sind wir, wenn wir glaub­ten, das fest­stel­len zu kön­nen und dann auch noch ein für alle Male und für immer? Wie abso­lut soll so ein Befund gel­ten, unge­fähr solan­ge wie der Zorn ober­ster Göt­ter, wenn sie Sint­flu­ten schicken und danach ihren kind­li­chen Jäh­zorn able­gen? Ja, auch Göt­ter haben ihre Entwicklungsphasen.

Wil­liam Tur­ner: Der Brand des Par­la­ments­ge­bäu­des in Lon­don 1835.

Mit der Auf­klä­rung ver­hält es sich wie mit dem auf­rech­ten Gang. Es berei­tet Rücken­schmer­zen, erschwert die Geburt, weil das Becken zu eng wird.  Aber, es wer­den die Hän­de frei als uni­ver­sel­le Werk­zeu­ge. Seit­her kön­nen wir Sachen be–greifen.

Aber die Spra­che ist das Werk­zeug aller Werk­zeu­ge. Es kommt also dar­auf an, die rich­ti­gen Wor­te zu kre­ieren. Es gibt vie­les in der Welt, von denen wir die Wor­te nicht ein­mal ahnen. 

Solan­ge aber etwas nicht gesagt und auch noch nicht von min­de­stens einem Men­schen ver­stan­den wor­den ist, hat der Geist der Mensch­heit noch erheb­li­che Lücke genau dort, wo die­ses Phä­no­men eigent­lich hin­ge­hört, wenn man es „ein­ord­nen“ könnte.

Auf­klä­rung ist wie Lau­fen, was bedeu­tet, es wird stän­dig die Balan­ce auf­ge­ge­ben. Man desta­bi­li­siert die Stel­lung, neigt sich, stürzt nach vorn und fängt sich dann durch den näch­sten Schritt wie­der auf.  Nicht anders ver­hält es sich mit der Psy­cho­ge­ne­se. Wir sind wie die Kin­der uns selbst immer einen Schritt vor­aus, einen Schritt mehr, als wir beherr­schen, ver­ant­wor­ten, ver­ste­hen können.
So ähn­lich voll­zieht sich die gan­ze Mensch­heits­ent­wick­lung und die Suche nach der Ant­wort auf die Fra­ge, was denn die gan­ze Anthro­po­ge­ne­se eigent­lich soll. – Aber Phi­lo­so­phen arbei­ten nicht gern mit Hypo­the­sen wie die vom intel­li­gen­ten Desi­gner, also rufen sie die Anthro­po­lo­gie zum Zwecke der uni­ver­sel­len Beratung.
Die anspruchs­voll­ste Hypo­the­se dabei, Ent­wick­lung zu den­ken, ist die Annah­me, alles hät­te sich all­mäh­lich ent­wickelt ohne intel­li­gen­ten Desi­gner oder sonst­was. Eine der größ­ten intel­lek­tu­el­len Her­aus­for­de­run­gen liegt tat­säch­lich im Nihi­lis­mus. Dazu müß­te man sich dann aber auch der Her­aus­for­de­rung stel­len, ein­fach zuzu­ge­ben, daß der „Sinn des Gan­zen“ immer nur von uns selbst kom­men kann.
Wir müs­sen ihn uns also selbst geben und wir sind dann auch völ­lig frei, uns jeden belie­bi­gen Sinn zu geben. Und das „Ziel“, also die­ser „gehei­me Plan“, den die Natur – nur hypo­the­ti­sche – mit dem Mensch­heits­pro­jekt ver­folgt, liegt dar­in, daß die Natur sich selbst in den Blick neh­men möchte. 
Aber dazu muß sich das Wesen, das die­se Auf­ga­be lei­sten soll, erst selbst in den Blick bekom­men. Und da gibt es noch sehr viel mensch­li­ches Poten­ti­al zu ent­fal­ten, im Guten wie im Bösen, im Ver­nünf­ti­gen wie auch in der Dummheit.
Und jeder neue Schritt im Zuge der Auf­klä­rung bringt nicht nur neue Ver­un­si­che­run­gen mit sich, son­dern zunächst immer erst ein­mal einen neu­en Aber­glau­ben. In sol­chen Zei­ten leben ganz offen­bar alle stets dane­ben. Und nur der Phä­no­me­no­lo­ge bleibt in Sicht­wei­te und auf Abstand zum Schiff­bruch, der ja nun den obli­ga­to­ri­schen Zuschau­er braucht.
Eine Maxi­me lau­tet: Wer heilt, hat Recht! – Die­ser Tage möch­te man fast glau­ben, es gel­te eine neue Maxi­me: Wer Angst kom­mu­ni­ziert, hat Recht.
Davor, genau davor hat der hei­li­ge Niklas (Luh­mann) immer gewarnt, vor „Ent­dif­fe­ren­zie­rung“.
Der Spruch „Wer­det wie die Kin­der“, ist schließ­lich auch kei­ne Auf­for­de­rung zur hei­li­gen Ein­falt.  Gemeint ist tat­säch­lich eine unvor­ein­ge­nom­me­ne Offen­heit, wie sie fast nur Kin­der zustan­de brin­gen, mit Aus­nah­me von Phä­no­me­no­lo­gen ver­steht sich.

Wir haben nicht nur Corona, – wir haben auch Demokratie

Was Menschen einander antun können

Es ist erstaun­lich, wie wenig ver­trau­ens­er­weckend die men­ta­len Wider­stands­kräf­te sind, wenn es um „Gesund­heit“ geht. In der Tat ist es wün­schens­wert, an Leib und See­le gesund zu sein, und ein wenig Glück dürf­te auch noch mit dabei sein. Nicht zu ver­ges­sen die Lieb­sten und Freun­de mit Nähe und Mit­ge­fühl, denn es lebt und fei­ert sich in Gemein­schaft ein­fach besser.

Aber was ist inzwi­schen aus der Nähe gewor­den? Die gan­ze Gesell­schaft fügt sich einem Medizin–Diskurs, wie ihn Michel Fou­cault nicht schlim­mer hät­te aus­ma­len können. 

Dabei hat der Glau­be an ‚die‘ Medi­zin selbst etwas Aber­gläu­bi­ges in der Erwar­tung, sie wäre „Wis­sen­schaft“ und sonst gar nichts. Alles ande­re sei dage­gen nichts wei­ter als Ket­ze­rei, eine Abwei­chung vom ein­zig wah­ren Glau­ben und zuletzt ein­fach nur Quer­den­ker­tum und Hokuspokus.

Teaser. Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

Die Welt ist aber viel kom­ple­xer, als es sich Poli­tik und Medi­zin träu­men las­sen, die sich in die­ser Kri­se zusam­men­ge­tan haben, um sich gegen­sei­tig zu stützen. 

Her­aus­ge­kom­men sind Ver­hält­nis­se, als leb­ten wir noch im 19. Jahr­hun­dert. Da gibt es eine bemer­kens­wer­te Unter­schei­dung zwi­schen Arzt und Medi­zi­ner. Letz­te­re waren damals noch Staats­be­am­te und sie stan­den zumeist im Mili­tär­dienst und so ist dann auch heu­te noch immer ihre Denkungsart. 

Mein Dok­tor­va­ter, Prof. Wil­helm Goerdt war Mit­glied der ersten Ethik–Kommission in Deutsch­land. Er hat mir berich­tet, daß es in den ersten Sit­zun­gen über den soge­nann­ten „Mün­di­gen Pati­en­ten“ ging. 

Er war ein her­vor­ra­gen­der Mode­ra­tor in Semi­nar­dis­kus­sio­nen. Man kam stets ins Schwit­zen auf der Suche nach bes­se­ren Argu­men­ten. — Er war völ­lig ent­setzt und befrem­det dar­über, daß die Medi­zi­ner gar nicht ver­stan­den oder nicht ver­ste­hen woll­ten, was wohl damit gemeint sein könn­te, wenn von „Mün­di­gen Pati­en­ten“ die Rede war. 

Nun hat sich die Poli­tik im Zuge der Corona–Krise in einen Akti­vis­mus ver­rannt. Sie hat Äng­ste geschürt und Panik ver­brei­tet. Man glaub­te, die Kri­se auf die­se Wei­se „in den Griff zu bekom­men“. Dabei ist in Wirt­schaft, in der Bil­dung und in der Zivil­ge­sell­schaft ganz erheb­li­cher Scha­den ange­rich­tet worden.

