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    Frauenbilder im Mythos

    Oberseminar: Frauenbilder im Mythos

    WS 2019 | donnerstags | 11:30-13:00 Uhr | Raum 30.91-110

    Beginn: 17. Oktober 2019 | Ende: 6. Febr. 2020

    Man sieht, daß sie ebenbürtig sind, schließlich ist sie auch seine Schwester. — James Barry: Jupiter and Juno on Mount Ida (um 1790f.) — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Die Rollen vieler Frauenfiguren in den klassischen Mythen zeigen weit mehr als nur die Seite des Opfers (Helena), sondern auch eine Vielfalt weiblicher Macht, durch die Stellung im Haus als Matrone (Hera), durch besondere Fähigkeiten wie Vernunft (Athene) oder auch Zauberei (Medea), nicht zuletzt aber auch durch Verführung (Salome). Auch tiefenpsychologische Konflikte spielen hinein, wenn Gefühl, Wille, Körper und Geist eben nicht miteinander harmonieren (Antigone) oder wenn der Zwang zur Selbstverleugnung so groß wird, daß Psychosen ausgelebt werden müssen (Dionysos). Desweiteren ist die offene Zukunft im Prozeß der Selbstermächtigung des Menschen ein dauerhaftes Problem (Pandora).

    Diese Veranstaltung dient der Gegenwart und darin der Selbstreflektion vor dem Hintergrund einer humanistischen Bildung, deren Reiz darin besteht, sich mental und emotional den ganz andersgearteten Verhältnissen in der Antike aussetzen zu können, von denen uns vieles bis auf den heutigen Tag noch immer tief berührt. Wir sollten diese alten Zeiten nicht mental überwinden wollen, denn es würde bereits genügen, einfach nur zu verstehen, was Konventionen mit Menschen machen können.

    Bemerkenswert ist die in Szene gesetzte Empathie, als wäre das Werk eine Reaktion auf das von Franz Stuck. — Hermann Haase–Ilsenburg: Farewell of the Amazon (1902). — Quelle: Foto von Golf in der Wikipedia. via Wikimedia, Lizenz: Creative Commons, CC-BY-3.0.

    Auch der Mythos um die Amazonen ist, neueren Forschungen zufolge, höchst interessant in der Deutung dessen, was da wirklich auf dem Spiele stand. Die Verhältnisse waren längst nicht mehr so einvernehmlich wie vorher, als es noch sehr wenige Menschen gab und noch nicht die Ambition, daraus Untertanen zu machen. — Vielleicht ist unter solchen Bedingungen sogar die Blutrache nicht so desaströs, wie sie später sein wird.

    Da sind Prinzessinnen wie Ariadne oder Medea, die ihr Schicksal aufbessern möchten und endlich heraus wollen aus der eigenen, als barbarisch empfundenen Kultur. Daher würden sie für einen hochwohlgeborenen griechischen Prinzen mit Aussicht auf Königswürden wirklich alles tun, bis hin zum Hochverrat des eigenen Landes, der Götter und der eigenen Familie, sogar bis hin zum Brudermord.

    Zwar hat auch Ariadne ›ihrem Helden‹ Theseus ganz entscheidend geholfen, den Minotaurus im Labyrinth von Knossos zu töten und wieder herauszufinden, aber Theseus setzt die Schlafende, also die ihm blindlings Vertrauende ganz einfach auf der Insel Naxos aus. — Ihr wird aber ein atemberaubend überraschend schönes Schicksal zu Teil, der Weingott Dionysos verliebt sich in die schlafende Schöne. Ohnehin spielt dieser Gott eine sehr wichtige Rolle im Zuge der Frauenemanzipation, weil er endlich Möglichkeiten schafft, daß gerade auch Frauen ›ungezügelt‹ sein können und auch sein dürfen.

