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    Über Wildheit und Schönheit

    Ariadne reitet den Panther des Dionysos

    Mär­chen, Mythen und Meta­phern sind so etwas wie Algo­rith­men. Es ist daher nicht nur inter­es­sant, son­dern hilf­reich, sich je nach Fra­ge­stel­lung stets ein­ge­hen­der mit den ein­schlä­gig bekann­ten mythi­schen Figu­ren zu befassen.

    So läßt sich genau­er nach­voll­zie­hen, was im Zuge der Kul­tur­ge­schich­te an Erfah­run­gen in die Mythen ›hin­ein­ge­schrie­ben‹ wor­den ist, denn das läßt sich auch wie­der ›her­aus­le­sen‹. — Dar­in liegt der eigent­li­che Hin­ter­sinn von Mytho­lo­gie, es geht näm­lich um mehr als erbau­li­che Geschichten.

    Der Ein­gang ins Ver­ste­hen läßt sich fin­den, indem wir unter den vie­len Mythen die­je­ni­gen aus­wäh­len, die viel­ver­spre­chend erschei­nen, weil ähn­li­che Pro­ble­me ver­han­delt wer­den. — Das ›pas­sen­de‹ Nar­ra­tiv einer mythi­schen Bege­ben­heit wird dann ›über­tra­gen‹ auf unse­ren Sach­ver­halt, über den wir die über­zeit­li­chen Erfah­run­gen auf­schlie­ßen sollten.

    In die­sem Fall scheint Ari­ad­ne hilf­reich zu sein, weil sie sich gene­rell mit Laby­rin­then aus­kennt. Die Prin­zes­sin von Kre­ta war The­seus dabei behilf­lich, sich im eigens für den stier­köp­fi­gen Mino­tau­rus geschaf­fe­nen Laby­rinth zu ori­en­tie­ren. Daß es sich beim Ari­ad­ne­fa­den aber um ein bana­les Woll­knäu­el gehan­delt haben soll, ist nicht wirk­lich über­zeu­gend. — Selbst­ver­ständ­lich steht es uns frei, im Zwei­fels­fall unzu­frie­den zu sein mit dem, was uns die kinds­ge­rech­ten Les­ar­ten bieten.

    Die Mythen sind von einer Kul­tur auf die näch­ste über­ge­gan­gen, so daß wir über vie­le Mög­lich­kei­ten ver­fü­gen, in den Fein­hei­ten zwi­schen den Vari­an­ten genau­er zu lesen, um den dar­in ver­bor­ge­nen Sinn her­aus­zu­le­sen: Ari­ad­ne ist Schü­le­rin der Cir­ce, die wie­der­um auf die Isis zurück geht, einer über­aus mäch­ti­gen ägyp­ti­schen Göt­tin der Zauberkunst.

    Wie Medea ist auch Ari­ad­ne bestens mit dem Zau­bern ver­traut, die Wege blockie­ren aber auch öff­nen kön­nen. Dabei wird das Laby­rinth bald zum Sym­bol für den Lebens­weg, der oft in aus­weg­lo­se Lagen führt aber nicht wie­der her­aus. — Die eigent­li­che Bedeu­tung von Ari­ad­ne liegt also dar­in, Ori­en­tie­rung zu bie­ten, gera­de auch in Kon­stel­la­tio­nen, die etwas von einem Laby­rinth haben.

    Der Zau­ber, mit dem Ari­ad­ne gan­ze Laby­rin­the zu bewäl­ti­gen hilft, liegt jedoch rät­sel­haf­ter­wei­se im Geheim­nis von Schön­heit. — Das Prin­zip lau­tet: Bezäh­mung der Wild­heit durch die Schönheit.

    Auf die­se geheim­nis­vol­le For­mel kommt der würt­tem­ber­gi­sche Bild­hau­er Johann Hein­rich von Dannecker auf­grund sei­ner Stu­di­en­rei­se nach Rom. Damit bringt er sei­ne Inspi­ra­ti­on auf den Begriff. — Der Geist sei­ner vor­zei­ten über­aus popu­lär gewor­de­nen Skulp­tur: Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, ent­birgt eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on von ganz beson­de­rer Bedeutung.

    Johann Hein­rich von Dannecker, Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, 1803–1814, im Lie­bieg­haus in Frank­furt am Main.

    Der Pan­ther ist das Wap­pen­tier für den Wein– und Rausch­gott Dio­ny­sos, der im übri­gen nicht nur der Vor­läu­fer von Jesus Chri­stus in vie­len Aspek­ten sei­ner Sym­bo­lik ist, son­dern der dabei auch noch tie­fer blicken läßt in sei­ne bipo­la­re Psyche.

    Die­ser Gott der Eksta­se hat selbst eine über­aus kom­pli­zier­te Ver­gan­gen­heit, und die macht ihn zum Bor­der­li­ner. Sobald er auch nur den gering­sten Ver­dacht ver­spürt, er könn­te even­tu­ell auch nur schief ange­schaut wor­den sein, greift er zu dra­ko­ni­schen, uner­bitt­li­chen und scheuß­li­chen Rache­ak­ten, die völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig sind.

    Da wird dann das, was die­se Skulp­tur zu sagen ver­steht, zur fro­hen Bot­schaft über die Poten­tia­le einer not­wen­di­gen hei­li­gen Hand­lung: Ari­ad­ne bewäl­tigt das Wil­de, Rohe und Unmensch­li­che sol­cher Rach­sucht durch Schön­heit! Die­ser Gedan­ke ist vor allem phi­lo­so­phisch von der­ar­ti­ger Bri­sanz, so daß ich sagen wür­de, ver­su­chen wir es doch! Immer­hin hat sich bereits Han­nah Are­ndt an die­sem Pro­jekt nicht ganz ver­geb­lich ver­sucht, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu ent­wickeln. — Wir soll­ten end­lich wie­der nach den Ster­nen greifen

    Es gibt inzwi­schen hin­rei­chen­de Anhalts­punk­te für die Annah­me, daß die Ver­nunft als Mei­ste­rin der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit Ästhe­tik vor­geht, wenn es gilt, in irgend­ei­ner Ange­le­gen­heit ›das Gan­ze‹ zu ver­ste­hen. Erst dann kom­men Dia­lo­ge und Dis­kur­se wirk­lich zur Ent­fal­tung, wenn alle, die nur Recht haben wol­len, end­lich ergrif­fen wer­den und sich zu fas­sen versuchen.

    Es kann näm­lich in der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft gar nicht mehr ums Recht­ha­ben gehen. — Wir kön­nen nur noch an den Ande­ren appel­lie­ren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimm­tes so emp­fin­den wie wir, um dann auf die tie­fe­ren Beweg­grün­de zu spre­chen zu kom­men, die sich ein­stel­len, wenn man es ver­steht, sich end­lich für Höhe­res zu öffnen.

    Im Mit­tel­al­ter wur­de die Höfi­sche Gesell­schaft auf ähn­li­che Wei­se geschaf­fen, als man die rauh­bei­ni­gen War­lords von Raub­rit­tern auf ihren zugi­gen Bur­gen abbrin­gen woll­te, von ihrem lukra­ti­ven Tun und Trei­ben, nach eige­nem Gesetz auf Beu­te­zug zu gehen. — Sie wur­den nach­hal­tig ›gezähmt‹ im Min­ne­sang, also durch Schön­heit. Für ihre Dame opfer­ten sie ihre Wild­heit, ihre Unge­stümt­heit und wohl auch einen nicht unbe­trächt­li­chen Teil einer Männ­lich­keit, die inzwi­schen man­chen Frau­en bei Män­nern fehlt.

    Es kommt dar­auf an, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit allen ihren Zumu­tun­gen und Her­aus­for­de­rung zu wür­di­gen in einer Welt, die immer mehr zum Amok­lau­fen neigt. — Irgend­was muß den stän­dig dro­hen­den Irr­sinn im Zaum hal­ten. Und genau das macht sie, die Göt­tin der ästhe­ti­schen Urteils­kraft: Ariadne.

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    Soziale Kompetenzen und geistige Inkompetenzen

    Fairneß als Zeichen von Größe

    Es gibt sozia­le Kom­pe­ten­zen, die weit wich­ti­ger sind als eine in sich selbst ver­lieb­te Kon­kur­renz­ge­sell­schaft, die doch nur am Ast sägt, auf dem sie sitzt. — Das wur­de am Frei­tag deut­lich, im Semi­nar für ange­hen­de Leh­rer und Leh­re­rin­nen, in dem es um Pro­fes­sio­na­li­tät und Berufs­ethik geht.

    Man mag es kaum mehr glau­ben, aber Kin­der brin­gen ein Gefühl für Gerech­tig­keit gleich mit auf die Welt. Sie kämp­fen sogar dafür, wis­sen aber viel­leicht noch nicht genau, wie man sol­che Wer­te lebt ohne als dumm hin­ge­stellt zu werden.

    Hört man Vor­schul­kin­dern beim gemein­sa­men Spie­len zu, dann ver­han­deln sie die Regeln fast eben­so lan­ge, wie tat­säch­lich auch gespielt wird. Und der Satz: „Das gil­det nicht!“, klingt mir noch immer in den Ohren. — Wie so oft hat Jean Jac­ques Rous­se­au mal wie­der Recht: Die Natur des Men­schen ist und bleibt gut, solan­ge die Gesell­schaft kei­nen schlech­ten Ein­fluß ausübt.

    Gera­de im Gere­de über die ver­meint­li­che Natur des Men­schen glau­ben vie­le ohne die gering­ste Ahnung von Anthro­po­lo­gie, ihre beschränk­te Sicht der Din­ge und vor allem ihre Res­sen­ti­ments unwi­der­spro­chen ver­all­ge­mei­nern zu dürfen.

    Wolfsmärchen

    Man glaubt es aus eige­ner Anschau­ung bes­ser zu wis­sen. Wir leben angeb­lich in einer Kon­kur­renz- und Lei­stungs­ge­sell­schaft, im Kampf aller gegen alle, auf der frei­en Wild­bahn, inmit­ten hoch­zi­vi­li­sier­ter Wel­ten, die von vorn bis hin­ten men­schen­ge­macht sind. — Also was soll die Beru­fung auf die angeb­li­che „Natur des Menschen“?

    Tat­säch­lich haben wir alle erdenk­li­chen Frei­hei­ten, uns nach eige­nen Vor­stel­lun­gen zu „kul­ti­vie­ren“ in unse­rer Natur, als Per­son und vor allem in unse­rem Cha­rak­ter. Aber genau die­se Frei­heit ist vie­len suspekt.

    Dage­gen dient die Beru­fung auf eine angeb­lich schlech­te Natur des Men­schen der Recht­fer­ti­gung, den Ein­zel­nen die ihnen zuste­hen­den Frei­hei­ten in der Selbst­fin­dung vor­zu­ent­hal­ten und zugleich so etwas wie „Men­schen­füh­rung“ zu bean­spru­chen, mit der sich die Herr­schaf­ten zu allen Zei­ten immer sehr gut legi­ti­mie­ren haben. — Ent­mün­di­gung und Bevor­mun­dung sind daher noch immer auch in angeb­lich „frei­en“ Gesell­schaf­ten die Regel.

    Die Coro­na-Zeit hat über­deut­lich gemacht, wie begrenzt die Halt­bar­keit der angeb­lich garan­tier­ten Grund­rech­te eigent­lich ist. Aus purer Angst haben vie­le ihre unver­äu­ßer­li­chen Grund­rech­te gegen ver­meint­li­che Sicher­hei­ten getauscht. Aber so etwas war schon immer ein schlech­ter Tausch.

    Jean-Léon Gérô­me: Die Wahr­heit kommt aus ihrem Brun­nen (1896).