Nicht nur der Ver­lust jahr­zehn­te­lang „erspar­ter“ Steu­er­mil­li­ar­den, son­dern auch see­li­sche Schä­den bei Kin­dern, psy­chi­sche Bela­stun­gen bei jun­gen Leu­ten und vie­le, sehr vie­le ver­lo­re­ne Träu­me, um von den Trau­ma­ti­sie­run­gen gar nicht erst zu spre­chen. Der fran­zö­si­sche Prä­si­dent hat den Kriegs­zu­stand aus­ge­ru­fen und dann ist es welt­weit zu unüber­schau­ba­ren Kol­la­te­ral­schä­den gekommen.

Hin­ter alle­dem steckt ein obso­le­tes Men­schen­bild, das aus dem 19 Jahr­hun­dert stammt. In die­ser Kri­se fei­ert der Mis­an­thro­pis­mus fröh­li­che Urständ, weil sich Poli­tik und Medi­zin zusam­men­ge­tan haben. In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie wird dage­gen seit etwa 1900 von einem völ­lig ande­ren Men­schen­bild aus­ge­gan­gen, daß der Mün­dig­keit, der Selbst­fin­dung, der Selbst­ver­ant­wor­tung, der Ent­wick­lung und der Emanzipation.

Und jetzt, wo all­mäh­lich kaum noch abzu­strei­ten ist, daß alle Maß­nah­men die ver­spro­che­ne Wie­der­kehr zur Nor­ma­li­tät ein­fach nicht bewir­ken, daß Geimpf­te nicht etwa immun, son­dern wei­ter­hin ansteckend und auch gefähr­det sind, daß vie­le der erbrach­ten Opfer eben nicht erbracht haben, was in Aus­sicht gestellt wor­den ist, jetzt wird nach den Schul­di­gen gesucht wie in einer Ket­zer­ver­fol­gung. — Aber die Ver­ant­wor­tung liegt in die­ser fata­len Koope­ra­ti­on zwi­schen Poli­tik und Medi­zin auf der Grund­la­ge eine inhu­ma­nen Menschenbildes.

Eric Clap­tons Hand­ab­drücke und sei­ne Unter­schrift auf dem Rock Walk; 9. Juli 2005, Hol­ly­wood. Foto: Nick Wil­le, via Wikimedia.

Wir haben nicht nur Coro­na, wir auch Demo­kra­tie. Die über­bor­den­den Mach­phan­ta­sien, in denen Medi­zin und Poli­tik sich erge­hen, sobald sie sich zusam­men­tun, sind päd­ago­gisch kontraindiziert.

Sie ver­un­si­chern, erzeu­gen Panik und machen krank. Die Gesell­schaft wird pola­ri­siert, nur weil der Mut fehlt, zuge­ben zu kön­nen, daß der gute Wil­le mit­un­ter die schlech­te­sten Ergeb­nis­se erzielt. 

Der Akti­vis­mus, der Steue­rungs­wahn, die Über­heb­lich­keit, mit ganz weni­gen, völ­lig fixier­ten Model­len aus­zu­kom­men, um dann zu glau­ben, eine sol­che Kri­se lie­ße sich bewäl­ti­gen mit nur ganz weni­gen Hin­sich­ten und Rück­sich­ten, ist fahrlässig.

Alle Syste­me haben inzwi­schen Scha­den genom­men. Allem vor­an das Ver­trau­en in Poli­tik, Staat, Medi­zin, Recht, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und auch in die offe­ne Gesell­schaft, die sich selbst zum Feind wird.

Ganz ent­setz­lich ist es, daß immer wie­der neue Sün­den­böcke aus­ge­ru­fen wer­den. Erst waren es die Kin­der, dann die Jugend­li­chen und jetzt sind es die Unge­impf­ten. Quer­den­ker war mal eine ehren­vol­le Bezeich­nung für sol­che, die den Mut auf­brach­ten, sich des eige­nen Ver­stan­des ohne frem­de Anlei­tung zu bedie­nen. Jetzt wird auch noch das krea­ti­ve, unkon­ven­tio­nel­le, ergeb­nis­of­fe­ne Den­ken verunglimpft.

Die Poli­tik hat sich ein­neh­men las­sen von nur ganz weni­gen Dis­zi­pli­nen, die nicht ein­mal Wis­sen­schaft sind, son­dern nur Tech­nik. — Einer Tech­nik wer­den die Zie­le vor­ge­ge­ben. Daher hät­ten ganz ande­re Zie­le gesetzt wer­den müs­sen, um mög­lichst unbe­scha­det durch die Strom­schnel­len die­ser Kri­se zu steu­ern. Aber man hat eine Ideo­lo­gie dar­aus gemacht und erwar­tet Gehor­sam, wo Ver­trau­en gar nicht vor­han­den sein kann.

Staat und Medi­zin haben allein auf­grund ihrer Geschich­te ein wirk­lich gro­ßes Ver­trau­en ein­fach nicht ver­dient. — Die­ser Staat hat die­se Gesell­schaft mehr­fach in schlimm­ste Kata­stro­phen geführt und die Medi­zin stand ihm dabei immer zur Sei­te. Es ist an der Zeit, die viel­zi­tier­te Mün­dig­keit end­lich in Anspruch zu nehme. 

Tat­säch­lich haben immer nur die Pati­en­ten das letz­te Wort, denn sie tra­gen auch alle Kon­se­quen­zen. Weil dem so ist, tra­gen sie auch die Ver­ant­wor­tung dafür, wem sie sich anver­trau­en. — Mag ein Arzt noch so über­zeugt sein von “sei­ner” The­ra­pie, wir tra­gen die Ver­ant­wor­tung uns selbst gegen­über allein und Ärz­te haben nicht das Recht, uns dann zu maßregeln.

Weil aber die­se Dis­zi­pli­nen gar nicht in der Lage sind, die Vul­nerabi­li­tät der gan­zen Gesell­schaft in den Blick zu bekom­men, stür­zen sie sich auf das, was sie mes­sen kön­nen. Aber das ist nicht das gro­ße Gan­ze. Daher ist es inzwi­schen zu exor­bi­tant hohen, auch mensch­lich kost­spie­li­gen Opfern gekom­men, die aller­dings nicht wirk­lich gehol­fen haben.

Die offe­ne Gesell­schaft neigt inzwi­schen dazu, sich selbst zu ver­let­zen. Es wür­de hel­fen, end­lich vom hohen Roß der Erre­gungs­kul­tur her­un­ter­zu­stei­gen, in der sich nicht sel­ten jene wich­tig tun, die am wenig­sten zu sagen haben. Statt­des­sen fin­det ein Rück­fall in unrühm­li­che Zei­ten statt, die zwei­mal schon zum Wel­ten­brand geführt haben.

Wer nun behaup­tet, es wäre nun wirk­lich ange­sagt, mal wie­der auf den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter zu set­zen und auf eine Hinterwelt–Pädagogik, in der Men­schen wie­der ein­ge­schüch­tert, gebro­chen und umer­zo­gen wer­den, ist ein Feind der offe­nen Gesell­schaft. Allein schon der Flirt mit tota­li­tä­ren Syste­men wie Chi­na ist ein gei­sti­ges Armutszeugnis.

55:55 Frank Plas­beck: „Darf ich mal ganz kurz einen Gedan­ken rein­brin­gen. Wir reden ja viel­leicht sogar über kind­li­che Fra­gen, wie­viel Druck braucht ein Kind, um eine Ver­hal­tens­än­de­rung zu haben. Und wenn Sie sich anschau­en, wie sich Druck aus­übt, auch jetzt stei­gen die Impf­zah­len ja wie­der…, plötz­lich, wenn man das sieht, was zuvor immer wie­der bespro­chen wor­den ist mit den Ärz­ten, in den Medi­en, dann hilft plötz­lich Druck,…

59:50 Sven­ja Flaß­pöh­ler: Mir fällt nur auf, Sie haben ein völ­lig anders Demo­kra­tie­ver­ständ­nis als ich. Sie reden von Kin­dern, auf die man Druck aus­üben muß. Sie sagen, man kann von Kin­dern ler­nen, daß, wenn man Druck auf sie aus­übt, dann ver­än­dern sie ihr Ver­hal­ten… Wenn man wirk­lich über Bür­ge­rin­nen und Bür­ger redet und sie als Kin­der bezeich­net, auf die man Druck aus­üben muß, (lacht). Also mein Demo­kra­tie­ver­ständ­nis ist sozu­sa­gen hun­dert­pro­zen­tig ein ande­res.“ Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

Die Moti­ve derer, die an die rei­ne Leh­re des Auto­ri­tä­ren glau­ben, las­sen an mit­tel­al­ter­li­che Ver­hält­nis­se den­ken — mit Pran­ger, öffent­li­cher Demü­ti­gung und Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Aber unter denen, die sich dage­gen zu Wort mel­den, zäh­len auch bedeu­ten­de Künst­ler aus der Rock–Generation. 

