• Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Lehre,  Moderne,  Religion,  Zeitgeist

    EPG II

    Oberseminar: Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2019 | freitags | 14:00-15:30 Uhr | Raum: 30.91-009

    Beginn: 27. April 2019 | Ende: 27. Juli 2019

     

    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tat sächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

     

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  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

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    Bücher von Heinz-Ulrich Nennen

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition –

    werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben → Downloads

     

     

     

     

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nennen: Der Mensch als Maß aller Dinge? Über Protagoras, Prometheus und die Büchse der Pandora (ZeitGeister 1); tredition Hamburg 2018. 232 S. – Paperback 16,99 €, ISBN: 978-3-7439-0090-5. Hardcover 26,99 € ISBN: 978-3-7439-0091-2. Erscheinungsdatum: 11.12.2018.

    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.

    Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.

    Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.

    Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Downloads freigegeben.

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel

    Wir wissen nicht, was Narziß auf der spiegelnden Wasseroberfläche gesehen haben mag. Der Mythos vom Narziß thematisiert weit mehr als den dummdreisten Narzißmus eines Selbstverliebten; wäre dem so, der Narziß wäre kaum der Rede wert. — Tatsächlich geht es um etwas anderes: Das Geheimnis menschlichen Bewußtseins, das sich selbst spiegelt, um sich seiner selbst gewiß zu werden, ist erst der Anfang einer langen Reise ins eigene Innere.

    Die beiden Hauptfiguren in diesem Mythos haben bemerkenswerte Handikaps, so daß sie einander nicht begegnen können. Alles beginnt mit der Nymphe Echo, die von Zeus animiert worden ist, Hera nach Art der Scheherezade mit unendlichen Geschichten von den Amouren des Gemahls abzulenken, insbesondere wenn dieser wieder einmal bei den Nymphen weilt. Die oft rasend eifersüchtige Hera ist bereits im Begriff, ihren Gatten in flagranti zu überführen, aber die geschwätzige Echo hält sie davon ab, indem sie weiter und weiter redet.

    Nachdem Hera das Spiel durchschaut hat, bestraft sie Echo, die nunmehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aussagt. Es wird der Nymphe genommen, was sie mißbraucht hat, um die Göttin hinters Licht zu führen: Hera nimmt ihr die Fähigkeit eigener Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus sprechen, sondern nur wiederholen kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fortan gar nicht mehr sprechen, es bleibt ihr nur noch, die letzten Worte lediglich zu wiederholen, — ein fatales Handikap, insbesondere wenn sie dem Narziß ihre Liebe gestehen will.

    Eines Tages wird Narziß auf der Jagd von seinen Gesellen getrennt. Er gerät in eine sonderbare Landschaft am Helikon, die von der Nymphe Echo beseelt wird. Sobald diese den jungen Mann erblickt, wird sie sogleich in Liebe erglühen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Also folgt sie ihm heimlich, um ihm bei Gelegenheit näher zu kommen…

     

     

  • Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen

    Fernsehinterview 2016

    Denken wie eine freischwebende Feder

    Heinz-Ulrich Nennen ist ein Freidenker. Er vergleicht die Philosophie gerne mit einer freischwebenden Feder: „Ziel des Philosophierens ist es, die Feder stets in der Schwebe zu halten.” Sie darf nicht herunterfallen, aber sie darf sich auch nicht mit dem nächsten Windstoß so einfach verabschieden. Nennen denkt bei diesem Bild insbesondere an die Ur-Philosophie eines Platon: Solange alles in der Schwebe bleibt, ist der philosophische Diskurs, der eigene Geist und damit auch das eigene Leben in Bewegung. Allerdings offenbart die Schwebe-Philosophie – nicht zuletzt in Person eines Friedrich Nietzsche – gewiss auch ein enormes Absturzpotential. Ständig das eigene, im unendlichen Raum schwebende Selbst zu suchen und zu finden, kann auch eine ewige Jagd zwischen Hase und Igel sein. Philosophie kann federleicht beflügeln, aber sie kann auch schwermütig fesseln – bis zum Exzess.