    Der von Kant gefor­der­te Mut, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, ist eben kein Kin­der­spiel. Angst war schon immer der schlech­te­ste aller Rat­ge­ber, Haß und Het­ze waren noch nie ein Aus­druck guter Poli­tik. Aber man­che sind das Opfer eige­ner Äng­ste und grei­fen hän­de­rin­gend nach allem, was angeb­lich Halt ver­spricht. Es war manch­mal wie bei einer Mas­sen­pa­nik, bei der man­che ein­fach tot­ge­tram­pelt wurden.

    Sou­ve­rä­ni­tät, Gelas­sen­heit und Auto­no­mie haben Sel­ten­heits­wert, wo alles über einen Lei­sten geschla­gen wird.

    Fairneß

    Aus­ge­rech­net im Lei­stungs­sport, bei dem es ja angeb­lich immer nur ums Gewin­nen geht, also inmit­ten der Ellen­bo­gen­ge­sell­schaft, gibt es aber noch ganz ande­re Wer­te: Fair­neß, Gerech­tig­keit und Authen­ti­zi­tät sind Zei­chen wahr­haf­ter Grö­ße. Nur muß man sich so etwas lei­sten wol­len und auch können.

    Wenn etwa bei der Tour de France alle Fah­rer auf einen Kon­kur­ren­ten war­ten, der zuvor unglück­lich gestürzt war. Aus Grün­den der Fair­neß zügeln alle plötz­lich den unbe­ding­ten Wil­len zum Sieg. Wenn sie dann mit beein­drucken­den Gesten dar­auf war­ten, daß einer von ihnen aus höhe­ren Grün­den als erster ins Ziel fah­ren kann, dann zeigt sich, was mensch­li­che Grö­ße aus­macht. — Wenn eine Ski­läu­fe­rin der Kon­kur­ren­tin mit­ten im Ren­nen ihren Stock “aus­leiht”, dann aber selbst stür­zen und sogar ver­lie­ren muß. Auch wenn jener Fuß­bal­ler, der im Straf­raum gestürzt aber kei­nes­wegs zu Fall gebracht wor­den ist, beim Schieds­rich­ter gegen den bereits gege­be­nen Elf­me­ter plä­diert, dann haben wir gute Bei­spie­le, die der dump­fen Ideo­lo­gie unse­rer angeb­lich so herz– und geist­lo­sen Kon­kur­renz­ge­sell­schaft haus­hoch über­le­gen sind.

    Wie lau­tet doch der drei­ste Spruch einer der dümm­sten Wer­be­kam­pa­gnen aller Zei­ten: „Ich bin doch nicht blöd!“ — Genau: Gele­gen­heit macht Die­be und wer etwas steh­len kann und es nicht tut, ist doch ein­fach nur blöd. Wer sich einen betrü­ge­ri­schen Vor­teil ver­schaf­fen kann, wäre doch blöd, es nicht zu tun, oder?

    Die Seele des schlechten Gewissens

    Alle viel zu dürf­tig den­ken­den Schlau­mei­er ver­ges­sen dabei jedoch eines: Wir sind nie allein. Wir haben immer einen Zeu­gen dabei, näm­lich uns selbst. Es ist das schlech­te Gewis­sen und hin­ter alle­dem steht die eige­ne Seele.

    Davon ist seit gerau­mer Zeit immer weni­ger die Rede: Unse­re See­le weiß offen­bar sehr genau, was wirk­lich gut ist für ande­re und auch für uns selbst. — Ich ver­mu­te inzwi­schen, daß man­che Depres­si­on von einem schlech­ten Gewis­sen her­rüh­ren dürf­te, die von einer in die Ecke gestell­ten See­le ausgehen.

    Nicht von unge­fähr wird die­ser Tage der Unter­schied zwi­schen Psy­che und See­le immer wich­ti­ger. Denn die Psy­che ist offen­bar inzwi­schen selbst zum Teil des Pro­blems gewor­den. Sie stellt sich nur zu gern als Opfer hin, ist oft aber auch Täter an sich selbst, und dabei wirbt sie wie die Poli­ti­ker für ihre viel zu ein­fäl­ti­gen Machen­schaf­ten. — Tat­säch­lich sind die eigent­li­chen Moti­ve oft nur von die­ser Welt, wenn man an Nar­ziß­mus, Gel­tungs­sucht, Selbst­ver­liebt­heit, Vor­ein­ge­nom­men­heit, Rach­sucht, Haß, Neid und Eitel­keit denkt.

    Aber fra­gen wir gene­rell: War­um „gut“ sein wol­len und vor allem wozu? — Nur aus Angst vor Stra­fe, wenn man erwischt wür­de, oder viel­mehr aus eige­nem Antrieb, also von innen her, aus eige­ner Moti­va­ti­on, weil wir uns eben die Frei­heit zur Grö­ße tat­säch­lich her­aus­neh­men und auch lei­sten wollen.

    Wür­de den Belan­gen der See­le mehr Raum ver­schafft, die Wei­ter­ent­wick­lung der eige­nen Per­son, der gan­zen Welt, ja sogar der gan­zen Mensch­heit wür­de bemer­kens­wer­te Ent­wick­lun­gen machen bis hin zu einer sehr viel mensch­li­che­ren Welt. — Aber vie­le glau­ben, mit dunk­len Machen­schaf­ten, Rück­sichts­lo­sig­kei­ten, ja sogar mit Lug und Betrug sehr viel bes­ser durch­zu­kom­men. Fragt sich nur wozu und wohin sie “durch­kom­men” wollen.

    Ein Zauberring, der unsichtbar macht

    Bei Pla­ton wird die­ses Pro­blem näher erläu­tert anhand eines Motivs von einem magi­schen Ring mit der Fähig­keit, den Trä­ger unsicht­bar zu machen. Der Mythos vom Ring des Gyges geht auf eine anti­ke Erzäh­lung zurück, die in vie­len Vari­an­ten durch­ge­spielt wor­den ist. — Die Kern­fra­ge aber lau­tet immer: Was wür­de man tun, wenn man die­sen Ring hät­te und dann unge­straft tun könn­te, was und wie es einem beliebt.

    Eglon van der Neer: Die Frau des Kan­dau­les ent­deckt den ver­steck­ten Gyges (1660).

    Im Dia­log bei Pla­ton wird mit der Alle­go­rie vom Zau­ber­ring erör­tert, was in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie als „intrin­si­sche Moti­va­ti­on“ bezeich­net wird. — Wer sich näm­lich unsicht­bar machen kann, der wäre schlicht unan­greif­bar und daher übermächtig.

    Die Fra­ge liegt also auf der Hand: Wenn einem gar nichts pas­sie­ren kann, egal was man tut; war­um soll­te man dann noch mora­lisch moti­viert sein?

    Schön und lehr­reich ist es immer, so etwas durch­zu­spie­len, um in Erfah­rung zu brin­gen, was dann wirk­lich geschieht, wenn man es täte. Die Aus­sich­ten auf den ver­meint­li­chen Erfolg fin­ste­rer Machen­schaf­ten wer­den tat­säch­lich als­bald getrübt, wenn wir die Fol­gen näher in Augen­schein neh­men. — Men­schen haben näm­lich nicht wirk­lich ech­te Freu­de am Erschwin­del­ten. Genau­er bese­hen zählt es nicht nur nicht, es fällt sogar alles zurück auf die, die es ver­sucht haben, auf die­se Wei­se einen Erfolg ein­zu­heim­sen, der gar kei­ner war.

    Gera­de gegen die­sen Impuls, sich sol­che Frei­hei­ten zum Lügen und Betrü­gen her­aus­zu­neh­men, gibt es wie­der sehr schö­ne Gegen­bei­spie­le. Tat­säch­lich ist uns näm­lich an ech­ter, wohl­ver­dien­ter Aner­ken­nung gele­gen und alles ande­re zählt nicht wirklich.

    Da gibt es bei­spiels­wei­se die Bal­la­de von einem mäch­ti­gen Mann, der eine jun­ge Frau begehrt, die ihm aber nicht zuge­tan ist. In sei­ner Lie­bes­not ver­legt sich die­ser selt­sa­me Vogel auf einen See­len­zau­ber, um die Dame sei­nes Her­zens doch noch dazu zu bewe­gen, ihm gewo­gen zu sein und der Zau­ber ver­fängt. — Aber er hat die Rech­nung ohne den Wirt gemacht. Er kann ein­fach nicht glück­lich wer­den mit die­ser gestoh­le­nen Lie­be, weil sie ja nicht „echt“ ist.

    Oder wenn etwa der ver­mö­gen­de Intim­freund einer auf­stre­ben­den Künst­le­rin die­ser einen ganz gro­ßen Gefal­len tun will, indem er die von ihr geschaf­fe­nen, bis­her nicht son­der­lich gut ver­kauf­ten Kunst­wer­ke ein­fach sei­ner­seits erwirbt. Er hat ja schließ­lich Geld genug und kann es sich lei­sten. — Was wird aber gesche­hen, sobald sie dahin­ter­kommt, daß er es war, der alles auf­ge­kauft hat? Käme sie sich dann nicht reich­lich blöd vor?

    Man sieht, sol­che Rech­nun­gen gehen ein­fach nicht auf. Wenn etwas nicht echt ist, dann kann und darf es gar nicht zäh­len, das wis­sen bereits Kin­der sehr früh. — Daher wol­len wir ent­we­der ech­te Aner­ken­nung oder lie­ber gar kei­ne. Im Zwei­fels­fall kann man das eige­ne Schei­tern noch immer als Zei­chen ech­ter Grö­ße zele­brie­ren. Man hat es eben ehr­lich ver­sucht, aber die Welt war noch nicht reif genug.

    Wir legen also gro­ßen Wert dar­auf, sicher zu gehen, daß ande­re uns nicht ein­fach nur schmei­cheln und etwas vor­ma­chen wol­len. Und sogar Kin­der, die erst noch das Auch–mal–Verlieren–Können ler­nen müs­sen, sind im Prin­zip längst so weit, ein­se­hen zu kön­nen, daß ein geschenk­ter Sieg nicht wirk­lich zählt. — Mit Augen­zwin­kern kann man ihnen tat­säch­lich bereits zu ver­ste­hen geben, daß man sie dies­mal noch gewin­nen läßt, weil sie sich noch all­zu sehr ärgern über eine Nie­der­la­ge im Spiel.

    Wie es wäre, Donald Trump zu sein

    Bei alle­dem den­ke ich immer mal wie­der über den Cha­rak­ter von Donald Trump nach, weil mir sei­ne Unauf­rich­tig­keit und sein fort­wäh­ren­der Selbst­be­trug nur schwer nach­voll­zieh­bar ist. Ich will ver­ste­hen, schei­te­re aber immer wie­der an mei­nem Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, wie es wohl von­stat­ten gehen könn­te, der­art von sich über­zeugt zu sein, so daß man glaubt, sich selbst und ande­re auf Dau­er belü­gen und betrü­gen zu kön­nen. — Und die­se Gedan­ken dräng­ten sich mir auch im Semi­nar über die “Fair­neß im Sport­un­ter­richt” wie­der auf.

    Enri­co Maz­z­an­ti: Pinoc­chio (1883).

    Trump ist gewiß kein Sports­mann, dach­te ich mir. Aber er spielt doch Golf, also müß­te er doch irgend­wie „fair“ sein, dach­te ich mir dage­gen auch wiederum.