    Franz Stuck: Amazone zu Pferde (1897). Lower Saxony State Museum. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Da sind die Opfer göttlicher Avancen wie Daphne, bei der die unerwiderte, ja aufdringliche Liebe durchgespielt wird, oder etwa Kassandra, die allein für die Aussicht auf eine einzige Liebesnacht schon mal im vorhinein von Apollon mit der Sehergabe belohnt worden ist, die sich aber standhaft verweigert, so daß auch hier wiederum der Gott nicht zurücknehmen kann, was nun einmal verliehen worden ist. Dafür aber konnte er sie sehr wohl noch empfindlich treffen, die Sehergabe sollte ihr erhalten bleiben, allein, es würde ihr nur niemand mehr glauben.

    Es sind viele, wirklich sehr eindrucksvolle Begebenheiten, einerseits Standardsituationen, wie die Loslösung vom Elternhaus, die Entführung der Braut, erotische Abenteuer, unzweideutige Angebote, aber auch ihre gewaltsame Überwindung, wonach sie dann auf diese Weise zur Frau ›gemacht‹ worden ist, wie etwa Hera durch Zeus, der sich in Gestalt eines bibbernden Kuckucks in die Nähe ihres Schoßes begibt.

    John William Waterhouse: Jason and Medea (1907). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Dann ist es — so will es diese Geschlechter–Dramaturgie vormaliger Zeiten, um die Frau geschehen. Sie hat nicht aufgepaßt, ist hinters Licht geführt worden. Es genügt, der Geliebten die Ehre zu nehmen, dann wird sie nolens volens ihren Überwältiger heiraten müssen. — Möglich ist alledings auch, daß hier sehr alte Erfahrungen rekapituliert werden, der Frauenraub auch unter vorzivilisierten Völkern. Der Hintergrund dürfte der sein, daß es eine immens hohe Müttersterblichkeit gegeben haben dürfte.

    Wir sind inzwischen meilenweit entfernt von diesen Verhältnissen, und nur noch wenige wissen, was eigentlich im Ritus der entführten Braut noch so alles mitschwingt. Aber vieles von alledem spukt noch immer in den Köpfen und Körpern herum. Daher ist es so interessant, diese ebenso schillernden wie archetypischen Konstellationen ganz bewußt neu auszudeuten.

    Alles ist Konvention, ganz besonders konventionell sind auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen, in denen viele AktivistInnen noch immer davon ausgehen, daß Frauen stets Opfer sind, die Opfer von Männern, daß Männer immer Täter sind und daß daher den Frauen immerzu Schutz gewährt werden müsse. Genau das aber bewirkt nichts anders als die Aufrechterhaltung überkommener Verhältnisse, die längst nicht mehr dem State of the art im Diskurs über Gender gerecht werden.

    Aber oft hintergeht gerade dieser Diskurs seine eigenen Anforderungen. Daher ist es so interessant, vor dem Hintergrund unserer eigenen Gegenwart die dramatischen Situationen, in die Frauen im Mythos geraten, als solche zu deuten. — Wir spiegeln uns immerzu selbst und darauf kommt es an. Daher geht es auch nicht ums Urteilen, schon gar nicht ums Verurteilen, sondern einfach nur und immer wieder ums Verstehen.

     

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    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nennen: Der Mensch als Maß aller Dinge? Über Protagoras, Prometheus und die Büchse der Pandora (ZeitGeister 1); tredition Hamburg 2018. 232 S. – Paperback 16,99 €, ISBN: 978-3-7439-0090-5. Hardcover 26,99 € ISBN: 978-3-7439-0091-2. Erscheinungsdatum: 11.12.2018.

    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.

    Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.

    Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.

    Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Downloads freigegeben.

     

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    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel

    Wir wissen nicht, was Narziß auf der spiegelnden Wasseroberfläche gesehen haben mag. Der Mythos vom Narziß thematisiert weit mehr als den dummdreisten Narzißmus eines Selbstverliebten; wäre dem so, der Narziß wäre kaum der Rede wert. — Tatsächlich geht es um etwas anderes: Das Geheimnis menschlichen Bewußtseins, das sich selbst spiegelt, um sich seiner selbst gewiß zu werden, ist erst der Anfang einer langen Reise ins eigene Innere.