Eric Clap­ton ist noch unter der Lüge auf­ge­wach­sen, sei­ne Mut­ter sei sei­ne Schwe­ster. Er ist der Erfin­der des Blues­rock, was dar­auf ver­weist, daß er sich mit der Musik der Schwar­zen zu einer Zeit befaßt hat, als noch die Apart­heit galt. Wenn er die­ser Tage deut­lich macht, er wol­le nicht, daß sein Publi­kum oder Tei­le sei­nes Publi­kums dis­kri­mi­niert wür­den, dann geschieht sei­ne poli­ti­sche Demon­stra­ti­on vor die­sem Hintergrund. 

Die Nach­kriegs­zeit brach­te einen epo­cha­len Umbruch mit sich, gegen auto­ri­tä­re, krie­ge­ri­sche, tota­li­tä­re und dis­kri­mi­nie­ren­de Ver­hält­nis­se, alles, was sei­ner­zeit noch “nor­mal” zu sein schien. Aber gera­de der Blues­rock hat die Gesell­schaft geöff­net, die Abnei­gung und den Haß über­wun­den und die Schmer­zen gelin­dert, die Skla­ve­rei, Aus­beu­tung und Dis­kri­mi­nie­rung mit sich gebracht haben. — Sol­che Wun­den zu hei­len, dazu bedarf es aller­dings noch sehr viel mehr. 

Der­zeit ten­diert der Zeit­geist dazu, repres­si­ve Ver­hält­nis­se zu prä­fe­rie­ren. Man glaubt, ein wenig mehr Dik­ta­tur könn­te sinn­voll sein. Dage­gen wer­den aber die alten Gei­ster wie­der auf­ste­hen, um zu sagen, was zu sagen ist:

Do you wan­na be a free man / Or do you wan­na be a slave? / Do you wan­na wear the­se chains / Until you’re lying in the grave?

Natür­lich wirkt der Ver­gleich der Corona–Maßnahmen mit der Skla­ve­rei ver­stö­rend. Aber es geht nicht um eine Gleichsetzung. 

So etwas läßt sich nie­mals ins Ver­hält­nis set­zen, denn dann müß­te gesagt wer­den, was denn nun mehr oder weni­ger “schlimm” war. Es kann daher nur dar­um gehen, aus der Geschich­te ernst­haft die Kon­se­quenz zu zie­hen, daß der­ar­ti­ge Ver­hält­nis­se nie wie­der zuge­las­sen werden. 

Es ist ent­setz­lich, was Men­schen ein­an­der antun kön­nen, wenn böse Gefüh­le auf­kom­men und ver­stärkt wer­den. Wer Dis­kri­mi­nie­rung erfah­ren hat, wird sie nie wie­der zulas­sen, nicht ein­mal ansatzweise. 


Geimpfte und Ungeimpfte, das gute und das böse Kind

Euge­nio Lucas Veláz­quez: Eng­lish: Auto­da­fé (1853).

Ketzereien über Ketzerverfolgungswahn

Bei Ali­ce Mil­ler, einer begna­de­ten Kin­der­psy­cho­lo­gin, gibt es den inne­ren Kampf zwi­schen dem guten und dem bösen Kind. Das eine ist eben­so des­ori­en­tiert wie das ande­re. Wäh­rend sich das eine fügt, rebel­liert das ande­re und bei­de füh­len sich selbst dabei irgend­wie „gehal­ten“.

Aber was ist denn gut an den guten Kin­dern? Man könn­te kon­sta­tie­ren, daß alle, die sich haben imp­fen las­sen, es in Erwar­tung einer damit auf­kom­men­den Nor­ma­li­tät getan haben aber doch weit weni­ger aus Grün­den der Solidarität. 

Wer sich hat imp­fen las­sen, wird sehr viel weni­ger Acht­sam­keit an den Tag legen. Aber inzwi­schen ist es ein offe­nes Geheim­nis, das der Unter­schied zwi­schen geimpft und unge­impft all­mäh­lich schwindet…

Reak­tio­nen dar­auf, daß Coro­na eine glo­ba­le Natur­ka­ta­stro­phe ist und eben­so­we­nig zu beherr­schen ist wie eine Flut, besteht dar­in, daß gan­ze Gesell­schaf­ten retar­die­ren. Gesucht wer­den Sün­den­böcke und man glaubt, sie unter Anders­den­ken­den und Unge­impf­ten gefun­den zu haben. – Allen wird letzt­lich so etwas wie ein Glau­bens­be­kennt­nis abver­langt, das Spek­trum des Sag­ba­ren ist denk­bar eng. So ent­steht eine Schwei­ge­spi­ra­le, die Hälf­te aller Deut­schen geben zu Pro­to­koll, sich nicht mehr frei­mü­tig öffent­lich zu äußern. 

Dabei war von Anfang an klar, daß alle unter Drei­ßig kaum gefähr­det sind. Aber, man woll­te ja ener­gisch etwas tun. — Aber warum hat man nicht die vul­ner­ablen Grup­pen geschützt und der Jugend die Frei­heit gelas­sen. War­um läßt man es zu, daß die Zahl der Pfle­ge­kräf­te stän­dig abge­nom­men hat?

Es ist unge­heu­er viel Geld ver­brannt wor­den, war­um hat es nicht dazu gereicht, die Ver­hält­nis­se in den Kli­ni­ken durch einem Quan­ten­sprung zu heben? – War­um ist man nach allen Maß­nah­men, Hoff­nun­gen, Aus­sich­ten, Ver­spre­chun­gen und Opfern immer wie­der genau da, wo man ange­fan­gen hat? 

Die Ver­hält­nis­se in die­ser Kri­se sind hyper­kom­plex. Es ist Hybris zu mei­nen, eine sol­che Kata­stro­phe lie­ße sich beherr­schen. Man kann geziel­te Schutz­maß­nah­men ergrei­fen, vor allem Klug­heit wäre ange­ra­ten aber kein Aktionismus. 

Das Muster ist nur zu bekannt: “So tu doch etwas! — Ja was denn tun? — Tu’ irgend­was!”. Das ist jedoch ein Armuts­zeug­nis für alle, die sich in den Glau­ben flüch­ten wie bei der Ket­zer­ver­fol­gung im Mit­tel­al­ter. Die gan­ze Stim­mung ist seit Mona­ten mittelalterlich.

Ich schrei­be seit Febru­ar 2020 an einer phi­lo­so­phi­schen Stu­die über die­se Sinn­kri­se, über das Ver­sa­gen sämt­li­cher Syste­me von Recht, Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft. Es hat sich wie­der ein­mal zeigt, was ich immer wie­der zu mei­nem Ent­set­zen beob­ach­ten muß­te: Aus­ge­rech­net dann, wenn es wirk­lich dar­auf ankä­me, gelas­sen, cool, fast kalt­blü­tig und vor allem mit sehr viel Sinn und Ver­stand dar­an zu gehen, die Per­spek­ti­ve der Ver­nunft in der Viel­falt ihrer Stim­men zur Kennt­nis zu neh­men, durch Dis­kur­se, die frei sein müs­sen und offen, immer dann ver­lie­ren die mei­sten den Kopf und die guten, ach so lie­ben Kin­der sind immer ganz vor­ne. Das hilft nicht.