    Der­weil kam mir die Sze­ne aus dem Bond-Film „Gold­fin­ger“ in den Sinn, wo ein Bond-Böse­wicht auf ganz jäm­mer­li­che Wei­se beim Golf betrügt, weil die von Gerd Frö­be so her­vor­ra­gend gespiel­te Figur ein­fach nicht ver­lie­ren und daher auch nicht fair sein kann. — Der ins Nir­gend­wo ver­schla­ge­ne Golf­ball wird vom fin­ste­ren Gehil­fen ein­fach durch ein Loch in der Hosen­ta­sche an Ort und Stel­le plat­ziert, was natür­lich von Bond durch­schaut und auch auf­ge­klärt wird.

    Um aber in der ent­schei­den­den Fra­ge wei­ter­zu­kom­men, habe ich ein­fach nach „Trump sports­man“ gegoo­gelt. — Gleich der zwei­te Fund ist eine Mel­dung aus dem Spiegel:

    „So gewinnt er immer. Der US-Prä­si­dent Donald Trump hält sich für einen exzel­len­ten Gol­fer. Tat­säch­lich schum­melt er bei jeder Gele­gen­heit, sogar gegen pro­mi­nen­te Mit­spie­ler wie Tiger Woods.“ — Dan­ke, mehr brau­che ich nicht. Manch­mal ist es mir schon wie­der zu blöd, so ein­fach Recht zu haben.

    Das erklärt aber nur, daß er so ist, wie zu befürch­ten war. Aber erklärt wird nicht, war­um Trump so ist, wie er ist. — Also ver­su­che ich mir zu erklä­ren, wie man sich wohl füh­len muß, wenn die See­le als Gei­sel genom­men wor­den ist und am Kopen­ha­gen-Syn­drom lei­det, wo die Gei­seln beim Feu­er­ge­fecht mit der Poli­zei den Tätern die Waf­fen nach­ge­la­den haben.

    Um etwas zu ver­ste­hen, müs­sen wir es uns erst ein­mal vor­stell­bar und nach­voll­zieh­bar machen, aber dazu gehört sehr viel Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. — Wenn es schon einen berühm­ten Auf­satz von Tho­mas Nagel gibt unter der Fra­ge­stel­lung: „Wie es ist, eine Fle­der­maus zu sein“, dann soll­te es doch auch gelin­gen, sich vor­stel­len zu kön­nen, wie es wohl sein wür­de, Donald Trump zu sein, nicht auf Dau­er, aber solan­ge, bis man gese­hen hat, wie Trump–Sein geht.

    Als Hilfs­ar­gu­ment neh­me ich der­weil ein „Fak­tum“ aus ande­ren Zei­ten. Es wur­de näm­lich vor­zei­ten über Mercedes–Fahrer, ihre Karos­sen und ihr Ver­hal­ten im Stra­ßen­ver­kehr gesagt, daß bei die­sen die Vor­fahrt bereits ein­ge­baut sei. — So jeden­falls ver­su­che ich mir zu erklä­ren, wie der Trum­pis­mus als Betriebs­sy­stem und Mas­sen­be­we­gung wohl funk­tio­nie­ren könn­te. In der non–binären Welt von Trump, sei­ner Anhän­ger­schaft und denen, die an ihn und sei­ne Mis­si­on glau­ben, ist er ja so etwas wie ein Messias.

    Im Trump–Spiel kann es immer nur einen Gewin­ner geben. Dem­nach gibt es gar nicht die Mög­lich­keit, daß er auch mal ver­lie­ren könn­te, denn so etwas ist im Schöp­fungs­plan ein­fach nicht vor­ge­se­hen! — Also kann eine Wahl, in der er ver­lo­ren hat, ein­fach nur ein Fake sein, genau­so wie die Fotos sei­ner Amts­ein­füh­rung mit einem bemer­kens­wer­ter Neo­lo­gis­mus gekon­tert wur­den, bei dem man sich nicht genug die Augen rei­ben kann: Es gäbe neben der nor­ma­len Wirk­lich­keit noch so etwas wie „Alter­na­ti­ve Fak­ten“, sag­te sei­ne selt­sam anmu­ten­de Pres­se­spre­che­rin damals.

    Kritik der Esoterik

    Aller­dings berei­tet es mir beson­de­re Pro­ble­me, genau­er nach­zu­voll­zie­hen, war­um es unter Eso­te­ri­kern häu­fi­ger gera­de sol­che Zeit­ge­nos­sen gibt, die in Trump einen ganz gro­ßen, wei­sen, aus­er­wähl­ten, durch­aus von den Göt­tern gesand­ten Erlö­ser sehen. — Ich muß geste­hen, daß ich dann in mei­ner Gedan­ken­ar­beit regel­mä­ßig an Bela­stungs­gren­zen sto­ße, weil ich da ein­fach nicht mehr mit­kom­me. Dabei spie­le ich ganz gern auch mit schrä­gen Gedanken.

    In Kin­der­ta­gen hat­te ich uner­müd­li­che Gedan­ken­spie­le mit Ver­su­chen, mir etwas vor­zu­stel­len, was ich mir nicht vor­stel­len kann. Also wur­de eine Vor­stel­lung nach der ande­ren durch­ge­wun­ken; sobald sie vor­stell­bar gewor­den war, wur­de sie auch schon wie­der abge­lehnt… — So etwas erwei­tert den Hori­zont des Vor­stell­ba­ren unge­mein und den­noch blei­ben gewis­se Gren­zen der Phantasie.

    Nicht ohne scha­den­fro­he Selbst­iro­nie sehe ich mir selbst beim Expe­ri­men­tie­ren mit den Gedan­ken­wel­ten man­cher die­ser Eso­te­ri­ker zu. Bald zei­gen sich näm­lich in mei­ner Welt­vor­stel­lung die ersten Ris­se, dann kom­men Struk­tur­brü­che hin­zu und schon bald bre­chen gan­zen Gedan­ken­ge­bäu­de kra­chend in sich zusam­men, wenn ich ernst­haft ver­su­che, alle­dem einen nach­voll­zieh­ba­ren Sinn einzuhauchen.

    Da wer­den nicht nur die zu prü­fen­den Gedan­ken zu Crash­test-Dum­mies, schluß­end­lich kol­la­biert die gan­ze Ver­suchs-Anla­ge. — Es dau­ert übri­gens etwa drei Tage, bis alles so eini­ger­ma­ßen wie­der steht.

    Trump, Sports­geist, Fair­neß, wahr­haf­te Grö­ße, tat­säch­li­che Wür­de, Kon­zi­li­anz und vor allem Per­sön­lich­keit, wie das alles zusam­men­ge­hört? — Manch­mal paßt es eben nicht wirk­lich und alles bricht unter der Last der Lügen in sich zusammen.

    Für Gläu­bi­ge ist so etwas aber nichts wei­ter als eine Prü­fung in der Festig­keit des eige­nen Glau­bens. — Wie heißt es doch: Als sie ihr Schei­tern bemerk­ten, da ver­dop­pel­ten sie ihre Anstrengungen.

    Aller­dings ist die­ser Tage nicht nur ein Zen­tral­ge­stirn reak­tio­nä­ren Den­kens im Sink­flug begrif­fen. So ergeht es man­chen die­ser Tage, die ein­fach zu hoch geflo­gen sind. — Man kann nicht Angst mit Haß bekämp­fen, man soll­te auch nicht die See­len­heil­kun­de in die Hän­de ver­meint­li­cher Coa­ches legen, die auf den Markt­plät­zen im Inter­net wie Wun­der­hei­ler herumziehen.

    Zur Fair­neß, vor allem auch zu der, sich selbst gegen­über, braucht es Mut und Zuver­sicht. Aber so etwas fällt nicht vom Him­mel. — Auf Bil­dung kommt es an, so viel Umweg muß sein.

    Man­che wol­len aber Erleuch­tung nach dem Mot­to: “I like Genuß sofort”, noch so eine sau­blö­de Wer­bung vor­zei­ten. Und die­sen Spruch haben sich vie­le auch noch aufs Auto geklebt. — Da mag es gün­stig erschei­nen, gleich in den Glau­ben zu sprin­gen, als wäre es nur eine Mut­pro­be. Aber so etwas ist gar kei­ne Lei­stung, son­dern nur die Flucht vor der gei­sti­gen Freiheit.

    Auf die Bil­dung der Per­sön­lich­keit kommt es daher an. Wir soll­ten eini­ger­ma­ßen sicher gehen kön­nen, daß wir uns selbst und ande­ren nicht ein­fach nur etwas vor­ma­chen. – Das ist es doch gera­de, was “Kri­tik” aus­macht. Wir soll­ten uns nicht selbst auf den Leim gehen, son­dern uns selbst ganz beson­ders “kri­tisch” betrachten.

    Als Kon­trast­mit­tel kann man dabei auf Phi­lo­so­phie, Kunst und Dich­tung zurückgreifen:

    „Wer Wis­sen­schaft und Kunst besitzt,

    Hat auch Religion;

    Wer jene bei­den nicht besitzt,

    Der habe Religion.“

    (Johann Wolf­gang von Goe­the: Gedich­te. Nach­le­se. In: Ber­li­ner Aus­ga­be; Bd. 2, S. 383.)

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Burnout der Gesellschaft

    Über die Macht der Medien und das Unbehagen in der Kultur

    Vortr., geh. am 31. Oktober 2022 im Studium generale: »Zeitenwenden – ein Kommen und Gehen«. Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Wintersemester 2022.

    Eine neue Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die dem des Buch­drucks in nichts nach­steht, hat soeben erst begon­nen. Wir erle­ben nur den Anfang die­ser Zei­ten­wen­de und sind jetzt schon maß­los über­for­dert. Das alles führt zum Burn­out der Gesell­schaft, zum Ver­lust der Dia­log­fä­hig­keit und zum Rück­fall in längst über­wun­de­ne Zeiten.

    Rein­hold Völ­kel: Café Grienst­eidl in Wien (1896). — Das berühmt–berüchtigte Künst­ler­lo­kal in Wien, auch bekannt als ›Café Grö­ßen­wahn‹, war ein bevor­zug­ter Treff­punkt der Lite­ra­ten. — Eines vor allem sieht man hier, wie sehr die Zei­tun­gen alles domi­nier­ten und sich die Gemü­ter erhitz­ten. Es gras­sier­te die ›Neur­asthe­nie‹, das ›Burn­out‹ jener Tage.

    Das ist der heim­li­che Hin­ter­sinn sol­cher Kri­sen und Wen­de­zei­ten: Die Mensch­heit wird sich ange­sichts die­ser neu­en Ver­bun­den­heit ent­we­der wei­ter ent­wickeln oder im Cha­os unter­ge­hen und dann zumin­dest eini­ge Stu­fen her­un­ter­fal­len in ihrer Ent­wick­lung vom Tier zum qua­si gött­li­chen Wesen.

    Bei alle­dem ist eine all­ge­mei­ne Ten­denz ersicht­lich, die offen­bar von Anfang an hin­ter die­ser Ent­wick­lung steht: Es geht um mehr Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie und Selbst­ori­en­tie­rung, es geht um mehr Bewußt­sein, Empa­thie­ver­mö­gen, Selbst­be­wußt­sein und Geist.

    Die Natur hat im Men­schen ein Auge auf­ge­schla­gen, um sich selbst in den Blick zu neh­men. Dabei spielt Reli­gi­on nach wie vor eine ganz bemer­kens­wer­te Rol­le, nicht unbe­dingt im her­kömm­li­chen Sinne.

    Aber als Gespür für Höhe­res, ins­be­son­de­re für Auf­klä­rung und Huma­nis­mus, wer­den reli­giö­se Moti­ve noch über lan­ge Zeit erfor­der­lich sein. Denn was der Psy­che gut tut, muß nicht unbe­dingt auch gut sein für die Seele.