    Gerade in Zeiten einer allgemeinen sozialen Verunsicherung ist der Schwebezustand logischerweise besonders prekär. Menschen brauchen Orientierung. Viele Jahrhunderte lang waren die Kirche und der Glaube an Gott dafür zuständig. Es gibt Götter, sie verkörpern unsere Ideale aber auch unsere Ängste, das steht auch für den Philosophen außer Frage. Nennen: „Sie waren und sind seit Jahrtausenden das, wonach die Menschen streben.“ In Zeiten, in denen es Religion und Kirche schwer haben, übernehmen allerdings zunehmend andere deren Aufgabe. Michael Jackson etwa. Nennen meint Idole, an denen sich die Menschen ausrichten – ohne dass diese Idole noch echte Menschen wären. Denn sie sind lediglich Bilder, ein „Imago”, wie Nennen sagt. Sie bilden das populäre Image als vermenschlichten Lebensgeist ab.

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

  • Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

    Nur wer die Sehnsucht kennt

    Goethe-Lotte-Werther
    Goethe Lotte Werther. Stadt– und Industriemuseum, Wetzlar 2014. — Quelle: 3StepsCrew, Giessen, Germany via Wikimedia, Lizenz: CC-BY-SA-2.0.

    Mit seinem Werther trifft Goethe das epochale Lebensgefühl junger Leute im Spannungsfeld zwischen der neuen Empfindsamkeit und einer überkommenen Moral, die eigentlich alles Persönliche im Keim erstickte. Dagegen gründete sich die seinerzeit als Lesesucht bezeichnete Suche nach den Motiven einer neuen Sehnsucht auf Individualität und auch auf Narzissmus. So entstand der neue Zeitgeist mit einem Hang zum sentimentalischen Charakter, der erst in der Romantik ganz zum Ausdruck kommen und auch seine Schattenseiten entwickeln sollte.

    Das neu heranbrausende Zeitalter der Empfindsamkeit war selbstverständlich höchst umstritten, denn damit wurde ein ganz bedeutender Schub in der Psychogenese ausgelöst. Anstelle der stets so tugendhaft und alternativlos hingestellten Fügsamkeit, sich den Anforderungen eines überkommenen Konventionalismus klaglos zu überantworten, wurde nun der Ausdruck eines neuen Individualismus möglich, der Weltschmerz und Melancholie zum Ausdruck brachte und dabei bis zum Narzissmus führen konnte. — Die Figur des Werther war dabei der Prototyp eines neuen Zeitgenossen, der mit seiner unstillbaren Sehnsucht, seinem überbordendem Narzissmus und mit seiner Melancholie an der herrschenden Moral einfach scheitert.

    Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugendbewegung‹. Weitere Reaktionen in Kunst und Literatur ließen nicht auf sich warten. Massive Veränderungen im Selbstverständnis und im Selbstverhältnis gingen damit einher. Es kam zur Vorbildfunktion, zur Identifikation, zur Nachahmung der Hauptfigur und schließlich zum Werther–Kult mit einer Reihe von Suiziden oder Suizidversuchen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tradition der Fremdbestimmung, sondern eine Demonstration des Anspruchs auf Individualität jenseits der herkömmlichen Moral. Und so wurde dann auch der Selbstmord dieses tragischen Helden nicht mehr als Sünde tabuisiert, sondern als ›Freytod‹ betrachtet, als Ausdruck einer individuellen Freiheit, sich gegen gesellschaftliche Zwänge zu behaupten, indem man sich dem Weiterleben ›entzieht‹.

    Im Wilhelm Meister wird diese träumende Sehnsucht weiter zum Ausdruck gebracht, aber auch eine Naivität, die zustande kommt, wo Empathie ohne Theorie einfach nur auf eine neue Sehnsucht zielt, von der nicht inhaltlich gesagt werden kann, was denn nun die Sehnsucht dieser Sehnsucht sein soll:

    Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit
    seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mi-
    gnon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herz-
    lichsten Ausdrucke sangen:

     

    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich ans Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite.
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!

    (Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre.

    In: Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

    So träumt dann Wilhelm Meister noch in träumender Sehnsucht, kommt aber aus dem Leiden am Leiden nicht heraus. Es bleibt bei der Sehnsucht nach dem, was der Sehnsucht wert ist. Und so geht Goethes Faust weit darüber hinaus: Er greift wirklich nach den Sternen und macht dabei diejenigen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu angetan sind, für sich selbst besser wahrnehmen zu können, was denn gewollt werden sollte.