Alles was da so tag­täg­lich ver­han­delt wird, hat gar nicht die Kapa­zi­tät, auf den Boden der Tat­sa­chen zu kom­men, die man zur Kennt­nis neh­men müß­te, woll­te man wirk­lich ver­ste­hen, was da gera­de von­stat­ten geht. Es ist eine unge­heu­re Kom­ple­xi­tät, die aber stets auf eines hin­aus­läuft, sie erwischt unse­re ach so rechts­staat­li­chen, wis­sen­schaft­li­chen, frei­heit­li­chen, dis­kur­si­ven und für­sorg­li­chen Ambi­tio­nen bra­chi­al. Die Moral von der Geschicht‘?

Mehr Beschei­den­heit bit­te, nicht behaup­ten zu wis­sen, was man nicht wis­sen kann. Mit dem Nicht­wis­sen arbei­ten, also nicht den gro­ßen Zam­pa­no machen. – Geschaf­fen wird statt­des­sen eine fast bür­ger­kriegs­ähn­li­che Atmo­sphä­re, ein Auto­da­fé. Ich habe einen geschätz­ten Kol­le­gen am Insti­tut, einen Ket­ten­rau­cher. Und wenn mir das mit der Suche nach den Sün­den­böcken in den Semi­na­ren zu viel wur­de, bei alle­dem schmie­ri­gen Mora­lin, dann habe ich im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­kün­det: Alle Pro­ble­me der Mensch­heit könn­ten gelöst sein, wenn nur die Rau­cher nicht wären. – Nun ja, sie spür­ten die Iro­nie dann doch und ahn­ten, wen ich mein­te und sie sahen dann auch in die Hin­ter­grün­de die­ser Bemerkung.

Die Welt ist zu schwie­rig für gute Kin­der, die doch nur spie­len wol­len. Wann soll­te man den aus­sche­ren, wenn nicht jetzt, wo fast alle den Ver­stand ver­lie­ren? Man merkt es an den Wet­ter­vor­her­sa­gen, die Lust am Unter­gang bringt täg­lich neue Epi­so­den. Neu­lich hat sich angeb­lich ein Polar­wir­bel geteilt, war­um hier sibi­ri­sche Käl­te zu erwar­ten sei. Als ich sah, daß die Mel­dung vom Pots­dam-Insti­tut lan­ciert wor­den war, kurz vor der Kli­ma­kon­fe­renz, dach­te ich über die Bere­chen­bar­keit von Akteu­ren, die Kam­pa­gnen und Wis­sen­schaft seit Jahr­zehn­ten nicht mehr auseinanderhalten.

Es ist per­fi­de, den Leu­ten mit gro­ßer Käl­te zu kom­men, das Anschwel­len der Küsten­li­ni­en ver­bin­den vie­le ja doch mit Süd­see­fee­lings. – Dann wur­de ich auch noch auf die­se Mel­dung auf­merk­sam gemacht, weil bad News nun­mal good News sind. Bis mir die Hut­schnur riß, ich habe dann ein­fach nach­ge­schaut, was denn Jörg Kachelm­ann, der sich immer so schön auf­re­gen kann über die­sen Bock­mist sagen wür­de. – Und rich­tig! Er schlug auf den “Spie­gel” ein und kon­sta­tiert, man wüß­te über­haupt nichts von die­sem Polar­wir­bel und daß es wohl nur um die Mel­dung ginge.

Nicht, daß es nicht noch eine Stei­ge­rung gäbe: 

„Der Ablauf eines Inqui­si­ti­ons­pro­zes­ses war weder für den Ange­klag­ten noch für sei­ne Ange­hö­ri­gen durch­schau­bar. Wäh­rend der Ver­neh­mun­gen wur­den den Ver­däch­ti­gen ein­zel­ne Ver­hal­tens­wei­sen vor­ge­wor­fen, die u.U. für sich allein gese­hen kei­ne Abwei­chun­gen von der kirch­li­chen Leh­re dar­stel­len mußten.

Die­se Taten konn­ten dann von den Ange­klag­ten ent­we­der zurück­ge­wie­sen oder zuge­ge­ben und bereut wer­den. Wel­che Schlüs­se von Sei­ten des Gerich­tes dar­aus gezo­gen wur­den, war nicht ersicht­lich. Der Pro­zeß fand nicht als zusam­men­hän­gen­de Ver­hand­lung mit der Anwe­sen­heit der Betei­lig­ten oder wenig­stens der mit der Urteils­fin­dung Betrau­ten statt. Die Dau­er des Ver­fah­rens gab kei­nen Hin­weis auf die Bedeu­tung der Ange­le­gen­heit. Das alles führ­te dazu, daß die Ange­klag­ten bis zum Tag des Auto­da­fés kei­ner­lei Schlüs­se auf den Aus­gang des Ver­fah­rens zie­hen konnten. …

Die mil­de­ste Art der Sank­ti­on des Ver­hal­tens der Ange­klag­ten durch das Inqui­si­ti­ons­ge­richt war das Abschwö­ren. Bei ein­fa­che­ren Ver­ge­hen muß­te dies nicht in der Öffent­lich­keit gesche­hen, son­dern konn­te im Gerichts­saal vor dem Tri­bu­nal durch­ge­führt wer­den. Bei schwer­wie­gen­den Fäl­len fand auch das Abschwö­ren wäh­rend einer öffent­li­chen Urteils­ver­kün­dung statt.

Das Abschwö­ren war gewöhn­lich mit Neben­stra­fen ver­bun­den. Dies waren Geld­bu­ßen, die Ver­pflich­tung, den San­be­ni­to in der Öffent­lich­keit zu tra­gen, oder die Ver­ban­nung.“ („Auto­da­fé“, Wikipedia)


EPG II a (Online)

Ober­se­mi­nar

EPG II a

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

WS 2021 | frei­tags | 14:00–15:30 Uhr | online 

Beginn: 22. Okto­ber 2021 | Ende: 10. Febru­ar 2022

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Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

Stichworte für Themen

#„ADHS“ #Auf­merk­sam­keit #Bewer­tung in der Schu­le #Cyber­mob­bing #Digi­ta­li­sie­rung #Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Eltern­ge­sprä­che #Erzie­hung und Bil­dung #Gen­der­di­ver­si­ty #Hel­den­rei­se und Per­sön­lich­keit in der Schu­le #Inklu­si­on #Interesse–Lernen–Leistung #Inter­kul­tu­rel­le Inklu­si­on #Isla­mis­mus #Kon­flik­te mit dem Islam in der Schu­le #Kon­flikt­in­ter­ven­ti­on durch Lehr­per­so­nen #Leh­re­rIn sein #Leh­rer­ge­sund­heit #Medi­en­ein­satz #Medi­en­kom­pe­tenz #Mit­be­stim­mung in der Schu­le #Mob­bing #Online-Unter­richt #Poli­ti­cal Cor­rect­ness #Pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis #Pro­jekt­un­ter­richt #Puber­tät #Refe­ren­da­ri­at #Respekt #Schu­le und Uni­ver­si­tät #Schul­fahr­ten #Schul­ver­wei­ge­rung #Sexua­li­tät und Schu­le #Stra­fen und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Zivi­ler Ungehorsam

Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


EPG II b (Online)

Ober­se­mi­nar

EPG II b (Online)

Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

WS 2021 | Beginn: 13. Januar 2022 | Ende: 27. Februar 2022 | Online und Block
Ab 13. Janu­ar 2022: 5 Semi­na­re online | sams­tags: 12:00–13:30 Uhr, sowie
3 Work­shops im Block: 25., 26., 27. Febru­ar 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91–110

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Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Zwischen den Stühlen

Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

„Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

Ausbildung oder Bildung?

Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

Stichworte für Themen

#„ADHS“ #Auf­merk­sam­keit #Bewer­tung in der Schu­le #Cyber­mob­bing #Digi­ta­li­sie­rung #Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Eltern­ge­sprä­che #Erzie­hung und Bil­dung #Gen­der­di­ver­si­ty #Hel­den­rei­se und Per­sön­lich­keit in der Schu­le #Inklu­si­on #Interesse–Lernen–Leistung #Inter­kul­tu­rel­le Inklu­si­on #Isla­mis­mus #Kon­flik­te mit dem Islam in der Schu­le #Kon­flikt­in­ter­ven­ti­on durch Lehr­per­so­nen #Leh­re­rIn sein #Leh­rer­ge­sund­heit #Medi­en­ein­satz #Medi­en­kom­pe­tenz #Mit­be­stim­mung in der Schu­le #Mob­bing #Online-Unter­richt #Poli­ti­cal Cor­rect­ness #Pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis #Pro­jekt­un­ter­richt #Puber­tät #Refe­ren­da­ri­at #Respekt #Schu­le und Uni­ver­si­tät #Schul­fahr­ten #Schul­ver­wei­ge­rung #Sexua­li­tät und Schu­le #Stra­fen und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men #Zivi­ler Ungehorsam

Studienleistung

Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.