    Audiodatei des Vortrags:

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Lüge,  Moral,  Politik,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Wahrheit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der amerikanische Pragmatismus ist unethisch

    „Alle auf das Recht ande­rer Men­schen bezo­ge­ne Hand­lun­gen, deren Maxi­me sich nicht mit der Publi­zi­tät ver­trägt, sind unrecht.“

    (Imma­nu­el Kant: Zum ewi­gen Frie­den. Ein phi­lo­so­phi­scher Ent­wurf. In: Wer­ke. Bd. VI; S. 245.)

    Kant ist eben­so berühmt wie berüch­tigt für sei­nen Rigo­ris­mus. Das läßt sich sehr gut illu­strie­ren anhand des Bei­spiels vom unschul­dig Ver­folg­ten, der sich bei mir ver­steckt. Ich soll, ich muß den Ver­fol­gern ver­ra­ten, daß er sich bei mir aufhält.

    Die­se bein­har­te Prin­zi­pi­en­treue erscheint zunächst völ­lig welt­fremd, wenn das Lügen­ver­bot der­art abso­lut gesetzt wird, ohne jede Aus­nah­me. Aber bei Kant kommt es nicht auf die Fol­gen an, son­dern ein­zig und allein auf den per­sön­li­chen Ent­schluß zum Guten Wil­len als Grund­la­ge jeg­li­cher Moral. – Es wird ein täti­ges Ver­trau­en ein­ge­for­dert, sich nicht über das Gesetz zu stel­len, sich nicht für klü­ger zu hal­ten als alle ande­ren. Ent­schei­dend ist, ob man in der eige­nen Per­son den eige­nen Pflich­ten gerecht gewor­den ist oder nicht. Alles Wei­te­re muß und wird sich dann schon zeigen.

    Das sieht der Ame­ri­ka­ni­sche Prag­ma­tis­mus völ­lig anders. Ihm zufol­ge ist ein­zig und allein das Ziel ent­schei­dend, und die Mit­tel zum Zweck sind dann „gut“, wenn sie errei­chen, was man sich nun ein­mal in den Kopf gesetzt hat.

    Aller­dings geht es in der Phi­lo­so­phie stets ums Grund­sätz­li­che, daher wird es inter­es­sant, die mög­li­chen Alter­na­ti­ven bewußt durch­zu­spie­len. Und da wird Sokra­tes bei­spiel­haft mit sei­nem Ver­hal­ten, den Gift­be­cher zu schlucken, obwohl die Wäch­ter bereits besto­chen sind und eigent­lich von ihm sogar erwar­tet wird, daß er sich dem Urteil durch Flucht ent­zieht. – Aber Sokra­tes bleibt, trinkt und stirbt, wobei sehr deut­lich beschrie­ben wird, wie das Gift des Schier­lings sei­ne Wir­kung zu ent­fal­ten beginnt.

    Jac­ques-Lou­is David: Der Tod des Sokra­tes (1787).

    Wenn man nun dar­auf spe­ku­liert, Sokra­tes habe, wie Prot­agoras rund 10 Jah­re zuvor, eben­falls die Gele­gen­heit zur Flucht ergrif­fen, dann wird deut­lich, daß Sokra­tes nicht hät­te wei­ter­hin Sokra­tes sein und blei­ben kön­nen nach die­ser Flucht. Er hät­te durch sein Ver­hal­ten sei­ner gan­ze Phi­lo­so­phie eine Nar­ren­kap­pe auf­ge­setzt, er wäre zu Recht zum Gespött gewor­den. Und Pla­ton hät­te ihn mit­nich­ten so in Sze­ne set­zen kön­nen, wie er es getan hat. – Mit die­sem Opfer­tod wur­de der Phi­lo­so­phie ein unum­stöß­li­ches Denk­mal gesetzt, gegen das kein Prag­ma­tis­mus und auch kein Uti­li­ta­ris­mus ankom­men kann.

    Genau das kommt auch her­aus, wenn man das Lügen ver­all­ge­mei­nert. Wenn näm­lich alle lügen wür­den und nie­mand sicher sein kann, daß nicht doch gelo­gen wor­den ist, dann gibt es kei­ne Wahr­heit mehr und auch kein Ver­trau­en. Alles wäre rui­niert. Der Lüg­ner spe­ku­liert ja dar­auf, daß ihm geglaubt wird, obwohl er weiß, daß er kein Ver­trau­en ver­dient hat. – Also wie­viel Zynis­mus, wie­viel Eigen­mäch­tig­keit, wie­viel Selbst­herr­lich­keit, Selbst­ge­rech­tig­keit und Geheim­hal­tung braucht man eigent­lich, wenn man sich so über alles hin­weg­set­zen will, was angeb­lich all­ge­mein ver­bind­lich gilt?

    Das wirft ein ande­res Schlag­licht auf die Situa­ti­on mit dem unschul­dig Ver­folg­ten. Wir näh­men der Gemein­schaft und auch den Ver­fol­gern durch unse­ren eigen­mäch­ti­gen Ein­griff in das Gesche­hen jede Gele­gen­heit, selbst hin­ter die Unschulds­ver­mu­tung zu kom­men. – Auch wer aus angeb­lich guter Absicht lügt, stört die mora­li­sche Ent­wick­lung der gan­zen Mensch­heit für die Ver­fol­gung nied­ri­ger Zwecke. Das Recht auf die Wahr­heit haben Kin­der gegen­über ihren leib­li­chen Eltern und Kran­ke gegen­über Ärz­ten und Angehörigen.

    Das Geheim­hal­ten selbst ist also bereits ein Indiz für poten­ti­el­les Unrecht. Genau das aber tun die Geheim­dien­ste aller Staa­ten, vor allem aber die der US-Ame­ri­ka­ner. Die Liste der gehei­men Kom­man­do­sa­chen, die durch­aus denen von James Bond ent­spre­chen, läßt sich offen bei Wiki­pe­dia nach­schla­gen. Und der Ame­ri­ka­ni­sche Prag­ma­tis­mus seg­net das üble Tun und Trei­ben auch noch ab.

    Dar­in liegt der ent­schei­den­de Unter­schied zur kon­ti­nen­tal-euro­päi­schen Phi­lo­so­phie, die auch den eng­li­schen Uti­li­ta­ris­mus nicht wirk­lich mit­tra­gen kann. – Daß ein geka­per­tes Pas­sa­gier-Flug­zeug mit Kurs auf ein besetz­tes Fuß­ball­sta­di­on nicht auf Geheiß des Ver­tei­di­gungs­mi­ni­sters abge­schos­sen wer­den darf, weil die­ser dazu das Recht gar nicht hat, ist ein ein­schlä­gi­ges Grund­satz­ur­teil in sol­chen Ange­le­gen­hei­ten. – Men­schen­le­ben wer­den nicht gezählt, es wird nicht gerech­net und schon gar nicht wird auf­ge­rech­net. Viel­mehr ist es dem euro­päi­schen Den­ken fremd, so etwas über­haupt in Erwä­gung zu ziehen.

    Gin­ge es wirk­lich um das “größt­mög­li­che Glück der größt­mög­li­chen Zahl”, dann wäre zuletzt nicht ein­mal mehr aus­ge­schlos­sen, daß man Men­schen her­nimmt, um sie aus­zu­wei­den. Ein Ein­zel­ner könn­te wirk­lich sehr vie­le ande­re Organ­emp­fän­ger über­aus „glück­lich“ machen.

    Die Fra­ge Cui bono?

    Es spricht nicht viel dafür, daß Putin höchst­selbst die Bom­ben in gro­ßer Tie­fe an den Pipe­lines hat plat­zie­ren las­sen. Wenn dem so wäre, dann wür­de das gesche­hen sein in der Absicht, es den USA in die Schu­he zu schie­ben. – Viel­ver­spre­chen­der scheint aber die Ver­mu­tung zu sein, daß es die USA waren, die schon vor Mona­ten die­se Mög­lich­keit erwo­gen und auch in Aus­sicht gestellt haben.

    Ein Unding, was da pas­siert ist, als der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Biden in Anwe­sen­heit von Bun­des­kanz­ler Scholz genau das offen aus­ge­spro­chen hat, daß die USA im Zwei­fels­fall schon über “Mit­tel und Wege” ver­fü­gen wür­den. – Der Augen­blick der Zün­dung die­ser mut­maß­lich bereits vor Mona­ten instal­lier­ten Bom­ben kann selbst als Indiz genom­men wer­den dafür, daß die USA nicht nur die­sen Krieg, son­dern auch den Rück­weg in den Frie­den ver­bau­en wollen.

    Wenn es näm­lich gar nicht so gut steht um die Kriegs­zie­le von Putin, dann könn­te die­ser ja erwä­gen, even­tu­ell doch auf Ver­hand­lun­gen ein­zu­ge­hen. Wenn die­se dann fruch­ten wür­den, dann könn­te ja als­bald auch wie­der Gas durch die Lei­tun­gen flie­ßen. – Genau das ist jetzt unmög­lich gemacht worden.

    Die Maxi­men US-Ame­ri­ka­ni­scher Außen­po­li­tik waren und sind nie­mals wirk­lich am Wohl der Mensch­heit aus­ge­rich­tet wor­den, es ging und geht immer nur um oft sehr kurz­fri­sti­ge Inter­es­sen und dazu ist dann jede Mit­tel recht, also auch Lügen, Betrü­gen, Hin­ter­ge­hen und Vor­täu­schen fal­scher Tat­sa­chen. – Genau das aber macht alle Geheim­dien­ste zu einem Stein des Ansto­ßes, weil sie im Sin­ne von Kant per se unrecht sind und Unrecht tun.

    Bereits die Tat­sa­che, daß sie ihr Tun und Trei­ben nicht öffent­lich machen kön­nen, dis­kre­di­tiert sie alle, wirk­lich alle. Es kann kei­ne guten Geheim­dien­ste, kei­ne gute Geheim­po­li­tik im ethi­schen Sin­ne geben. Es kann sie schon des­we­gen nicht geben, weil sie dem Prin­zip der Demo­kra­tie wider­spre­chen. – Wenn das „Volk“ der Sou­ve­rän sein soll, dann muß die­ser auch erst ein­mal infor­miert wer­den, wer, wes­halb, wozu und war­um sol­che Aktio­nen gebo­ten sein sollen.

    Geheim­dienst­ak­tio­nen wie die Sabo­ta­ge an Pipe­lines erwei­sen der viel­be­ru­fe­nen Demo­kra­tie einen Bären­dienst. Es geht zuletzt auch nur um die Macht-Gelü­ste ganz klei­ner Eli­ten, die ihre Glas­per­len­spie­le betrei­ben. Und dabei ver­spie­len sie genau das, wor­auf es ankä­me, wor­auf Kant und Sokra­tes uner­bitt­lich gesetzt haben: Vertrauen.

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    Bildungskatastrophe II

    „Ich weiß, was auf mich zukommt, aber ich will trotz­dem Leh­re­rin wer­den“, sag­te mir neu­lich eine Lehr­amts­an­wär­te­rin, nach­dem es im Semi­nar mal wie­der düster gewor­den war und sich kein Sil­ber­streif am Hori­zont mehr abzeichnete.

    Seit 10 Jah­ren ver­an­stal­te ich nun Semi­na­re zur Berufs­ethik für Leh­rern und Leh­re­rin­nen am KIT in Karls­ru­he. Wir machen kei­ne Text­ar­beit, wie es üblich ist in der Philosophie.

    Es soll nicht um Theo­rie gehen, son­dern die Pra­xis selbst ist das, was wir durch­spie­len, mit dem gan­ze Arse­nal mög­li­cher Konflikte.

    Dabei lau­tet einer der bewußt pro­vo­kan­ten Leit­sprü­che: „Wer einen Burn­out bekommt, macht etwas falsch. Pro­fis bekom­men kei­nen Burn­out“. – Also ver­su­chen wir, gemein­sam zu ent­wickeln, wie man es „rich­tig“ macht.