    Faust ist rastlos, unerfüllt, umtriebig und voller Sehnsucht nach einer Sehnsucht, deren Beweggründe ihm selbst aber unbekannt sind. Er täuscht sich darüber, was und wo denn nun das Land seiner Träume liegt, was das Ziel aller Sehsüchte sein soll. — Im Dialog mit der Sorge, die sehr melancholische Züge trägt, erläutert er die zunehmende Ruhe der Weisheit, die mit der Erfahrenheit einhergeht:

    FAUST.
    Ich bin nur durch die Welt gerannt;
    Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
    Was nicht genügte, ließ ich fahren,
    Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
    Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
    Und abermals gewünscht und so mit Macht
    Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
    Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
    Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
    Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
    Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
    Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
    Er stehe fest und sehe hier sich um;
    Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
    Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
    Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
    Er wandle so den Erdentag entlang;
    Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang,
    Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück,
    Er, unbefriedigt jeden Augenblick!
    SORGE.
    Wen ich einmal mir besitze,

    Dem ist alle Welt nichts nütze;
    Ewiges Düstre steigt herunter,
    Sonne geht nicht auf noch unter,
    Bei vollkommen äußern Sinnen
    Wohnen Finsternisse drinnen,
    Und er weiß von allen Schätzen
    Sich nicht in Besitz zu setzen.
    Glück und Unglück wird zur Grille,
    Er verhungert in der Fülle; …

    (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Hamburger Ausgabe
    Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

    Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfahrung bringen und braucht dafür einen Teufelspakt mit dem genialen Mephisto, der das allumfassende Probieren und Studieren ihm erst möglich macht. — In der Faustwette geht es schließlich um die Lösung der Frage nach der Sehnsucht der Sehnsucht:

    FAUST.
    Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
    Verweile doch! du bist so schön!
    Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
    Dann will ich gern zugrunde gehn!
    Dann mag die Totenglocke schallen,
    Dann bist du deines Dienstes frei,
    Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
    Es sei die Zeit für mich vorbei! (Ebd. S. 57.)

    Derweil wirkt Mephisto stets so, als habe er das alles längst hinter sich und wüßte um das Wesen des Menschen, um Träume und Schäume. Dieser Dämon spricht wie ein Nihilist, der sich längst zum Zyniker gewandelt hat, und in der Tat ist Mephisto bar jeder Sehnsucht, so daß man sich fragen muß, woher er dann noch seine Energie nimmt.

     

    Auszug aus: Heinz-Ulrich Nennen: Empathie. S. 148ff.

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Psychodizee

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    Ernst Klimt: Pan tröstet Psyche. Privatbesitz. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Die Rechtfertigung der Gesellschaft und die Belastung des Einzelnen gehen Hand in Hand. Aber das Skandalon bleibt: Die Welt ist schlecht eingerichtet und ungerecht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöpfergott, sondern einzig und allein von Menschen zu verantworten ist. Die Theodizee ist zur Soziodizee geworden und auf diese folgt nun die Psychodizee. Auf die Anklage Gottes und dem Versuch seiner Rechtfertigung, folgte zunächst die Anklage der Gesellschaft und schlußendlich die Belastung der Psyche. — So kehrt die Hölle im Inneren wieder zurück, wir bereiten sie uns fürderhin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahrhunderten kaum etwas wirklich verändert in den Tiefen unseres Selbst. Und so zeigt sich dann, warum die Angst vor dem Jüngsten Gericht und vor der Hölle bis in die Gegenwart hinein noch immer eine so große Rolle spielt.

