• Anthropologie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung

    Blick und Gegenblick

    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.
    Giu­sep­pe Cesa­ri: Dia­na und Aktai­on. Muse­um der fei­nen Kün­ste, Buda­pest. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Jean Paul Sart­re hat in Das Sein und das Nichts eine Blick­ana­ly­se vor­ge­führt, die das Erblicken und das Erblickt­wer­den zur Dar­stel­lung bringt und dabei demon­striert, wie der Blick auf den Ande­ren die­sen zum Objekt degra­diert, selbst wenn das womög­lich gar nicht beab­sich­tigt ist. 

    Das ist wie­der einer die­ser kon­sti­tu­ti­ven Brü­che, die mit dem Bewußt­sein in die Welt gekom­men sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir wer­den nicht nur gese­hen, son­dern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt gewor­den ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt wor­den sind.

    Ich befin­de mich in einem öffent­li­chen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stüh­le. Ein Mensch geht an den Stüh­len vor­bei. Ich sehe die­sen Men­schen, ich erfas­se ihn gleich­zei­tig als einen Gegen­stand und als einen Men­schen. Was bedeu­tet das? Was will ich sagen, wenn ich von die­sem Gegen­stand behaup­te, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sart­re: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Ham­burg 1993. S. 457.) 

    Der Blick, der den ande­ren erfaßt, ist weit mehr als nur ein­fa­ches Sehen, denn er nimmt dem Ande­ren die Eigen­heit, sei­ne Sub­jek­ti­vi­tät und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degra­diert den Ande­ren in sei­nem Sub­jekt­sta­tus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begeh­ren­den oder taxie­ren­den Blick geht, denn dann ist es ein abschät­zen­der, viel­leicht auch abschät­zi­ger Blick. Inter­es­san­ter­wei­se geschieht das mit jedem Blick, der unbe­dacht auf Jeman­den fällt, der viel­leicht in die­sem Augen­blick selbst unbe­dacht sein mag. Sobald die­ser Blick aber selbst wie­der­um erblickt und mit einem Gegen­blick erwi­dert wird, sobald das Sehen als Gese­hen­wer­den gewahr wird, als Erblicken des Erblickt­wor­den­seins, geschieht die­se selt­sa­me Über­wäl­ti­gung: Das vor­ma­li­ge Sub­jekt des Blicks wird vom vor­ma­li­gen Objekt nun­mehr selbst zum Objekt eines wei­te­ren Blicks. Nicht nur unse­re Spra­che hat daher Magie, son­dern auch unser Blick hat irgend­ei­ne selt­sa­me magi­sche Macht.

    Kul­tu­ren geben sich viel Mühe, die­se Kraft, die im Blick liegt, zu zäh­men, um die Kräf­te auf ihre Müh­len zu len­ken. Blicke wer­den geführt, gelenkt, gerich­tet und sie wer­den wie­der­um gede­mü­tigt, umer­zo­gen oder auch abge­lenkt. Der Blick, der bezeich­nen­de Aus­druck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Poli­tik, ohne daß über­haupt irgend­et­was gesagt wer­den müß­te. — Kul­tur poli­ti­siert jeden Blick, denn sie legt es dar­auf an, vor­zu­schrei­ben, wer gewis­se Ein­blicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Ver­dacht, daß es neben der exo­te­ri­schen– noch eine eso­te­ri­sche Leh­re geben müs­sen, daß es eben Wahr­heit gibt, die nicht für die All­ge­mein­heit, son­dern die nur für Aus­er­wähl­te bestimmt sind.

    Dabei brin­gen Taschen­spie­ler, Zau­ber­künst­ler, eben ›Illu­sio­ni­sten‹ genau die­se Wahr­heit stets wie­der aufs Neue her­vor. Blicke las­sen sich len­ken, füh­ren, ver­füh­ren, ablen­ken und völ­lig ver­wir­ren. Also wer­den nicht sel­ten frei­mü­tig Ein­blicke gewährt, nicht sel­ten um zu ver­ber­gen und zu ver­schlei­ern, was nicht gese­hen wer­den soll, was ande­re nicht nur nicht begeh­ren, son­dern gar nicht erst zu Gesicht bekom­men sol­len. — Die vie­len und nicht sel­ten mit dra­sti­schen Stra­fen beleg­ten Blick­ver­bo­te, den Gott­kö­ni­gen und Prie­ster­göt­tern, ins­be­son­de­re aber den Göt­tern gegen­über, zeu­gen davon, daß man immer schon ver­sucht war, die unge­bän­dig­te Magie des frei­en, unge­zwun­ge­nen, unge­zü­gel­ten und viel­leicht auch begehr­li­chen Blicks zu bezähmen.

    Wenn jeder Blick mit die­ser selt­sa­men magi­schen Kraft aus­ge­stat­tet ist, das Erblick­te zum Objekt zu degra­die­ren, dann wären in der Tat auch Kai­ser, Hei­li­ge und sogar Göt­ter nicht davor gefeit. Also steht dar­auf der Tod, wie bei der Jagd­göt­tin Dia­na, die von Aktai­on rein zufäl­lig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nym­phen beim Baden erfreut. — Die Göt­tin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jun­gen Mann ihre Blö­ße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so man­che ande­re unter den ein­schlä­gi­gen Göt­tin­nen eiser­ne Jung­frau. Das dürf­te dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, daß die Selb­stän­dig­keit einer Frau zu die­sen Zei­ten nur dann über­haupt vor­stell­bar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

    Die Göt­tin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will par­tout kei­ne Liebes–Erfahrungen mit Män­nern. Der begehr­li­che Blick des Aktai­on macht sie jedoch in einem ein­zi­gen Augen­blick zum Objekt sei­ner Begier­de. Aber gera­de Dia­na steht dafür ein, Jung­frau zu sein und es auch zu blei­ben. Über­rascht und über­rum­pelt ver­sucht sie sich dem begehr­li­chen Blick zu ent­zie­hen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voy­eur mit Was­ser, wor­auf die­sem augen­blick­lich ein Hirsch­ge­weih wächst, das Sym­bol der Jagdgöttin.

