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    Über Wildheit und Schönheit

    Ariadne reitet den Panther des Dionysos

    Märchen, Mythen und Metaphern sind so etwas wie Algorithmen. Es ist daher nicht nur interessant, sondern hilfreich, sich je nach Fragestellung stets eingehender mit den einschlägig bekannten mythischen Figuren zu befassen.

    So läßt sich genauer nachvollziehen, was im Zuge der Kulturgeschichte an Erfahrungen in die Mythen ›hineingeschrieben‹ worden ist, denn das läßt sich auch wieder ›herauslesen‹. — Darin liegt der eigentliche Hintersinn von Mythologie, es geht nämlich um mehr als erbauliche Geschichten.

    Der Eingang ins Verstehen läßt sich finden, indem wir unter den vielen Mythen diejenigen auswählen, die vielversprechend erscheinen, weil ähnliche Probleme verhandelt werden. — Das ›passende‹ Narrativ einer mythischen Begebenheit wird dann ›übertragen‹ auf unseren Sachverhalt, über den wir die überzeitlichen Erfahrungen aufschließen sollten.

    In diesem Fall scheint Ariadne hilfreich zu sein, weil sie sich generell mit Labyrinthen auskennt. Die Prinzessin von Kreta war Theseus dabei behilflich, sich im eigens für den stierköpfigen Minotaurus geschaffenen Labyrinth zu orientieren. Daß es sich beim Ariadnefaden aber um ein banales Wollknäuel gehandelt haben soll, ist nicht wirklich überzeugend. — Selbstverständlich steht es uns frei, im Zweifelsfall unzufrieden zu sein mit dem, was uns die kindsgerechten Lesarten bieten.

    Die Mythen sind von einer Kultur auf die nächste übergegangen, so daß wir über viele Möglichkeiten verfügen, in den Feinheiten zwischen den Varianten genauer zu lesen, um den darin verborgenen Sinn herauszulesen: Ariadne ist Schülerin der Circe, die wiederum auf die Isis zurück geht, einer überaus mächtigen ägyptischen Göttin der Zauberkunst.

    Wie Medea ist auch Ariadne bestens mit dem Zaubern vertraut, die Wege blockieren aber auch öffnen können. Dabei wird das Labyrinth bald zum Symbol für den Lebensweg, der oft in ausweglose Lagen führt aber nicht  wieder heraus. — Die eigentliche Bedeutung von Ariadne liegt also darin, Orientierung zu bieten, gerade auch in Konstellationen, die etwas von einem Labyrinth haben.

    Der Zauber, mit dem Ariadne ganze Labyrinthe zu bewältigen hilft, liegt jedoch rätselhafterweise im Geheimnis von Schönheit. — Das Prinzip lautet: Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit.

    Auf diese geheimnisvolle Formel kommt der württembergische Bildhauer Johann Heinrich von Dannecker aufgrund seiner Studienreise nach Rom. Damit bringt er seine Inspiration auf den Begriff. — Der Geist seiner vorzeiten überaus populär gewordenen Skulptur: Ariadne auf dem Panther, entbirgt eine philosophische Spekulation von ganz besonderer Bedeutung.

    Johann Heinrich von Dannecker, Ariadne auf dem Panther, 1803-1814, im Liebieghaus in Frankfurt am Main.

    Der Panther ist das Wappentier für den Wein– und Rauschgott Dionysos, der im übrigen nicht nur der Vorläufer von Jesus Christus in vielen Aspekten seiner Symbolik ist, sondern der dabei auch noch tiefer blicken läßt in seine bipolare Psyche.

    Dieser Gott der Ekstase hat selbst eine überaus komplizierte Vergangenheit, und die macht ihn zum Borderliner. Sobald er auch nur den geringsten Verdacht verspürt, er könnte eventuell auch nur schief angeschaut worden sein, greift er zu drakonischen, unerbittlichen und scheußlichen Racheakten, die völlig unverhältnismäßig sind.

    Da wird dann das, was diese Skulptur zu sagen versteht, zur frohen Botschaft über die Potentiale einer notwendigen heiligen Handlung: Ariadne bewältigt das Wilde, Rohe und Unmenschliche solcher Rachsucht durch Schönheit! Dieser Gedanke ist vor allem philosophisch von derartiger Brisanz, so daß ich sagen würde, versuchen wir es doch! Immerhin hat sich bereits Hannah Arendt an diesem Projekt nicht ganz vergeblich versucht, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln. — Wir sollten endlich wieder nach den Sternen greifen

    Es gibt inzwischen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Vernunft als Meisterin der Multiperspektivität mit Ästhetik vorgeht, wenn es gilt, in irgendeiner Angelegenheit ›das Ganze‹ zu verstehen. Erst dann kommen Dialoge und Diskurse wirklich zur Entfaltung, wenn alle, die nur Recht haben wollen, endlich ergriffen werden und sich zu fassen versuchen.

    Es kann nämlich in der Ästhetischen Urteilskraft gar nicht mehr ums Rechthaben gehen. — Wir können nur noch an den Anderen appellieren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimmtes so empfinden wie wir, um dann auf die tieferen Beweggründe zu sprechen zu kommen, die sich einstellen, wenn man es versteht, sich endlich für Höheres zu öffnen.

    Im Mittelalter wurde die Höfische Gesellschaft auf ähnliche Weise geschaffen, als man die rauhbeinigen Warlords von Raubrittern auf ihren zugigen Burgen abbringen wollte, von ihrem lukrativen Tun und Treiben, nach eigenem Gesetz auf Beutezug zu gehen. — Sie wurden nachhaltig ›gezähmt‹ im Minnesang, also durch Schönheit. Für ihre Dame opferten sie ihre Wildheit, ihre Ungestümtheit und wohl auch einen nicht unbeträchtlichen Teil einer Männlichkeit, die inzwischen manchen Frauen bei Männern fehlt.

    Es kommt darauf an, die Multiperspektivität mit allen ihren Zumutungen und Herausforderung zu würdigen in einer Welt, die immer mehr zum Amoklaufen neigt. — Irgendwas muß den ständig drohenden Irrsinn im Zaum halten. Und genau das macht sie, die Göttin der ästhetischen Urteilskraft: Ariadne.

     

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    Soziale Kompetenzen und geistige Inkompetenzen

    Fairneß als Zeichen von Größe

    Es gibt soziale Kompetenzen, die weit wichtiger sind als eine in sich selbst verliebte Konkurrenzgesellschaft, die doch nur am Ast sägt, auf dem sie sitzt. — Das wurde am Freitag deutlich, im Seminar für angehende Lehrer und Lehrerinnen, in dem es um Professionalität und Berufsethik geht.

    Man mag es kaum mehr glauben, aber Kinder bringen ein Gefühl für Gerechtigkeit gleich mit auf die Welt. Sie kämpfen sogar dafür, wissen aber vielleicht noch nicht genau, wie man solche Werte lebt ohne als dumm hingestellt zu werden.

