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    Bücher von Heinz-Ulrich Nennen

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition –

    werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben → Downloads

     

     

     

     

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nennen: Der Mensch als Maß aller Dinge? Über Protagoras, Prometheus und die Büchse der Pandora (ZeitGeister 1); tredition Hamburg 2018. 232 S. – Paperback 16,99 €, ISBN: 978-3-7439-0090-5. Hardcover 26,99 € ISBN: 978-3-7439-0091-2. Erscheinungsdatum: 11.12.2018.

    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.

    Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.

    Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.

    Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Downloads freigegeben.

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel

    Wir wissen nicht, was Narziß auf der spiegelnden Wasseroberfläche gesehen haben mag. Der Mythos vom Narziß thematisiert weit mehr als den dummdreisten Narzißmus eines Selbstverliebten; wäre dem so, der Narziß wäre kaum der Rede wert. — Tatsächlich geht es um etwas anderes: Das Geheimnis menschlichen Bewußtseins, das sich selbst spiegelt, um sich seiner selbst gewiß zu werden, ist erst der Anfang einer langen Reise ins eigene Innere.

    Die beiden Hauptfiguren in diesem Mythos haben bemerkenswerte Handikaps, so daß sie einander nicht begegnen können. Alles beginnt mit der Nymphe Echo, die von Zeus animiert worden ist, Hera nach Art der Scheherezade mit unendlichen Geschichten von den Amouren des Gemahls abzulenken, insbesondere wenn dieser wieder einmal bei den Nymphen weilt. Die oft rasend eifersüchtige Hera ist bereits im Begriff, ihren Gatten in flagranti zu überführen, aber die geschwätzige Echo hält sie davon ab, indem sie weiter und weiter redet.

    Nachdem Hera das Spiel durchschaut hat, bestraft sie Echo, die nunmehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aussagt. Es wird der Nymphe genommen, was sie mißbraucht hat, um die Göttin hinters Licht zu führen: Hera nimmt ihr die Fähigkeit eigener Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus sprechen, sondern nur wiederholen kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fortan gar nicht mehr sprechen, es bleibt ihr nur noch, die letzten Worte lediglich zu wiederholen, — ein fatales Handikap, insbesondere wenn sie dem Narziß ihre Liebe gestehen will.

    Eines Tages wird Narziß auf der Jagd von seinen Gesellen getrennt. Er gerät in eine sonderbare Landschaft am Helikon, die von der Nymphe Echo beseelt wird. Sobald diese den jungen Mann erblickt, wird sie sogleich in Liebe erglühen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Also folgt sie ihm heimlich, um ihm bei Gelegenheit näher zu kommen…

     

     

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Lehramt,  Lehre,  Leib,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Schuld,  Schule,  Seele,  Technikethik,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Vorlesung,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

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    Psychodizee

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    Ernst Klimt: Pan tröstet Psyche. Privatbesitz. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Die Rechtfertigung der Gesellschaft und die Belastung des Einzelnen gehen Hand in Hand. Aber das Skandalon bleibt: Die Welt ist schlecht eingerichtet und ungerecht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöpfergott, sondern einzig und allein von Menschen zu verantworten ist. Die Theodizee ist zur Soziodizee geworden und auf diese folgt nun die Psychodizee. Auf die Anklage Gottes und dem Versuch seiner Rechtfertigung, folgte zunächst die Anklage der Gesellschaft und schlußendlich die Belastung der Psyche. — So kehrt die Hölle im Inneren wieder zurück, wir bereiten sie uns fürderhin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahrhunderten kaum etwas wirklich verändert in den Tiefen unseres Selbst. Und so zeigt sich dann, warum die Angst vor dem Jüngsten Gericht und vor der Hölle bis in die Gegenwart hinein noch immer eine so große Rolle spielt.

    Die alles entscheidenden Fragen werden inzwischen systematisch übergangen, etwa die, wer uns nach dem Tod Gottes noch unsere ›Sünden‹ vergibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht können. Das wiederum bringt zunehmende Belastungen für die Psyche mit sich, worauf nun verstärkt mit dem Einsatz von Psychopharmaka reagiert wird. Es ist aber verheerend, über diese Höhen und Tiefen einfach hinwegzugehen, denn dann wird fast schon wie im Märchen auch noch die eigene Seele verkauft. — Wo die eigenen Gefühle systematisch manipuliert werden, dort fallen weitere Anpassungsleistungen bis hin zur Gewissenlosigkeit immer leichter. Ungehemmt kommt dann die für so viele Sparten obligatorische Skrupellosigkeit zum Zuge, als Aushängeschild einer negativen Identität, deren Ethos darin besteht, keines zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spekulativen Beschreibungen dieser Tendenzen seinerzeit schon die möglichen Varianten der weiteren Entwicklung einzukreisen verstand. Solche Vorhersagen über langfristige gesellschaftliche Entwicklungen sind sehr wohl möglich und haben nichts mit Prophetie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietzsche gestützt, und wir dürften den beiden Denkern daher erscheinen, wie jene letzten Menschen, von denen im Zarathustra die Rede ist. Es ist die schlechteste aller möglichen Entwicklungsvarianten, mit denen nicht nur Nietzsche sondern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir werden also dem ›letzten Menschen‹ tatsächlich immer ähnlicher? Eines ist jedenfalls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epoche von Friedrich Nietzsche, Max Weber und Sigmund Freud möglich gewesen wäre. Manche der Fortschritte dürften daher in Wirklichkeit eher Rückschritte gewesen sein. — Was bei Weber das stählerne Gehäuse der Hörigkeit ausmacht, schildert Nietzsche als Zukunfts–Diagnose im Zarathustra und Freud sieht die Belastungsgrenzen der Psyche voraus.

    Schlußendlich kommt es zum Zynismus und zur Borniertheit dieser ›letzten Menschen‹, die allen Ernstes von sich behaupten, das Glück erfunden zu haben, wohlgemerkt, nicht ge– sondern erfunden, und genauso sieht es dann auch aus, dieses Glück in aller geistigen Bescheidenheit: »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln, heißt es in Zarathustras Vorrede.

    Körper, Psyche, Seele und Geist, alles scheint aufs bequemste zurecht gerückt worden zu sein. Und man möchte glauben, alles sei dasselbe. Da wird dann die Psyche zum störenden Beiwerk, um von Seele und Geist ganz zu schweigen. Wir sind eine rein technisch unverschämt erfolgreiche Spezies von Raubaffen, die inzwischen nur noch das Körperliche gelten lassen. Woher soll da noch der Geist kommen? — Nietzsche rechnet mit dem Zeitgeist der Moderne ab.