    Dem Jäger wer­den mehr als nur alle­go­ri­sche Hör­ner auf­ge­setzt, sie wach­sen ihm wirk­lich, er wird zum Beu­te­tier sei­ner eige­nen Jagd­lust. Ganz im Sin­ne der Dia­lek­tik von Blick und Gegen­blick wird der Jäger selbst zum Gejag­ten. Die eige­nen Jagd­hun­de spü­ren ihn auf, er will sich ihnen zu erken­nen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hir­schen und in Erman­ge­lung des Sprach­ver­mö­gens schwer­lich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stel­le zer­fleischt. Immer­hin han­delt es sich hier um eine Theo­pha­nie. Da muß die Fra­ge auf­kom­men, nicht nur wie und war­um es über­haupt dazu kommt, son­dern auch, was eigent­lich mit einem Men­schen geschieht, der eine sol­che schick­sal­haf­te Begeg­nung hat. Wenn wir uns ober­fläch­lich mit dem Mär­chen­haf­ten die­ser Situa­ti­on abfin­den las­sen, dann ist es ein­fach nur eine unglück­li­che Lie­be. Der jun­ge Held ver­liebt sich eben augen­blick­lich in die gött­li­che Schö­ne, aber er ver­geht bereits an und in sei­ner Lie­be. Oder: Die hol­de Schö­ne ist so prü­de, so eitel, so panisch auf ihre Unbe­rührt­heit bedacht, so daß sie ein­fach alle, die ihr Avan­cen machen, die womög­lich auch noch anzüg­li­che Blicke wer­fen, augen­blick­lich töten muß. — Das alles ist viel zu kind­lich gedacht, wir wür- den damit ledig­lich ein wenig auf dem Kamm der mär­chen­haf­te Schaum­kro­ne sol­cher Mythen surfen.

    Der vor allem doch auf­grund sei­ner erstaun­lich moder­nen Spe­ku­la­tio­nen über Gott, den Kos­mos und über den Men­schen, von der Kir­che als Ket­zer ver­brann­te Giord­a­no Bru­no, gibt nun die­ser Begeg­nung eine sehr viel tie­fe­re Bedeu­tung. Bei ihm wird alles zur Alle­go­rie: Der Jäger, das ist die Ver­nunft, die Jagd­hun­de, das ist der Ver­stand, die Göt­tin, das ist, was wir nur zu gern erken­nen wür­den aber nicht wirk­lich ertra­gen könnten.

    Aktai­on steht hier für den Intel­lekt, auf der Jagd nach gött­li­cher Weis­heit im Augen­blick des Erfas­sens der gött­li­chen Schön­heit. (Giord­a­no Bru­no: Von den heroi­schen Lei­den­schaf­ten. Ham­burg 1989. S. 64.)

    So kommt es dann zu die­ser erstaun­li­chen Wen­dung, zu einer Alle­go­re­se, die sehr viel mehr zu den­ken gibt, als die Ober­fläch­lich­kei­ten der mär­chen­haf­ten Züge die­ser Sto­ry, wenn Bru­no ver­lau­ten läßt: Er sah der gro­ße Jäger, er begriff, soweit das mög­lich ist, und ward zur Beu­te: er ging, um zu jagen und wur­de dann selbst die Beu­te. (Ebd. S. 65.)

    Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in sei­ner ursprüng­li­chen Vor­stel­lung etwas Besitz­ergrei­fen­des hat, daß aber, wer den Blick unbe­dacht schwei­fen läßt, durch­aus auch Gefahr lau­fen kann, selbst ergrif­fen zu wer­den. Wir geben uns her­me­neu­tisch inso­fern viel zu schnell zufrie­den, wenn etwa ver­laut­bart wird, irgend­wer sei am Lie­bes­kum­mer zu Grun­de gegan­gen, wir soll­ten uns viel­mehr genau­er vor­stel­len, wodurch ein sol­cher Lie­bes­tod ver­ur­sacht wird.

    Das Pro­blem ist, daß sich hier ein Mensch unbe­dach­ter­wei­se an einer Göt­tin ver­sucht, was bedeu­tet, daß ein Intel­lekt sich mal eben mit dem Gött­li­chen mißt. Wir kön­nen aber nicht erken­nen, wie die Göt­ter, wir müs­sen alles über einen Intel­lekt, über die Müh­len einer dis­kur­si­ven Ver­nunft, über unser Sprach- ver­mö­gen und qua Empa­thie müs­sen wir dann auch noch alles über unse­ren Kör­per als Medi­um erst in Erfah­rung brin­gen, was ein Gott eigent­lich von einem Moment zum ande­ren bereits erfaßt haben dürfte.

    Wir müs­sen uns bei der Empa­thie, beim Ver­ste­hen und eben­so auch beim Ver­lie­ben erst in den her­me­neu­ti­schen Zir­kel hin­ein­be­ge­ben und uns anver­wan­deln, sobald wir uns für Jeman­den ernst­haft inter­es­sie­ren. Blick und Gegen­blick haben ihre urei­gen­tüm­li­che Dia­lek­tik, sie heben sich wech­sel­sei­tig auf. Die Jagd mag ja eine Alle­go­rie auch für die Lie­be sein, aber sie ist eben nicht wech­sel­sei­tig, wenn schluß­end­lich dann doch irgend­wer der Jäger und irgend­wer ande­res den Gejag­ten abge­ben muß. — Hier ist es kein mensch­li­ches Gegen­über, son­dern eine Gott­heit, mit der es die­ser Jäger auf­zu­neh­men ver­sucht, es ist Dia­na, die Göt­tin der Jagd.