    Die beiden Hauptfiguren in diesem Mythos haben bemerkenswerte Handikaps, so daß sie einander nicht begegnen können. Alles beginnt mit der Nymphe Echo, die von Zeus animiert worden ist, Hera nach Art der Scheherezade mit unendlichen Geschichten von den Amouren des Gemahls abzulenken, insbesondere wenn dieser wieder einmal bei den Nymphen weilt. Die oft rasend eifersüchtige Hera ist bereits im Begriff, ihren Gatten in flagranti zu überführen, aber die geschwätzige Echo hält sie davon ab, indem sie weiter und weiter redet.

    Nachdem Hera das Spiel durchschaut hat, bestraft sie Echo, die nunmehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aussagt. Es wird der Nymphe genommen, was sie mißbraucht hat, um die Göttin hinters Licht zu führen: Hera nimmt ihr die Fähigkeit eigener Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus sprechen, sondern nur wiederholen kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fortan gar nicht mehr sprechen, es bleibt ihr nur noch, die letzten Worte lediglich zu wiederholen, — ein fatales Handikap, insbesondere wenn sie dem Narziß ihre Liebe gestehen will.

    Eines Tages wird Narziß auf der Jagd von seinen Gesellen getrennt. Er gerät in eine sonderbare Landschaft am Helikon, die von der Nymphe Echo beseelt wird. Sobald diese den jungen Mann erblickt, wird sie sogleich in Liebe erglühen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Also folgt sie ihm heimlich, um ihm bei Gelegenheit näher zu kommen…

     

     

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

  • Götter und Gefühle,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theographien,  Vorlesung

    Persiphaé

    Pasiphae-Gustave-Moreau
    Gustave Moreau: Pasiphaé. Musée Gustave Moreau, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Götter als Allegorien menschlicher Belange

    Die Nähe zum pandämonischen, panpsychischen oder auch zum polytheistischen Weltbild liegt fast schon auf der Hand: Stets werden wir nämlich ergriffen von fremden Mächten und von überpersönlichen Motivationen. Daher ist die Vorstellung so naheliegend, als würden wir eingenommen von dämonischen Mächten, die Besitz von uns ergreifen, um ihre Motive zu den unseren zu machen. — Insofern sind wir wohl nicht wirklich Herr unserer selbst, denn wer sucht sich schon die eigene Grundstimmung, die Grundgefühle und vor allem auch die Gefühlsschwankungen selbst aus. Götter verkörpern nicht nur Emotion, von denen wir uns bewegen lassen, sie geben sie mitunter auch ein.

    Götter können sich rächen, indem sie unwiderstehliche Neigungen eingeben: König Minos von Kreta hatte einen eigens von Poseidon geschaffenen Stier mit außergewöhnlich herrlicher Gestalt dem Meeresgott auf dessen ausdrücklichen Wunsch nicht geopfert, sondern zur Veredlung der eigenen Herde verwandt. Darauf ließ Poseidon die Ehegattin des Minos Pasiphae in heißem Begehren zu jenem Stier entbrennen. Der sagenumwobene Erfinder Dädalus wurde gerufen, der eine hölzerne Kuh konstruierte. Die Königin kriecht hinein, läßt sich von diesem Stier begatten und gebiert darauf den Minotaurus, der später dann im Labyrinth gefangen gehalten und von Theseus unter Mithilfe von Ariadne getötet wird.

    Weil Minos dem Neptun einen Ochsen nicht opferte, welchen er ihm doch versprochen hatte, so habe sie sich in denselben verlieben müssen. Ihre Brunst wurde auch eher nicht gestillet, als bis Dädalus eine Kuh von Holze verfertigte, solche mit einer Kuhhaut überzog, und die Pasiphae hinein steckete. (Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770. S. 1899.)