    Die ungeheuerliche Prophetie ist längst zum Klassiker geworden, so daß eine jede Zeit, die spät geworden ist, ihr Spiegel– und Zerrbild darin wiederfinden kann:

    Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:

    aber man ehrt die Gesundheit.

    »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

  • Anthropologie,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele

    Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.
    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur.

    Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.

    ***

    Es ist ausschließlich das Privileg der Götter, dem was leben soll, die Seele einzuhauchen. Im Sinne der magischen Weltauffassung können Seelen allerdings beeinflußt werden. Gleichwohl zielt der hinter alledem verborgene Wunschtraum zielt genau darauf ab, diese Differenzzwischen Vorstellung und Wirklichkeit immer kleiner werden zu lassen. — Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ultimatives Künstlerglück, wenn die Werke tatsächlich täuschend echt wirken oder vielleicht sogar zum Leben erwachen.

    Darauf zielen letztlich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Philosophie: Es gilt, das absolute Wort, das ultimative Werk oder die vollkommene Einsicht zu finden, zu schaffen oder zu realisieren. Dieser nicht selten mit Hybris einhergehende Wille zum Werk legt es tatsächlich darauf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewegen‹ und tatsächlich zu leben beginnen. Auch der Traum des Phänomenologen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu sprechen beginnen, so daß wir nicht mehr mit Unterstellungen, Annahmen und Vermutungen arbeiten müssen, sondern einfach nur zuhören, zusehen und miterleben können.

    ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.
    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Hybris, das bedeutet Grenzüberschreitung und zwar in einem überaus magischen Sinne, etwa wenn eine eigentlich unbeseelte Puppe wie Pinocchio, eine Skulptur wie die Galatée des Pygmalion oder wenn ein Kunstwerk wie Das Bildnis des Dorian Gray zum Leben erwacht. Auch das entgegengesetzte Verfahren ist hoch problematisch, etwa wenn die Seele in ihrer emotionalen Bewegbarkeit, in der sie eben ›gerührt‹ werden kann, einfach auszuschalten, wenn sie durch einen kalten Stein ersetzt wird, wie in Das kalte Herz von Wilhelm Hauff — Mit alledem gehen größte Befürchtungen einher, die kosmische Ordnung könnte fundamental gestört und vielleicht sogar zerstört werden. Es sind womöglich bald schon keine Einzelfälle mehr, wenn so etwas auch nur ein einziges Mal ungestraft möglich geworden ist.

    Die Faszination bei der Vorstellung über die Macht magischer Worte verkehrt sich in gerade Gegenteil angesichts der Horrorvorstellungen, die sich sogleich ankündigen, wenn auch nur einen Augenblick daran gedacht wird, so etwas könnte tatsächlich und wirklich möglich sein. Nicht nur die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit wäre dann nicht mehr von Bedeutung. Damit aber würden fundamentale Orientierungsweisen unmöglich gemacht, so daß sich zeigt, worum es bei solchen Horrorvorstellungen wirklich geht: Wo Artefakte lebendig werden, wo Sachen selbst zu sprechen beginnen, wo fundamentale Grenzen nicht mehr gelten, dort würde die Ordnung der Dinge bis in die Fundamente erschüttert.

    Es geht dabei allerdings weit weniger um die Natur der Sachen selbst, als vielmehr um den Bestand der Kultur. Alle relevanten Orientierungsmuster setzen auf solche Unterscheidungen, daher kann es gar nicht denkbar sein, daß die Grenzen zwischen dem Lebenden und dem Toten, dem Unbeseelten und dem Beseelten oder zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen nach Belieben überschritten werden. Das ist dann auch der Grund für das Grauen, den Abscheu aber auch die Faszination und das heimliche Interesse an der Magie als schwarze Wissenschaft oder auch einfach nur als Zauberkunst.

    Auszug aus: https://www.nennen-online.de/empathie/

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Motive der Mythen,  Religion,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Das erschöpfte Selbst

    Lucas Cranach der Ältere: Melancholie. Nationalgalerie,
    Kopenhagen.<fn>Public domain via Wikimedia Commons.</fn>

    Erläuterungen zur Psychogenese

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Hafen–Philosoph

    Gedanken aus einem
    indianischen Winnebago an Münsters Hafenufer

    Von Tobias Winkler, winklerwirred

    Der Karlsruher Hochschullehrer für Philosophie, Dr. Heinz-Ulrich Nennen, steht regelmäßig mit seinem amerikanischen Wohnmobil in Münsters Hafen. Denn das Leben dort schreibt seine Vorlesungen. In den Pausen lädt er als „ambulanter Philosoph“ zur kleinen Denkerrunde übers Denken.

    In den frühen Morgenstunden, so gegen fünf Uhr, da findet er es hier am schönsten. „Wenn sich der Hafen im glatten, stillen Wasser spiegelt“, erzählt er verträumt, „da erlebt man diesen kleinen Mikrokosmos gleich doppelt.“ In diese „kleine eigene Welt“ ziehe er sich seit fast vier Jahren gerne zurück. Heinz-Ulrich Nennen arbeitet als Hochschullehrer an der Universität Karlsruhe. Aber sein mobiles Büro steht immer wieder an Münster Hafenufer.

    Ein amerikanischer „Winnebago“. Es ist ein großräumiges, silbernes Wohnmobil: Baujahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanalufer gegenüber der bunten Gastro- und Flaniermeile des alten Münsteraner Industriehafens. Es ist ein schönes, stattlich ausgebautes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier komplett heimisch fühlen und auf nichts verzichten“, erklärt Heinz-Ulrich Nennen. „Ich habe lange nach diesem Wohnmobil gesucht. Es ist das einzige Modell, das diesen Luxus bietet.“ Nun ist der Winnebago sein „kleines Denkbüro“, wie er ihn liebevoll nennt. Er ist sein mobiles Schneckenhaus.