    Aber wenn die Ansprü­che und Wider­sprü­che mal wie­der über den Kopf wach­sen, etwa beim The­ma „Inklu­si­on“, dann zweif­le ich in letz­ter Zeit an der Berech­ti­gung die­ser eigent­lich wit­zig gemein­ten Maxi­me. Tat­säch­lich wer­den die Ansprü­che an Lehr­per­so­nen immer höher, aber die Wert­schät­zung wird immer gerin­ger. Wie soll das eigent­lich auf Dau­er gut gehen?

    Inzwi­schen koket­tiert die Gesell­schaft bereits mit ihrer Bil­dungs­fer­ne, wie es Alt­kanz­ler Schrö­der vor­ge­macht hat. Einer Schü­ler­zei­tung hat er im Inter­view mal die Bin­sen­weis­heit ver­kauft: „Ihr wißt doch alle, daß Leh­rer fau­le Säcke sind“.

    Mein Glau­be an die Mis­si­on einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik sieht sich immer grö­ße­ren Prü­fun­gen aus­ge­setzt. In den gol­de­nen 70er Jah­ren wur­de der Alarm­ruf von der „Bil­dungs­ka­ta­stro­phe“ noch wirk­lich ernst genom­men, die Gesell­schaft war schockiert und von sei­ten der Poli­tik wur­de mas­siv gegen­ge­steu­ert. Heu­te zuckt man nur noch mit den Schultern.

    Mir scheint, die Basis für Huma­nis­mus, Auf­klä­rung und Bil­dung ist abhan­den gekom­men. Die Fun­da­men­te tra­gen nicht mehr und die Leit­bil­der, die noch vor Gene­ra­tio­nen gal­ten, sind demo­liert. Aber ohne ein Bewußt­sein für das, was von Wert ist, wird nicht mehr gelin­gen, was doch gelin­gen muß, Ent­wick­lung in jeder Gene­ra­ti­on neu.

    Wenn in den Mär­chen das Unge­heu­er die Büh­ne betritt, dann ver­liert das Leben schon bald jeden Reiz. Das Unge­heu­er ver­langt täg­lich noch mehr Opfer und man hat schluß­end­lich zum Leben zu wenig und zum Ster­ben zu viel. Das ist der Inbe­griff einer Kri­se, wie sie nicht nur Indi­vi­du­en, son­dern auch gan­ze Gesell­schaf­ten ergrei­fen kann. – Zumeist wer­den Kin­der als Opfer ver­langt, was unschwer zu deu­ten ist, dann damit steht die Zukunft der gan­zen Gesell­schaft auf dem Spiel.

    Cata­li­na Schrö­der: Lehr­er­man­gel an Grund­schu­len. Bil­dungs­land bald abge­brannt. DLF, 29.08.2022. 

    Ethisch–Philosophisches Grund­la­gen­stu­di­um II.

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    Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat

    Ein Kritiker vor dem Herrn

    Nur in bestimm­ten Reli­gio­nen ist der Teu­fel nicht wohl gelit­ten, son­dern gefürch­tet und sogar ver­haßt. Das sagt mehr über den schlech­ten Cha­rak­ter man­cher Reli­gio­nen, als über den Teu­fel selbst aus. Natür­lich muß auch er ein Geschöpf Got­tes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stam­men soll.

    Wenn es nur einen ein­zi­gen, noch dazu wah­ren, all­ge­gen­wär­ti­gen, all­wis­sen­den und güti­gen Gott geben soll, dann darf es kei­nen zwei­ten und schon gar kei­nen Gegen–Gott geben. War­um? — Eher aus Grün­den der Kon­kur­renz, die Prie­ster nicht mögen. Sie möch­ten viel­mehr das Mono­pol für alles Göttliche.

    Mit dem soge­nann­ten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Her­aus­for­de­rung ein­her, so daß sich das soge­nann­te Gute bewäh­ren muß.

    An sei­ner Auf­ga­be, die er sich selbst gege­ben hat, läßt sich der Teu­fel am ehe­sten ver­ste­hen: Er ist der Ver­su­cher , das ist sei­ne Sache. — Mephi­sto­phe­les stellt sich in Goe­thes Faust vor als:

    Franz von Stuck: Luzi­fer (1890). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Ein Teil von jener Kraft,
    Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
    (…)
    Ich bin der Geist, der stets verneint!
    Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrun­de geht;
    Drum bes­ser wär’s, daß nichts entstünde.
    So ist denn alles, was ihr Sünde,
    Zer­stö­rung, kurz das Böse nennt,
    Mein eigent­li­ches Element.
    (…)
    Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
    Ein Teil der Fin­ster­nis, die sich das Licht gebar, …

    (Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Wer­ke; Bd. 3. S. 47.)

    Ein Geschöpf Got­tes soll er sein, sogar einer der Mäch­tig­sten, wenn nicht der Mäch­tig­ste über­haupt, dann aber sei er abtrün­nig gewor­den. — Das soll so gekom­men sein: Als der mit sich selbst jeden Schöp­fungs­tag immer zufrie­de­ner wer­den­de Schöp­fer sei­nen Engeln end­lich die fer­ti­ge Schöp­fung und dann auch deren ver­meint­li­che Kro­ne vor­stell­te, soll er von den Geist­we­sen ver­langt haben, vor dem Men­schen niederzuknien.

    Das haben auch fast alle folg­sam getan, nur einer nicht. Luzi­fer, einer vom Schla­ge der Erz­engel mit dem Flam­men­schwert soll die­se Hul­di­gung eben­so selbst­be­wußt wie kon­se­quent ver­wei­gert haben. — Und jetzt kommt, was nur Phi­lo­so­phen sich getrau­en: Der Sache nach­ge­hen, die mög­li­chen Grün­de prü­fen, um dann zu dem ket­ze­ri­schen Ergeb­nis zu kom­men: Recht hat er, der Luzifer!

    Es gehört stets gewis­ser Mut dazu, aus­zu­sche­ren und aus der Rei­he zu tan­zen, und das brin­gen nur weni­ge fer­tig. Wenn man sich in die so fei­er­li­che Situa­ti­on hin­ein­ver­setzt: Da ist der Schöp­fer die­ser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt die­ser Kri­ti­ker daher. Die aller­er­ste Lek­ti­on erteilt Luzi­fer dem Schöp­fer­gott. — Das Sel­ber­den­ken macht ihn phi­lo­so­phisch höchst inter­es­sant, so wird er zum Kri­ti­ker aller Kritiker.

    Uner­müd­lich wie Sisy­phos ver­sucht der Teu­fel seit­her, mög­lichst kon­kret nach­zu­wei­sen, daß der Mensch es nicht ver­dient, daß Engel sich tat­säch­lich vor ihm ver­nei­gen. — Da wir uns den Sisy­phos auf­grund einer Bemer­kung von Albert Camus als einen glück­li­chen Men­schen vor­stel­len soll­ten, dürf­te es sich auch bei Luzi­fer um einen glück­li­chen Engel han­deln, weil er sich sei­ne Auf­ga­be selbst gege­ben hat.

    Im jüdi­schen Glau­ben wer­den Engel sehr viel dif­fe­ren­zier­ter vor­ge­stellt. Das fin­det sich auch bei Rai­ner Maria Ril­ke in sei­nen Dui­ne­ser Ele­gi­en. — Dort sind sie nicht ein­fach nur lamm­fromm, viel­mehr mysti­sche Wesen. Sie sind schön und schreck­lich zugleich, und sie ste­hen dort, wo gro­ße Geheim­nis­se zu erwar­ten sind. Der Anfang der ersten Ele­gie hat etwas von dem, was hier dar­ge­stellt wer­den soll:

    Wer, wenn ich
    schriee, hör­te mich denn aus der Engel
    Ord­nun­gen? und gesetzt selbst, es nähme
    einer mich plötzlich
    ans Herz: ich ver­gin­ge von seinem
    stär­ke­ren
    Dasein. Denn das Schö­ne ist nichts
    als des Schrecklichen
    Anfang, den wir noch gra­de ertragen,
    und wir bewundern
    es so, weil es gelas­sen verschmäht,
    uns zu zer­stö­ren. Ein jeder Engel ist schrecklich.

    (Rai­ner Maria Ril­ke: Dui­ne­ser Ele­gi­en. In: Sämtl. Wer­ke; Bd. 1. S. 685.)

    Der Mensch ist zwi­schen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hau­se bei sich, wie Ril­ke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigent­li­che Grund, war­um Luzi­fer in sei­ner Eigen­schaft als Licht­brin­ger und als der Ober­ste aller Teu­fel gewis­se Ent­wick­lungs­dien­ste lei­stet. Der Teu­fel ist also ein Selbst­den­ker, mehr noch, er ist ein Schöp­fungs­kri­ti­ker und dabei nicht unbe­dingt ein Feind des Men­schen, son­dern eher einer, der sich vom soge­nann­ten all­zu Mensch­li­chen eben­so­we­nig abhal­ten läßt in sei­nem Urteil, wie der ägyp­ti­sche Schrei­ber­gott Thot beim Jüng­sten Gericht. Auf der See­len­waa­ge wird das Gewicht einer Feder, in der einen Scha­le, gegen die mit Erden­schwe­re bela­ste­te See­le, in der ande­ren Scha­le, abge­wo­gen. Der­weil wirkt die Waa­ge wie ein Lügen­de­tek­tor, der auf jede Unwahr­heit reagiert. Für den Fall ist die See­le ver­lo­ren, sie wird ver­sto­ßen und dem hunds­köp­fi­gen Anu­bis zum Fraß zugeworfen.

    Rechts: Der ibis­köp­fi­ge Thot als Schrei­ber beim ›Wie­gen des Her­zens‹, hin­ter Anu­bis (1300 BC). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist in der Tat befremd­lich, des­öf­te­ren dabei zu sein, wenn Zeit­ge­nos­sen sich selbst und ande­ren eini­ges vor­ma­chen wol­len, was ein­fach nicht stimmt. Das ist schon eine wun­der­sa­me Art der Urteils­bil­dung, sich auf den eige­nen Leim zu krie­chen. — Es braucht nicht viel an gei­sti­ger Durch­drin­gungs­kraft und empa­thi­scher Beob­ach­tungs­ga­be, um zu sehen, daß man­che sich selbst und ande­ren gewis­sen­los etwas vor­ma­chen wollen.

    Wir haben aller­dings auch ein Gespür für Unstim­mig­kei­ten: Zumeist war­ten Spra­che und Gram­ma­tik mit Selt­sam­kei­ten auf, wobei man sehen kann, was alles zuein­an­der pas­sen muß, wenn etwas wirk­lich stimmt. — Wahr­heit ist weit mehr als eine Fra­ge der Logik, son­dern ein gan­zes Ensem­ble unter­schied­lich­ster Aspek­te, die nicht nur in der Aus­sa­ge, son­dern in ihrer gan­zen Dar­bie­tung har­mo­nisch abge­stimmt sein müs­sen. Es zeigt sich, was alles im Klei­nen und auch im Gro­ßen zusam­men­stim­men und im Ein­klang mit­ein­an­der sein muß.

    Wenn eine See­le bela­stet ist durch die Erden­schwe­re sol­cher Selbst­be­trü­ge­rei­en, dann wird sie gewiß kei­nen Frei­spruch erhal­ten. Es wür­de ohne­hin nicht funk­tio­nie­ren, sich im Leben zu bela­sten, um dann nach dem Tode ent­la­stet zu sein. — Da wirkt das Manö­ver der Christ­li­chen Kir­chen, daß die Schuld wie eine Lokal­run­de schon für alle Zei­ten im Vor­aus abge­tra­gen sei, kaum bes­ser als eine durch­sich­ti­ge Abofalle.