    Manches spricht dafür, die Götter des Pantheon zu sehen als das, was sie von Anfang an waren, Allegorien für alle erdenklichen menschlichen Belange. In ihrer Gesamtheit verkörpern sie alles, was an Motiven, Interessen, an Schicksalsschlägen, Schwächen oder auch Stärken, Fertigkeiten und Talenten eine Rolle spielen kann.

    Wenn dementsprechend genauer gefragt wird, etwa, was denn eigentlich hinter der Empathie steht, und was denn dann die Sehnsucht der Sehnsucht ausmacht, dann könnten wir weiterkommen in dieser Frage, wenn uns ein Gott dazu einfiele, der zuständig zu sein scheint. — Die Kunst, mit der verwirrenden Vielfalt eines Götterhimmels umzugehen, liegt eben darin, hinter den Allegorien der Götter ihre Zuständigkeiten zu eruieren. Die Frage wäre also: Welcher Gott verkörpert eigentlich die Sehnsucht der Sehnsucht und wie gehen Götter ihrerseits damit um, Träume zu haben, die sie womöglich selbst nicht leben können, etwa weil es zu ihrer Rolle und zu ihrem  Selbstverständnis einfach nicht paßt.

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    Diana – Psyche und Wildnis

    Jules-Joseph-Lefebvre-Diana-Chasseresse
    Jules–Joseph Lefebvre: Diana. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Die Biographie der Götter, also ihre Theographie ist oft hilfreich, um herauszubringen, was sich hinter der Allegorie eines Gottes oder einer Göttin verbirgt. Alle diese Figuren sind unsere Projektionen, daher ist es interessant, dem nachzugehen, was denn da projiziert und idealisiert worden ist. Dementsprechend darf stets mit höchst interessanten Korrespondenzen zwischen der Menschenwelt und dem Götterhimmel gerechnet werden.

    Immerhin geht es um fundamentale Erfahrungen und Selbsterfahrungen, die mithilfe von Götterfiguren in Szene gesetzt werden: So steht die griechische Artemis und die mehr oder minder identische römische Diana für einen ganz bestimmten Kontext, der tief in die Vergangenheit der Menschengeschichte zurückreicht.

    Diana ist auf den Bildern beim Bade unter den vielen nackten Nymphen sicher an ihrem Diadem zu erkennen, das eine Mondsichel trägt, ein wahrhaft uraltes Symbol. Damit läßt sie sich einer sehr viel älteren Epoche der Menschheitsgeschichte zuordnen, was allerdings kaum verwunderlich ist. Als Jagdgöttin steht sie allegorisch für genau jene Lebensweise ein, wie sie zuvor in der gesamten Geschichte der Menschheit vorherrschend war. Erst vor etwa 45.000 Jahren kamen die ersten Hirtennomaden auf und erst seit rund 12.000 Jahren kam es zum Prozeß der Zivilisation. — Wenn daher die Diana auftritt, so verkörpert sie einen ganz bestimmten Aspekt in der Subsistenzweise von Sammlern und Jägern, und dabei kam das Jagen den Männern und das Sammeln den Frauen zu.

    Die Göttin steht für diesen eigentümlichen Flow, für die intensive Erfahrung von Einsamkeit in den endlosen Wäldern, Wiesen und Feldern, auf der Jagd aber auch beim Sammeln. Sie ist die Göttin des ›Draußen‹ und bewahrte insbesondere die Frauen vor den Gefahren, die damit einhergehen, sich weit weg zu wagen von allem, was noch in der Nähe der Gemeinschaft liegt. Da sind nicht nur natürliche Gefahren, sondern auch die, eventuell anderen Jägern zu begegnen, die vielleicht auf Frauenraub aus sind. Darüberhinaus ist es immer auch ein seelisches Wagnis, sich tief in die Wildnis vorzuwagen, weil man sich eben zugleich auch auf das eigene Innere einläßt. Nicht von ungefähr ist in der Weltanschauung der Wildbeuter alles beseelt und voller Geister und Dämonen.