    Fertighaus auf Rädern

    Oft steht dieses nahezu stationär wie ein Fertighaus auf Rädern auf den ausgedienten Gleisen neben einem alten Hafenkran, der längst demontiert ist und an ein reges Leben der Hafenarbeiter erinnert. Oder im Wohnmobilhafen eines benachbarten Campingplatzes. Denn das mächtige Gefährt frisst zu viel Sprit, um darin ständig unterwegs zu sein. Will Nennen wirklich mobil sein, steigt er auf ein anderes Verkehrsmittel um. In Münster selbst ist er oft mit dem Fahrrad oder dem Auto unterwegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hinzu. Geht es weiter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins südliche Karlsruhe sind es immerhin mehr als vierhundert Kilometer, die Nennen – zumindest in der warmen Jahreszeit – nahezu jede Woche zurücklegt. Die Hälfte der Woche philosophiert er mit seinen Studenten, die andere Hälfte sucht er neues philosophisches Futter am münsterschen Kanalufer.

    „Gegen halb sechs bringt die erste Welle das Leben zurück. Ganz langsam kommt sie herein“, führt er fort. „Man kann zuschauen, wie sie kommt, vorbeiläuft, vom anderen Ende wieder zurückkommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Worte mit seiner tiefen, einfühlsamen Stimme pointiert betont vorträgt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nennen mit seinen Fingern gefühlvoll einige Töne in die Luft. Es scheint als dirigiere er seine Gedanken, es scheint als spiele er auf seinem Luftklavier die Melodie des münsterschen Hafenlebens.

    Sehnsucht nach Stille

    Dabei mag man eine gewisse Sehnsucht nach Stille in seinen dunkelgrünen, stets offenen Augen erkennen. Aber Nennen ist keiner, der das Leben scheut. An diesem Tag kommt er gerade vom Hauptbahnhof. Er war den ganzen Tag über auf einer Philosophen-Tagung in Essen. Erst seit wenigen Minuten ist er „zuhause“. Er sitzt an seinem kleinen Schreibtisch. Den Fußboden unter ihm ziert echt anmutendes Buchen-Laminat. Zwischen den Fenstern hängen goldige Lampenhalter mit Faltschirmchen, daneben baumeln kleine Stoff-Gardinen und an den Wänden hängen Schränke in Eiche massiv. Ein bisschen US-geleiteter Biedermeier, ein wenig moderne Spätromantik oder doch deutsche Hochklassik? Der Einrichtungsstil ist nicht gleich klar.

    „Die Wohnmobile werden von den Nachkommen der Indianer gebaut“, berichtet Nennen. „Eigentlich bin ich kein Eiche-Massiv-Typ. Ich stehe eher auf unterkühlte Moderne mit Selbstironie.“ Auch wenn die Inneneinrichtung durchaus anderes erahnen lässt, äußerlich hat Nennen offenbar das perfekte Heim gefunden: Der indianische Winnebago erinnert in seiner Form an amerikanische Kühlschränke. Diese klobigen, bunten oder metall-farbenen, rundlich-abgerundeten, quaderförmigen Exemplare, die nicht für die Montage in der gut bürgerlichen westfälischen Einbauküche geeignet sind. Sie müssen frei stehen. Und damit das Bild vollends perfekt ist, müssten Magnete an allen Seiten haften. Mit Notiz-Zettelchen, Fotos und Erinnerungen der schnelllebigen Welt dort draußen. Aber, so Nennen: „Entscheidend für den amerikanischen Automobilbau war die Eisenbahn und für diese wiederum der Schiffsbau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kutsche, sondern aus dem Waggonbau entwickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen breiter und größer als in Alt-Europa.“

    „Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“

    Nennen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Das ist das erste, was auffällt. Der Hafen-Philosoph trägt ausschließlich schwarz. Aus dem Ausschnitt des wolligen Knopf-Pullis suchen sich dunkle Brusthaare ihren Weg ans Tageslicht. Mit weit geöffneten Augen schaut er über seinen grau-melierten Vollbart hinweg. Auch in seinem dunklen Haar schimmern immer wieder hellere, manchmal dünnere, manchmal dickere Strähnen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohnmobil durchaus großen Tisch steht noch das letzte, nicht ganz ausgetrunkene Rotweinglas, direkt daneben die ausgebrannten Teelichter von vergangener Nacht. Es war eine der längeren Nächte. Die kommen häufiger vor.

    Dann sitzt der Philosoph immer an seinem schwarzen IBM-Laptop und beobachtet durch die gut geputzten Fensterscheiben die Welt außerhalb seines mobilen Denkbüros. Schnell erkennt man: Nennen ist kein Camper. Auch nicht der Typ, der romantisch am Lagerfeuer grillt. Nennen ist vielmehr ein Feldforscher mit mobilem Wohnbüro – ausgestattet mit UMTS-Laptop, Satelliten-TV, Navigations-Touchscreen, Schlafzimmer, Dusche und eigenem Stromgenerator. Außer Spül- und Waschmaschine ist alles an Bord. Nennen: „Ich kann hier zehn Tage lang autark leben. Dann sind die Wasser-, Gas- und Benzintanks leer.“

    Partygänger am anderen Ufer

    Aus diesen eigenen vier, sicheren und mobilen, Wänden beobachtet er in dunklen Nächten die Partygänger auf der anderen Uferseite des Kanalhafens. Er schaut, wie die Menschen an verschiedenen Wochentagen gehen oder wie sie in Gesprächen gestikulieren. Dann denkt er sich Geschichten dazu aus. „Die Menschen gehen jeden Tag anders“, berichtet er. „Am Sonntag flanieren sie gelassen an den Cafés und Kneipen vorbei. Sehen und gesehen werden – das ist wie auf der Promenade in Venedig.“ Wochentags hingegen sei der Gang hektischer. Die Leute seien dann gar nicht dort, wo sie gerade sind, sondern in Gedanken bereits sehr viel weiter. „Sie nehmen die Umgebung gar nicht richtig wahr, weil sie nur Distanzen überwinden. Das ist beim Flanieren ganz anders.“

    Sein philosophisches Denkwerk hat Heinz-Ulrich Nennen an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster gelernt. Bereits im Teenager-Alter tauchte der gebürtige Rheinenser in der Domstadt auf, er ging hier zur Schule, studierte und promovierte vor knapp zwanzig Jahren an der philosophischen Fakultät. „Mit summa cum laude“, betont er nicht arrogant oder protzend, aber durchaus wissend. Wohl wissend und bedacht um den gesellschaftlichen Doktoren-Status, aber durchaus mit der Lebenserfahrung, dass ein „Dr.“ im Lebenslauf nicht allmächtig macht. Nach seiner Promotion dachte er, die Arbeitswelt reißt sich um ihn. Aber sie drehte sich auch ohne ihn weiter.