    In der Tat hat sie sich über­ra­schen las­sen, denn so, wie sie sich sehen las­sen muß, so, wie sie Aktai­on zu Gesicht bekommt, so woll­te sie sich nie einem Mann zei­gen und ›erge­ben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in die­ser Situa­ti­on eigent­lich zur Jagd–Beute gewor­den, aber sie wird sich ganz gewiß nicht erge­ben. — Es fal­len kei­ne Wor­te, was zwi­schen Göt­tern und Men­schen ohne­hin pro­ble­ma­tisch zu sein scheint. Dia­na bespritzt Aktai­on mit Was­ser und sie wirft einen empör­ten, stra­fen­den Blick auf den Ein­dring­ling, der die Idyl­le beim Baden so nach­hal­tig stört. Das jeden­falls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stel­le verwandelt.

    Es gilt zu ver­ste­hen, was da in die­sem Moment zwi­schen Aktai­on und Dia­na eigent­lich vor sich geht. Inner­halb von Sekun­den muß sich der Jäger unsterb­lich in die Jagd­göt­tin ver­liebt haben. Es genügt ein ein­zi­ger Blick, so daß er wie an einer offe­nen Wun­de förm­lich ver­blu­tet, weil ihm alle Ener­gie ein­fach ver­geht, bis eben das Auge erlo­schen ist, wobei hier die eige­nen Jagd­hun­de dem Dra­ma ein schnel­les Ende bereiten.

    Der Jäger wird durch sei­nen begehr­li­chen Blick selbst zur Beu­te. Er wird zum Opfer sei­nes eige­nen Wil­lens, sei­ner viel zu gro­ßen Begier­de nach die­sem ver­meint­li­chen Objekt sei­ner Sehn­süch­te. Ange­sichts die­ser Göt­tin ver­liert er als Sub­jekt augen­blick­lich sei­ne Posi­ti­on und schon beginnt er damit, sich anzu­ver­wan­deln. Aber er schießt weit über das Ziel hin­aus, ver­liert sich selbst und ver­geht in dem, was er sieht. Er wird nicht wie­der auf sich selbst zurück­kom­men kön­nen, weil er sich mit die­sem ein­zi­gen Blick selbst aus den Augen ver­liert. Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giord­a­no Bru­no vor­ge­führt wer­den, lie­fern tie­fe­re Ein­sich­ten in die alle­go­ri­schen Abgrün­de und sie bie­ten dann auch einen inter­es­san­te­ren Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis einer sol­chen Sze­ne­rie. Die Göt­tin mag ihn erbost mit Was­ser bespritzt haben, wor­auf ihm dann Hör­ner wach­sen, das Geweih eines Hir­schen. Aber die­se Anver­wand­lung ist nur eine Ver­zau­be­rung in dem Sin­ne, als daß der Jäger selbst zum Gejag­ten, zum Objekt einer Ver­zau­be­rung wird. So zeigt sich, wie ein­neh­mend mit­un­ter gera­de empa­thi­sche Impres­sio­nen sein können.

    Zu Ehren der Jagd­göt­tin wird der Jäger selbst zu einem Hir­schen. Das ist bei­lei­be kei­ne Eben­bür­tig­keit mehr, statt­des­sen wird ein Opfer dar­aus, ein Selbst­op­fer. Der Jäger wird selbst zur schö­nen Beu­te, weil eben der mensch­li­che Intel­lekt sich die Din­ge auf eige­ne Wei­se aneig­nen muß und weil er dabei über­la­stet wer­den kann und dann ver­ge­hen, ja förm­lich ver­glü­hen muß:

    Du weißt ja, daß der Intel­lekt sich die Din­ge auf dem Wege des Intel­lekts aneig­net, d. h. gemäß sei­ner eige­nen Wei­se. Und der Wil­le ver­folgt die Din­ge deren Natur nach, d. h. gemäß der Art, wie sie in sich selbst sind. So wur­de Aktai­on durch jene Gedan­ken, jene Hun­de, die außer­halb von ihm das Gute, die Weis­heit, die Schön- heit, das wil­de Wal­des­tier such­ten, und durch die Art, wie er die­ser schließ­lich ansich­tig wur­de, über soviel Schön­heit außer sich gera­ten, zur Beu­te. Er sah sich in das ver­wan­delt, was er such­te, und er merk­te, daß er sei­nen Hun­den, sei­nen Gedan­ken selbst zur ersehn­ten Beu­te wur­de. Weil er näm­lich die Gott­heit in sich zusam­men­ge­zo­gen hat­te, war es nicht mehr not­wen­dig, sie außer­halb sei­ner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

    Aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. (Kapi­tel: Blick und Gegenblick)

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Psychodizee

    Ernst-Klimt-Pan-troestet-Psyche-1892
    Ernst Klimt: Pan trö­stet Psy­che. Pri­vat­be­sitz. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Die Recht­fer­ti­gung der Gesell­schaft und die Bela­stung des Ein­zel­nen gehen Hand in Hand. Aber das Skan­da­lon bleibt: Die Welt ist schlecht ein­ge­rich­tet und unge­recht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöp­fer­gott, son­dern ein­zig und allein von Men­schen zu ver­ant­wor­ten ist. Die Theo­di­zee ist zur Sozio­di­zee gewor­den und auf die­se folgt nun die Psy­cho­di­zee. Auf die Ankla­ge Got­tes und dem Ver­such sei­ner Recht­fer­ti­gung, folg­te zunächst die Ankla­ge der Gesell­schaft und schluß­end­lich die Bela­stung der Psy­che. — So kehrt die Höl­le im Inne­ren wie­der zurück, wir berei­ten sie uns für­der­hin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahr­hun­der­ten kaum etwas wirk­lich ver­än­dert in den Tie­fen unse­res Selbst. Und so zeigt sich dann, war­um die Angst vor dem Jüng­sten Gericht und vor der Höl­le bis in die Gegen­wart hin­ein noch immer eine so gro­ße Rol­le spielt.