    Diana ist eine Schutzgöttin, die denen ganze besonderen Beistand gewährt, die sich sehr in die Wildnis vorwagen. Denn sie demonstriert das unermüdliche Jagen und sie bewahrt ihre Identität, so daß sich die, die sich auf die Einsamkeit in den Wäldern und auf alle erdenklichen Erfahrungen und Gefahren einließen, sich geborgen fühlen konnten. Die Göttin lebt vor, was es bedeutet, auf Jagd oder zum Sammeln in die Wälder zu gehen, weitab vom Lager, vielleicht in kleinen Gruppen, auf jeden Fall aber auf sich allein gestellt und nicht sonderlich wehrhaft. — Erstaunlicherweise wird die göttliche Allegorie für das Jagen und Sammeln ausgerechnet von einer jungfräulichen Göttin verkörpert. Das muß zu denken geben, denn gerade vom Jagen würde man doch annehmen wollen, da es doch eine eminent ›männliche‹ Tätigkeit ist, daß infolgedessen auch ein männlicher Gott dafür einstehen müßte.

    Allerdings hat es mit den Umständen beim Jagen und Sammeln eine ganz eigene Bewandtnis. Nicht selten herrscht Enthaltsamkeit im Lager, während die Jäger weitab auf Beutefang sind. Und nicht anders ergeht es den Sammlerinnen, wenn sie in kleinen Gruppen unterwegs sind, ständig verfolgt von Gefühlen wie Angst, Bedrohung und Horror. — Sich überhaupt auf solche Wagnisse einzulassen, dafür steht diese Göttin, denn sie demonstriert, wie es gemacht wird.

    Die Aufmerksamkeit dürfte nicht selten hoch angespannt gewesen sein, etwa anhand von Geräuschen die Nähe von Raubtieren frühzeitig zu bemerken. Aber nicht nur äußerliche, sondern auch psychische Gefahren sind in solchen Situationen zu bewältigen, die sehr viel Disziplin, Selbsterfahrung und Wagemut erfordern. — Vor allem für die Frauen dürfte noch entscheidender gewesen sein, daß sie ernsthaft befürchten mußten, weitab vom Lager eventuell von fremden Jägern aufgespürt, geraubt und entführt zu werden.

    So ergibt sich dann der Charakter dieser Göttin. Sie muß so sein wie sie ist, ständig auf der Jagd, auf gutem Fuße mit allen Naturgeistern wie den Nymphen, aber völlig bei sich und nicht im mindesten an Liebesabenteuern oder gar Sex interessiert. — Dagegen gilt Diana rein äußerlich als äußerst attraktive, jugendliche, ungemein umtriebige aber auch absolut unnahbare Göttin. Alle wissen, daß sie sich für Männer wirklich nicht interessiert. Aber immer wieder gibt es alle erdenklichen Nachstellungen, denen sie sich systematisch und stets erfolgreich entzieht, nicht selten unter Einsatz von Mitteln, die der eigenen Weiblichkeit eine Tarnung verpassen, die augenscheinlich ist. Sie nimmt auch schon einmal die Gestalt eines Hirschs an, um Nachstellungen zu entgehen, so daß sich ihre Verfolger gegenseitig erschießen. Ihre Selbsttarnung geht so weit, daß sie ihren weiblichen Reize vollkommen negiert:

    Als ihr Alpheus einst zu Leibe gieng, so beschmierete sie sich mit
    den übrigen Nymphen das Gesicht dergestalt mit Kothe, daß er sie
    unter dem Haufen nicht kennen konnte. (Benjamin Hederich:

    Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770. S. 909.)