    Atomkraftwerke und Klimawandel

    Die erste Zeit war er arbeitslos und auf der Suche. Dann unterrichtete er an der Dortmunder Fachhochschule für öffentliche Verwaltung angehende Polizisten in Ethik und forschte für zehn Jahre für die Stuttgarter Akademie für Technikfolgenabschätzung rund um die Auswirkungen der Atomkraft und des Klimawandels. Zwei Themen, die den gesellschaftspolitischen Diskurs bis heute prägen. „Sie waren bereits in den sechziger und siebziger Jahren ein brennendes philosophisches Thema“, erzählt Nennen. Schließlich habilitierte er über die Sloterdijk-Debatte: „Das war Philosophie in Echtzeit. Ich habe alles aus dem Moment heraus analysiert. Ein philosophischen Experiment, um zu zeigen, dass so etwas möglich ist.“

    Dieses Prinzip hat er sich bis heute zu eigen gemacht. Es sind immer wieder kleine Momente und winzige Augenblicke des Alltags und deren Menschen, die ihn inspirieren. Sie sind ein kleiner Teil eines philosophischen Analyse-Patchworks. „Ich schreibe meine Vorlesungen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gerade treibt – und um das, was sich um ihn herum in Münsters Hafen treibt. Wissenschaftlich ausgedrückt: „Empathie“, „Psyche“, „Selbstverständigung“, „Philosophie und Psychologie“ oder „Psychogenese“. Das sind die Bereiche, die Nennen in Forschung und Lehre der Karlsruher Uni hauptsächlich übernimmt.

    „Der Hafen ist unberechenbar.“

    Zwischendurch grüßen Spaziergänger und Hafenmeister. Die Leute hier kennen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohnmobil beobachtet er das Treiben, kommt ins Denken und findet den Stoff für seine Studenten. Nennen: „Der Hafen ist unberechenbar. Mal sind Schwimmer im Wasser, dann sind Triathlon-Wettbewerbe. Mal ist Hafenfest, dann legt die ‚MS Wissenschaft‘ an, um Baumstämme zu verladen. Mal setzt die Halle Münsterland stillgelegte Gleismaschinen für eine Ausstellung auf die alten Schienen, dann kommt plötzlich doch noch ein Güterzug.“ Dabei sind die Gleise neben dem alten Hafenkran seit Jahren längst verwaist. Als grün verwachsene, rostig-rötliche Linien ziehen sie sich unter Nennens Wohnmobil her. Sie führen die Spaziergänger und ihre Hunde und weisen ihnen einen geradlinigen, parallelen Weg zum welligen Wasser im Hafenbecken.

    Es ist wohl die Abwechslung, das ständig Neue, was der Philosoph braucht. Vor allem ist es aber das Unvorhersehbare und das Unvorhergesehene. Das scheint ihn in seiner Philosophie anzutreiben. Dazu gehört auch der gewohnte, aber nicht zwangsläufi g gleichmäßige Takt der Tanzjünger im „Heaven“, einem Szeneclub, der einige Dutzend Meter Luftlinie entfernt am anderen Ufer des Kanals liegt. Wenn Nennen am Wochenende oder nach Münsters studentischem Partymittwoch spät nachts in seinem Denkbüro hockt, hört er wie sie den Beat zur frühen Tagesstunde erhöhen. Unwillkürlich denkt er an Kinder von Fließbandarbeitern: „Dieser Sound wirkt, als suchten sie das Band als Lebensrhythmus. Um drei Uhr wird immer der Arbeitstakt erhöht.“

    „Ich brauche den Rummel.“

    Allerdings nicht nur bei den Tänzern – auch im Wohnmobil: „Ich brauche den Rummel um mich herum. Der inspiriert mich“, bestätigt Nennen. Nachdenklich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgendwann ist es dann wieder fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem kleinen Fenster seines Winnebagos. Irgendwann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Welle das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nennen krault durch seinen ergrauten Bart. Sie kommt, läuft vorbei, kehrt vom anderen Ende wieder zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem kleinen Hafenkosmos Leben ein. Nennen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die nächste Idee.

    Szenenwechsel

    Es ist nicht ganz zwölf Monate später. Diesmal verabreden wir uns am anderen Ufer des Hafens gegenüber von Nennens Wohnmobil. Besser gesagt: gegenüber vom gewohnten Platz des Winnebagos. Denn der steht an diesem Tag nicht dort. Nennen hat an diesem Tag im nahen Fuestrup am Kanalübergang einen anderen Hafen für sein Denkbüro gefunden. Dieser kleiner Umstand hält ihn allerdings keineswegs vom Denken ab. Ganz im Gegenteil.

    An einem Geländer schließt Heinz-Ulrich Nennen sein gemütliches Fahrrad ab. Der Rahmen hat eine äußerst außergewöhnliche Form. Das elegant, leichte Modell erinnert an Omas altes Hollandrad, aber irgendwie hat es auch etwas von einem dieser modernen Cruiser-Bikes. Der Rahmen aus geradem, schwarzen Rohr ist mehrfach verstrebt. Seine Winkel bilden die Silhouette eines schwebenden Drachens, der während der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Dieses Modell ist bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden“, erklärt Nennen. Das gilt zwar nicht für sein Exemplar, aber zumindest für das Patent: „Das Pedersen ist ein um 1890 von dem Dänen Mikael Pedersen entwickeltes Rad, das drei Jahre später zum Patent angemeldet und später in Christiania, einer alternativen Wohnsiedlung in Kopenhagen, wiederentdeckt wurde. Man hat damals überlegt, ob es möglich ist, Fahrräder aus Bambus zu bauen, was fast funktioniert hätte.“

    Unscheinbare Augenblicke

    Auch bei diesem seiner Verkehrsmittel weiß Nennen um die Historie. Der Winnebago als indianisches, großräumiges Lebensdomizil und eine dänische, geschichtsträchtige Leeze – für Philosoph Nennen sind sie nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Luxusgegenstände. Sie unterscheiden den landstreichenden Globetrotter, den grillenden Lampion-Camper und Heinz-Ulrich Nennen einmal mehr ganz deutlich voneinander. Gekleidet ist er wie beim ersten Treffen: Wieder trägt er einen schwarzen, eleganten Wollpulli zu einem dezent gestreiften Sakko. Der Bart sieht nicht bedeutend grauer aus, die Haare auch nicht. Nennen schreitet über die alten Güterschienen, die ihn geradeaus mit Blick in Richtung der bunten Leuchtreklame des Kinos führen.