Technikethik

Tech­nik­ethik:

Tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen kon­tro­vers reflektieren

Kolloquium 

WS 2021 | don­ners­tags | 14:00–15:30 | Online
Beginn: 28. Okt. 2021 | Ende: 10. Febr. 2022

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Von Ver­ant­wor­tung ist immer wie­der die Rede. Ja, sie ist vakant und der Lauf der Welt ist alles ande­re als ver­trau­ens­er­weckend. Der gute Wil­le allein genügt nicht. Zu unter­schei­den sind min­de­stens das Sub­jekt der Ver­ant­wor­tung, der Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Ver­ant­wor­tungs­in­stanz, (ehe­dem Gott und jetzt?).

Es gilt näher hin­zu­se­hen, wenn wir Fra­gen der Ver­ant­wor­tung ange­hen wol­len, denn der Begriff ist mehr­di­men­sio­nal. Der Karls­ru­her Tech­nik­phi­lo­soph Gün­ter Ropohl hat das Gan­ze auf eine For­mel mit sie­ben Varia­blen gebracht: Wer ver­ant­wor­tet was, wofür, wes­we­gen, wovor, wann, wie? Wir müs­sen doch nicht alles machen, was wir kön­nen. Wie weit geht ihre (per­sön­li­che) Ver­ant­wor­tung wirklich?

Die­ses Kol­lo­qui­um soll Fra­gen der Tech­nik­ethik prak­tisch erfahr­bar machen. Das wird anhand von Fall­stu­di­en aus ihren eige­nen zukünf­ti­gen Berufs­fel­dern gesche­hen, die sich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven dis­ku­tie­ren las­sen. Dabei kommt es weni­ger auf das Ergeb­nis an, son­dern auf die Qua­li­tät und den Aus­tausch der vor­ge­brach­ten Argumente.

Betrei­ben wir also Tech­nik­ethik ganz kon­kret. Neh­men wir uns rea­le Situa­tio­nen vor: sei­en es der Abgas­skan­dal, Stel­lung­nah­men zum Ein­satz von Gen­ma­ni­pu­la­ti­on, der Ein­sturz der Brücke in Genua, Unfäl­le im Rah­men von Fahr­ten mit auto­no­men Pkw — oder was immer Sie umtreibt. Tun wir so, als wären wir unmit­tel­bar dabei und hät­ten etwas zu sagen. Insze­nie­ren wir die Kon­tro­ver­sen, in denen Tech­nik­li­ni­en gestal­tet wer­den, um sie am eige­nen Leib zu
erfah­ren. Die Ver­an­stal­tung soll Ihnen dazu die­nen, Erfah­run­gen zu machen, die spä­ter womög­lich auf Sie zukom­men. Es ist dann fast wie ein Pri­vi­leg, sich spä­ter dar­an zurück­er­in­nern zu kön­nen, so etwas Ähn­li­ches schon ein­mal durch­ge­spielt zu haben.

Nein, wir müs­sen es nicht.
Aber?
Aber wir wer­den es machen.
Und wes­halb?
Weil wir nicht ertra­gen, wenn der klein­ste Zwei­fel bleibt,
ob wir es wirk­lich können.

(Hans Blu­men­berg)

Dirck van Babu­ren: Pro­me­theus wird von Vul­kan ange­ket­tet (1623). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia. — Pro­me­theus, der Gott des Fort­schritts, wird auf Geheiß des Zeus, unter Auf­sicht des Göt­ter­bo­ten Her­mes, vom Gott der Tech­nik Vul­kan an einen Fel­sen im Kau­ka­sus geschmie­det. Sein Ver­ge­hen: Er hat aus Men­schen­lie­be die Tech­nik zu den Men­schen gebracht. Die­se soll­ten dar­auf den Fort­schritt eini­ge Jahr­tau­sen­de nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Die Zei­ten sind vor­bei, als Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen fast jede wei­te­re Ver­ant­wor­tung noch zurück­wie­sen mit den Wor­ten, sie wür­den die Tech­nik nur her­stel­len, sei­en aber nicht ver­ant­wort­lich dafür, was dar­aus wür­de. — Aber machen wir uns nichts vor, Ver­su­che, den tech­ni­schen Fort­schritt auf ›bes­se­re‹ Bah­nen zu len­ken, gab es vie­le. Unver­ges­sen ist das Wort von Ulrich Beck: Die Ethik spielt im Modell der ver­selb­stän­dig­ten Wis­sen­schaf­ten die Rol­le einer Fahr­rad­brem­se am Inter­con­ti­nen­tal Flugzeug. 

For­de­run­gen nach Ethik, Ver­ant­wor­tung, Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, nach­hal­ti­gem Wachs­tum und Kil­ma­schutz wer­den tag­täg­lich erho­ben und sind nicht unpro­ble­ma­tisch, denn es ist auch Über­for­de­rung im Spiel. Wofür sind wir als Ein­zel­ne ver­ant­wort­lich und wie soll denn die Gesamt­ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men wer­den? All­mäh­lich wird es Zeit. Wer gibt die Tech­nik­zie­le vor oder gene­rie­ren sie sich selbst? 

Was vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien noch unter­stel­len: Es gibt sie nicht, die Schalt­zen­tra­len der Macht, in denen die Zie­le des Fort­schritts vor­ge­ge­ben, der Kurs ein­ge­stellt und die Ent­wick­lun­gen koor­di­niert wer­den. Zwei­fels­oh­ne spie­len Tech­nik und Wirt­schaft eine gro­ße Rol­le, aber auch Poli­tik und Kultur.

Der blaue Pla­net ist zur Anthro­po­sphä­re gewor­den. Inzwi­schen wur­de bereits ein neu­es Erd­zeit­al­ter aus­ge­ru­fen, das Anthro­po­zän. Die Zivi­li­sa­ti­on ist nun­mehr alles ent­schei­dend für das Schick­sal des gan­zen Pla­ne­ten und die Zukunft der Mensch­heit. Die Erde ist zum Raum­schiff gewor­den. Wir rasen durch einen lebens­feind­li­chen Raum, hin­ter uns eine erst kur­ze Epi­so­de der Zivi­li­sa­ti­on und vor uns eine Zukunft, die mit sich selbst auf Kol­li­si­ons­kurs geht.

Wenn es sie denn gäbe, die Kommando–Brücke, in der die Navi­ga­ti­on vor­ge­nom­men wird, wenn wir dort­hin­ein gelan­gen könn­ten, es wäre der Schock unse­res Lebens. Denn die Pilo­ten­kan­zel ist leer, alles steht auf Auto­pi­lot und nie­mand wäre in der Lage, den Flug ›von Hand‹ zu steu­ern. Dabei ist das Gan­ze kei­nes­wegs nur eine Fra­ge der Tech­nik, son­dern auch eine von Poli­tik, Wirt­schaft, Recht, Kul­tur, Wis­sen­schaft und vie­lem ande­ren mehr.

Jan Cos­siers: Car­ry­ing Fire (ca. 1630). Pro­me­theus stiehlt das Feu­er aus der Werk­statt des Vul­kan. Es ist nicht das Herd­feu­er, das hat­ten die Men­schen schon sehr lang. Es ist das Metall­ur­gen­feu­er, womit die Bron­ze­zeit begann und
dann auch die Zivi­li­sa­ti­on. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Daher genügt es längst nicht mehr, ein­fach nur ›gute‹ Tech­nik zu machen, Pro­ble­me prag­ma­tisch zu lösen, im Sin­ne des ›sta­te of the art‹ zu ent­wickeln, Nor­men und Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten usw. usf. — Dar­über hin­aus stellt sich vor allem auch die Fra­ge, wie weit denn die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung rei­chen soll. Es ist nicht allein die Tech­nik, die den Fort­schritt bestimmt, es sind vie­le ver­schie­de­nen Fak­to­ren, die eine Rol­le spie­len. — Die Rol­len im Mythos vom Pro­me­theus, der den tech­ni­schen Fort­schritt zur Dar­stel­lung bringt, las­sen die Zusam­men­hän­ge erahnen. 

