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    EPG II a (online)

    Ober­se­mi­nar

    EPG II a

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | frei­tags | 14:00–15:30 Uhr | online 

    Beginn: 22. April 2022 | Ende: 29. Juli 2022

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    Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

    Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

    Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

    Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

    Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

    Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

    Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

    Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

    Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

    So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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    Studienleistung

    Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.

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    Schuld: Eine mächtige Kategorie

    Johann Hein­rich Füss­li: Lady Mac­beth, schlaf­wan­delnd, (um 1783). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

    Der Dich­ter und Maler Johann Hein­rich Füss­li war der­art fas­zi­niert von den Wer­ken des Wil­liam Shake­speare, so daß er sich schon in jun­gen Jah­ren an Über­set­zun­gen ver­such­te. — Als Maler schuf er einen gan­zen Bilder–Zyklus mit berühm­ten Sze­nen, in denen die phan­ta­sti­sche Stim­mung ein­ge­fan­gen ist.

    So insze­nier­te er auch die dra­ma­ti­sche Sze­ne: Lady Mac­beth V,1 von Wil­liam Shake­speare. Die tra­gi­sche Hel­din wird von Alp­träu­men geplagt und fin­det ein­fach kei­ne Ruhe mehr. Sie träumt mit offe­nen Augen und beginnt zu schlaf­wan­deln. — Und es scheint, als woll­te sie sämt­li­che Pla­ge­gei­ster ver­trei­ben, die Zeu­gen ihrer Unta­ten, von denen sie ver­folgt und um den Schlaf gebracht wird.

    Die Sze­ne­rie führt das schlech­te Gewis­sen der Lady Mac­beth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treu­er­ge­ben. Aber drei Hexen pro­phe­zei­en ihm, selbst zum König zu wer­den. Um dem ver­hei­ße­nen Schick­sal nun auf­zu­hel­fen, schrecken Mac­beth und sei­ne Lady selbst vor einem heim­tücki­schen Königs­mord nicht zurück.

    Bei­de sind von blin­dem Ehr­geiz getrie­ben und ver­lie­ren im Ver­lauf der Ereig­nis­se auf­grund ihrer Ver­bre­chen zuerst ihre Mensch­lich­keit, dann ihr Glück und schließ­lich auch noch den Ver­stand, von ihrem See­len­heil ganz zu schwei­gen. — Dabei wirkt die Frau skru­pel­lo­ser als der Mann. Ähn­lich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel ent­schie­de­ne­re Frau wirk­lich alles aufs Spiel, wäh­rend der Mann eher zag­haft erscheint. Dahin­ter dürf­te die Pro­ble­ma­tik ste­hen, daß Frau­en lan­ge Zeit nicht direkt auf­stei­gen konn­ten, nur über ihre Rol­le als Ehe­frau und Mutter.

    Es kommt im fünf­ten Akt zu der im Bild von Füss­li dar­ge­stell­ten Sze­ne. Wäh­rend sich Mac­beth auf Burg Dun­si­na­ne mehr und mehr zum ver­bit­ter­ten, unglück­li­chen Tyran­nen wan­delt, wird Lady Mac­beth immer hef­ti­ger von Gewis­sens­bis­sen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Dun­can ist unge­sühnt. — Alp­träu­me kom­men auf, sie beginnt im Schlaf zu wan­deln und die Phan­ta­sie nimmt Über­hand, bis sie schließ­lich den Ver­stand ver­liert und sich das Leben nimmt.

    Das Gefühl, sich womög­lich gleich am gan­zen Kos­mos ver­sün­digt zu haben, durch eine Fre­vel­tat, dürf­te sehr früh auf­ge­kom­men sein. Es gibt vie­le Bei­spie­le dafür, daß durch ein Sakri­leg eine ›hei­li­ge Ord­nung‹ gestört wird, was nicht so blei­ben kann. — Bei­spie­le sind Sisy­phos, ein Trick­ster, der nicht ster­ben will und den Tod immer wie­der hin­ters Licht führt, oder Ixi­on, der erst­mals einen Mord an einem Ver­wand­ten beging.