    Hört man Vorschulkindern beim gemeinsamen Spielen zu, dann verhandeln sie die Regeln fast ebenso lange, wie tatsächlich auch gespielt wird. Und der Satz: „Das gildet nicht!“, klingt mir noch immer in den Ohren. — Wie so oft hat Jean Jacques Rousseau mal wieder Recht: Die Natur des Menschen ist und bleibt gut, solange die Gesellschaft keinen schlechten Einfluß ausübt.

    Gerade im Gerede über die vermeintliche Natur des Menschen glauben viele ohne die geringste Ahnung von Anthropologie, ihre beschränkte Sicht der Dinge und vor allem ihre Ressentiments unwidersprochen verallgemeinern zu dürfen.

    Wolfsmärchen

    Man glaubt es aus eigener Anschauung besser zu wissen. Wir leben angeblich in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, im Kampf aller gegen alle, auf der freien Wildbahn, inmitten hochzivilisierter Welten, die von vorn bis hinten menschengemacht sind. — Also was soll die Berufung auf die angebliche „Natur des Menschen“?

    Tatsächlich haben wir alle erdenklichen Freiheiten, uns nach eigenen Vorstellungen zu „kultivieren“ in unserer Natur, als Person und vor allem in unserem Charakter. Aber genau diese Freiheit ist vielen suspekt.

    Dagegen dient die Berufung auf eine angeblich schlechte Natur des Menschen der Rechtfertigung, den Einzelnen die ihnen zustehenden Freiheiten in der Selbstfindung vorzuenthalten und zugleich so etwas wie „Menschenführung“ zu beanspruchen, mit der sich die Herrschaften zu allen Zeiten immer sehr gut legitimieren haben. — Entmündigung und Bevormundung sind daher noch immer auch in angeblich „freien“ Gesellschaften die Regel.

    Die Corona-Zeit hat überdeutlich gemacht, wie begrenzt die Haltbarkeit der angeblich garantierten Grundrechte eigentlich ist. Aus purer Angst haben viele ihre unveräußerlichen Grundrechte gegen vermeintliche Sicherheiten getauscht. Aber so etwas war schon immer ein schlechter Tausch.

    Jean-Léon Gérôme: Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen (1896).

    Der von Kant geforderte Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ist eben kein Kinderspiel. Angst war schon immer der schlechteste aller Ratgeber, Haß und Hetze waren noch nie ein Ausdruck guter Politik. Aber manche sind das Opfer eigener Ängste und greifen händeringend nach allem, was angeblich Halt verspricht. Es war manchmal wie bei einer Massenpanik, bei der manche einfach totgetrampelt wurden.

    Souveränität, Gelassenheit und Autonomie haben Seltenheitswert, wo alles über einen Leisten geschlagen wird.

    Fairneß

    Ausgerechnet im Leistungssport, bei dem es ja angeblich immer nur ums Gewinnen geht, also inmitten der Ellenbogengesellschaft, gibt es aber noch ganz andere Werte: Fairneß, Gerechtigkeit und Authentizität sind Zeichen wahrhafter Größe. Nur muß man sich so etwas leisten wollen und auch können.

    Wenn etwa bei der Tour de France alle Fahrer auf einen Konkurrenten warten, der zuvor unglücklich gestürzt war. Aus Gründen der Fairneß zügeln alle plötzlich den unbedingten Willen zum Sieg. Wenn sie dann mit beeindruckenden Gesten darauf warten, daß einer von ihnen aus höheren Gründen als erster ins Ziel fahren kann, dann zeigt sich, was menschliche Größe ausmacht. — Wenn eine Skiläuferin der Konkurrentin mitten im Rennen ihren Stock “ausleiht”, dann aber selbst  stürzen und sogar verlieren muß. Auch wenn jener Fußballer, der im Strafraum gestürzt aber keineswegs zu Fall gebracht worden ist, beim Schiedsrichter gegen den bereits gegebenen Elfmeter plädiert, dann haben wir gute Beispiele, die der dumpfen Ideologie unserer angeblich so herz– und geistlosen Konkurrenzgesellschaft haushoch überlegen sind.

    Wie lautet doch der dreiste Spruch einer der dümmsten Werbekampagnen aller Zeiten: „Ich bin doch nicht blöd!“ — Genau: Gelegenheit macht Diebe und wer etwas stehlen kann und es nicht tut, ist doch einfach nur blöd. Wer sich einen betrügerischen Vorteil verschaffen kann, wäre doch blöd, es nicht zu tun, oder?

    Die Seele des schlechten Gewissens

    Alle viel zu dürftig denkenden Schlaumeier vergessen dabei jedoch eines: Wir sind nie allein. Wir haben immer einen Zeugen dabei, nämlich uns selbst. Es ist das schlechte Gewissen und hinter alledem steht die eigene Seele.

    Davon ist seit geraumer Zeit immer weniger die Rede: Unsere Seele weiß offenbar sehr genau, was wirklich gut ist für andere und auch für uns selbst. — Ich vermute inzwischen, daß manche Depression von einem schlechten Gewissen herrühren dürfte, die von einer in die Ecke gestellten Seele ausgehen.

    Nicht von ungefähr wird dieser Tage der Unterschied zwischen Psyche und Seele immer wichtiger. Denn die Psyche ist offenbar inzwischen selbst zum Teil des Problems geworden. Sie stellt sich nur zu gern als Opfer hin, ist oft aber auch Täter an sich selbst, und dabei wirbt sie wie die Politiker für ihre viel zu einfältigen Machenschaften. — Tatsächlich sind die eigentlichen Motive oft nur von dieser Welt, wenn man an Narzißmus, Geltungssucht, Selbstverliebtheit, Voreingenommenheit, Rachsucht, Haß, Neid und Eitelkeit denkt.

    Aber fragen wir generell: Warum „gut“ sein wollen und vor allem wozu? — Nur aus Angst vor Strafe, wenn man erwischt würde, oder vielmehr aus eigenem Antrieb, also von innen her, aus eigener Motivation, weil wir uns eben die Freiheit zur Größe tatsächlich herausnehmen und auch leisten wollen.

    Würde den Belangen der Seele mehr Raum verschafft, die Weiterentwicklung der eigenen Person, der ganzen Welt, ja sogar der ganzen Menschheit würde bemerkenswerte Entwicklungen machen bis hin zu einer sehr viel menschlicheren Welt. — Aber viele glauben, mit dunklen Machenschaften, Rücksichtslosigkeiten, ja sogar mit Lug und Betrug sehr viel besser durchzukommen. Fragt sich nur wozu und wohin sie “durchkommen” wollen.

    Ein Zauberring, der unsichtbar macht

    Bei Platon wird dieses Problem näher erläutert anhand eines Motivs von einem magischen Ring mit der Fähigkeit, den Träger unsichtbar zu machen. Der Mythos vom Ring des Gyges geht auf eine antike Erzählung zurück, die in vielen Varianten durchgespielt worden ist. — Die Kernfrage aber lautet immer: Was würde man tun, wenn man diesen Ring hätte und dann ungestraft tun könnte, was und wie es einem beliebt.

    Eglon van der Neer: Die Frau des Kandaules entdeckt den versteckten Gyges (1660).