    Die alles ent­schei­den­den Fra­gen wer­den inzwi­schen syste­ma­tisch über­gan­gen, etwa die, wer uns nach dem Tod Got­tes noch unse­re ›Sün­den‹ ver­gibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht kön­nen. Das wie­der­um bringt zuneh­men­de Bela­stun­gen für die Psy­che mit sich, wor­auf nun ver­stärkt mit dem Ein­satz von Psy­cho­phar­ma­ka reagiert wird. Es ist aber ver­hee­rend, über die­se Höhen und Tie­fen ein­fach hin­weg­zu­ge­hen, denn dann wird fast schon wie im Mär­chen auch noch die eige­ne See­le ver­kauft. — Wo die eige­nen Gefüh­le syste­ma­tisch mani­pu­liert wer­den, dort fal­len wei­te­re Anpas­sungs­lei­stun­gen bis hin zur Gewis­sen­lo­sig­keit immer leich­ter. Unge­hemmt kommt dann die für so vie­le Spar­ten obli­ga­to­ri­sche Skru­pel­lo­sig­keit zum Zuge, als Aus­hän­ge­schild einer nega­ti­ven Iden­ti­tät, deren Ethos dar­in besteht, kei­nes zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spe­ku­la­ti­ven Beschrei­bun­gen die­ser Ten­den­zen sei­ner­zeit schon die mög­li­chen Vari­an­ten der wei­te­ren Ent­wick­lung ein­zu­krei­sen ver­stand. Sol­che Vor­her­sa­gen über lang­fri­sti­ge gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen sind sehr wohl mög­lich und haben nichts mit Pro­phe­tie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietz­sche gestützt, und wir dürf­ten den bei­den Den­kern daher erschei­nen, wie jene letz­ten Men­schen, von denen im Zara­thu­stra die Rede ist. Es ist die schlech­te­ste aller mög­li­chen Ent­wick­lungs­va­ri­an­ten, mit denen nicht nur Nietz­sche son­dern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir wer­den also dem ›letz­ten Men­schen‹ tat­säch­lich immer ähn­li­cher? Eines ist jeden­falls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epo­che von Fried­rich Nietz­sche, Max Weber und Sig­mund Freud mög­lich gewe­sen wäre. Man­che der Fort­schrit­te dürf­ten daher in Wirk­lich­keit eher Rück­schrit­te gewe­sen sein. — Was bei Weber das stäh­ler­ne Gehäu­se der Hörig­keit aus­macht, schil­dert Nietz­sche als Zukunfts–Diagnose im Zara­thu­stra und Freud sieht die Bela­stungs­gren­zen der Psy­che voraus.

    Schluß­end­lich kommt es zum Zynis­mus und zur Bor­niert­heit die­ser ›letz­ten Men­schen‹, die allen Ern­stes von sich behaup­ten, das Glück erfun­den zu haben, wohl­ge­merkt, nicht ge– son­dern erfun­den, und genau­so sieht es dann auch aus, die­ses Glück in aller gei­sti­gen Beschei­den­heit: »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blin­zeln, heißt es in Zara­thu­stras Vorrede.

    Kör­per, Psy­che, See­le und Geist, alles scheint aufs bequem­ste zurecht gerückt wor­den zu sein. Und man möch­te glau­ben, alles sei das­sel­be. Da wird dann die Psy­che zum stö­ren­den Bei­werk, um von See­le und Geist ganz zu schwei­gen. Wir sind eine rein tech­nisch unver­schämt erfolg­rei­che Spe­zi­es von Raub­af­fen, die inzwi­schen nur noch das Kör­per­li­che gel­ten las­sen. Woher soll da noch der Geist kom­men? — Nietz­sche rech­net mit dem Zeit­geist der Moder­ne ab.

    Die unge­heu­er­li­che Pro­phe­tie ist längst zum Klas­si­ker gewor­den, so daß eine jede Zeit, die spät gewor­den ist, ihr Spie­gel– und Zerr­bild dar­in wie­der­fin­den kann:

    Man hat sein Lüst­chen für den Tag und sein Lüst­chen für die Nacht: 

    aber man ehrt die Gesundheit. 

    »Wir haben das Glück erfun­den« — sagen die letz­ten Men­schen und blinzeln.

  • Anthropologie,  Melancholie,  Moderne,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zivilisation

    »Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.
    Wil­helm Otto Peters: Nero im Cir­cus. Holz­stich, um 1900, kolo­riert, nach dem Gemäl­de von Wil­helm Otto Peters. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Com­mons. — Der Dau­men als Zei­chen des Mit­ge­fühls: Mit dem nach unten zei­gen­den Dau­men signa­li­siert Nero den Gla­dia­to­ren in der Are­na »kein Mit­ge­fühl« zu zei­gen — ganz im Gegen­satz zum nach oben gestreck­ten Dau­men, der »Mit­ge­fühl« signalisiert.