    Erlö­sen müs­sen wir uns schon selbst. Luzi­fer ist dabei einer der besten Rat­ge­ber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schwe­ben. Dabei wür­den wir so gern engels­gleich abheben.

    Bei Pla­ton gibt es dazu einen phan­ta­sti­schen Mythos vom gemein­sa­men Zug mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment bis zum Reich der Ideen am Ran­de der Welt.

    Die Göt­ter haben aller­dings ein Gespann mit zwei sehr guten Pfer­den. — Beim See­len­wa­gen der Men­schen ist jedoch nur eines der Pfer­de wirk­lich taug­lich für den Auf­stieg ins Reich der Ideen.

    Der Ver­su­cher ist ein begna­de­ter Prü­fer und wir tun gut dar­an, ihm zu ver­trau­en, denn wo er sich nicht bereit fin­den kann für sei­ne Zustim­mung, da haben wir sie auch noch nicht ver­dient. — Man soll­te daher eher auf die Hil­fe­stel­lung ach­ten, die Luzi­fer als Ver­su­cher zu lei­sten imstan­de ist.

    Bei Goe­the ist Mephi­sto ein Iro­ni­ker und manch­mal zynisch, aus guten Grün­den. Aber sei­ne Iro­nie hat Empa­thie und sein Intel­lekt ist mes­ser­scharf, man kann ihm nicht mit dum­men Aus­re­den kom­men, denn er kennt sie alle.

    Das Teuflische am Alkohol

    Da sich der Teu­fel aber nicht stän­dig um alle höchst­per­sön­lich küm­mern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesent­lich, das Teuf­li­sche am Alko­hol zu ver­ste­hen, um dar­über sich selbst zu verstehen.

    Udo Jür­gens irrt, wenn er meint, der Teu­fel habe den Schnaps gemacht, um uns zu ver­der­ben. Das ist zu kurz gegrif­fen.— Wie bereits dar­ge­stellt, geht es ihm dar­um, uns zu prü­fen, ob wir es ver­dient haben, sei­ne Ach­tung zu erhal­ten und eine Flug­li­zenz ins Transzendentale.

    Der Song­text von Udo Jür­gens, hat aller­dings eine bemer­kens­wer­te Poin­te. Da sitzt ein Anti­held in sei­ner Stamm­knei­pe. Ein Mäd­chen von der Heils­ar­mee ver­sucht ihn engels­gleich zu ret­ten, indem sie dem Trin­ker ins Gewis­sen redet, was natür­lich mit­nich­ten ver­fängt. — Bekannt­lich kön­nen alle, immer und zu jeder Zeit auf­hö­ren, nur momen­tan gera­de nicht, und dar­auf trin­ken wir erst mal noch einen.

    Dann aber kommt die wirk­lich luzi­fe­ri­sche Poin­te: Er bringt das Mäd­chen nach Hau­se und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zim­mer. — Aber dort macht der ver­hin­der­te Held eine teuf­li­sche Selbsterfahrung:

    Sie lud mich in ihr Zim­mer ein
    Und dort erfuhr ich dann
    Wer zuviel trinkt
    Ist lei­der oft
    Nur noch ein hal­ber Mann.

    (Udo Jür­gens: Der Teu­fel hat den Schnaps gemacht (1973).

    Unver­geß­lich ist auch Wil­helm Busch:

    Es ist ein Brauch von alters her,
    wer Sor­gen hat, hat auch Likör!

    (Wil­helm Busch: Die From­me Hele­ne. In: Gesam­mel­te Wer­ke. Bd. 2, S. 282.)

    Der Spruch bringt es zuver­läs­sig auf den Punkt. Man ach­te wie­der auf den Kon­text: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Hele­ne, dann hät­te sie nicht ganz so vie­le Sor­gen und bräuch­te auch nicht so viel Likör. — Wer der alko­ho­li­schen Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, trö­stet sich also über etwas ganz Ande­res hinweg.

    Der Alko­hol ist wie ein Eis­berg, bei dem auch vier von fünf Tei­len unter der Ober­flä­che lie­gen. Aber weder Luzi­fer, noch der Alko­hol ist das Pro­blem, son­dern der ver­meint­li­che Trost, den er spen­det, durch Betäu­bung see­li­scher Schmer­zen. — Aber die Lin­de­run­gen hal­ten nicht vor, denn es wer­den nur die Sym­pto­me bekämpft. Dann kom­men die Schmer­zen wie­der, um erneut im Alko­hol ertränkt zu wer­den. Alles schreit förm­lich danach.

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    Die Schönheit der Seele

    Psyche und Seele

    Das Sym­po­si­on ist schon weit fort­ge­schrit­ten, als sich uner­war­tet ein illu­strer Gast ein­stellt. Alki­bia­des, reich­lich berauscht und gestützt auf zwei Flö­ten­spie­le­rin­nen, begehrt Ein­laß, was ihm selbst­re­dend gewährt wird. — Und wie es in sol­chen Situa­tio­nen häu­fig so ist, läßt er sich kurz erläu­tern, daß man sich nicht zum Zechen, son­dern zu einem wei­te­ren Dich­ter­wett­streit zusam­men­ge­fun­den haben. Es gel­te, ein Lob­lied auf den Gott der Lie­be, auf Eros aufzuführen.

    Anselm Feu­er­bach: Das Gast­mahl. Nach Pla­ton (zwei­te Fas­sung: 1871). — Im Mit­tel­punkt steht der Gast­ge­ber Aga­thon, geschmückt mit dem Lor­beer­kranz, weil er den Dich­ter­wett­streit gewon­nen hat. In der rech­te Bild­hälf­te, mit dem Gesicht vom Gesche­hen abge­wandt, voll­kom­men in sich ver­sun­ken, sieht man auch Sokra­tes. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Wer so spek­ta­ku­lär auf­tritt, steht ohne­hin im Mit­tel­punkt. Also legt der spä­ter nicht unum­strit­te­ne Macht­po­li­ti­ker einst­wei­len los mit sei­nem Lob­ge­sang auf den Gott der Lie­be. Er läßt sich nie­der und erzählt von einer unge­heu­ren Lie­be, der er ver­fal­len sei, die ihm aber uner­füllt blieb. Dabei sei die Ver­füh­rung bestens vor­be­rei­tet wor­den. Er habe die Die­ner weg­ge­schickt, die Bett­decken bis auf eine redu­ziert, so daß man ein­an­der zwangs­läu­fig habe näher­kom­men müs­sen, und den­noch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Per­son, um die es ging, rein äußer­lich nicht nur nicht schön, son­dern eigent­lich häß­lich, wäre da nicht die­se Schön­heit der See­le, die von innen her kommt.

    Pla­ton ist ein Schalk, wenn er dem über­schweng­li­chen Alki­bia­des erst in die­sem Augen­blick erlaubt, sich der ande­ren Sei­te hin­zu­wen­den, um dann unmit­tel­bar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen sei­nen Lie­bes­be­kun­dun­gen die ganz Zeit geht: Sokra­tes. Die­ser hat­te zuvor sei­ne Lob­re­de auf den Gott der Lie­be gehal­ten, aber durch die Wie­der­ga­be eines weg­wei­sen­den Dia­logs über die Lie­be, mit einer Leh­re­rin namens Diot­ima. — Die­se prä­gen­de Unter­wei­sung hat er in jun­gen Jah­ren erfah­ren. Die wei­se Frau aus Man­ti­neia in Arka­di­en muß
    ihn sehr beein­druckt haben.

    Josef Simm­ler: Diot­ima. Por­trät der Jad­wi­ga Luszc­zews­ka (1855). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Erneut geht es, wie bereits im Höh­len­gleich­nis oder beim See­len­ge­spann um einen Auf­stieg, nun­mehr aber in der Liebe.—Diotima emp­fiehlt eine Ori­en­tie­rung am Begeh­ren des Schö­nen, wobei nicht typi­scher­wei­se die Ero­tik schlecht gere­det und dann aus­ge­grenzt wird. Viel­mehr wird zuge­stan­den, daß die­se Form der Lie­be zum Schö­nen den Anfang macht.

    Inso­fern ist die Rede von ›pla­to­ni­scher Lie­be‹ als einer ohne Begeh­ren phi­lo­so­phisch nicht berech­tigt, weil aus­drück­lich jede Form der Lie­be zuge­las­sen wird. — Sie sei ein ›hei­li­ger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hin­aus in tran­szen­den­te Höhe füh­ren wer­de, wenn sich dem nichts ent­ge­gen­ge­stellt. Den Anfang macht das ero­ti­sche Begeh­ren und die Fixie­rung auf äuße­re und indi­vi­du­el­le Schön­heit, dann aber erwei­tert sich die­se Lie­be zur Schön­heit und wan­delt sich zur Freu­de an der Schön­heit der Lie­be. All­mäh­lich wird man mehr die inne­re und uni­ver­sel­le Schön­heit schät­zen ler­nen, was sich schließ­lich auf den gan­zen Kos­mos erwei­tern kann.

    Damit hat die Schön­heit einen bedeu­ten­den Rang erhal­ten, der kaum mehr über­trof­fen wer­den kann. Und tat­säch­lich gibt es eini­ge Hin­wei­se, die Anlaß geben kön­nen, dar­über zu spe­ku­lie­ren, ob womög­lich die­se ›inne­re‹ Schön­heit nicht tat­säch­lich dem Abso­lu­ten noch am aller­näch­sten kom­men kann.

    Auch über die Ver­nunft läßt sich glei­cher­ma­ßen spe­ku­lie­ren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Gan­zes als sol­ches vor Augen zu füh­ren, sich dabei stets auf die Per­spek­ti­ven der Ästhe­tik und der ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu stüt­zen ver­steht. Das Inter­es­san­te dar­an liegt dar­in, daß beim Emp­fin­den von Schön­heit nur noch plä­diert aber nicht mehr argu­men­tiert und schon gar nicht mehr bewie­sen wer­den kann.—Das wie­der­um hat Han­nah Are­ndt zu einem bemer­kens­wer­ten Expe­ri­men­tie­ren moti­viert, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu entwickeln.

    Kri­sti­an Zahrt­mann: Sokra­tes und Alki­bia­des (1911). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Damit ist ein tie­fes Geheim­nis ange­spro­chen, es geht dar­um, daß wah­re Schön­heit von innen her­kommt, von der Schön­heit der See­le. — Und wie sich den begehr­lich Vor­wür­fen des Alki­bia­des dem Sokra­tes ent­neh­men läßt, ist der Poli­ti­ker in sei­nen Besitz­an­sprü­chen und sei­nen Eifer­süch­te­lei­en eben weit weni­ger an wah­rer Lie­be inter­es­siert, son­dern viel­mehr an sei­ner eige­nen Eitel­keit. Er wird damit zu einem muster­gül­ti­gen Bei­spiel, wie man es bes­ser nicht hal­ten soll­te, mit der Liebe.

    Hier läßt sich der Faden auf­neh­men, um zu unter­su­chen und zu ver­ste­hen, wie denn der Zusam­men­hang zwi­schen See­le und Psy­che beschaf­fen sein mag. Vor allem inter­es­siert eines: Die zuneh­men­den Depres­sio­nen mögen auch als Hin­weis genom­men wer­den, daß wir uns viel zu sehr mit der Psy­che, aber viel zu wenig mit der See­le befassen.