    Die Götter im Olymp seufzen nicht selten, wenn sie sie überhaupt zu Gesicht bekommen, weil sie unentwegt in den Wäldern umherstreift, während sie sich stattdessen lieber wünschen würden, daß sie doch nicht immerzu jagen möge, sondern sich den ›schöneren Dingen‹ des Lebens endlich auch einmal mehr widmen sollte. — Diana steht in krassem Widerspruch zur Zivilisation, sie ist nicht von ungefähr andauernd in der Gesellschaft von Nymphen. Dem Pan müßte sie eigentlich sehr zugetan sein, aber der Gott der Wildnis ist sterblich, weil er im Zuge der Zivilisation seine Macht verliert, seit es auf diesem Globus gar keine Wildnis mehr gibt.

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    Anthropologie der modernen Welt

    Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia
    Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia

    Das multible Selbst

    Die Götter der Antike sind wie die Stars unserer Tage, die Sterne von damals sind die Sternchen von heute. Alle ihre einzelnen Fähigkeiten, mit denen sie sich im Verlaufe der Zeit angereichert haben, lassen sich oft noch an den vielen Beinamen erkennen, es sind Spuren vereinnahmter Häuptlingstümer, es sind die Geister von Clans, Landschaften und Kulturen, die längst aufgegangen sind im größeren Ganzen dieser Göttergestalten. Gerade Götter verfügen über multiple Identitäten, daher fällt es ihnen so leicht, in fremder Gestalt aufzutreten, um sich selbst dabei doch treu zu bleiben. Daher beherrschen sie das Spiel mit den Masken. Besonders Zeus wechselt ein ums andere Mal für Liebesabenteuer äußerst spektakulär die eigene Gestalt: Er nähert sich seiner späteren Gattin Hera als durchnäßter, zitternder Kuckuck, als Stier der Europa, als Schwan der Leda, als goldener Regen der Danaë und um den Herakles zu zeugen, verwandelt er sich in Amphitryon, den Gatten der Alkmene.

    Götter wie Zeus beherrschen einfach dieses bedeutende Kunststück, sich auch in fremder Gestalt noch immer selbst treu zu bleiben. Im Prozeß der Zivilisation wird nicht nur die Außenwelt, sondern auch die Innenwelt immer weiter ausdifferenziert. Mit der Zivilisation, Rationalität und Moderne geht daher stets auch ein Prozeß der Psychogenese einher. Götter haben uns dabei stets etwas voraus, sie verkörpern die Ideale, auf die es ankommt. Dementsprechend läßt sich anhand der außerordentlichen Fähigkeiten von Götter die Zukunft der Psyche ablesen. Das nunmehr im Zuge der Psychogenese anstehende multiple Selbst wird seinerseits über diese entscheidende göttliche Fähigkeit verfügen, sich anverwandeln zu können.

    Die klassischen Einwände dagegen, das sei keine Wahrhaftigkeit mehr, sondern eben Inszenierung, es sei keine Authentizität, sondern nur Vorspiegelung im Spiele, können nicht mehr verfangen. Wir haben nicht eine einzig wahre Natur, das einzig verbindliche Selbst oder irgendeine fixierte Identität in uns, die ehrlichkeitshalber nur zum Ausdruck gebracht werden muß, während alles andere nur Lug und Trug sein würde. Die Frage nach der Wahrhaftigkeit eines Gottes, der eine Metamorphose vollzogen hat, ist unangebracht, es kommt darauf an, was sich in der Wahrnehmung ereignet. Entscheidend ist das Erleben, etwa einem Schauspieler abnehmen zu können, was er vorgibt zu sein.

    Wir alle spielen Theater, was eben nicht bedeutet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Maskenspiel ist dabei mehr als nur eine ausgezeichnete Metaphorik für das, was sich da eigentlich ereignet, es ist der Bruch mit der naiven Erwartung, daß wir immer dieselben sind und es auch bleiben. Wer eine Maske aufsetzt, übernimmt eine Rolle, wird somit zu jemand Anderen, wechselt also die Identität.

     

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