    Bewußt­sein kommt nur zustan­de, wenn das, was bewußt wer­den soll, auf irgend­ei­ne Wei­se auch reprä­sen­tiert wer­den kann. Spie­gel­zel­len machen der­weil die eige­ne Selbst­wahr­neh­mung zum Medi­um, der Ande­re wird teil­wei­se gespie­gelt in der Wahr­neh­mung des eige­nen Kör­pers. Es scheint dann so, als wür­de der Beob­ach­ter zu dem, was eigent­lich nur beob­ach­tet wird. Dabei arbei­tet das System der Spie­gel­neu­ro­nen ganz offen­bar mit Pro­jek­tio­nen, die vom moto­ri­schen System aus­ge­hen, um dann über das Ner­ven­sy­stem gewis­se Wahr­neh­mun­gen zu simulieren.
    Emo­tio­nen wer­den dabei auf Bewe­gungs­mu­ster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Map­ping‹, was eben bedeu­tet, daß etwas auf etwas ande­res gelegt wird. So wird das Radio­si­gnal des Sen­ders auf eine Radio­wel­le gleich­sam ›oben‹ zusätz­lich noch ›drauf‹ gege­ben. Rein tech­nisch wer­den sol­che Ver­fah­ren als Modu­la­ti­on beschrie­ben, und in die­sem Sin­ne läßt sich nach­voll­zie­hen, wie auch die Spie­gel­zel­len die eige­ne Wahr­neh­mung so modu­lie­ren, bis sie sich öff­net für die Wahr­neh­mung Anderer.
    Es ist aller­dings bemer­kens­wert, daß wir oft nur etwas sehen müs­sen, um es zu ver­ste­hen, zu füh­len und zu mit­emp­fin­den. So wird dann die Empa­thie zur Erfah­rung am eige­nen Leib und wir kön­nen uns vor­stel­len, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betrof­fen sind. Das alles ist für die Ima­gi­na­ti­on, für das Erzäh­len und nicht zuletzt auch für das Ler­nen von unge­heu­rer Bedeu­tung, denn wir kön­nen auf die­se Wei­se zu Erfah­run­gen kom­men, ohne sie selbst je erle­ben zu müssen.
    Was in der Hirn­for­schung als Map­ping beschrie­ben wird, dem ent­spricht in der Kul­tur­wis­sen­schaft die Meta­pher , denn auch hier wird ein zumeist ganz kon­kre­ter Sinn ›über­tra­gen‹ und etwas ande­rem bei­gelegt. Durch die Wahl und den Ein­satz einer ange­mes­se­nen Meta­pho­rik wird das Ver­ste­hen und vor allem die Ver­stän­di­gung oft über­haupt erst ermög­licht. Und hier geht es ganz offen­bar dar­um, daß ein ›höhe­res‹ Bewußt­sein die Rou­ti­nen eines ande­ren Bewußt­seins jeweils mit ganz bestimm­ten Sinn­mu­stern belegt. So wer­den dann Bewe­gungs­mu­ster mit Emo­tio­nen ver­knüpft, die sich dann ihrer­seits wie­der­um als Bewegt­heit iden­ti­fi­zie­ren las­sen. Dann kön­nen wir uns nicht mehr nur vor­stel­len, wie wir uns bewe­gen. Wir kön­nen dar­über hin­aus auch Vor­stel­lun­gen dar­über haben, ›bewegt‹ zu wer­den — eben durch Empa­thie, durch Emotionen.
    Die Fra­ge, was eigent­lich Bewußt­sein ist und wie es zustan­de gebracht wird, bekommt auf die­se Wei­se ihren ein­schlä­gi­gen Modell­cha­rak­ter. Bewußt­sein ist immer Bewußt­sein von etwas, daher muß erwar­tet wer­den, daß die­ses Etwas dann auch in Erschei­nung tritt und wahr–genommen wer­den kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vie­les ist uns ver­bor­gen und dann ver­sa­gen auch noch die Wor­te, weil sie immer sofort alles fest­le­gen. Kein Wun­der also, daß das Reden gera­de dann beson­ders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst hei­kel erscheint, und wenn wir befürch­ten müs­sen, gar nicht ver­stan­den zu wer­den oder uns vor­schnell und falsch festzulegen.
    Oft haben wir uns selbst und die Situa­ti­on noch gar nicht ver­stan­den. Dann feh­len die Wor­te, so daß es unmög­lich erscheint, über­haupt irgend­et­was zu sagen, und trotz­dem sol­len wir uns erklä­ren, beken­nen und fest­le­gen. Aber die unter­schied­lich­sten Moti­ve, Emo­tio­nen und Wert­vor­stel­lun­gen lie­gen im Hader mit­ein­an­der wie die glück­li­chen Göt­ter Athens. In ihrer Gesamt­heit ver­kör­pern sie die Eigen­tüm­lich­kei­ten der ver­schie­den­sten Per­spek­ti­ven und ste­hen dafür mit ihrem Cha­rak­ter ein.
    Die Viel­falt die­ser Mög­lich­kei­ten, ein– und die­sel­be Sache auch ganz anders sehen zu kön­nen, macht gelin­gen­des Ver­ste­hen so schwie­rig. Daher ist es nicht ein­fach, sich selbst zu the­ma­ti­sie­ren und die Ver­hält­nis­se syste­ma­tisch zu erör­tern. Das kann nur gelin­gen, wenn die unter­schied­lich­sten Momen­te zur Spra­che gebracht wer­den, um sich über alle mög­li­chen Moti­ve und Emo­tio­nen zu ver­stän­di­gen. — Kul­tur und Zeit­geist spie­len dabei eine ganz gro­ße Rol­le, denn immer­zu herr­schen bestimm­te Vor­bil­der, Vor­stel­lun­gen oder Muster­gül­tig­kei­ten vor und nicht sel­ten sind Erwar­tun­gen oder auch Erwar­tungs­er­war­tun­gen wie bei­spiels­wei­se Idea­le und Wert­vor­stel­lun­gen im Spiel.
    Erst was zur Spra­che gebracht, mit­ge­teilt und auch ver­stan­den wur­de, ist wirk­lich in der Welt. Alles ande­re ist und bleibt sche­men­haft im Nebel aller Mög­lich­kei­ten zurück. Solan­ge die rich­ti­gen Wor­te noch feh­len, besteht noch die Hoff­nung, daß sie gefun­den und zur Spra­che gebracht wer­den. Wo aber bereits die fal­schen Wor­te aus­ge­spro­chen wor­den sind, dort beherr­schen Irr­tü­mer die Sze­ne­rie wie ein böser Fluch, was oft nicht ein­mal bemerkt wird. — Dabei ist es gera­de­zu skan­da­lös, was Wor­te den Phä­no­me­nen antun kön­nen: Sie spie­ßen die Sachen wie Schmet­ter­lin­ge auf, kle­ben ihr Eti­kett dar­un­ter und behaup­ten, man habe damit wirk­lich alles im Griff. Tat­säch­lich ist jedoch das Leben ent­wi­chen, die See­le ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

    Ich fürch­te mich so vor der Men­schen Wort.
    Sie spre­chen alles so deut­lich aus:
    Und die­ses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