    „Wir sind sehr mächtig im Kulissenschieben“, murmelt er durch seinen Vollbart. „Es sind unscheinbare Augenblicke, die wir schnell übersehen. Augenblicke, die eine entscheidende Weiche im Leben stellen. Besonders spannend sind Irrtümer“, sagt der Philosoph. „Wir irren uns in Momenten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bauen darauf unser komplettes Leben auf. Wir bauen unsere Bühne so, wie wir es wollen. Das birgt eine gewaltige Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nennen hält kurz inne und überlegt. Etwa wir selbst? Das ganze Leben ein Theater? „Aber es eröffnet zugleich eine riesige Chance“, fährt er fort. Allerdings unter einer sehr entscheidenden, wenn nicht notwendigen Bedingung: „Wir müssen unsere Souveränität behalten! Nur dann kann man sagen: Es sind meine ganz persönlichen Erfahrungen, die ich mache, nicht irgendwelche. Ich lass’ das jetzt erst mal so laufen – und schaue einfach mal zu, was mit mir passiert.“

    Philosophisches Café

    Man merkt schnell, was er bereits vor diesem Gespräch angekündigt hat: Heinz-Ulrich Nennen hat sein philosophisches Schaffen in Münster ausgeweitet. Er arbeitet hier nun auch als lebensphilosophischer Wegweiser. Das einstige Phantom des Industriehafens ist zu einem Ratgeber in Münsters alltagsphilosophischer Oper geworden. Denn Nennen hat im vergangenen Jahr ein neues Betätigungs- und Denkfeld entdeckt. Er lädt inzwischen gemeinsam mit der Volkshochschule zum sonntäglichen „Philosophischen Café“ und zieht als „ambulanter Philosoph“ durch die westfälische Domstadt. Soll heißen: Der Philosoph kommt zu Besuch oder man kann ihn besuchen – in seinem amerikanischen Winnebago-Wohnmobil.

    In einem benachbarten Café bestellt er einen Prosecco und plaudert. „Ich will den Menschen gedankliche Impulse mit auf den Weg geben und das Denken über das eigene Denken und Tun fördern“, erklärt er. Die Terminvereinbarung laufe modern per E-Mail und an Ambulanz möge er die „Ironie des Notdürftigen”. Denn die Philosophie sei gar nicht so akademisch, wie viele Menschen denken. „Sie ist in ihren Ursprüngen vor allem eine Lebenskunst, die auch mit Heiterkeit zu tun hat und die uns zum Schmunzeln bringt. Erkenntnis muss doch nicht weh tun. Gerade Selbsterkenntnis sollte bereichern!“ Der ambulante Philosoph selbst habe bereits in seiner revolutionär-aufmüpfigen Zeit der Pubertät angefangen, übers Denken nachzudenken. „Ich habe angefangen, in Eventualitäten zu denken”, erklärt er. Er habe damals wie viele seiner Zeitgenossen mit seiner Vorstellung von gesellschaftlichen Idealen und moralischen Regeln nicht in dieses System und diese Welt gepasst.

    Student mit Selbstversorger–Hof

    Als er als Teenager nach Münster kam, hauste er zunächst in einer Wohngemeinschaft. Später mietete er sich ein altes Bauernhaus in Ascheberg – rund fünfundzwanzig Kilometer entfernt der Domstadt. Nennen: „Das musste damals einfach sein!” Schließlich war es die Zeit der ländlichen Kommunen, Aussteiger und Selbstversorger. Nennen selbst war für hundertfünfzig Deutsche Mark Miete allerdings ganz bewusst allein zu Haus. Möglichst viel lesen, meditieren und diskutieren stand auf dem Programm. Wenn der kleine Kotten im Winter eingeschneit war, holte er sich seine Post auch schon mal aus einem Baum an der Straße. Nennen: „Ganz wichtig war die tägliche Berliner Tageszeitung. Die war damals ein Muss!” Nur im tiefsten Winter zog es ihn von seinem kleinen Selbstversorger-Hof in das münsterländische Domzentrum: „Wenn die Toiletten zugefroren waren, dann hatte man verloren und musste in die Stadt.”

    Heinz-Ulrich Nennen spielt mit einer goldenen Flieger-Sonnenbrille, die er auf dem Tisch vor sich plaziert hat. Nach der Zeit des „programmatischen Aussteigertums” habe er dann den Weg in „diese Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mystischen Weltanschauungen der Hippie-Generation.” Mit seiner Hand vertreibt er immer wieder die Fliegen vom süßen Kaffee des Interviewers. Die eine oder andere Droge habe er damals probiert. „Nicht zum wegschädeln, sondern zur Bewusstseinserweiterung”, betont er in gelassenem Tonfall, aber durchaus mit einem stimmlich erhobenen Zeigefinger. Man könne schließlich nur solange gesund philosophieren, wie man nicht psychotische Züge annimmt und aus der eigenen Umgebung und Wirklichkeit davon fliegt. So hat er irgendwann in Büchern die Welt und in der Welt wiederum vieles an Philosophie entdeckt. Denn Philosophieren ist eine Frage der Perspektiven.

    Viele verschiedene Kameraperspektiven

    So hat er sich gesetzten Alters offenbar gut mit dieser Welt arrangiert – möglicherweise gar versöhnt: „Wir können uns aus vielen verschiedenen Kameraperspektiven betrachten. Der gesellschaftliche Diskurs betont immer wieder, dass wir einstimmig sein sollen. Dabei besitzt jeder Mensch doch so mannigfaltige Perspektiven auf sich selbst, dass er auch unterschiedlichen Stimmen folgen kann.” Da komme es darauf an, „Herr der eigenen Vielfalt” zu sein. Das bedeute nicht, sich an vagen Lianen durch den sozialen Großstadtdschungel zu hangeln, sondern vielmehr, die richtige Liane zu suchen, bevor man auf die weitere Lebensreise geht. Nennen: „Wir sollten in jeder Situation ganz genau ausloten, welcher Stimme wir bewusst folgen wollen. Zunächst kommt es aber darauf an, alle diese Stimmen wirklich zu vernehmen.”