Da ist der Men­schen­freund Pro­me­theus, der mit besten Absich­ten die Ent­wick­lung anfacht, aber eigent­lich nicht sehr glück­lich agiert. Da ist Vul­kan, der Tech­ni­ker, der alles tut, was ihm auf­ge­tra­gen wird. Er murrt zwar, als er den geschätz­ten Kol­le­gen anket­ten soll, aber er tut es. Da ist Zeus, der ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Mensch­heit hat und daher hin und her­ge­ris­sen ist über das Prometheus–Projekt. Da ist Athe­ne, die Göt­tin der Weis­heit, die den neu­en Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen eine See­le ein­haucht. Sie spen­det auch die Wis­sen­schaft und die Ver­nunft. Außer­dem ist da noch Pan­do­ra, die mit allen Gaben Beschenk­te, die die Gaben der abdan­ken­den Göt­ter zu den Men­schen bringt, aber eben auch die damit ver­bun­de­nen Übel. Und da ist noch Epi­me­theus, ein Melan­cho­li­ker, der sich in Pan­do­ra ver­liebt. — Das dürf­te genü­gen, die ver­schie­de­nen Sei­ten und Inter­es­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die dafür sor­gen, daß der Fort­schritt eben einen bestimm­ten Gang nimmt.

Als der Mün­che­ner Sozio­lo­gie Ulrich Beck im Jah­re 1958 den Ein­tritt in die Risi­ko­ge­sell­schaft dia­gno­sti­zier­te, sah er den technisch–ökonomischen Fort­schritt über­la­gert von immer grö­ße­ren, unge­plan­ten Neben­fol­gen, grenz­über­schrei­ten­den Umwelt­pro­ble­men und glo­ba­len Fol­gen Es gibt inzwi­schen einen Grad an Kom­ple­xi­tät, der sich nicht mehr steu­ern oder gar beherr­schen läßt. Eigent­lich müß­ten alle unse­re Inno­va­tio­nen unter­halb die­ser Schwel­le blei­ben, aber das Gegen­teil ist der Fall. Also wofür sind Tech­ni­ker, Inge­nieu­re und Inge­nieu­rin­nen wirk­lich ver­ant­wort­lich? Wel­cher Teil der Ver­ant­wor­tung fällt ande­ren zu?

Har­ry Bates: Akt (1891). Auf Geheiß des Zeus wur­de von Vul­kan eine Frau erschaf­fen, mit allen Gaben der Göt­ter aus­ge­stat­tet und von Her­mes zu den Men­schen gebracht. Sie brach­te jedoch nicht nur die Fähig­kei­ten der Göt­ter, son­dern auch die damit ver­bun­de­nen Übel auf die Erde. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Es ist kei­ne unpro­ble­ma­ti­sche Ent­wick­lung, daß in den letz­ten Jahr­zehn­ten immer mehr Ver­ant­wor­tung auf Ein­zel­ne über­tra­gen wur­de, wäh­rend die Gesamt­ver­ant­wor­tung sich immer wei­ter ver­flüch­tigt. Wer ver­ant­wort­lich sein soll, muß gestal­ten, muß auch anders ent­schei­den kön­nen, erst dann kann Ver­ant­wor­tung zuge­schrie­ben wer­den. — Inso­fern ist der Anspruch auf Ethik und Moral das eine, wie damit ganz prak­tisch umge­gan­gen wer­den kann, ist das ande­re. Sich ver­ant­wort­lich zu füh­len für Ver­hält­nis­se, die nicht in der eige­nen Macht ste­hen, ist daher nicht unpro­ble­ma­tisch. Wer Ver­ant­wor­tung über­nimmt, muß ›Nein sagen‹ kön­nen oder ›So nicht!‹.

In die­sem Semi­nar sol­len sol­che Kon­flik­te in Wert­fra­gen, Ziel­kon­flik­ten und der mora­li­schen Inte­gri­tät durch­ge­spielt wer­den. Das geschieht anhand von Bei­spie­len ein­schlä­gi­ger Dilemma–Situationen. Mit­un­ter sind die Rah­men­be­din­gun­gen schon pro­ble­ma­tisch, etwa wenn es gilt, unter den Bedin­gun­gen schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nis­se und aus Sor­ge um die eige­ne Repu­ta­ti­on fach­lich kom­pe­tent und mora­lisch inte­ger zu han­deln. Dazu bedarf es eini­ger Erfah­run­gen, die genau­so wich­tig sind wie das gan­ze tech­ni­sche Know–how.

Dazu hat der Kon­stan­zer Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker Jür­gen Mit­tel­straß eine hilf­rei­che Unter­schei­dung geprägt: Zum tech­ni­schen Ver­fü­gungs­wis­sen gehört auch ein eben­so wich­ti­ges Ori­en­tie­rungs­wis­sen. Das eine sagt uns wie, das ande­re aber wozu. — Mit­un­ter gera­ten aber das Wie und das Wozu in Wider­sprü­che. Die Tech­nik­ge­schich­te ist voll sol­cher Bei­spie­le, wo erst sehr viel spä­ter sich Neben­fol­gen mit kolos­sa­len Wir­kun­gen zei­gen, bis sie end­lich wahr­ge­nom­men und the­ma­ti­siert werden.

Und natür­lich stellt sich immer wie­der die Fra­ge, ob es nicht doch eine ›bes­se­re‹ Tech­nik gibt, eine, die von vorn­her­ein weni­ger Neben­fol­gen hat. Tech­ni­ku­to­pien sind daher eine wich­ti­ge Ori­en­tie­rungs­hil­fe, vor allem dann, wenn kri­tisch damit umge­gan­gen wird. Wesent­lich ist es, die ver­schie­de­nen Aspek­te erör­tern zu kön­nen und nicht zuletzt, ande­re zu über­zeu­gen. Dazu ist kri­ti­sches Den­ken erfor­der­lich. Daher geht es um die ethi­sche, poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Ver­ant­wor­tung im Inge­nieur­we­sen. Erst das macht ›gute‹ Tech­nik mög­lich, ein ›gutes‹ Gewis­sen und nicht zuletzt gute Professionalität. 

Band­icoot Robot: Con­ver­ting man­ho­le to robo­ho­le (2018). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.


Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft, Identität

Vom Clan zum globalen Dorf: Emanzipation ist Selbstorientierung

Phi­lo­so­phie moti­viert den Mut, durch Selbst­ori­en­tie­rung über sich selbst hin­aus­zu­wach­sen, sich immer wei­ter zu eman­zi­pie­ren von jeder Fremd­be­stim­mung durch Natur, Clan­g­eist, Gemein­schaft oder Gesell­schaft, bis hin zum Staat, der auch nicht unbe­ding­ten Gehor­sam ver­dient, all­zu­mal, wenn die­ser not­wen­di­gen Ent­wick­lun­gen im Wege steht. Phi­lo­so­phie ist wie ein guter Geist in fin­ste­ren Zei­ten, der Zuver­sicht ver­mit­telt, in der Eman­zi­pa­ti­on, der Indi­vi­dua­ti­on, der Selbst­ori­en­tie­rung und im Wunsch nach einer Glück­se­lig­keit, die es mit der der Göt­ter auf­neh­men kann.

Flamma­ri­on. Holz­stich eines unbe­kann­ten Künst­lers. In: Camil­le Flamma­ri­on: Die Atmo­sphä­re. Popu­lä­re Meteo­ro­lo­gie; Paris 1888. S. 163. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Phi­lo­so­phie muß nach­voll­zieh­bar sein, sie soll­te sich daher in aller Offen­heit ent­wickeln. Wir kön­nen Ver­nunft nicht besit­zen, wir kön­nen uns nur bemü­hen, ‘ver­nünf­tig zu wer­den’, indem wir uns auf Dia­lo­ge und Dis­kur­se ein­las­sen, in denen die Rat­schlüs­se der Ver­nunft erst zustan­de gebracht wer­den müs­sen. Es geht um das ent­schei­den­de Ori­en­tie­rungs­wis­sen, und wo das nicht hin­rei­chend ist, sind Dis­kur­se über Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung erforderlich.