    In die­sem Gedicht aus dem Jah­re 1897 beschwört Rai­ner Maria Ril­ke eine Angst vor dem defi­ni­to­ri­schen Gebrauch der Wör­ter, wie ihn nur Poe­ten und Phä­no­me­no­lo­gen tei­len kön­nen. — Wor­te machen die Din­ge ver­füg­bar und ver­scheu­chen den Geist, der uns eigent­lich fas­zi­niert. Man glaubt, sich erklä­ren, sich ver­ständ­lich machen zu müs­sen und erreicht nicht sel­ten das Gegen­teil von alle­dem, so daß sich Ver­ste­hen in Ver­feh­len ver­wan­delt. — Daher soll­te die Empa­thie im Hin­ter­grund ste­hen, um zu erfüh­len, ob die Wor­te tat­säch­lich auch tun, was sie sol­len oder ob sie nur eigen­mäch­tig über alles her­fal­len, was ihnen nicht paßt.
    Wäh­rend die erste Stro­phe noch über die Angst spricht, wird in der näch­sten die Ankla­ge eröff­net um dann in der drit­ten den Apell vor­zu­brin­gen, die Welt der Din­ge gegen die Ansprü­che des Benen­nens und Aus­spre­chens in Schutz zu neh­men. — Ohne­hin ist die Welt selt­sam falsch moti­viert durch Wahr­neh­mungs­mu­ster, die mit der Moder­ne auf­ge­kom­men sind und die seit­her den Zeit­geist und damit das Sehen, Füh­len und Den­ken auf selt­sa­me Wei­se ver­fäl­schen, so daß das das Leben­di­ge stumm und das Star­re leben­dig erscheint.

    Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wis­sen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Gar­ten und Gut grenzt gra­de an Gott.

    Ich will immer war­nen und weh­ren: Bleibt fern.
    Die Din­ge sin­gen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Din­ge um.

  • Anthropologie,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele

    Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.
    Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Pyg­ma­li­on, ein Künst­ler in Zypern, ist maß­los ent­täuscht von den Frau­en und lebt nur noch für sei­ne Bild­haue­rei. Unbe­wußt erfüllt er sich sei­nen Traum durch eine von ihm erschaf­fe­ne Elfen­bein­sta­tue, die wie eine leben­di­ge Frau aus­sieht und dabei sei­nem Ide­al ent­spricht. Das Abbild behan­delt er mehr und mehr wie einen ech­ten Men­schen und schließ­lich ver­liebt er sich in sei­ne Kunstfigur.

    Zypern ist die Hei­mat von Venus, daher fleht der Künst­ler die Göt­tin der Lie­be an ihrem Fest­tag inbrün­stig an, wenn schon sei­ne Sta­tue nicht zum Men­schen wer­den kön­ne, so sei ihm wenig­stens ver­gönnt, daß sei­ne künf­ti­ge Frau so sei wie die­se. — Als er dann aber von den Fei­er­lich­kei­ten für die Göt­tin wie­der nach Hau­se zurück­kehrt und die Elfen­bein­sta­tue zu lieb­ko­sen beginnt, erwacht die­se lang­sam zum Leben.

    ***

    Es ist aus­schließ­lich das Pri­vi­leg der Göt­ter, dem was leben soll, die See­le ein­zu­hau­chen. Im Sin­ne der magi­schen Welt­auf­fas­sung kön­nen See­len aller­dings beein­flußt wer­den. Gleich­wohl zielt der hin­ter alle­dem ver­bor­ge­ne Wunsch­traum zielt genau dar­auf ab, die­se Dif­fe­renz­zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit immer klei­ner wer­den zu las­sen. — Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ulti­ma­ti­ves Künst­ler­glück, wenn die Wer­ke tat­säch­lich täu­schend echt wir­ken oder viel­leicht sogar zum Leben erwachen.

    Dar­auf zie­len letzt­lich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Phi­lo­so­phie: Es gilt, das abso­lu­te Wort, das ulti­ma­ti­ve Werk oder die voll­kom­me­ne Ein­sicht zu fin­den, zu schaf­fen oder zu rea­li­sie­ren. Die­ser nicht sel­ten mit Hybris ein­her­ge­hen­de Wil­le zum Werk legt es tat­säch­lich dar­auf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewe­gen‹ und tat­säch­lich zu leben begin­nen. Auch der Traum des Phä­no­me­no­lo­gen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu spre­chen begin­nen, so daß wir nicht mehr mit Unter­stel­lun­gen, Annah­men und Ver­mu­tun­gen arbei­ten müs­sen, son­dern ein­fach nur zuhö­ren, zuse­hen und mit­er­le­ben können.

    ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.
    Jean–Léon Gérô­me: Pyg­ma­li­on et Gala­tée. Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Hybris, das bedeu­tet Grenz­über­schrei­tung und zwar in einem über­aus magi­schen Sin­ne, etwa wenn eine eigent­lich unbe­seel­te Pup­pe wie Pinoc­chio, eine Skulp­tur wie die Gala­tée des Pyg­ma­li­on oder wenn ein Kunst­werk wie Das Bild­nis des Dori­an Gray zum Leben erwacht. Auch das ent­ge­gen­ge­setz­te Ver­fah­ren ist hoch pro­ble­ma­tisch, etwa wenn die See­le in ihrer emo­tio­na­len Beweg­bar­keit, in der sie eben ›gerührt‹ wer­den kann, ein­fach aus­zu­schal­ten, wenn sie durch einen kal­ten Stein ersetzt wird, wie in Das kal­te Herz von Wil­helm Hauff — Mit alle­dem gehen größ­te Befürch­tun­gen ein­her, die kos­mi­sche Ord­nung könn­te fun­da­men­tal gestört und viel­leicht sogar zer­stört wer­den. Es sind womög­lich bald schon kei­ne Ein­zel­fäl­le mehr, wenn so etwas auch nur ein ein­zi­ges Mal unge­straft mög­lich gewor­den ist.