    Im Dialog bei Platon wird mit der Allegorie vom Zauberring erörtert, was in Pädagogik und Psychologie als „intrinsische Motivation“ bezeichnet wird. — Wer sich nämlich unsichtbar machen kann, der wäre schlicht unangreifbar und daher übermächtig.

    Die Frage liegt also auf der Hand: Wenn einem gar nichts passieren kann, egal was man tut; warum sollte man dann noch moralisch motiviert sein?

    Schön und lehrreich ist es immer, so etwas durchzuspielen, um in Erfahrung zu bringen, was dann wirklich geschieht, wenn man es täte. Die Aussichten auf den vermeintlichen Erfolg finsterer Machenschaften werden tatsächlich alsbald getrübt, wenn wir die Folgen näher in Augenschein nehmen. — Menschen haben nämlich nicht wirklich echte Freude am Erschwindelten. Genauer besehen zählt es nicht nur nicht, es fällt sogar alles zurück auf die, die es versucht haben, auf diese Weise einen Erfolg einzuheimsen, der gar keiner war.

    Gerade gegen diesen Impuls, sich solche Freiheiten zum Lügen und Betrügen herauszunehmen, gibt es wieder sehr schöne Gegenbeispiele. Tatsächlich ist uns nämlich an echter, wohlverdienter Anerkennung gelegen und alles andere zählt nicht wirklich.

    Da gibt es beispielsweise die Ballade von einem mächtigen Mann, der eine junge Frau begehrt, die ihm aber nicht zugetan ist. In seiner Liebesnot verlegt sich dieser seltsame Vogel auf einen Seelenzauber, um die Dame seines Herzens doch noch dazu zu bewegen, ihm gewogen zu sein und der Zauber verfängt. — Aber er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Er kann einfach nicht glücklich werden mit dieser gestohlenen Liebe, weil sie ja nicht „echt“ ist.

    Oder wenn etwa der vermögende Intimfreund einer aufstrebenden Künstlerin dieser einen ganz großen Gefallen tun will, indem er die von ihr geschaffenen, bisher nicht sonderlich gut verkauften Kunstwerke einfach seinerseits erwirbt. Er hat ja schließlich Geld genug und kann es sich leisten. — Was wird aber geschehen, sobald sie dahinterkommt, daß er es war, der alles aufgekauft hat? Käme sie sich dann nicht reichlich blöd vor?

    Man sieht, solche Rechnungen gehen einfach nicht auf. Wenn etwas nicht echt ist, dann kann und darf es gar nicht zählen, das wissen bereits Kinder sehr früh. — Daher wollen wir entweder echte Anerkennung oder lieber gar keine. Im Zweifelsfall kann man das eigene Scheitern noch immer als Zeichen echter Größe zelebrieren. Man hat es eben ehrlich versucht, aber die Welt war noch nicht reif genug.

    Wir legen also großen Wert darauf, sicher zu gehen, daß andere uns nicht einfach nur schmeicheln und etwas vormachen wollen. Und sogar Kinder, die erst noch das Auch–mal–Verlieren–Können lernen müssen, sind im Prinzip längst so weit, einsehen zu können, daß ein geschenkter Sieg nicht wirklich zählt. — Mit Augenzwinkern kann man ihnen tatsächlich bereits zu verstehen geben, daß man sie diesmal noch gewinnen läßt, weil sie sich noch allzu sehr ärgern über eine Niederlage im Spiel.

    Wie es wäre, Donald Trump zu sein

    Bei alledem denke ich immer mal wieder über den Charakter von Donald Trump nach, weil mir seine Unaufrichtigkeit und sein fortwährender Selbstbetrug nur schwer nachvollziehbar ist. Ich will verstehen, scheitere aber immer wieder an meinem Vorstellungsvermögen, wie es wohl vonstatten gehen könnte, derart von sich überzeugt zu sein, so daß man glaubt, sich selbst und andere auf Dauer belügen und betrügen zu können. — Und diese Gedanken drängten sich mir auch im Seminar über die “Fairneß im Sportunterricht” wieder auf.

    Enrico Mazzanti: Pinocchio (1883).

    Trump ist gewiß kein Sportsmann, dachte ich mir. Aber er spielt doch Golf, also müßte er doch irgendwie „fair“ sein, dachte ich mir dagegen auch wiederum.

    Derweil kam mir die Szene aus dem Bond-Film „Goldfinger“ in den Sinn, wo ein Bond-Bösewicht auf ganz jämmerliche Weise beim Golf betrügt, weil die von Gerd Fröbe so hervorragend gespielte Figur einfach nicht verlieren und daher auch nicht fair sein kann. — Der ins Nirgendwo verschlagene Golfball wird vom finsteren Gehilfen einfach durch ein Loch in der Hosentasche an Ort und Stelle platziert, was natürlich von Bond durchschaut und auch aufgeklärt wird.

    Um aber in der entscheidenden Frage weiterzukommen, habe ich einfach nach „Trump sportsman“ gegoogelt. — Gleich der zweite Fund ist eine Meldung aus dem Spiegel:

    „So gewinnt er immer.  Der US-Präsident Donald Trump hält sich für einen exzellenten Golfer. Tatsächlich schummelt er bei jeder Gelegenheit, sogar gegen prominente Mitspieler wie Tiger Woods.“ — Danke, mehr brauche ich nicht. Manchmal ist es mir schon wieder zu blöd, so einfach Recht zu haben.

    Das erklärt aber nur, daß er so ist, wie zu befürchten war. Aber erklärt wird nicht, warum Trump so ist, wie er ist. — Also versuche ich mir zu erklären, wie man sich wohl fühlen muß, wenn die Seele als Geisel genommen worden ist und am Kopenhagen-Syndrom leidet, wo die Geiseln beim Feuergefecht mit der Polizei den Tätern die Waffen nachgeladen haben.

    Um etwas zu verstehen, müssen wir es uns erst einmal vorstellbar und nachvollziehbar machen, aber dazu gehört sehr viel Einfühlungsvermögen. — Wenn es schon einen berühmten Aufsatz von Thomas Nagel gibt unter der Fragestellung: „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein“, dann sollte es doch auch gelingen, sich vorstellen zu können, wie es wohl sein würde, Donald Trump zu sein, nicht auf Dauer, aber solange, bis man gesehen hat, wie Trump–Sein geht.

    Als Hilfsargument nehme ich derweil ein „Faktum“ aus anderen Zeiten. Es wurde nämlich vorzeiten über Mercedes–Fahrer, ihre Karossen und ihr Verhalten im Straßenverkehr gesagt, daß bei diesen die Vorfahrt bereits eingebaut sei. — So jedenfalls versuche ich mir zu erklären, wie der Trumpismus als Betriebssystem und Massenbewegung wohl funktionieren könnte. In der non–binären Welt von Trump, seiner Anhängerschaft und denen, die an ihn und seine Mission glauben, ist er ja so etwas wie ein Messias.

    Im Trump–Spiel kann es immer nur einen Gewinner geben. Demnach gibt es gar nicht die Möglichkeit, daß er auch mal verlieren könnte, denn so etwas ist im Schöpfungsplan einfach nicht vorgesehen! — Also kann eine Wahl, in der er verloren hat, einfach nur ein Fake sein, genauso wie die Fotos seiner Amtseinführung mit einem bemerkenswerter Neologismus gekontert wurden, bei dem man sich nicht genug die Augen reiben kann: Es gäbe neben der normalen Wirklichkeit noch so etwas wie „Alternative Fakten“, sagte seine seltsam anmutende Pressesprecherin damals.