Selbst­wer­dung, Selbst­ori­en­tie­rung steht auf dem Pro­gramm. Das kann nicht nur, das muß stets indi­vi­du­ell von­stat­ten gehen. Nicht von unge­fähr wird jede Phi­lo­so­phie arg­wöh­nisch betrach­tet, vor allem, wenn sie sich anschickt, ihren Kopf durch die Wol­ken­decke der vor­ge­ge­be­nen Welt­ord­nung zu stecken.

Im Ver­lauf der Anthro­po­ge­ne­se, der Kul­tur– und der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te, läßt sich eine Ten­denz von der Hete­ro­no­mie zur Auto­no­mie beob­ach­ten. Mit neu­en Tech­ni­ken kom­men neue Lebens­wei­sen auf und mit ihnen neue Göt­ter und neue Anschau­ungs­for­men. Was zuvor aus­ge­schlos­sen schien, wird mög­lich, was zuvor üblich war, kann schnell obso­let werden.

Es ver­steht sich, daß jeder Wand­lungs­pro­zeß immer Ver­lie­rer und Gewin­ner erzeugt. Eta­blier­te Auto­ri­tä­ten kön­nen fast über Nacht eine zuvor noch unum­strit­te­ne Aner­ken­nung ein­bü­ßen. Neue Leit­bil­der ent­ste­hen, die stets an den Bruch­li­ni­en zwi­schen Gemein­schaft und Gesell­schaft ver­lau­fen, aber auch an denen zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft. Gera­de mit dem Indi­vi­dua­lis­mus, der all­mäh­lich in den Städ­ten auf­kommt, gehen immense sub­jek­ti­ve und inter­sub­jek­ti­ve Bela­stun­gen einher.

Mit jeder neu­en Zeit betre­ten neue Göt­ter und Prie­ster­schaf­ten die Büh­ne der Kul­tur­ge­schich­te: Das war so, als die Schrift erfun­den wur­de und neue Göt­ter auf­ka­men, die im Buch des Lebens lesen und zu Gericht sit­zen soll­ten, doch vor allem, um die Ver­hält­nis­se in den neu­en urba­nen Wel­ten zu stabilisieren.

Im Ver­hält­nis zur tie­ri­schen Her­kunft liegt das Geheim­nis des Mensch­seins dar­in, daß wir mit­hil­fe von Spra­che und Kul­tur all­mäh­lich alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen, die ein­zel­ne Men­schen jemals gemacht haben, mit­ein­an­der tei­len, nach­voll­zie­hen und uns leib­haf­tig aneig­nen kön­nen. Zivi­li­sa­ti­on stei­gert die Pro­zes­se der Erfah­rung von Erfah­run­gen um ein Viel­fa­ches. Das ver­schafft sehr viel mehr Lebens- und Aus­drucks­mög­lich­kei­ten, es erzeugt zugleich aber auch sehr viel mehr Unsi­cher­heit. Inso­fern ist Zivi­li­sa­ti­on wie ein Joker, alles Ler­nen, jede Erfah­rung, Ein­sich­ten, Erkennt­nis­se und Impres­sio­nen zählt plötz­lich sehr viel mehr, weil, wenn und sobald wir sie mit­tei­len, also mit ande­ren tei­len können.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Third Epi­so­de: The Con­sum­ma­ti­on of Empire. 1835/6, New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Der Staat muß alle die­se Koexi­sten­zen gewähr­lei­sten, und er wird kol­la­bie­ren, wenn es ihm nicht gelingt, eine Viel­falt von Gemein­schaf­ten in und mit ihren Inter­es­sen dau­er­haft mit­ein­an­der zu ver­ge­sell­schaf­ten. Der Staat kann zwar nicht wis­sen, was die Gesell­schaft umtreibt, aber es ist sei­ne Auf­ga­be, ihr zu die­nen und nicht über sie zu herr­schen. Ihm fehlt schlicht­weg die Phan­ta­sie, auch nur annä­hernd beur­tei­len zu kön­nen, was gera­de gesell­schaft­lich von Bedeu­tung ist, war­um und wozu.

In die­sem Kon­text spie­len neue Über­wa­chungs– und Spio­na­ge­mög­lich­kei­ten, ins­be­son­de­re der Ein­satz von Künst­li­cher Intel­li­genz eine weg­wei­sen­de Rol­le. Auf der Agen­da der Welt­ge­schich­te steht die Alter­na­ti­ve: Ent­we­der Tota­li­ta­ris­mus oder Demo­kra­tie, ent­we­der Mis­an­thro­pis­mus oder Humanismus.

Der­zeit schlit­tern nicht weni­ge auch west­li­che Staa­ten auf den Weg in die umfas­sen­de Über­wa­chung des Öffent­li­chen Raums und aller sozia­len Net­ze. Nie war die Gele­gen­heit so greif­bar, göt­ter­gleich alles zu sehen, zu wis­sen und zu deu­ten, um damit zu machen, was auch immer irgend­wel­chen Macht­ha­bern gefällt, wenn, wo und solan­ge sie nicht durch rechts­staat­li­che Siche­run­gen, Ver­fas­sun­gen und Gerich­te davon abge­hal­ten werden.

Man­che den­ken auch dar­an, den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zu stop­pen und die gan­ze Ent­wick­lung mehr oder min­der wie­der umzu­keh­ren oder sie ein­zu­frie­ren wie die Ami­schen, eine täuferisch–protestantische Glau­bens­ge­mein­schaft, die den Fort­schritt still­ge­stellt haben kurz vor Ein­füh­rung von Auto und Elektromotor.

Tho­mas Cole: The Cour­se of Empire. Fourth Epi­so­de: Des­truc­tion (1836). New–York, Histo­ri­cal Socie­ty. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

Tat­säch­lich sind Ver­lu­ste zu ver­zeich­nen, die im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on mit auf­ge­kom­men sind, wovon eini­ge äußerst schmerz­haft sind. Eigent­lich ent­spricht es dem Wesen jener Kul­tu­ren, die vor jeder Zivi­li­sa­ti­on ihren Bestand hat­ten, Geschich­te als sol­che erst gar nicht auf­kom­men zu las­sen. – Also wur­de jede Dyna­mik ver­hin­dert, kein Ungleich­ge­wicht soll­te auf­kom­men und wo doch, dort wur­de alles unmit­tel­bar wie­der aus­ge­gli­chen durch Opfer, die das Errun­ge­ne gleich wie­der neu­tra­li­sier­ten, auf daß kei­ne ‘Geschich­te’ in Gang kom­men kann.

Nach dem Bruch mit dem Geist geschichts­lo­ser Kul­tur sind immer wie­der Ver­su­che dazu gemacht wor­den und eben­so oft sind sie geschei­tert. Offen­bar gelingt es spä­ter nicht mehr, aus der Dyna­mik aus­zu­stei­gen, um wie­der ein alles umgrei­fen­des gei­sti­ges umgrei­fen­des Gleich­ge­wicht zu schaf­fen und in einer Kul­tur als geleb­tes Leben zu etablieren.

Uto­pien spie­len mit die­sen Visio­nen, sie spe­ku­lie­ren wie Sisy­phus dar­auf, daß es >ein­mal< doch gelin­gen kann. – Sobald es aber wirk­lich ernst­haft ver­sucht wor­den ist, Uto­pien in die Tat umzu­set­zen, bleibt davon oft nur schlech­ter Utopismus.

Aus der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te zu ler­nen bedeu­tet viel, u.a. zu wis­sen, daß es nicht gelin­gen kann, nach mit­tel­al­ter­li­chem Muster die Gesell­schaft in eine Zwangs­ge­mein­schaft zu ver­wan­deln. Dif­fe­ren­zen las­sen sich weder reli­gi­ös noch ideo­lo­gisch ein­fach ver­bie­ten. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit den Geist einer alles umgrei­fen­den huma­nen Kul­tur auf­kom­men zu las­sen, wäre die einer huma­nen Demo­kra­tie, in der Par­ti­zi­pa­ti­on gelebt wird.

Con­chi­ta Wurst für Öster­reich mit dem Lied „Rise Like a Phoe­nix“ bei der er- sten Kostüm­pro­be für das Fina­le des Euro­vi­si­on Song Con­test 2014 Kopen- hagen. — Quel­le: Albin Ols­son, Eige­nes Werk, CC BY-SA 3.0, Public Domain via Wikimedia.