    Das bewusstseinserweiternde Hilfsmittel der Drogen war ihm dabei immer schon suspekt. Das gleiche gilt sowohl für die Schulmedizin, als auch die Arbeit mit Patienten, Klienten oder Kranken. So ist Nennen bewusst nicht Heilpraktiker geworden. Als ambulanter Philosoph will er nicht heilen, sondern der eigenen Souveränität zum Auftrieb verhelfen. „Im inspirierenden Dialog“, betont er. Er habe die Drogen bewusst für sein Bewusstsein eingesetzt. Aber er habe immer darüber nachgedacht, wie sie ihn ihrerseits beeinflussen, ihn hinters Licht führen und an seinen Strippen ziehen, um ihn möglicherweise aufs Kreuz zu legen. „Viele Menschen handeln wie Marionetten, die sich in Erwartungen und Idealen verwickelt haben”, gibt er zu bedenken. Weil sie nicht über ihr Denken nachdenken, seien viele Mitmenschen verstrickt und gefangen in Erwartungen, Idealen und sozialen Netzen, die sich häufig als verfehlt herausstellen, sobald das Denken darüber in Gang kommt.

    Weniger Antworten als Fragen

    Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psycho-Doc. Oder ist es eine typische Seminarsituation, wie Nennen sie regelmäßig mit seinen Studenten teilt? Die Wahrheit bewegt sich wohl irgendwo dazwischen. Ganz trennscharf sind die Linien zwischen Philosophie und Psychologie ohnehin nicht immer, gibt auch der Philosoph zu. Der Unterschied zwischen beiden ist wohl der Grad an Freiheit. Ein Psychologe behandle eher Störungen, die einen Menschen in seinem Leben einschränken, differenziert Nennen. Als ambulanter Philosoph hingegen will er im Menschen selbst das Hand- und Denkwerkzeug wecken, sich in seiner sozialen Umwelt zu finden und zu verorten: „Das ist Selbstprogrammierung”, sagt Nennen. „Philosophieren kostet Zeit. Wer es ausgelassen tut, entlastet sich nicht, sondern belastet sich zusätzlich.” Denn die Philosophie beherberge weniger konkrete Antworten als immer mehr Fragen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesellschaft stellen kann. Nennen: „Daher braucht es den Philosophen als Ratgeber in diesen Fragen. Wie einen Pfadfinder, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedanken, Ideale und Gefühle hindurch führt.”

    So müssen seine Gesprächspartner auch die Kosten für die einstündige Winnebago-Denkerrunde von fünfzig Euro selbst bezahlen. Einen Psychologen zahlt im Regelfall die Krankenkasse. Davon, dass das deutsche Gesundheitssystem auch die philosophische „Orientierung zur Selbstorientierung”, wie Nennen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stückchen entfernt. Der gesellschaftliche Trend zum Nachdenken übers Denken sei Jahrtausende nach Platon allerdings wieder auf dem Weg zurück ins allgemeine Bewusstsein, stellt er fest: „Warum bekommt Richard David Precht sonst eine eigene Fernsehsendung?” Die Philosophie scheint gerade in der Krise und in einer Übergangszeit an Bedeutung zu gewinnen. Denn gerade dann suchen die Menschen nach etwas Neuem, woran sie sich festhalten können. Dabei sollten sie doch viel besser darüber nachdenken, wie sie sich selbst vor allem auch von neuen Seiten kennen lernen und selbst orientieren können, mahnt Nennen.

    Postmoderne Zersplitterung

    Nur allzuoft sieht der ambulante Philosoph unsere Ideale mehr als nur zwiespältig. „Ich habe den begründeten Verdacht, viele unsere Ideale könnten gar falsch sein”, streut er auf einmal und ein wenig plötzlich ein. „Wir treffen Entscheidungen ohne darüber nachzudenken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spielen Rollen, ohne zu wissen, warum wir sie so und nicht anders spielen. Und das Schlimmste ist: Die meisten Menschen glauben, sie wüßten, was sie denken und tun!” Kurzum: Wir machen fremde Ideale zu unseren eigenen – ohne zu wissen, warum. Einfach so. Ohne jemals darüber nachgedacht zu haben. Es ist die soziale Entfremdung und postmoderne Fragmentisierung, die der Philosoph beklagt.

    Das Leben gestaltet sich zunehmend komplexer. Es ist soviel da, aber alles nur bruchstückhaft. Die Zivilisation und Verstädterung habe die Menschen zu versprengten, zersplitterten Individuen gemacht, sagt Nennen. Bei allen positiven Facetten der Individulität handelten die Menschen allerdings bei weitem noch nicht genügend selbständig und aus sich selbst heraus. Denn gerade das ist eine nicht immer wohlschmeckende Pille – vor allem für die, die in der Lage sind, souverän zu denken.

    Denken wie eine freischwebende Feder

    Heinz-Ulrich Nennen ist ein Freidenker. Er vergleicht die Philosophie gerne mit einer freischwebenden Feder: „Ziel des Philosophierens ist es, die Feder stets in der Schwebe zu halten.” Sie darf nicht herunterfallen, aber sie darf sich auch nicht mit dem nächsten Windstoß so einfach verabschieden. Nennen denkt bei diesem Bild insbesondere an die Ur-Philosophie eines Platon: Solange alles in der Schwebe bleibt, ist der philosophische Diskurs, der eigene Geist und damit auch das eigene Leben in Bewegung. Allerdings offenbart die Schwebe-Philosophie – nicht zuletzt in Person eines Friedrich Nietzsche – gewiss auch ein enormes Absturzpotential. Ständig das eigene, im unendlichen Raum schwebende Selbst zu suchen und zu finden, kann auch eine ewige Jagd zwischen Hase und Igel sein. Philosophie kann federleicht beflügeln, aber sie kann auch schwermütig fesseln – bis zum Exzess.

    Gerade in Zeiten einer allgemeinen sozialen Verunsicherung ist der Schwebezustand logischerweise besonders prekär. Menschen brauchen Orientierung. Viele Jahrhunderte lang waren die Kirche und der Glaube an Gott dafür zuständig. Es gibt Götter, sie verkörpern unsere Ideale aber auch unsere Ängste, das steht auch für den Philosophen außer Frage. Nennen: „Sie waren und sind seit Jahrtausenden das, wonach die Menschen streben.“ In Zeiten, in denen es Religion und Kirche schwer haben, übernehmen allerdings zunehmend andere deren Aufgabe. Michael Jackson etwa. Nennen meint Idole, an denen sich die Menschen ausrichten – ohne dass diese Idole noch echte Menschen wären. Denn sie sind lediglich Bilder, ein „Imago”, wie Nennen sagt. Sie bilden das populäre Image als vermenschlichten Lebensgeist ab.

    Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler

    Bis zur Selbst-Aufgabe habe der „King of Pop” den Menschen etwas darbieten wollen. „Dabei hätte es doch gereicht, wenn er einfach nur dagewesen wäre”, bedauert Nennen. „Jackson musste kaum mehr etwas dafür tun, dass die Massen außer sich gerieten.” So habe er ein Konzert durch minutenlanges Stillstehen begonnen, worauf die Fans jede noch so geringe ruckartige Bewegung frenetisch feierten. „Auch bei der neuen Tournee hätten die Fans ihn vergöttert”, denkt Nennen. Aber Jackson habe zu viel gewollt: „Er wollte besser sein als Michael Jackson und hat damit den gleichen Fehler gemacht wie Nietzsche.” Während der Popstar im Alter von einundfünfzig Jahren an einer Überdosis von Schmerzmitteln starb, hielt es Philosoph Nietzsche zwar noch eine Handvoll Jahre länger aus. Aber auch er stürzte ab.

    Er habe seine Feder zu hoch fliegen lassen, sagt Nennen, sich daraus sehr vage Flügel gebaut. Er hätte sich am Rat seines Vaters Daedalus orientieren sollen, stets in der Mitte zwischen dem kalten Meer und der heißen Sonne zu fliegen. Aber er sollte bekanntlich der Sonne zu nahe kommen und mit gebrochenen Flügeln abstürzen. Er ist zu lange zu hoch geflogen, um die göttliche Sonne seines eigenen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewachsten Tragflächen seiner Seele verbrannt. Er starb schließlich im Alter von sechsundfünfzig Jahren. „Irgendwann löst sich bei den Stars unserer Tage das prominente Götterbild ab und beginnt ein Eigenleben zu führen”, erläutert Philosoph Nennen. „Da kommt es auf den Charakter hinter der Kunstfigur kaum mehr an. Die Leute wollen den Menschen dahinter gar nicht mehr sehen. Sie kennen ihn schließlich überhaupt nicht, sondern spiegeln lediglich ihre eigenen Ideale auf ein unerreichbares Bild.”

    Ergebnisoffene Wege

    Sie verehrten anstelle dessen ein kunterbuntes Potpourri ihrer eigenen Gefühle und Sehnsüchte, wie sie etwa in einem Gott Jackson deutlich intensiver zu Tage treten, als sie es jemals in der Person hinter der Pop-Ikone könnten. Daher werde in den Regenbogenmedien so gern der so genannte „Mensch dahinter” inszeniert, was den Widerspruch nur noch weiter verschärfe. So stellt Nennen fest: „Götter müssen sich nicht rechtfertigen. Wir aber müssen das.” Dabei sei doch jeder Irrtum das Größte, das man an und in sich entdecken kann: „Gerade der Unterschied zwischen Mensch und Gott ist das, worauf es ankommt. Wenn ein Irrtum auffliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröhlich – und sogar überaus glücklich.” Kein Irrtum sei es wert, sich darüber zu ärgern. Man sollte nur erkennen und darum wissen, dass man eine „systematisch falsche Methode” benutzt hat. Anderes Denkinstrument – neue Chance. Was für Nennen zählt, ist der „ergebnisoffene Weg” – nicht eine voreilige Entscheidung oder ein vorschnelles Urteil.

    Heinz-Ulrich Nennen schaut aus dem großen Fenster des Cafès auf das wellige Wasser des Kanals und die alten, verwaisten Bahnschienen, die davor durchs wild gewachsene Gras schimmern. „Wenn wir die Weiche finden, vor der wir noch alle Optionen hatten, können wir nur daraus lernen”, sagt er. Dann verabschiedet er sich für diesen Tag. Der ambulante Philosoph hat noch einen Termin. Er krault noch einmal durch seinen Bart, steigt auf sein gemütliches Pedersen-Drachenrad und fährt über die holprigen alten Waschbetonplatten davon. Aber schon bald, kommt er wieder. Das ist sicher. Zum Denken übers Denken in seinem indianischen Winnebago.

    Bio

    Dr. Heinz-Ulrich Nennen

    Bis 1989 studierte Heinz-Ulrich Nennen Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Uni Münster. Er promovierte über „Ökologie im Diskurs“, habilitierte 2003 über die „Sloterdijk-Debatte“ und arbeitet nun als Hochschullehrer an der Uni Karlsruhe. Zuhause aber fühlt er sich noch immer in Münster.

  • Identität und Individualismus,  Moderne,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Mit dem Pedersen erobert er die Stadt

    Mit seinem Pedersen erobert er die Stadt

    11. Juni 2012, von Jana*

    Dr. Nennen mit seinem Pedersen

    Heute trafen wir Dr. Heinz-Ulrich Nennen, Hochschullehrer und Privatdozent für Philosophie in Karlsruhe, vor seinem 12m langen Wohnmobil zum Interview.

    Als wir ihn neulich im Hafen auf sein Pedersen-Rad ansprachen, war er zunächst skeptisch, dachte wohl zunächst an einen Ulk, war schließlich aber doch zu einem Interview bereit. Glück für uns, denn so konnten wir bei unserem Besuch in seiner ungewöhnlichen „Philosophischen Ambulanz“ am Dortmund-Ems-Kanal in aller Ruhe mehr über ihn und seine Leidenschaft zum Pedersen erfahren.

    Herr Dr. Nennen, eine Frage vorweg: Sie haben nicht nur ein ungewöhnliches Fahrrad sondern auch ein ungewöhnliches Domizil. Was hat es mit diesem Wohnmobil auf sich?

    Es ist ein amerikanischer „Winnebago”, benannt nach einem Indianerstamm, Baujahr 1988, der zuletzt als Messemobil lief und eigens dazu umgebaut worden ist. Dieser Wagen ist seitdem sehr viel sachlicher geworden. Fahren läßt er sich, es ist allerdings etwas aufwendig und kostet nicht nur Nerven wegen der Länge sondern auch einiges an Geld aufgrund eines Benzinverbrauchs, der nicht mehr wirklich zeitgemäß ist. Aber wenn er fährt, dann ist es herrlich und wenn er steht, dann gibt es nichts, das ich vermissen würde. Vor allem schätze ich die Rundumsicht, denn die großen Fenster haben wieder etwas von einem Eisenbahnwaggon.

    Und hier wohnen Sie?

    Nein, es ist meine „Denkwerkstatt“, mitunter auch meine „Philosophische Ambulanz“. Ich bin viel unterwegs, aber wenn ich dann hier bin, genieße ich die Nähe zur Stadt, den Trubel am Kanal und den Blick zum Wasser. Ich habe einige Jahre im Stadthafen von Münster gestanden, direkt gegenüber der Flaniermeile, wo es manchmal doch etwas laut und hektisch wird, hier ist es doch ein wenig beschaulicher.