    Es gibt eine Klas­se von Mythen, die sich als Urzeit­my­then klas­si­fi­zie­ren las­sen. Väter ver­schlin­gen ihre Kin­der, die Welt bleibt im Cha­os, sie gewinnt gar kei­ne Gestalt. Tita­nen herr­schen, wobei der Ein­druck ent­steht, als wären sie die Ver­kör­pe­rung jener Gei­ster, mit denen die Scha­ma­nen der Vor­zeit noch umge­hen konn­ten. — Die klas­si­schen Mythen sind inso­fern auch ein Spie­gel der Zivi­li­sa­ti­on, weil sie die angeb­lich bar­ba­ri­schen Zei­ten zuvor als abso­lut bru­tal in Sze­ne setzen.

    Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

    Fran­cis­co de Goya: Saturn ver­schlingt sei­nen Sohn (1820f). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Das sind auch Ammen­mär­chen der Zivi­li­sa­ti­on, die Rede ist dann von fin­ste­ren Zei­ten. Zugleich set­zen sich Mythen damit als Auf­klä­rung in Sze­ne, schließ­lich kün­den sie von der Über­win­dung die­ser Schreck­lich­kei­ten. Nicht nur der tech­ni­sche, zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schritt spielt bei alle­dem eine beträcht­li­che Rol­le, son­dern auch die Psy­cho­ge­ne­se. — Ver­mut­lich kommt Indi­vi­dua­lis­mus erst all­mäh­lich auf, eben­so wie das Bedürf­nis, sich selbst zu beobachten.

    Die klas­si­schen Mythen insze­nie­ren nicht nur das Sakri­leg, sie errich­ten zugleich auch die Tabus dage­gen, indem man die Ereig­nis­se in eine viel frü­he­re Urzeit abschiebt und zugleich demon­striert, wie ent­setz­lich die Fol­gen mög­li­cher Tabu­brü­che tat­säch­lich sind.

    Wenn etwas Unge­heu­er­li­ches gesche­hen ist, dann tre­ten bald schon Unge­heu­er auf den Plan. Als wür­de die Welt selbst dar­um rin­gen, in den Zustand der ›vor­ma­li­gen Har­mo­nie‹ wie­der zurück­zu­keh­ren. — Aber irgend­wie muß das Ver­ge­hen gesühnt wer­den. Es muß erst wie­der aus der Welt geschafft wer­den durch Buße, weil erst dann die ›hei­li­ge Ord­nung‹ wie­der her­ge­stellt wer­den kann.

    Zugleich sind die Göt­ter selbst im Pro­zeß der Theo­ge­ne­se. Eine Göt­ter­dy­na­stie folgt auf die näch­ste. — Inter­es­sant sind die Reflek­tio­nen dar­über. So hat Kro­nos durch fort­ge­setz­te Kinds­tö­tung der Gaia vor­ent­hal­ten, was Müt­ter wol­len, die Kin­der auf­wach­sen sehen.

    Der Mythos schil­dert in die­ser Vor­stu­fe einen Zustand, in dem nicht wirk­lich Ent­wick­lung statt­ha­ben konn­te. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Mensch­heit zen­triert. Dann tre­ten die glück­li­chen Göt­ter Athens sogar frei­wil­lig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Mensch­heit die Welt zu überlassen.

    Die Entstehung des Gewissens

    Fran­çois Chiff­lart: Das Gewis­sen. 1877, Mai­sons de Vic­tor Hugo, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Es ist ver­mut­lich der aus Ägyp­ten durch den Tem­pel­prie­ster Moses beim Aus­zug der Juden mit auf den Exodus genom­me­ne mono­the­isti­sche Gott, der bereits bei den Ägyp­tern mit einem all­se­hen­den Auge sym­bo­li­siert wur­de. Auch die Idee vom Jen­seits­ge­richt stammt aus Ägyp­ten, was zur bemer­kens­wer­ten Tra­di­ti­on der Ägyp­ti­schen Toten­bü­cher geführt hat, das Leben als Vor­be­rei­tung auf den Tod zu betrachten.