    Kritik der Esoterik

    Allerdings bereitet es mir besondere Probleme, genauer nachzuvollziehen, warum es unter Esoterikern häufiger gerade solche Zeitgenossen gibt, die in Trump einen ganz großen, weisen, auserwählten, durchaus von den Göttern gesandten Erlöser sehen. — Ich muß gestehen, daß ich dann in meiner Gedankenarbeit regelmäßig an Belastungsgrenzen stoße, weil ich da einfach nicht mehr mitkomme.  Dabei spiele ich ganz gern auch mit schrägen Gedanken.

    In Kindertagen hatte ich unermüdliche Gedankenspiele mit Versuchen, mir etwas vorzustellen, was ich mir nicht vorstellen kann. Also wurde eine Vorstellung nach der anderen durchgewunken; sobald sie vorstellbar geworden war, wurde sie auch schon wieder abgelehnt… — So etwas erweitert den Horizont des Vorstellbaren ungemein und dennoch bleiben gewisse Grenzen der Phantasie.

    Nicht ohne schadenfrohe Selbstironie sehe ich mir selbst beim Experimentieren mit den Gedankenwelten mancher dieser Esoteriker zu. Bald zeigen sich nämlich in meiner Weltvorstellung die ersten Risse, dann kommen Strukturbrüche hinzu und schon bald brechen ganzen Gedankengebäude krachend in sich zusammen, wenn ich ernsthaft versuche, alledem einen nachvollziehbaren Sinn einzuhauchen.

    Da werden nicht nur die zu prüfenden Gedanken zu Crashtest-Dummies, schlußendlich kollabiert die ganze Versuchs-Anlage. — Es dauert übrigens etwa drei Tage, bis alles so einigermaßen wieder steht.

    Trump, Sportsgeist, Fairneß, wahrhafte Größe, tatsächliche Würde, Konzilianz und vor allem Persönlichkeit, wie das alles zusammengehört? — Manchmal paßt es eben nicht wirklich und alles bricht unter der Last der Lügen in sich zusammen.

    Für Gläubige ist so etwas aber nichts weiter als eine Prüfung in der Festigkeit des eigenen Glaubens. — Wie heißt es doch: Als sie ihr Scheitern bemerkten, da verdoppelten sie ihre Anstrengungen.

    Allerdings ist dieser Tage nicht nur ein Zentralgestirn reaktionären Denkens im Sinkflug begriffen. So ergeht es manchen dieser Tage, die einfach zu hoch geflogen sind. — Man kann nicht Angst mit Haß bekämpfen, man sollte auch nicht die Seelenheilkunde in die Hände vermeintlicher Coaches legen, die auf den Marktplätzen im Internet wie Wunderheiler herumziehen.

    Zur Fairneß, vor allem auch zu der, sich selbst gegenüber, braucht es Mut und Zuversicht. Aber so etwas fällt nicht vom Himmel. — Auf Bildung kommt es an, so viel Umweg muß sein.

    Manche wollen aber Erleuchtung nach dem Motto: “I like Genuß sofort”, noch so eine saublöde Werbung vorzeiten. Und diesen Spruch haben sich viele auch noch aufs Auto geklebt. — Da  mag es günstig erscheinen, gleich in den Glauben zu springen, als wäre es nur eine Mutprobe. Aber so etwas ist gar keine Leistung, sondern nur die Flucht vor der geistigen Freiheit.

    Auf die Bildung der Persönlichkeit kommt es daher an. Wir sollten einigermaßen sicher gehen können, daß wir uns selbst und anderen nicht einfach nur etwas vormachen. – Das ist es doch gerade, was “Kritik” ausmacht. Wir sollten uns nicht selbst auf den Leim gehen, sondern uns selbst ganz besonders “kritisch” betrachten.

    Als Kontrastmittel kann man dabei auf Philosophie, Kunst und Dichtung zurückgreifen:

    „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

    Hat auch Religion;

    Wer jene beiden nicht besitzt,

    Der habe Religion.“

    (Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte. Nachlese. In: Berliner Ausgabe; Bd. 2, S. 383.)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat

    Ein Kritiker vor dem Herrn

    Nur in bestimmten Religionen ist der Teufel nicht wohl gelitten, sondern gefürchtet und sogar verhaßt. Das sagt mehr über den schlechten Charakter mancher Religionen, als über den Teufel selbst aus. Natürlich muß auch er ein Geschöpf Gottes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stammen soll.

    Wenn es nur einen einzigen, noch dazu wahren, allgegenwärtigen, allwissenden und gütigen Gott geben soll, dann darf es keinen zweiten und schon gar keinen Gegen–Gott geben. Warum? — Eher aus Gründen der Konkurrenz, die Priester nicht mögen. Sie möchten vielmehr das Monopol für alles Göttliche.

    Mit dem sogenannten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Herausforderung einher, so daß sich das sogenannte Gute bewähren muß.

    An seiner Aufgabe, die er sich selbst gegeben hat, läßt sich der Teufel am ehesten verstehen: Er ist der Versucher , das ist seine Sache. — Mephistopheles stellt sich in Goethes Faust vor als:

    Franz von Stuck: Luzifer (1890). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Ein Teil von jener Kraft,
    Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
    (…)
    Ich bin der Geist, der stets verneint!
    Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrunde geht;
    Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
    So ist denn alles, was ihr Sünde,
    Zerstörung, kurz das Böse nennt,
    Mein eigentliches Element.
    (…)
    Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
    Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, …

    (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Werke; Bd. 3. S. 47.)

    Ein Geschöpf Gottes soll er sein, sogar einer der Mächtigsten, wenn nicht der Mächtigste überhaupt, dann aber sei er abtrünnig geworden. — Das soll so gekommen sein: Als der mit sich selbst jeden Schöpfungstag immer zufriedener werdende Schöpfer seinen Engeln endlich die fertige Schöpfung und dann auch deren vermeintliche Krone vorstellte, soll er von den Geistwesen verlangt haben, vor dem Menschen niederzuknien.

    Das haben auch fast alle folgsam getan, nur einer nicht. Luzifer, einer vom Schlage der Erzengel mit dem Flammenschwert soll diese Huldigung ebenso selbstbewußt wie konsequent verweigert haben. — Und jetzt kommt, was nur Philosophen sich getrauen: Der Sache nachgehen, die möglichen Gründe prüfen, um dann zu dem ketzerischen Ergebnis zu kommen: Recht hat er, der Luzifer!

    Es gehört stets gewisser Mut dazu, auszuscheren und aus der Reihe zu tanzen, und das bringen nur wenige fertig. Wenn man sich in die so feierliche Situation hineinversetzt: Da ist der Schöpfer dieser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt dieser Kritiker daher. Die allererste Lektion erteilt Luzifer dem Schöpfergott. — Das Selberdenken macht ihn philosophisch höchst interessant, so wird er zum Kritiker aller Kritiker.