Im Pro­zeß der Psy­cho­ge­ne­se kommt ganz all­mäh­lich immer mehr Indi­vi­dua­li­tät auf. Zunächst lang­sam, dann immer schnel­ler wird eine histo­ri­sche Dyna­mik ent­facht, die sich inzwi­schen selbst per­p­etu­iert. — Von Epo­che zu Epo­che wer­den immer neue Ansprü­che auf per­sön­li­chen Aus­druck immer radi­ka­ler gel­tend gemacht, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft. Erst die­se Dif­fe­ren­zen brin­gen die Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te in Gang. Sie gene­rie­ren die Dyna­mik der Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te und beschleu­ni­gen die Wand­lungs­pro­zes­se inzwi­schen immer mehr.

Gegen­wär­tig brin­gen Debat­ten über indi­vi­dua­li­sti­sche, sin­gu­lä­re Iden­ti­tä­ten zusätz­li­che Irri­ta­tio­nen mit sich und lösen einen wei­te­ren Schub der Indi­vi­dua­li­sie­rung aus. — Nach­dem die binä­re Dif­fe­ren­zie­rung, ent­we­der weib­lich oder aber männ­lich ›sein‹ zu müs­sen, immer wei­ter dekon­stru­iert wur­de, wer­den ver­schie­de­ne Aspek­te des Männ­li­chen und Weib­li­chen belie­big mit­ein­an­der kom­bi­nier­bar. Zugleich steigt damit aber auch die all­ge­mei­ne Verunsicherung.

Es geht inzwi­schen nicht mehr nur um Indi­vi­dua­li­tät, son­dern immer mehr auch um die Selbst­in­sze­nie­rung der eige­nen Sin­gu­la­ri­tät und dar­um, gegen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft ganz neu moti­vier­te For­de­run­gen auf Ach­tung, Aner­ken­nung und Schutz gel­tend zu machen. — Auch die Indi­vi­dua­li­sie­rung kommt im Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on auf, sie ist das eigent­li­che Movens. Die Lebens­ver­hält­nis­se wan­deln sich, also läßt sich auch die gan­ze Selbst­ori­en­tie­rung ver­än­dern. Nach die­sem Meta­prin­zip bricht jede Indi­vi­dua­ti­on mit ›alt­ehr­wür­di­gen‹ Traditionen.

Zugleich kommt all­ge­mei­ne Ver­un­si­che­rung auf, weil immer auch Erwar­tungs­si­cher­hei­ten dar­über ver­lo­ren gehen und immer mehr Ambi­va­len­zen und Ambi­gui­tä­ten spür­bar wer­den. Gera­de die ganz neu­en Frei­hei­ten, Indi­vi­dua­li­sie­run­gen und Sin­gu­la­ri­tä­ten haben einen beson­ders hohen Preis, weil zusätz­li­che psy­chi­sche aber auch sozia­le Bela­stun­gen damit aufkommen.

Jede neue Frei­heit geht mit Frei­heits­schmer­zen ein­her. Sich etwas davon ›her­aus­zu­neh­men‹, damit Irri­ta­tio­nen aus­zu­lö­sen und womög­lich auch Zorn auf sich zu zie­hen, ist das eine. Neue und ande­re Maß­stä­be aber auf Dau­er zu leben, ist etwas ganz ande­res. — Indi­vi­dua­ti­on ist das trei­ben­de Moment, das den Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on zunächst über­haupt erst in Gang gebracht hat und ihn seit­her durch immer neue Span­nun­gen und Wider­sprü­che immer schnel­ler über sich hinaustreibt.


Worauf es wirklich ankommt.

Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

In einer Kri­se zeigt sich, wer wir sind und wor­auf wir uns wirk­lich ver­las­sen kön­nen und wie sta­bil die Ver­hält­nis­se wirk­lich sind. Ob wir es wol­len oder nicht: Kri­sen sind Bewäh­rungs­pro­ben, dann zeigt sich, ob wir uns anpas­sen, ver­än­dern oder viel­leicht sogar über uns hin­aus­wach­sen können.

Reden stärkt, vor allem Ver­ste­hen. Angst schwächt, eben­so wie Hetz­kam­pa­gnen, das alles ver­wirrt und schmä­lert die Kräf­te. – Neue Stär­ken ent­ste­hen, sobald wir läh­men­de Äng­ste behut­sam überwinden.

Eine Kri­se kann vor­über­ge­hend sein, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne sind Kri­sen jedoch nur der Anfang umfas­sen­der Wand­lungs­pro­zes­se. – In Mär­chen und Mythen macht die Kri­se den Anfang, dann folgt zunächst die Kathar­sis und dar­auf die Transformation.

Vor allem für die Päd­ago­gik zei­gen die Erfah­run­gen der letz­ten 15 Mona­te, daß die Welt von Men­schen gemacht und zu ver­ant­wor­ten ist. Auch die Men­schen­bil­der, die Unkul­tur öffent­li­cher Debat­ten, der Rück­fall in fast reli­giö­se Äng­ste, das alles gibt zu denken.

Die­se Welt, so wie sie ist, hat kei­ne Zukunft. Dabei ist die Kli­ma­fra­ge nur wie die Spit­ze eines Eis­bergs. Wich­tig wäre es, end­lich auch in der Poli­tik ein posi­ti­ves Men­schen­bild an den Tag zu legen, wie es in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie schon seit den 70er Jah­ren üblich ist. Staat, Poli­tik und Behör­den gehen aber immer noch vom Obrig­keits­staat aus, wenn sie mei­nen, mün­di­ge Men­schen vor sich selbst schüt­zen zu müssen.

Das Bild vom Guten Hir­ten und sei­ner Her­de ist obso­let, es soll­te den vie­len Auto­kra­ten über­las­sen wer­den. Der in der Coro­na-Kri­se erstark­te Staat wird blei­ben. Daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te gestärkt wer­den, also brau­chen wir mehr Demo­kra­tie und mehr Gerichts­hö­fe, an denen sich Staat und Poli­tik recht­fer­ti­gen müssen.

Das wird aber alles nicht rei­chen, wenn man bedenkt, was eigent­lich alles inzwi­schen zur Nei­ge geht. Aller­dings war die Zivi­li­sa­ti­on, seit sie vor 12.000 Jah­ren ent­stand, immer schon eine insta­bi­le Angelegenheit.

Vor allem jene Ent­wick­lun­gen, auf die Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie beson­ders Wert legen, sind über­haupt nicht mit­ge­kom­men. – Das Feh­len­de nach­zu­ho­len ist und bleibt eine Auf­ga­be, in der es vor allem sehr viel sehr pro­fes­sio­nel­le Päd­ago­gik braucht. Schließ­lich ist jeder Mensch ein­zig­ar­tig, dar­in lie­gen Hoff­nun­gen, nur nie­man­den zu verlieren.


LIVE! music, life et cetera…

Heming­way Lounge | Uhland­str. 26 | 76135 Karlsruhe

LIVE! . music, life et cetera . 

Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen: “Von Frei­heits­lie­be und der Sehn­sucht nach Kontrolle” .

Ull­rich Eiden­mül­ler im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt ver­än­dert und wird sie noch ver­än­dern? Wel­che Tie­fen hat das Virus in der Gesell­schaft bloß­ge­legt? — Könn­te es zu sol­chen Fra­gen am Beginn der „Rück­kehr der Frei­heit“ einen kom­pe­ten­te­ren Gesprächs­part­ner geben als ein Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Fakul­tät für Gei­stes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT)?

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen Gesprächs­part­ner von Ull­rich Eiden­mül­ler beim tra­di­tio­nel­len Talk in der Heming­way Lounge sein. Der Phi­lo­soph, der sei­ne Zeitgeist–Analysen seit Jah­ren aus sei­nem Wohn­mo­bil am Kanal in Mün­ster schreibt, ana­ly­siert die Aus­wir­kun­gen auf das täg­li­che Leben, den „Ver­lust an Nähe, den wir zu ver­kraf­ten haben, die Unkul­tur der Ver­un­glimp­fung Anders­den­ken­der, das frü­he Schlie­ßen der gesell­schaft­li­chen Dis­kur­se schon im März 2020“.

Freu­en Sie sich auf ein sprit­zi­ges und tief­ge­hen­des Gespräch in der wie­der­eröff­ne­ten Lounge, unter­malt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen mitbringt.