    Mit der Bedro­hung durch das Jüng­ste Gericht des Lebens kommt eine Psy­cho­ge­ne­se in Gang, die eine syste­ma­ti­sche Selbst­be­ob­ach­tung erfor­der­lich macht. — Wenn ein all­ge­gen­wär­ti­ger und all­wis­sen­der Gott ohne­hin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts ver­ber­gen kann, dann scheint es ange­ra­ten zu sein, sich ein Gewis­sen zuzu­le­gen, um sich genau zu beob­ach­ten und ggf. zu kontrollieren.

    Dem­entspre­chend ist Kain auf der Flucht vor dem ›all­se­hen­den Auge‹, weil er ›ver­ges­sen‹ hat, sich bei­zei­ten ein Gewis­sen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weni­ger anspruchs­vol­le Deu­tung des ver­meint­li­chen Bru­der­mords. Aus Grün­den der Eth­no­lo­gie kön­nen Acker­bau­ern und Hir­ten kei­ne ›Brü­der‹ sein. Offen­bar hat sich der hier ver­ehr­te Gott, der das Opfer des Bau­ern ›ablehnt‹, noch nicht damit arran­giert, daß die Tier­op­fer sel­te­ner und die Opfer von Getrei­de und Früch­ten zuneh­men werden.

    Kain auf der Flucht

    Erst mit der Urba­ni­sie­rung erhält der Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne ent­schei­den­de Dyna­mik. Der alles ent­schei­den­de Impuls geht mit die­ser Got­tes­idee ein­her, mit der ganz all­mäh­lich auf­kom­men­den Vor­stel­lung eines Got­tes, der alles ›sieht‹. — Dem­entspre­chend illu­striert Fer­nand Cor­mon die Flucht des Kain unmit­tel­bar nach der Tat. Das Werk ist durch Vic­tor Hugo inspi­riert und schil­dert die Sze­ne auf gro­tes­ke Weise.

    Der Plot selbst ist zutiefst para­dox: Kain ist Bau­er. Er lebt von den Früch­ten der Erde, fürch­tet sich jedoch schreck­lich vor dem neu­en tran­szen­den­ten Gott, der im Him­mel über den Wol­ken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er ver­liert im Opfer­wett­streit, erschlägt sei­nen Kon­tra­hen­ten, ist aber von die­sem mis­sio­na­ri­schen Hir­ten offen­bar längst bekehrt wor­den, denn er fürch­tet sich fort­an wie wahn­sin­nig vor die­sem Gott. Dar­auf beginnt er eine hals­bre­che­ri­sche Flucht, um sich dem all­se­hen­den, all­wis­sen­den, all­ge­gen­wär­ti­gen Auge die­ses Got­tes doch noch zu entziehen.

    Fer­nand Cor­mon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

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    Psyche und Seele

    Über Unterschiede, die wieder das Ganze in den Blick nehmen

    Man glaubt, die Natur­wis­sen­schaf­ten an die Stel­le der Kir­che set­zen zu kön­nen und “alles” ist gut. Wis­sen­schaft kann aber Reli­gi­on gar nicht erset­zen. Außer­dem gehör­ten dann auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten dazu.

    Da man dann aber selbst den­ken und sich bil­den müß­te, bleibt man lie­ber auf der “siche­ren” Sei­te, bei “den” Fak­ten und ver­paßt letzt­lich alles, was Wert wäre, gelebt, emp­fun­den, gefei­ert, geliebt und sogar gehei­ligt zu werden. 

    Die Natur­wis­sen­schaf­ten haben die Welt nur ent­zau­bert und eine lee­re Welt geschaf­fen, in der dann ein nihi­li­sti­scher Natu­ra­lis­mus die Leu­te erschreckt. Wich­tig wäre, daß Natur­wis­sen­schaft­ler nicht über Sachen reden, für die sie nicht zustän­dig sind. – Wie Juri Gaga­rin, der erste Kos­mo­naut, der getreu sei­ner Par­tei ver­laut­ba­ren ließ. Er wäre nach ein paar Erd­um­run­dun­gen nun schon ziem­lich weit im Kos­mos her­um­ge­kom­men, Gott habe er jedoch nicht gese­hen. – Hei­li­ge Einfalt!