    Unermüdlich wie Sisyphos versucht der Teufel seither, möglichst konkret nachzuweisen, daß der Mensch es nicht verdient, daß Engel sich tatsächlich vor ihm verneigen. — Da wir uns den Sisyphos aufgrund einer Bemerkung von Albert Camus als einen glücklichen Menschen vorstellen sollten, dürfte es sich auch bei Luzifer um einen glücklichen Engel handeln, weil er sich seine Aufgabe selbst gegeben hat.

    Im jüdischen Glauben werden Engel sehr viel differenzierter vorgestellt. Das findet sich auch bei Rainer Maria Rilke in seinen Duineser Elegien. — Dort sind sie nicht einfach nur lammfromm, vielmehr mystische Wesen. Sie sind schön und schrecklich zugleich, und sie stehen dort, wo große Geheimnisse zu erwarten sind. Der Anfang der ersten Elegie hat etwas von dem, was hier dargestellt werden soll:

    Wer, wenn ich
    schriee, hörte mich denn aus der Engel
    Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
    einer mich plötzlich
    ans Herz: ich verginge von seinem
    stärkeren
    Dasein. Denn das Schöne ist nichts
    als des Schrecklichen
    Anfang, den wir noch grade ertragen,
    und wir bewundern
    es so, weil es gelassen verschmäht,
    uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

    (Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Sämtl. Werke; Bd. 1. S. 685.)

     

    Der Mensch ist zwischen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hause bei sich, wie Rilke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigentliche Grund, warum Luzifer in seiner Eigenschaft als Lichtbringer und als der Oberste aller Teufel gewisse Entwicklungsdienste leistet. Der Teufel ist also ein Selbstdenker, mehr noch, er ist ein Schöpfungskritiker und dabei nicht unbedingt ein Feind des Menschen, sondern eher einer, der sich vom sogenannten allzu Menschlichen ebensowenig abhalten läßt in seinem Urteil, wie der ägyptische Schreibergott Thot beim Jüngsten Gericht. Auf der Seelenwaage wird das Gewicht einer Feder, in der einen Schale, gegen die mit Erdenschwere belastete Seele, in der anderen Schale, abgewogen. Derweil wirkt die Waage wie ein Lügendetektor, der auf jede Unwahrheit reagiert. Für den Fall ist die Seele verloren, sie wird verstoßen und dem hundsköpfigen Anubis zum Fraß zugeworfen.

    Rechts: Der ibisköpfige Thot als Schreiber beim ›Wiegen des Herzens‹, hinter Anubis (1300 BC). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist in der Tat befremdlich, desöfteren dabei zu sein, wenn Zeitgenossen sich selbst und anderen einiges vormachen wollen, was einfach nicht stimmt. Das ist schon eine wundersame Art der Urteilsbildung, sich auf den eigenen Leim zu kriechen. — Es braucht nicht viel an geistiger Durchdringungskraft und empathischer Beobachtungsgabe, um zu sehen, daß manche sich selbst und anderen gewissenlos etwas vormachen wollen.

    Wir haben allerdings auch ein Gespür für Unstimmigkeiten: Zumeist warten Sprache und Grammatik mit Seltsamkeiten auf, wobei man sehen kann, was alles zueinander passen muß, wenn etwas wirklich stimmt. — Wahrheit ist weit mehr als eine Frage der Logik, sondern ein ganzes Ensemble unterschiedlichster Aspekte, die nicht nur in der Aussage, sondern in ihrer ganzen Darbietung harmonisch abgestimmt sein müssen. Es zeigt sich, was alles im Kleinen und auch im Großen zusammenstimmen und im Einklang miteinander sein muß.

    Wenn eine Seele belastet ist durch die Erdenschwere solcher Selbstbetrügereien, dann wird sie gewiß keinen Freispruch erhalten. Es würde ohnehin nicht funktionieren, sich im Leben zu belasten, um dann nach dem Tode entlastet zu sein. — Da wirkt das Manöver der Christlichen Kirchen, daß die Schuld wie eine Lokalrunde schon für alle Zeiten im Voraus abgetragen sei, kaum besser als eine durchsichtige Abofalle.

    Erlösen müssen wir uns schon selbst. Luzifer ist dabei einer der besten Ratgeber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schweben. Dabei würden wir so gern engelsgleich abheben.

    Bei Platon gibt es dazu einen phantastischen Mythos vom gemeinsamen Zug mit den Göttern über das nächtliche Firmament bis zum Reich der Ideen am Rande der Welt.

    Die Götter haben allerdings ein Gespann mit zwei sehr guten Pferden. — Beim Seelenwagen der Menschen ist jedoch nur eines der Pferde wirklich tauglich für den Aufstieg ins Reich der Ideen.

    Der Versucher ist ein begnadeter Prüfer und wir tun gut daran, ihm zu vertrauen, denn wo er sich nicht bereit finden kann für seine Zustimmung, da haben wir sie auch noch nicht verdient. — Man sollte daher eher auf die Hilfestellung achten, die Luzifer als Versucher zu leisten imstande ist.

    Bei Goethe ist Mephisto ein Ironiker und manchmal zynisch, aus guten Gründen. Aber seine Ironie hat Empathie und sein Intellekt ist messerscharf, man kann ihm nicht mit dummen Ausreden kommen, denn er kennt sie alle.

    Das Teuflische am Alkohol

    Da sich der Teufel aber nicht ständig um alle höchstpersönlich kümmern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesentlich, das Teuflische am Alkohol zu verstehen, um darüber sich selbst zu verstehen.

    Udo Jürgens irrt, wenn er meint, der Teufel habe den Schnaps gemacht, um uns zu verderben. Das ist zu kurz gegriffen.— Wie bereits dargestellt, geht es ihm darum, uns zu prüfen, ob wir es verdient haben, seine Achtung zu erhalten und eine Fluglizenz ins Transzendentale.

    Der Songtext von Udo Jürgens, hat allerdings eine bemerkenswerte Pointe. Da sitzt ein Antiheld in seiner Stammkneipe. Ein Mädchen von der Heilsarmee versucht ihn engelsgleich zu retten, indem sie dem Trinker ins Gewissen redet, was natürlich mitnichten verfängt. — Bekanntlich können alle, immer und zu jeder Zeit aufhören, nur momentan gerade nicht, und darauf trinken wir erst mal noch einen.

    Dann aber kommt die wirklich luziferische Pointe: Er bringt das Mädchen nach Hause und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zimmer. — Aber dort macht der verhinderte Held eine teuflische Selbsterfahrung:

    Sie lud mich in ihr Zimmer ein
    Und dort erfuhr ich dann
    Wer zuviel trinkt
    Ist leider oft
    Nur noch ein halber Mann.

    (Udo Jürgens: Der Teufel hat den Schnaps gemacht (1973).

    Unvergeßlich ist auch Wilhelm Busch:

    Es ist ein Brauch von alters her,
    wer Sorgen hat, hat auch Likör!

    (Wilhelm Busch: Die Fromme Helene. In: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 282.)