    Die alles entscheidenden Fragen werden inzwischen systematisch übergangen, etwa die, wer uns nach dem Tod Gottes noch unsere ›Sünden‹ vergibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht können. Das wiederum bringt zunehmende Belastungen für die Psyche mit sich, worauf nun verstärkt mit dem Einsatz von Psychopharmaka reagiert wird. Es ist aber verheerend, über diese Höhen und Tiefen einfach hinwegzugehen, denn dann wird fast schon wie im Märchen auch noch die eigene Seele verkauft. — Wo die eigenen Gefühle systematisch manipuliert werden, dort fallen weitere Anpassungsleistungen bis hin zur Gewissenlosigkeit immer leichter. Ungehemmt kommt dann die für so viele Sparten obligatorische Skrupellosigkeit zum Zuge, als Aushängeschild einer negativen Identität, deren Ethos darin besteht, keines zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spekulativen Beschreibungen dieser Tendenzen seinerzeit schon die möglichen Varianten der weiteren Entwicklung einzukreisen verstand. Solche Vorhersagen über langfristige gesellschaftliche Entwicklungen sind sehr wohl möglich und haben nichts mit Prophetie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietzsche gestützt, und wir dürften den beiden Denkern daher erscheinen, wie jene letzten Menschen, von denen im Zarathustra die Rede ist. Es ist die schlechteste aller möglichen Entwicklungsvarianten, mit denen nicht nur Nietzsche sondern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir werden also dem ›letzten Menschen‹ tatsächlich immer ähnlicher? Eines ist jedenfalls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epoche von Friedrich Nietzsche, Max Weber und Sigmund Freud möglich gewesen wäre. Manche der Fortschritte dürften daher in Wirklichkeit eher Rückschritte gewesen sein. — Was bei Weber das stählerne Gehäuse der Hörigkeit ausmacht, schildert Nietzsche als Zukunfts–Diagnose im Zarathustra und Freud sieht die Belastungsgrenzen der Psyche voraus.

    Schlußendlich kommt es zum Zynismus und zur Borniertheit dieser ›letzten Menschen‹, die allen Ernstes von sich behaupten, das Glück erfunden zu haben, wohlgemerkt, nicht ge– sondern erfunden, und genauso sieht es dann auch aus, dieses Glück in aller geistigen Bescheidenheit: »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln, heißt es in Zarathustras Vorrede.

    Körper, Psyche, Seele und Geist, alles scheint aufs bequemste zurecht gerückt worden zu sein. Und man möchte glauben, alles sei dasselbe. Da wird dann die Psyche zum störenden Beiwerk, um von Seele und Geist ganz zu schweigen. Wir sind eine rein technisch unverschämt erfolgreiche Spezies von Raubaffen, die inzwischen nur noch das Körperliche gelten lassen. Woher soll da noch der Geist kommen? — Nietzsche rechnet mit dem Zeitgeist der Moderne ab.

    Die ungeheuerliche Prophetie ist längst zum Klassiker geworden, so daß eine jede Zeit, die spät geworden ist, ihr Spiegel– und Zerrbild darin wiederfinden kann:

    Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:

    aber man ehrt die Gesundheit.

    »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

  • Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Empathie

    Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
    Hans Makart: Die fünf Sinne. Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.

    Wer sich mit Äußerlichkeiten zufrieden gibt und glaubt, auf dieser Grundlage bereits umfassende Urteile abgeben zu können, wird nur angepaßtes Denkens zelebrieren. Da ist dieser Hang, sich nie und nimmer persönlich auf die Sachen selbst einzulassen. Es scheint, als würde man bereits ahnen, daß viele Gefahren damit einhergehen, wollte man dem Anspruch auf persönliche Urteile tatsächlich gerecht werden. Aber nichts dergleichen findet wirklich statt: Das Denken wird nicht aufgeschlossen, sondern, noch ehe es überhaupt in Gang gekommen ist, sofort wieder stillgestellt und auf Üblichkeiten fixiert. Eigenes Denken, Aufmerksamkeit, Empathie, — alles was mit hohem, höherem oder höchstem Anspruch daherkommt, ist dann nur noch Attitüde.
    Die Kunst, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, kommt in der Regel nicht einmal im Ansatz zur Anwendung. In den herrschenden Diskursen geht es zumeist nur darum, sich gemeinschaftlich zu erregen, sich an Feindbildern zu orientieren, vor allem an jenen, die ganz gefährlich anders sind. Aber die eigentlichen Gefahren kommen gar nicht von außen, sondern von innen. Es sind Ängste im Spiel, die sich vor den unendlichen Weiten, vor den Unberechenbarkeiten und Ungewißheiten in der eigenen Psyche herrühren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar keine Gewißheiten sind, von denen wir getragen werden. — Wer sich wirklich auf das offene Denken einläßt, wird sich selbst überzeugen, überraschen, ja sogar überholen, wird immer weniger Parteigänger, wird sich stattdessen auf die Ängste im eigenen Inneren einlassen müssen.

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