    Die Fas­zi­na­ti­on bei der Vor­stel­lung über die Macht magi­scher Wor­te ver­kehrt sich in gera­de Gegen­teil ange­sichts der Hor­ror­vor­stel­lun­gen, die sich sogleich ankün­di­gen, wenn auch nur einen Augen­blick dar­an gedacht wird, so etwas könn­te tat­säch­lich und wirk­lich mög­lich sein. Nicht nur die Gren­ze zwi­schen Wunsch und Wirk­lich­keit wäre dann nicht mehr von Bedeu­tung. Damit aber wür­den fun­da­men­ta­le Ori­en­tie­rungs­wei­sen unmög­lich gemacht, so daß sich zeigt, wor­um es bei sol­chen Hor­ror­vor­stel­lun­gen wirk­lich geht: Wo Arte­fak­te leben­dig wer­den, wo Sachen selbst zu spre­chen begin­nen, wo fun­da­men­ta­le Gren­zen nicht mehr gel­ten, dort wür­de die Ord­nung der Din­ge bis in die Fun­da­men­te erschüttert.

    Es geht dabei aller­dings weit weni­ger um die Natur der Sachen selbst, als viel­mehr um den Bestand der Kul­tur. Alle rele­van­ten Ori­en­tie­rungs­mu­ster set­zen auf sol­che Unter­schei­dun­gen, daher kann es gar nicht denk­bar sein, daß die Gren­zen zwi­schen dem Leben­den und dem Toten, dem Unbe­seel­ten und dem Beseel­ten oder zwi­schen dem Künst­li­chen und dem Natür­li­chen nach Belie­ben über­schrit­ten wer­den. Das ist dann auch der Grund für das Grau­en, den Abscheu aber auch die Fas­zi­na­ti­on und das heim­li­che Inter­es­se an der Magie als schwar­ze Wis­sen­schaft oder auch ein­fach nur als Zauberkunst.

    Aus­zug aus: https://​www​.nen​nen​-online​.de/​e​m​p​a​t​h​ie/

  • Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Empathie

    Die fünf Sinne, Gemälde von Hans Makart aus den Jahren 1872–1879: Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken. Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
    Hans Makart: Die fünf Sin­ne. Hören, Sehen, Rie­chen, Schmecken. Öster­rei­chi­sche Gale­rie Bel­ve­de­re, Wien.

    Wer sich mit Äußer­lich­kei­ten zufrie­den gibt und glaubt, auf die­ser Grund­la­ge bereits umfas­sen­de Urtei­le abge­ben zu kön­nen, wird nur ange­paß­tes Den­kens zele­brie­ren. Da ist die­ser Hang, sich nie und nim­mer per­sön­lich auf die Sachen selbst ein­zu­las­sen. Es scheint, als wür­de man bereits ahnen, daß vie­le Gefah­ren damit ein­her­ge­hen, woll­te man dem Anspruch auf per­sön­li­che Urtei­le tat­säch­lich gerecht wer­den. Aber nichts der­glei­chen fin­det wirk­lich statt: Das Den­ken wird nicht auf­ge­schlos­sen, son­dern, noch ehe es über­haupt in Gang gekom­men ist, sofort wie­der still­ge­stellt und auf Üblich­kei­ten fixiert. Eige­nes Den­ken, Auf­merk­sam­keit, Empa­thie, — alles was mit hohem, höhe­rem oder höch­stem Anspruch daher­kommt, ist dann nur noch Attitüde.
    Die Kunst, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen, kommt in der Regel nicht ein­mal im Ansatz zur Anwen­dung. In den herr­schen­den Dis­kur­sen geht es zumeist nur dar­um, sich gemein­schaft­lich zu erre­gen, sich an Feind­bil­dern zu ori­en­tie­ren, vor allem an jenen, die ganz gefähr­lich anders sind. Aber die eigent­li­chen Gefah­ren kom­men gar nicht von außen, son­dern von innen. Es sind Äng­ste im Spiel, die sich vor den unend­li­chen Wei­ten, vor den Unbe­re­chen­bar­kei­ten und Unge­wiß­hei­ten in der eige­nen Psy­che her­rüh­ren. Der Ungrund wird sehr wohl gespürt und geahnt, daß es gar kei­ne Gewiß­hei­ten sind, von denen wir getra­gen wer­den. — Wer sich wirk­lich auf das offe­ne Den­ken ein­läßt, wird sich selbst über­zeu­gen, über­ra­schen, ja sogar über­ho­len, wird immer weni­ger Par­tei­gän­ger, wird sich statt­des­sen auf die Äng­ste im eige­nen Inne­ren ein­las­sen müssen.

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  • Moderne

    Die Masken der Götter

    Lawrence Alma--Tadema: Sappho and Alcaeus. - Quelle: Public domain via Wikimedia.
    Law­rence Alma–Tadema: Sap­pho and Alcae­us. – Quel­le: Public domain via Wikimedia.

    Göt­ter als Repräsentanten

    Es scheint, als hät­ten sich in der Ent­wick­lungs­ge­schich­te von Theo­ge­ne­se und Psy­cho­ge­ne­se zunächst alle erdenk­li­chen Natur­gei­ster zusam­men­tun müs­sen, um Göt­ter ent­ste­hen zu lassen. 

    Jeder Gott reprä­sen­tiert vie­le Zustän­dig­kei­ten, die allein anhand der Bei­na­men man­cher Göt­ter eine erstaun­li­che Ämter­häu­fung erah­nen lassen. 

    Die Göt­ter, wie wir sie aus der Mytho­lo­gie ken­nen, sind kom­ple­xe Per­sön­lich­kei­ten mit einer Viel­falt an Iden­ti­tä­ten, in einem Zusam­men­spiel unter­schied­lich­ster Ide­al­vor­stel­lun­gen ver­schie­den­ster Her­kunft. Sie reprä­sen­tie­ren eben, wor­an vie­len Men­schen immer wie­der sehr gele­gen war.