    Wie sind Sie zu Ihrem außergewöhnlichen Rad gekommen?

    Ich war damals in Stuttgart an der „Akademie für Technikfolgenabschätzung“ beschäftigt und hatte mir eigentlich in den Kopf gesetzt, ein taz-Rad zu kaufen – das ist jetzt 15 Jahre her. Also bin ich zu einem bestimmten Fahrradladen gegangen. Dort habe ich mir aber auch andere Räder, die für mich in Frage kamen, vor dem Laden aufbauen lassen und diese dann im fliegenden Wechsel ausprobiert. So im direkten Vergleich läßt sich ein Rad noch am Besten testen – mit Parfüms kann man das so nicht machen. Ab dem dritten oder vierten Duft ist die Nase nicht mehr bereit, Differenzierungsarbeiten zu leisten. (Er lacht.) Daß es dann ein Pedersen wurde, war reiner Zufall und doch Liebe auf den ersten Blick.

    Werden Sie oft angesprochen, wenn Sie mit Ihrem Rad hier in Münster unterwegs sind?

    Oh ja, dieses Fahrrad erregt Aufsehen, es ist ungewöhnlich, manche stehe davor und versuchen, die Konstruktion nachzuvollziehen. Normalerweise sind Drahtesel nicht gerade ein ästhetisches Ereignis. Das Pedersen hat etwas besonderes und in Münster ist sozusagen einzigartig, obwohl ich meine, hier schon jemanden auf einem Pedersen gesehen zu haben, es gibt aber nur sehr wenige. Ich habe es mir aber nicht zugelegt um aufzufallen, sondern weil es sich so gut fahren läßt und auch, weil ich es schön fand. Daß es dann aber derart auffällt, war mir beim Kauf noch nicht bewußt. Manche halten dieses Fahrrad sogar für ein Hochrad, weil der Lenker so hoch gezogen ist und  fragen, ob man das Fahren erlernen müßte. Der Aufstieg ist allerdings eher ungewöhnlich, da er, ganz anders als beim Tiefeinstieg, mehr Körpergefühl verlangt. Man könnte nämlich, ähnlich wie bei einem Pferd auf der einen Seite aufzusteigen und auf der anderen wieder herunterfallen.

    Sie vergleichen Ihr Rad mit einem Pferd?

    Ja durchaus, je länger ich darüber nachdenke, desto passender scheint mir dieser Vergleich. Der Aufstieg, die Höhe und die Form des Lenkers, das sehr aufrechte Sitzen, dann dieser Sattel, – alles erinnert an ein Pferd. Und beim Fahren komme ich mir vor wie ein Cowboy, der mit seinem Pferd die Prärie der Städte erobert. Da gibt es eine berühmte Szene in einem amerikanischen Western: Die Verfolger sitzen sinnigerweise bereits im Eisenbahnwaggon auf ihren Pferden und springen herunter, sobald der Zug hält. Das hat was, so vom Zug zu kommen um sich eine Stadt systematisch von Viertel zu Viertel erobern zu können, das ging damals nur mit dem Pferd – heute geht das nur mit einem Cruiser.

    Der Sattel

    Diese Freiheit scheint Ihnen viel zu bedeuten!

    Es gibt wohl kaum eine Bewegungsweise die freier aber auch ökonomischer ist als das Radfahren. Auf diesem Rad habe ich den Überblick. Ich sitze, fahre, wende, lasse mich wieder gleiten und kann alles betrachten, so wie ich möchte. Es gibt mir Freiheit, Souveränität und Unabhängigkeit von ausgetretenen Wegen. Ähnlich wie zu anderen Zeiten mit einem Reitpferd, komme ich mit dem Rad von A nach B und nicht, wie mit dem Auto, nur bist zum nächsten Parkplatz. Für kleinere Transporte habe ich Fahrrad-Taschen vorne und hinten und auch größere Koffer kann ich mit einem speziellen Träger zum Bahnhof transportieren. Für mich ist es der größte Luxus, kein Auto zu brauchen, denn das ist wirkliche Freiheit, gar keines haben zu müssen. Ich bin stolzer Besitzer einer Bahncard 100, damit komme ich überall hin, und im Zweifelsfall kann ich mir damit vor Ort auch ein Auto mieten. Wenn ich eine Weile in einer anderen Stadt bin, dann vermisse ich mein Rad schon bald, daher nehme ich es so oft wie möglich mit. Andere haben ein Tier, für mich ist das Pedersen mein ständiger Begleiter.

    Koffer-Träger

    Naja, Sie haben ja sozusagen beides, Pferd und Rad in einem! Aber auch ein Pferd muß gefüttert werden, oder?

    Ein Fahrrad kauft man sich fürs Leben. Lieber investiere ich einmal in ein wirklich gutes Rad, als dreimal in durchschnittliche Räder. Da komme ich am Ende auf den gleichen Preis und dabei ist das Pedersen wirklich pflegeleicht. Dieses Rad besitze ich seit 15 Jahren und ich mußte bisher nicht einmal die Kette wechseln. Klar, ab und an muß man mal die Mäntel erneuern oder hier und da den Rost ausbessern, aber alles in allem hat mich mein Rad noch nie enttäuscht.

    Also wird Ihre Wahl in Zukunft immer wieder auf ein Pedersen fallen?

    Ja definitiv, ein anderes Rad käme für mich nicht mehr in Frage. Auf einer Skala von 1–10, wenn 10 das höchste ist, kommt für mich die Leidenschaft zum Pedersen und dem Radfahren an sich ganz klar auf eine 9.

    Dr. Nennen, vielen Dank für diesen gemütlichen und aufschlußreichen Nachmittag und viel Spaß weiterhin beim Erkunden der Prärie in den Städten, mit ihrem ganz besonderen „Reitpferd“!

     

    Bildschirmfoto 2012-06-19 um 00.08.15

     

     

    * Der Blog conrad.4arts.info von Farina und Jana aus Münster befaßte sich mit kleinen Anekdoten, Kurzgeschichten oder Schnappschüssen rund ums Thema Fahrrad, ist aber inzwischen offline. Gleichwohl soll dieser Beitrag hier nochmals wiedergegeben werden, weil es doch schließlich darum ging, dem Flaneur ein zeitgemäßes Fortbewegungsmittel auf den Leib zu schneidern.