    Es ist an der Zeit, man­che Begrif­fe end­lich auch all­ge­mein­sprach­lich wie­der in Gebrauch zu neh­men, die allen­falls noch von Theo­lo­gen bemüht wer­den, die daher in die­sen Sachen über das bes­se­re Arti­ku­la­ti­ons­ver­mö­gen ver­fü­gen. — Wir soll­ten nicht mehr nur vom Kör­per , son­dern auch vom Leib spre­chen, was nicht das­sel­be ist. Wir soll­ten nicht mehr nur von der Psy­che, son­dern auch von der See­le reden. Wir soll­ten nicht mehr nur von Ratio­na­li­tät, son­dern auch von Ver­nunft spre­chen. Und wir soll­ten nicht mehr nur Ratio­na­li­tät, Ver­stand und Ver­nunft bemü­hen, son­dern auch, was nicht leicht faß­bar ist, den Geist.

    Psyche und Seele

    Nur bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung schei­nen Psy­che und See­le das­sel­be zu mei­nen. Wäh­rend die See­le häu­fig in reli­giö­sen, medi­ta­ti­ven und eso­te­ri­schen Kon­tex­te the­ma­ti­siert wird, erscheint die Psy­che inzwi­schen eher wie ein Part of the game mit all­täg­li­chen Belan­gen. — Und mögen wir noch so ver­hei­ßungs­voll von unse­rem ver­meint­li­chen Inne­ren spre­chen, die Psy­che ist nicht sel­ten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.

    Es scheint, als habe die Psy­che viel weni­ger von jener Tie­fe, wie sie der See­le zuge­spro­chen wird. Die Psy­che ist offen­bar sehr viel jün­ge­ren Datums und damit auch ein Spie­gel nar­ziß­ti­scher, selbst­be­züg­li­cher und mate­ria­li­sti­scher Belan­ge, von denen sich vie­le ver­spre­chen, gro­ße Sehn­süch­te zu stil­len. Es sin Illu­sio­nen, die durch Kon­su­mis­mus nicht bewäl­tigt wer­den können.

    Vor­der­grün­dig wirkt die Psy­che als beson­de­rer Teil unse­rer See­le, den wir uns über uns selbst bewußt machen möch­ten. — Das Gere­de von der ›Suche nach dem wah­ren Selbst‹ kann die Sehn­sucht nicht stil­len, denn die Psy­che ist selbst ein Teil des Thea­ters, das wir uns und ande­ren vor­spie­len. Ist die Thea­ter­maske erst ein­mal mit dem eige­nen Gesicht und den übli­chen Ober­fläch­lich­kei­ten fest ver­wach­sen, dann kann auch kein Aus­druck von Tie­fe mehr auf­kom­men, denn damit gehen auch Empa­thie und Authen­ti­zi­tät verloren.

    Der Geist der Narrative

    Zugang zu den Tie­fen in uns hat nur der Geist, der in den Nar­ra­ti­ven wohnt. Es kommt dar­auf an, mit Fein­ge­fühl die eige­ne Geschich­te in tief­grün­di­gen Dia­lo­gen ganz all­mäh­lich bewußt wer­den zu las­sen. — Um Freund­schaft mit sich selbst zu schlie­ßen, soll­te man sich einst­wei­len näher ken­nen­ler­nen. Dann kann man mit­hil­fe der Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie noch eini­ge wesent­li­che Schrit­te dar­über hin­aus gehen.

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    Man will den Esel strafen, schlägt aber den Sack

    Über Sexismus und Sprachkritik

    Es ist erklä­rungs­be­dürf­tig, was die­ser, zuge­ge­ben nicht ganz tier­lie­be Spruch besa­gen soll. Deut­lich wird, was gemeint ist, anhand der aktu­el­len Debat­ten über Sexismus.
    Tat­säch­lich läßt sich ein nicht unwe­sent­li­cher Teil des Sexis­mus anthro­po­lo­gisch auf ani­ma­li­sche Antei­le zurück­füh­ren, die wir noch immer in uns tra­gen. Men­schen sind her­aus­ge­fal­len aus ihrer vor­ma­li­gen Tier-Natur im Para­dies, es ist unser Schick­sal, nie wie­der “ganz” zu wer­den. – Ril­ke sagt über den Menschen,

    “und die fin­di­gen Tie­re mer­ken es schon,
    daß wir nicht sehr ver­läß­lich zu Haus sind
    in der gedeu­te­ten Welt.” (Rai­ner Maria Ril­ke: Dui­ne­ser Elegien.)


    Das ist der Preis dafür, Mensch gewor­den zu sein: Daher die vie­len Wider­sprü­che in und zwi­schen uns. Und davon ist der zwi­schen „Kör­per haben“ und „Leib sein“ nur einer von vie­len. – Wir beob­ach­ten uns, oft nicht gera­de freund­lich gestimmt. Auch sind wir nicht ent­we­der das eine oder das ande­re, son­dern mal das eine, mal das ande­re und das zumeist nicht wirk­lich voll und ganz.
    Lucas Cra­nach der Älte­re: Para­dies (Aus­schnitt) (1530).
    An der Spra­che nun andau­ernd neue Exem­pel wegen Sexis­mus vor­zu­neh­men, ist auch kei­ne Lösung im Umgang mit alle­dem. Genau das besagt offen­bar die­ser Spruch: Der „Esel“ ist also der Sexis­mus, den man­che bestra­fen möch­ten, aber nicht kön­nen. Daher wird die Spra­che, also der „Sack“ geschlagen.
    Vie­le die­ser Hypo­the­sen über Spre­chen und Spra­che haben den Tief­gang von Ver­schwö­rungs­theo­rien. Sie geben sich viel zu schnell mit mög­lichst ein­fa­chen Erzäh­lun­gen vom angeb­lich Bösen hin­ter den Kulis­sen zufrieden.
    Nichts gegen mehr sprach­li­che Sen­si­bi­li­tät und mehr Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen. Nur das kann hel­fen. Aber das geht nicht auf dem Umweg über Sprech­ver­bo­te, son­dern nur auf dem Umweg über noch mehr, noch bes­se­re Wor­te, noch mehr Neben­sät­ze und nur durch tie­fe­re Dia­lo­ge, in denen die Empa­thie immer mehr zur Ein­füh­lung kom­men kann.
    Durch neu errich­te­te Tabus wer­den aus Wider­sprü­chen nur noch grö­ße­re Pro­ble­me, weil auch die­se Aspek­te des Mensch­li­chen ein Recht dar­auf haben, Gehör, Aus­druck und Ver­ständ­nis zu fin­den. – Über die ange­mes­se­ne Form läßt sich aller­dings treff­lich strei­ten. Es war schon immer eine Fra­ge der Kul­tur, zu „kul­ti­vie­ren“, was, wie zum Aus­druck gebracht wer­den kann und auch soll.
    Aller­dings hat der all­täg­li­che Sexis­mus auch bio­lo­gi­sche Grund­la­gen, die noch aus dem Tier­reich stam­men. Das kann jede Frau am eige­nen Leib erfah­ren. Spä­te­stens dann, wenn ab einem gewis­sen Alter die begehr­li­chen Blicke sel­te­ner werden.
    Und mir als Mann ent­lockt es ein Schmun­zeln über mei­ne eige­ne Tier­na­tur, wenn ich sehe, wie mein Blick „fremd­ge­steu­ert“ wird. Allein vom Klackern höhe­rer Absät­ze geht ein unwi­der­steh­li­cher Reiz aus. Dabei ist den Trä­ge­rIn­nen der rich­ti­ge Klacker­ton offen­bar von Bedeu­tung. Wären die Pumps stumm, blie­ben sie in den Rega­len. – Aber ich muß ja nun nicht die Steue­rung aus der Hand geben. Natür­lich kann Mann sich über die eige­ne Tier­na­tur hinwegsetzen.
    Auf “Sexu­el­le Bil­dung” kommt es an, der Weg dort­hin ist aber anspruchs­vol­ler als gedacht. Vor allem geht es dar­um, mög­lichst vie­le sol­cher Wider­sprü­che in ange­mes­se­ne Wor­te zu klei­den. – Wir kön­nen Wei­ne degu­stie­ren und win­den Wor­te zu Gir­lan­den des ereig­nis­rei­chen Geschmacks­ge­sche­hens, aber über Orgas­men reden, über Ero­tik und über die Span­nung die­ser Wider­sprü­che, das kön­nen wir nicht.
    Nicht weni­ger, son­dern sehr viel mehr neue Wor­te sind die Lösung. Nicht neue Tabus, nicht die Ein­schrän­kung, son­dern erst die Erwei­te­rung des Aus­drucks­ver­mö­gens ist “Bil­dung”. – Der Baum der Erkennt­nis hat noch vie­le Früch­te, die alle­samt ver­ko­stet wer­den soll­ten. Das “Ver­bo­te­ne” an die­sen Früch­ten besteht aller­dings dar­in, daß es immer auch ein Wag­nis ist, sich zu öff­nen, um sich zu erklä­ren und ein­an­der zu verstehen.
    Wich­tig ist jedoch nicht nur Reden, ent­schei­dend ist erst das Ver­ste­hen. – Nur, wo min­de­stens zwei Men­schen bei­sam­men sind und ein­an­der ver­ste­hen, nicht all­ge­mein, son­dern ganz kon­kret in einer ganz bestimm­ten, höchst heik­len Ange­le­gen­heit, dort ist auch der Geist unter ihnen, der die Sicher­heit ver­schaf­fen kann, sich auf­ge­ho­ben zu füh­len, für Momen­te des Glücks.
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    Nähe und Enge

    Wenn es eng wird ums Herz

    “Wann Krieg beginnt, das kann man wis­sen, aber wann beginnt der Vor­krieg. Falls es da Regeln gäbe, müß­te man sie wei­ter­sa­gen.” (Chri­sta Wolf: Kas­san­dra. Vor­aus­set­zun­gen einer Erzäh­lung. Frank­fur­ter Poetik–Vorlesungen; Darm­stadt, Neu­wied 1983. S. 76f.)