    Der Spruch bringt es zuverlässig auf den Punkt. Man achte wieder auf den Kontext: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Helene, dann hätte sie nicht ganz so viele Sorgen und bräuchte auch nicht so viel Likör. — Wer der alkoholischen Versuchung nicht widerstehen kann, tröstet sich also über etwas ganz Anderes hinweg.

    Der Alkohol ist wie ein Eisberg, bei dem auch vier von fünf Teilen unter der Oberfläche liegen. Aber weder Luzifer, noch der Alkohol ist das Problem, sondern der vermeintliche Trost, den er spendet, durch Betäubung seelischer Schmerzen. — Aber die Linderungen halten nicht vor, denn es werden nur die Symptome bekämpft. Dann kommen die Schmerzen wieder, um erneut im Alkohol ertränkt zu werden. Alles schreit förmlich danach.

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    Die Schönheit der Seele

    Psyche und Seele

    Das Symposion ist schon weit fortgeschritten, als sich unerwartet ein illustrer Gast einstellt. Alkibiades, reichlich berauscht und gestützt auf zwei Flötenspielerinnen, begehrt Einlaß, was ihm selbstredend gewährt wird. — Und wie es in solchen Situationen häufig so ist, läßt er sich kurz erläutern, daß man sich nicht zum Zechen, sondern zu einem weiteren Dichterwettstreit zusammengefunden haben. Es gelte, ein Loblied auf den Gott der Liebe, auf Eros aufzuführen.

    Anselm Feuerbach: Das Gastmahl. Nach Platon (zweite Fassung: 1871). — Im Mittelpunkt steht der Gastgeber Agathon, geschmückt mit dem Lorbeerkranz, weil er den Dichterwettstreit gewonnen hat. In der rechte Bildhälfte, mit dem Gesicht vom Geschehen abgewandt, vollkommen in sich versunken, sieht man auch Sokrates. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Wer so spektakulär auftritt, steht ohnehin im Mittelpunkt. Also legt der später nicht unumstrittene Machtpolitiker einstweilen los mit seinem Lobgesang auf den Gott der Liebe. Er läßt sich nieder und erzählt von einer ungeheuren Liebe, der er verfallen sei, die ihm aber unerfüllt blieb. Dabei sei die Verführung bestens vorbereitet worden. Er habe die Diener weggeschickt, die Bettdecken bis auf eine reduziert, so daß man einander zwangsläufig habe näherkommen müssen, und dennoch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Person, um die es ging, rein äußerlich nicht nur nicht schön, sondern eigentlich häßlich, wäre da nicht diese Schönheit der Seele, die von innen her kommt.

    Platon ist ein Schalk, wenn er dem überschwenglichen Alkibiades erst in diesem Augenblick erlaubt, sich der anderen Seite hinzuwenden, um dann unmittelbar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen seinen Liebesbekundungen die ganz Zeit geht: Sokrates. Dieser hatte zuvor seine Lobrede auf den Gott der Liebe gehalten, aber durch die Wiedergabe eines wegweisenden Dialogs über die Liebe, mit einer Lehrerin namens Diotima. — Diese prägende Unterweisung hat er in jungen Jahren erfahren. Die weise Frau aus Mantineia in Arkadien muß
    ihn sehr beeindruckt haben.

    Josef Simmler: Diotima. Porträt der Jadwiga Luszczewska (1855). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Erneut geht es, wie bereits im Höhlengleichnis oder beim Seelengespann um einen Aufstieg, nunmehr aber in der Liebe.—Diotima empfiehlt eine Orientierung am Begehren des Schönen, wobei nicht typischerweise die Erotik schlecht geredet und dann ausgegrenzt wird. Vielmehr wird zugestanden, daß diese Form der Liebe zum Schönen den Anfang macht.

    Insofern ist die Rede von ›platonischer Liebe‹ als einer ohne Begehren philosophisch nicht berechtigt, weil ausdrücklich jede Form der Liebe zugelassen wird. — Sie sei ein ›heiliger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hinaus in transzendente Höhe führen werde, wenn sich dem nichts entgegengestellt. Den Anfang macht das erotische Begehren und die Fixierung auf äußere und individuelle Schönheit, dann aber erweitert sich diese Liebe zur Schönheit und wandelt sich zur Freude an der Schönheit der Liebe. Allmählich wird man mehr die innere und universelle Schönheit schätzen lernen, was sich schließlich auf den ganzen Kosmos erweitern kann.

    Damit hat die Schönheit einen bedeutenden Rang erhalten, der kaum mehr übertroffen werden kann. Und tatsächlich gibt es einige Hinweise, die Anlaß geben können, darüber zu spekulieren, ob womöglich diese ›innere‹ Schönheit nicht tatsächlich dem Absoluten noch am allernächsten kommen kann.

    Auch über die Vernunft läßt sich gleichermaßen spekulieren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Ganzes als solches vor Augen zu führen, sich dabei stets auf die Perspektiven der Ästhetik und der ästhetischen Urteilskraft zu stützen versteht. Das Interessante daran liegt darin, daß beim Empfinden von Schönheit nur noch plädiert aber nicht mehr argumentiert und schon gar nicht mehr bewiesen werden kann.—Das wiederum hat Hannah Arendt zu einem bemerkenswerten Experimentieren motiviert, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln.

    Kristian Zahrtmann: Sokrates und Alkibiades (1911). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Damit ist ein tiefes Geheimnis angesprochen, es geht darum, daß wahre Schönheit von innen herkommt, von der Schönheit der Seele. — Und wie sich den begehrlich Vorwürfen des Alkibiades dem Sokrates entnehmen läßt, ist der Politiker in seinen Besitzansprüchen und seinen Eifersüchteleien eben weit weniger an wahrer Liebe interessiert, sondern vielmehr an seiner eigenen Eitelkeit. Er wird damit zu einem mustergültigen Beispiel, wie man es besser nicht halten sollte, mit der Liebe.

    Hier läßt sich der Faden aufnehmen, um zu untersuchen und zu verstehen, wie denn der Zusammenhang zwischen Seele und Psyche beschaffen sein mag. Vor allem interessiert eines: Die zunehmenden Depressionen mögen auch als Hinweis genommen werden, daß wir uns viel zu sehr mit der Psyche, aber viel zu wenig mit der Seele befassen.

    Es ist an der Zeit, manche Begriffe endlich auch allgemeinsprachlich wieder in Gebrauch zu nehmen, die allenfalls noch von Theologen bemüht werden, die daher in diesen Sachen über das bessere Artikulationsvermögen verfügen. — Wir sollten nicht mehr nur vom Körper , sondern auch vom Leib sprechen, was nicht dasselbe ist. Wir sollten nicht mehr nur von der Psyche, sondern auch von der Seele reden. Wir sollten nicht mehr nur von Rationalität, sondern auch von Vernunft sprechen. Und wir sollten nicht mehr nur Rationalität, Verstand und Vernunft bemühen, sondern auch, was nicht leicht faßbar ist, den Geist.

    Psyche und Seele

    Nur bei oberflächlicher Betrachtung scheinen Psyche und Seele dasselbe zu meinen. Während die Seele häufig in religiösen, meditativen und esoterischen Kontexte thematisiert wird, erscheint die Psyche inzwischen eher wie ein Part of the game mit alltäglichen Belangen. — Und mögen wir noch so verheißungsvoll von unserem vermeintlichen Inneren sprechen, die Psyche ist nicht selten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.