    Es gibt nicht nur Mate­rie, son­dern auch Geist, und wie man sieht, auch die Dis­zi­plin der Geist­lo­sig­keit. – Es gibt nicht nur natur­wis­sen­schaft­li­che Fak­ten, son­dern auch Nar­ra­ti­ve. Das ist übri­gens das, was in ande­ren Kul­tu­ren als der “Geist der Ahnen” bezeich­net wird. Es sind die Nar­ra­ti­ve, in denen die­ser “Geist” auf­be­wahrt wird, so daß man ihn jeder­zeit zu Rate zie­hen kann, in den alten Geschichten. 

    Es gibt nicht nur Kör­per und Psy­che, son­dern auch Leib und See­le. Und dann gibt es auch noch den Geist. 

    Vor allem der Unter­schied zwi­schen Psy­che und See­le hat es mir in letz­ter Zeit ange­tan. Um die Coro­na-Kri­se über­haupt noch ver­ste­hen zu kön­nen, habe ich gute alte Begrif­fe wie­der reak­ti­viert, so daß ich sie nun aktiv ver­wen­de. Es sind die Begrif­fe “Leib, See­le” und “Geist”.

    Ich ver­mu­te näm­lich, daß die Psy­che wohl eher ein Teil unse­res Mas­ken­spiel ist. Sie ist also nicht so authen­tisch, wie wir glauben. 

    Die Psy­che ist eher wie das “schlech­te Pferd” in Pla­tons See­len­wa­gen. – Wenn die­se Hypo­the­se stimmt, dann wäre die Psy­che ein Teil der “Mas­ke”, wie wir sie tra­gen, um uns selbst und ande­ren etwas vorzumachen. 

    Wäh­rend die Psy­che viel Wert legt auf Äußer­lich­kei­ten, ob die Insze­nie­rung stimmt und den Vor­bil­dern aus maß­geb­li­chen Film­sze­nen “gerecht” wer­den kann. Legt die See­le, wenn man wie­der­um Pla­ton folgt, gro­ßen Wert auf das, was der Psy­che oft nur nach­ge­sagt wird, ech­te Gefüh­le, wirk­li­che Ver­bun­den­heit, wah­re Authen­ti­zi­tät, tie­fes Verstehen. 

    Das ist alles nicht schlimm son­dern völ­lig in Ord­nung: Wir brau­chen alles, Mecha­nik, Mate­rie, Natur­wis­sen­schaf­ten, Fak­ten, Nar­ra­ti­ve, Psy­che, See­le und Geist. – Man soll­te nur eben immer auch wenig­stens ahnen, wor­auf es jeweils ankom­men könn­te, auf wel­cher Ebe­ne ein Phä­no­men ange­spro­chen wer­den muß. 

    Wenn man in die­sen Ange­le­gen­hei­ten etwas bes­ser unter­schei­den möch­te, dann emp­feh­le ich Pla­ton. – Es ist berückend, wenn er im “Phai­dros” erklärt, was mit der See­le ist. 

    Das wird ein­mal ver­an­schau­licht durch einen See­len­wa­gen, der von zwei Pfer­den gezo­gen und von einem Wagen­len­ker geführ­ten wird. Dabei wird die Bedeu­tung von Schön­heit und Lie­be für die See­le und deren Wie­der­ge­burt zur Dar­stel­lung gebracht.

    Ein­mal in tau­send Jah­ren bre­chen die Göt­ter zum Tri­umph­zug über das Fir­ma­ment, über die Milch­stra­ße, auf, um bis an die Gren­zen die­ser Welt vor­zu­drin­gen, um im Jen­seits vom Jen­seits die Ideen zu schau­en. Mit dabei sind auch Men­schen, die aber Mühe und Not haben, gewis­se, schwie­ri­ge Him­mel­s­pas­sa­gen zu mei­stern, mit einem guten und einem schlech­ten Pferd. – Das ist der Plot.

    Ich habe schon oft dar­über phi­lo­so­phiert, geschrie­ben und Vor­trä­ge gehal­ten, aber das Ori­gi­nal ist eben Pla­ton. – Es ist schön zu sehen, was er gese­hen hat.

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    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel 

    Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

    Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

    Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

    Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Vor­le­sun­gen und Semi­na­re. Word­cloud 2016.