    Es gibt einen ethisch nicht zuläs­si­gen Tier­ver­such: Zwei Rat­ten wer­den in einen Käfig gesperrt, der eine ziem­lich klar defi­nier­te Grö­ße unter­schrei­tet. Dann gehen sich bei­de augen­blick­lich an die Gur­gel, bis nur noch eine übrig bleibt. 
    Auf mehr­tä­gi­gen Ver­an­stal­tun­gen gibt es die­sen magi­schen 3. Tag. Auch da gehen sich Teil­neh­mer aus einem inne­ren Zwang her­aus an, weil irgend­ei­ne Geduld am Ende ist und man vom vie­len Weg­lä­cheln all­mäh­lich Gesichts­krämp­fe bekommt. — Es ist auch komisch, wenn gleich ganz vie­le wie auf ein gehei­mes Kom­man­do ziem­lich unver­mit­telt und auf­grund von Nich­tig­kei­ten plötz­lich auf­ein­an­der losgehen.
    Wenn man als Refe­rent spä­ter dazu kommt und wis­sen möch­te, wie die Stim­mung so ist, kann man sehr gut Teil­neh­me­rin­nen befra­gen. Frau­en haben es wie selbst­ver­ständ­lich auf dem Schirm, wer mit wem, war­um nicht und wes­we­gen. — Ich bin da immer bass erstaunt, wie leicht frau Grup­pen­dy­na­mik dur­schau­en kann, weil ich dazu mit Bord­mit­teln ziem­lich lan­ge brau­che, bis ich es auch sehe.
    Jérô­me-Mar­tin Lang­lois: Cas­san­dra fleht Miner­va an, sich an Ajax zu rächen (1810).
    Es ist über­aus wich­tig, hin­ter die Kulis­sen zu schau­en. Das ist auch der Sinn von Höf­lich­keit, denn es gilt, ande­ren zuvor­kom­mend zu begeg­nen, so daß sie gar nicht erst Beklem­mun­gen bekom­men, son­dern sich wohl­füh­len, ver­stan­den, geach­tet, gewür­digt. — Das läßt sich sehr schön bei Knig­ge stu­die­ren, dem es mit­nich­ten um den Ein­satz des Fisch­mes­sers geht. 
    Tat­säch­lich ist Gesell­schaft immer auch Thea­ter. Wir spie­len unse­re Rol­len und dabei uns selbst und ande­ren etwas vor. Aber was wäre die Alter­na­ti­ve? — Der Unter­ti­tel bei Knig­ge lau­tet, vom Umgang mit Men­schen. Dabei geht es um eine Diplo­ma­tie, die alles ande­re ist als Schmei­che­lei oder Mani­pu­la­ti­on. Aller­dings ist dazu ein wenig Lebens­art und Lebens­er­fah­rung erfor­der­lich und vor allem ein huma­ni­sti­scher Geist. 
    Das Rol­len­spiel ist ja selbst wie­der ein Medi­um, eine Spra­che, mit der wir uns dar­stel­len. Das wird einem klar bei einer Emp­feh­lung, die Knig­ge gibt: Sei­ner­zeit war die Bewe­gungs­frei­heit nicht so wie heu­te. Nur Ade­li­ge und Hand­werks­ge­sel­len durf­ten und muß­ten rei­sen, um sich in der wei­ten Welt zu bewei­sen. In der Tat lernt man sich selbst am besten in der Frem­de ken­nen und vor allem dann, wie man mit dem Unbe­kann­ten umge­hen muß. 
    Wenn man in der Stadt eine Kut­sche gemie­tet hat und die Kut­scher wie ver­rückt los­fah­ren, soll­te man sich kei­nes­wegs dar­über beschwe­ren. Es geht nur um eine Bela­stungs­pro­be. Wenn näm­lich die Räder schwach sind, dann soll­ten sie hier und jetzt bre­chen – aber nicht im Wald, wo bekannt­lich die Räu­ber sind. 
    Die mei­sten Pro­ble­me ent­ste­hen durch nicht the­ma­ti­sier­tes Miß­ver­ste­hen. Es ist fal­sche Höf­lich­keit, irgend­ei­ne Form zu wah­ren, aber nicht auf das zu spre­chen zu kom­men, was wirk­lich von Bedeu­tung ist, um ein­an­der zu ver­ste­hen. — Das ist vor­aus­set­zungs­rei­cher als gedacht. Zunächst müß­te man erst ein­mal sich selbst ver­ste­hen und dann auch den Ande­ren. Dann braucht man eine gemein­sa­me Gesprächs­grund­la­ge, wie es schon im Jar­gon der Diplo­ma­ten heißt. Das alles ver­langt der Spra­che der­art viel ab, so daß vie­le lie­ber alles weg­lä­cheln und Meta–Toleranz–Gepflogenheiten vor sich her­tra­gen oder auch Par­tei­nah­men, je nach Tages­be­fehl, was 
    noch mehr Pro­ble­me bereitet.
    Die Welt ist in der Tat abhän­gig vom Wil­len und von der Vor­stel­lung, die man sich dar­über macht oder auch nur machen läßt. Das hat die Coro­na-Kri­se leid­lich unter Beweis gestellt. Die Gren­zen zwi­schen dem Öffent­li­chen und dem Pri­va­ten, zwi­schen Gesell­schaft und Gemein­schaft, wur­den stän­dig ver­letzt. Man hat sich in eine Stim­mung aus Panik, Furcht und Bedro­hung ver­set­zen und dau­er­haft hal­ten lassen.
    Und jetzt erscheint es so, als wäre Coro­na nur eine Art Vor­krieg gewe­sen. Die Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft, der Kul­tur, man­cher Gemein­schaf­ten und das Gefühl, im Ande­ren eine infek­tiö­se Bedro­hung zu sehen und Nähe gene­rell fürch­ten zu müs­sen, sich auf nichts mehr ver­las­sen zu kön­nen, schon gar nicht auf das eige­ne Immun­sy­stem, das hat alles sehr viel mehr Scha­den ange­rich­tet, als man­che bereit wären, sich zuzugestehen.
    Auch ist es kein Zufall, daß nun­mehr mit mög­lichst gro­ßer Öffent­lich­keit die­ses toxi­sche Männ­lich­keits­geh­abe wie­der fröh­li­che Urstän­de fei­ert. — Wie war es noch, als Deut­sche in den Krieg fuh­ren? Das taten sie ja nur, um dort mit ihrer neu­en, fran­zö­si­schen Gelieb­ten auf der Chaus­see de Ely­see fla­nie­ren zu gehen. Zurück kamen sie, wenn über­haupt, zutiefst traumatisiert.
    Die Welt­krie­ge haben die­se Schat­ten­fi­gu­ren des pre­kä­ren Mas­ku­li­nis­mus erzeugt, einen manisch-depres­si­ven Män­ner­typ, der nicht spre­chen kann über die Scheuß­lich­kei­ten, die nicht wie­der ver­schwin­den wol­len. Also liegt er den gan­zen Tag auf der Couch, bekommt aber ein­mal am Tag sei­nen Anfall, die gan­ze Fami­lie zu vermöbeln.
    Das gegen­wär­ti­ge, affen­haf­te Brust­klop­fen der Macho­ma­nie ist ja nur das, was im Vor­krieg demon­striert wird. Spä­ter wird sich die Gesell­schaft in gro­ßer Dank­bar­keit für die erbrach­ten Opfer von die­sen Hel­den nur noch ange­wi­dert abwen­den. Also was soll das?
    Es ist kein Kunst­stück, gegen den Krieg zu sein, gegen jeden, weil das ein­fach für nichts gut ist. Außer­dem befand man sich schon immer in der bes­se­ren Gesell­schaft mit denen, die sich ein eige­nes Urteils­ver­mö­gen zutrau­en und auch zumu­ten moch­ten. — Zwi­schen der Zustim­mung zur Imp­fung und der Zustim­mung zum Krieg gibt es eine gespen­sti­sche Gemeinsamkeit.
    I am not con­vin­ced. — Wo kommt nur das Bedürf­nis nach Haß her? Ist es nicht eine viel zu spä­te Reak­ti­on dar­auf, daß man sich wie­der ein­mal hat viel zu viel Duld­sam­keit abver­langt, zu viel Nähe zuge­mu­tet und zu wenig Ver­ste­hen auf­ge­bracht hat? War­um weh­ren sich so weni­ge gegen Über­grif­fe und lächeln sich weg? War­um kommt es dazu, daß man irgend­wann ein­fach platzt, wenn es bereits zu spät ist? Das ist fal­sche Höf­lich­keit, das ist Feig­heit, Unbe­darft­heit, Unselbst­stän­dig­keit, Unsi­cher­heit, Unmündigkeit.
    War­um haben so vie­le die Gele­gen­heit zum Bas­hing nicht ver­strei­chen las­sen, um auch mal ganz kräf­tig aus­zu­tei­len? — Die Grün­de lie­gen woan­ders, in einem all­ge­mei­nen Unglück­lich­sein, das mit dem eigent­li­chen Anlaß kaum etwas zu tun hat. 
    In einem Man­gel an Den­ken und Spra­che lie­gen die eigent­li­chen Grün­de. Daher lau­fen die Kon­flik­te völ­lig aus dem Ruder nach dem Mot­to: Und was ich Dir über­haupt immer schon mal sagen woll­te…! — Macht­wor­te sind Ver­laut­ba­run­gen einer Ohn­macht, aus Grün­den der Spra­che, des Den­kens und aus Man­gel an Geist.
    Als Etho­lo­gen einem Volk ohne Fern­se­her vom Welt­krieg erzähl­ten, haben sich die­se zunächst köst­lich amü­siert. So etwas bräuch­ten sie auch mal. Offen­bar dach­ten sie an eine zünf­ti­ge Wirts­haus­schlä­ge­rei, die sie auch noch nicht kann­ten. — In einem Sci­ence Fic­tion las ich mal über eine frem­de Spe­zi­es, sie sei­en ursprüng­lich sehr krie­ge­risch gewe­sen, dann aber hät­ten sie sich selbst immer wei­ter pazi­fi­ziert. Aber von Zeit zu Zeit bräuch­ten sie noch eine Drang­wä­sche, ein bemer­kens­wer­tes Wort für das, was da gera­de vor sich geht.
    Es ist vie­len zu eng gewor­den. Es wäre aber bes­ser, ein­an­der mehr Raum zu gewäh­ren. Raum gewäh­ren kann man auch durch mehr Ver­ständ­nis, etwa für die, die sich gera­de völ­lig ver­un­si­chert in den Geschäf­ten bewe­gen, daß jetzt kei­ne Mas­ken­pflicht mehr herrscht. Aber wo kom­men wir da jetzt hin, wenn jeder wie­der macht was er oder sie will! – Genau das ist das Pro­blem, die­ses unaus­ge­spro­che­ne Miß­trau­en, der ver­bor­ge­ne Selbst– und Menschenhaß.
    Der Libe­ra­lis­mus steht einer rechts­ka­tho­li­sche Tie­fen­ge­sin­nung gegen­über und einer Rei­he von selbst­über­zeug­ten Bes­ser­wis­sern, die in sich das Poten­ti­al zum guten Dik­ta­tor ver­spü­ren. Nicht nur Krieg, son­dern auch Dik­ta­tur scheint wie­der machbar.
    Aber der Libe­ra­lis­mus hat den Huma­nis­mus auf sei­ner Sei­te. Er kann sagen, war­um wir uns in unse­rer Frei­heit selbst fin­den und ent­wickeln müs­sen. Nur so wird aus Men­schen das, was sich aus ihrer Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te längst her­aus­le­sen läßt, Wesen indi­vi­du­el­ler Weis­heit, Selbst­ver­ant­wor­tung, Empa­thie, Authen­ti­zi­tät und einem immens gestie­ge­nen Verbalisierungsvermögen.
    Erst wenn wir sagen kön­nen, was mit uns und der Welt nicht stimmt, wenn wir auch in der Bewegt­heit noch die Con­ten­an­ce bewah­ren kön­nen, um uns gleich­wohl nicht unter­but­tern zu las­sen, erst dann sind wir auf dem rich­ti­gen Weg. — Dabei ist die Bezeich­nung Homo sapi­ens bis­lang nur eine Anmaßung.
    Die letz­te aller Kom­pe­ten­zen ist die schwer­ste von allen, das ist in jeder Ent­wick­lung so. Sich selbst mode­rie­ren zu kön­nen, freund­schaft­lich, ver­ständ­nis­voll und hoff­nungs­voll, das ist ein­zig das, was zählt. Der Staat hat über­haupt nicht das Recht, sich da ein­zu­mi­schen. Er hat nicht die Auf­ga­be, über die Gesell­schaft zu herr­schen, er hat ihr zu die­nen, um sie dar­in zu unter­stüt­zen, zu sich selbst zu kom­men. — In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie ist das der sta­te of the art, alle Eltern wis­sen das.
  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Lehramt,  Lehre,  Lüge,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schule,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    EPG II b (online und Block)

    Ober­se­mi­nar

    EPG II b (Online)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2022: 5 Semi­na­re online | don­ners­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Work­shops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91–110

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    Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

    Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

    Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

    Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

    Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

    Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

    Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

    Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

    Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

    So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

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    Studienleistung

    Eine regel­mä­ßi­ge und akti­ve Teil­nah­me am Dis­kurs ist wesent­lich für das Semi­nar­ge­sche­hen und daher obli­ga­to­risch. — Stu­di­en­lei­stung: Grup­pen­ar­beit, Prä­sen­ta­ti­on und Hausarbeit.