    Es scheint, als habe die Psyche viel weniger von jener Tiefe, wie sie der Seele zugesprochen wird. Die Psyche ist offenbar sehr viel jüngeren Datums und damit auch ein Spiegel narzißtischer, selbstbezüglicher und materialistischer Belange, von denen sich viele versprechen, große Sehnsüchte zu stillen. Es sin Illusionen, die durch Konsumismus nicht bewältigt werden können.

    Vordergründig wirkt die Psyche als besonderer Teil unserer Seele, den wir uns über uns selbst bewußt machen möchten. — Das Gerede von der ›Suche nach dem wahren Selbst‹ kann die Sehnsucht nicht stillen, denn die Psyche ist selbst ein Teil des Theaters, das wir uns und anderen vorspielen. Ist die Theatermaske erst einmal mit dem eigenen Gesicht und den üblichen Oberflächlichkeiten fest verwachsen, dann kann auch kein Ausdruck von Tiefe mehr aufkommen, denn damit gehen auch Empathie und Authentizität verloren.

    Der Geist der Narrative

    Zugang zu den Tiefen in uns hat nur der Geist, der in den Narrativen wohnt.  Es kommt darauf an, mit Feingefühl die eigene Geschichte in tiefgründigen Dialogen ganz allmählich bewußt werden zu lassen. — Um Freundschaft mit sich selbst zu schließen, sollte man sich einstweilen näher kennenlernen. Dann kann man mithilfe der Philosophischen Psychologie noch einige wesentliche Schritte darüber hinaus gehen.

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    Schuld: Eine mächtige Kategorie

    Johann Heinrich Füssli: Lady Macbeth, schlafwandelnd, (um 1783). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

    Der Dichter und Maler Johann Heinrich Füssli war derart fasziniert von den Werken des William Shakespeare, so daß er sich schon in jungen Jahren an Übersetzungen versuchte. — Als Maler schuf er einen ganzen Bilder–Zyklus mit berühmten Szenen, in denen die phantastische Stimmung eingefangen ist.

    So inszenierte er auch die dramatische Szene: Lady Macbeth V,1 von William Shakespeare. Die tragische Heldin wird von Alpträumen geplagt und findet einfach keine Ruhe mehr. Sie träumt mit offenen Augen und beginnt zu schlafwandeln. — Und es scheint, als wollte sie sämtliche Plagegeister vertreiben, die Zeugen ihrer Untaten, von denen sie verfolgt und um den Schlaf gebracht wird.

    Die Szenerie führt das schlechte Gewissen der Lady Macbeth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treuergeben. Aber drei Hexen prophezeien ihm, selbst zum König zu werden. Um dem verheißenen Schicksal nun aufzuhelfen, schrecken Macbeth und seine Lady selbst vor einem heimtückischen Königsmord nicht zurück.

    Beide sind von blindem Ehrgeiz getrieben und verlieren im Verlauf der Ereignisse aufgrund ihrer Verbrechen zuerst ihre Menschlichkeit, dann ihr Glück und schließlich auch noch den Verstand, von ihrem Seelenheil ganz zu schweigen. — Dabei wirkt die Frau skrupelloser als der Mann. Ähnlich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel entschiedenere Frau wirklich alles aufs Spiel, während der Mann eher zaghaft erscheint. Dahinter dürfte die Problematik stehen, daß Frauen lange Zeit nicht direkt aufsteigen konnten, nur über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter.

    Es kommt im fünften Akt zu der im Bild von Füssli dargestellten Szene. Während sich Macbeth auf Burg Dunsinane mehr und mehr zum verbitterten, unglücklichen Tyrannen wandelt, wird Lady Macbeth immer heftiger von Gewissensbissen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Duncan ist ungesühnt. — Alpträume kommen auf, sie beginnt im Schlaf zu wandeln und die Phantasie nimmt Überhand, bis sie schließlich den Verstand verliert und sich das Leben nimmt.

    Das Gefühl, sich womöglich gleich am ganzen Kosmos versündigt zu haben, durch eine Freveltat, dürfte sehr früh aufgekommen sein. Es gibt viele Beispiele dafür, daß durch ein Sakrileg eine ›heilige Ordnung‹ gestört wird, was nicht so bleiben kann. — Beispiele sind Sisyphos, ein Trickster, der nicht sterben will und den Tod immer wieder hinters Licht führt, oder Ixion, der erstmals einen Mord an einem Verwandten beging.

    Es gibt eine Klasse von Mythen, die sich als Urzeitmythen klassifizieren lassen. Väter verschlingen ihre Kinder, die Welt bleibt im Chaos, sie gewinnt gar keine Gestalt. Titanen herrschen, wobei der Eindruck entsteht, als wären sie die Verkörperung jener Geister, mit denen die Schamanen der Vorzeit noch umgehen konnten. — Die klassischen Mythen sind insofern auch ein Spiegel der Zivilisation, weil sie die angeblich barbarischen Zeiten zuvor als absolut brutal in Szene setzen.

    Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

    Francisco de Goya: Saturn verschlingt seinen Sohn (1820f). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Das sind auch Ammenmärchen der Zivilisation, die Rede ist dann von finsteren Zeiten. Zugleich setzen sich Mythen damit als Aufklärung in Szene, schließlich künden sie von der Überwindung dieser Schrecklichkeiten. Nicht nur der technische, zivilisatorische Fortschritt spielt bei alledem eine beträchtliche Rolle, sondern auch die Psychogenese. — Vermutlich kommt Individualismus erst allmählich auf, ebenso wie das Bedürfnis, sich selbst zu beobachten.

    Die klassischen Mythen inszenieren nicht nur das Sakrileg, sie errichten zugleich auch die Tabus dagegen, indem man die Ereignisse in eine viel frühere Urzeit abschiebt und zugleich demonstriert, wie entsetzlich die Folgen möglicher Tabubrüche tatsächlich sind.

    Wenn etwas Ungeheuerliches geschehen ist, dann treten bald schon Ungeheuer auf den Plan. Als würde die Welt selbst darum ringen, in den Zustand der ›vormaligen Harmonie‹ wieder zurückzukehren. — Aber irgendwie muß das Vergehen gesühnt werden. Es muß erst wieder aus der Welt geschafft werden durch Buße, weil erst dann die ›heilige Ordnung‹ wieder hergestellt werden kann.

    Zugleich sind die Götter selbst im Prozeß der Theogenese. Eine Götterdynastie folgt auf die nächste. — Interessant sind die Reflektionen darüber. So hat Kronos durch fortgesetzte Kindstötung der Gaia vorenthalten, was Mütter wollen, die Kinder aufwachsen sehen.

    Der Mythos schildert in dieser Vorstufe einen Zustand, in dem nicht wirklich Entwicklung statthaben konnte. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Menschheit zentriert. Dann treten die glücklichen Götter Athens sogar freiwillig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Menschheit die Welt zu überlassen.

    Die Entstehung des Gewissens

    François Chifflart: Das Gewissen. 1877, Maisons de Victor Hugo, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist vermutlich der aus Ägypten durch den Tempelpriester Moses beim Auszug der Juden mit auf den Exodus genommene monotheistische Gott, der bereits bei den Ägyptern mit einem allsehenden Auge symbolisiert wurde. Auch die Idee vom Jenseitsgericht stammt aus Ägypten, was zur bemerkenswerten Tradition der Ägyptischen Totenbücher geführt hat, das Leben als Vorbereitung auf den Tod zu betrachten.

     

    Mit der Bedrohung durch das Jüngste Gericht des Lebens kommt eine Psychogenese in Gang, die eine systematische Selbstbeobachtung erforderlich macht. — Wenn ein allgegenwärtiger und allwissender Gott ohnehin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts verbergen kann, dann scheint es angeraten zu sein, sich ein Gewissen zuzulegen, um sich genau zu beobachten und ggf. zu kontrollieren.

    Dementsprechend ist Kain auf der Flucht vor dem ›allsehenden Auge‹, weil er ›vergessen‹ hat, sich beizeiten ein Gewissen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weniger anspruchsvolle Deutung des vermeintlichen Brudermords. Aus Gründen der Ethnologie können Ackerbauern und Hirten keine ›Brüder‹ sein. Offenbar hat sich der hier verehrte Gott, der das Opfer des Bauern ›ablehnt‹, noch nicht damit arrangiert, daß die Tieropfer seltener und die Opfer von Getreide und Früchten zunehmen werden.

    Kain auf der Flucht

    Erst mit der Urbanisierung erhält der Prozeß der Zivilisation seine entscheidende Dynamik. Der alles entscheidende Impuls geht mit dieser Gottesidee einher, mit der ganz allmählich aufkommenden Vorstellung eines Gottes, der alles ›sieht‹. — Dementsprechend illustriert Fernand Cormon die Flucht des Kain unmittelbar nach der Tat. Das Werk ist durch Victor Hugo inspiriert und schildert die Szene auf groteske Weise.

    Der Plot selbst ist zutiefst paradox: Kain ist Bauer. Er lebt von den Früchten der Erde, fürchtet sich jedoch schrecklich vor dem neuen transzendenten Gott, der im Himmel über den Wolken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er verliert im Opferwettstreit, erschlägt seinen Kontrahenten, ist aber von diesem missionarischen Hirten offenbar längst bekehrt worden, denn er fürchtet sich fortan wie wahnsinnig vor diesem Gott. Darauf beginnt er eine halsbrecherische Flucht, um sich dem allsehenden, allwissenden, allgegenwärtigen Auge dieses Gottes doch noch zu entziehen.

    Fernand Cormon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Psyche und Seele

    Über Unterschiede, die wieder das Ganze in den Blick nehmen

    Man glaubt, die Naturwissenschaften an die Stelle der Kirche setzen zu können und “alles” ist gut. Wissenschaft kann aber Religion gar nicht ersetzen. Außerdem gehörten dann auch die Geisteswissenschaften dazu.

    Da man dann aber selbst denken und sich bilden müßte, bleibt man lieber auf der “sicheren” Seite, bei “den” Fakten und verpaßt letztlich alles, was Wert wäre, gelebt, empfunden, gefeiert, geliebt und sogar geheiligt zu werden.

    Die Naturwissenschaften haben die Welt nur entzaubert und eine leere Welt geschaffen, in der dann ein nihilistischer Naturalismus die Leute erschreckt. Wichtig wäre, daß Naturwissenschaftler nicht über Sachen reden, für die sie nicht zuständig sind. – Wie Juri Gagarin, der erste Kosmonaut, der getreu seiner Partei verlautbaren ließ. Er wäre nach ein paar Erdumrundungen nun schon ziemlich weit im Kosmos herumgekommen, Gott habe er jedoch nicht gesehen. – Heilige Einfalt!

    Es gibt nicht nur Materie, sondern auch Geist, und wie man sieht, auch die Disziplin der Geistlosigkeit. – Es gibt nicht nur naturwissenschaftliche Fakten, sondern auch Narrative. Das ist übrigens das, was in anderen Kulturen als der “Geist der Ahnen” bezeichnet wird. Es sind die Narrative, in denen dieser “Geist” aufbewahrt wird, so daß man ihn jederzeit zu Rate ziehen kann, in den alten Geschichten.

    Es gibt nicht nur Körper und Psyche, sondern auch Leib und Seele. Und dann gibt es auch noch den Geist.

    Vor allem der Unterschied zwischen Psyche und Seele hat es mir in letzter Zeit angetan. Um die Corona-Krise überhaupt noch verstehen zu können, habe ich gute alte Begriffe wieder reaktiviert, so daß ich sie nun aktiv verwende. Es sind die Begriffe “Leib, Seele” und “Geist”.

    Ich vermute nämlich, daß die Psyche wohl eher ein Teil unseres Maskenspiel ist. Sie ist also nicht so authentisch, wie wir glauben.

    Die Psyche ist eher wie das “schlechte Pferd” in Platons Seelenwagen. – Wenn diese Hypothese stimmt, dann wäre die Psyche ein Teil der “Maske”, wie wir sie tragen, um uns selbst und anderen etwas vorzumachen.

    Während die Psyche viel Wert legt auf Äußerlichkeiten, ob die Inszenierung stimmt und den Vorbildern aus maßgeblichen Filmszenen “gerecht” werden kann. Legt die Seele, wenn man wiederum Platon folgt, großen Wert auf das, was der Psyche oft nur nachgesagt wird, echte Gefühle, wirkliche Verbundenheit, wahre Authentizität, tiefes Verstehen.

    Das ist alles nicht schlimm sondern völlig in Ordnung: Wir brauchen alles, Mechanik, Materie, Naturwissenschaften, Fakten, Narrative, Psyche, Seele und Geist. – Man sollte nur eben immer auch wenigstens ahnen, worauf es jeweils ankommen könnte, auf welcher Ebene ein Phänomen angesprochen werden muß.

    Wenn man in diesen Angelegenheiten etwas besser unterscheiden möchte, dann empfehle ich Platon. – Es ist berückend, wenn er im “Phaidros” erklärt, was mit der Seele ist.

    Das wird einmal veranschaulicht durch einen Seelenwagen, der von zwei Pferden gezogen und von einem Wagenlenker geführten wird. Dabei wird die Bedeutung von Schönheit und Liebe für die Seele und deren Wiedergeburt zur Darstellung gebracht.

    Einmal in tausend Jahren brechen die Götter zum Triumphzug über das Firmament, über die Milchstraße, auf, um bis an die Grenzen dieser Welt vorzudringen, um im Jenseits vom Jenseits die Ideen zu schauen. Mit dabei sind auch Menschen, die aber Mühe und Not haben, gewisse, schwierige Himmelspassagen zu meistern, mit einem guten und einem schlechten Pferd. – Das ist der Plot.

    Ich habe schon oft darüber philosophiert, geschrieben und Vorträge gehalten, aber das Original ist eben Platon. – Es ist schön zu sehen, was er gesehen hat.

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.