    Göt­ter ver­kör­pern mit ihrem Cha­rak­ter, wofür sie alle­go­risch ein­ste­hen. Nicht nur die Mythen, auch ihre Figu­ren gehen schließ­lich mit der Zeit. Ihre Deu­tung ist stets abhän­gig vom Zeit­geist, und doch ist da immer etwas, das die Zeit über­dau­ert. So läßt sich das Göt­ter­paar Zeus und Hera als Alle­go­rie auf das Selek­ti­ons­prin­zip einer jeden Markt­ge­sell­schaft deu­ten. — Wäh­rend Zeus immer nur ›zeugt‹ und ein Unter­neh­men nach dem ande­ren ›grün­det‹, trach­tet die Gat­tin und Schwe­ster Hera allen hoff­nungs­vol­len Errun­gen­schaf­ten stets nach dem Leben. 

    Der­weil wür­de Her­mes zwei­fels­oh­ne heu­te das Inter­net ver­kör­pern, wäh­rend der grie­chi­sche Ares und sein römi­scher Kol­le­ge Mars den Krieg ein­mal von innen als trau­ma­ti­sie­ren­des Kno­chen­bre­chen, dann aber auch von außen als zyni­sches Geschäft zur Dar­stel­lung brin­gen. Und unlängst ist Roman Polań­ski mit mar­kan­ten Brü­chen im Spielfilm–Bühnenstück und Erotik–Drama Venus im Pelz, im ful­mi­nan­ten Wech­sel­spiel eines Macht­kamp­fes um Lie­be und Unter­wer­fung, die Epi­pha­nie einer Göt­tin gelun­gen. — Es sind näm­lich eini­ge Selt­sam­kei­ten, also ›Wun­der‹ zu ver­zeich­nen, die sich alle­samt ›erklä­ren‹ las­sen, wenn ange­nom­men wird, man habe es bei der Figur der Van­da tat­säch­lich mit einer Erschei­nung der Venus zu tun.

    Göt­ter las­sen sich auch als System–Charaktere betrach­ten. Sie sind, wie sie sind und sie tun, was sie nun ein­mal tun müs­sen, ändern läßt sich da nichts. — Wenn wir also mit ihnen hadern, daß sie sind, wie sie sind, dann hadern wir eigent­lich mit uns, denn wir haben die Insti­tu­tio­nen so und nicht anders erschaf­fen. Auch sind wir nicht Geschöp­fe der Göt­ter, son­dern die Göt­ter sind Geschöp­fe von uns. 

    Es wäre daher tun­lichst anzu­ra­ten, den Göt­tern ande­re, huma­ne­re, lie­bens­wür­di­ge­re Cha­rak­te­re zuzu­ge­ste­hen. Dann ver­lie­ren auf lan­ge Sicht viel­leicht auch man­che unse­rer Insti­tu­tio­nen ihren inhu­ma­nen Cha­rak­ter. Die olym­pi­schen Göt­ter set­zen sich aus vie­len vor­ma­li­gen Lokal­gott­hei­ten zusam­men, daher haben sie alle erdenk­li­chen Kom­pe­ten­zen, was aller­dings auch zu Über­schnei­dun­gen in der Zustän­dig­keit führt. Es kommt daher immer wie­der unter ihnen zu Kompetenz–Streitigkeiten, die sich aber einer wie Odys­seus sehr gut zunut­ze zu machen versteht.

    Das ist das Neue am Neu­en Men­schen, den Göt­tern gegen­über­zu­tre­ten, wie zuvor bereits den Tie­ren in der Natur, als Trick­ster. Sisy­phos, der mit List und Tücke den tum­ben Tod über­li­stet und womög­lich noch in der ihm auf­er­leg­ten Stra­fe heim­lich Erfül­lung fin­det, wird nicht von unge­fähr mit­un­ter auch als Vater des Odys­seus gesehen. 

    Mit der Figur des Trick­sters wird die Ambi­va­lenz gewahrt, denn der Schelm ist bei­des, das, was er vor­gibt zu sein und das, was er auch immer noch ist. Zumeist ist er schwach wie der Fuchs im Mär­chen, der sich not­ge­drun­gen immer wie­der eine List ein­fal­len läßt. — Ob in der Natur, Gei­stern und Tie­ren gegen­über oder aber in der Kul­tur gegen­über Göt­tern und Insti­tu­tio­nen, immer­zu kommt es auf Mime­sis an.

    Wer Tie­re über­li­sten, Gei­ster rufen und dienst­bar machen will, muß gut beob­ach­ten, um sich ihnen in ange­mes­se­ner Gestalt nähern zu kön­nen. Wer mit Göt­tern zu Gericht geht, wird sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, die eige­nen Schwä­chen in Stär­ken zu ver­wan­deln. — Göt­ter ent­la­sten, gera­de weil sie so über­mensch­lich ide­al sind. Daher ver­fü­gen sie über das, was dem Bösen nur hin­zu­ge­ge­ben wer­den müß­te, so daß es aus dem Man­gel­zu­stand herauskommt. 

    Dann könn­te es end­lich zu dem wer­den, was es zu sein ver­hin­dert ist, durch Man­gel an Sein und Bewußt­sein. Dann könn­te Eifer­sucht zur Lie­be, Neid zur Aner­ken­nung, Sucht zur Erfül­lung und Ver­zweif­lung zur Zuver­sicht wer­den. Vor allem könn­ten dann auch die men­schen­ge­mach­ten Rache­göt­ter sich end­lich ver­wan­deln und den glück­li­chen Göt­tern des Epi­kur himm­li­sche Gesell­schaft lei­sten. — Erstaun­li­che gedank­li­che Figu­ren erge­ben sich und neue Mög­lich­kei­ten, Psy­cho­lo­gie zu betrei­ben, wenn wir Göt­ter zwar als Pro­jek­tio­nen betrach­ten, als sol­che aber ernst nehmen.

    In Mythen und Mär­chen ist es immer wie­der der Trick­ster, dem das Unmög­li­che gelingt. Her­mes ist einer von ihnen, eben­so wie Pro­me­theus, der sei­ne Schütz­lin­ge erst auf die Idee mit dem Opfer­be­trug bringt. — Men­schen sind Trick­ster, sie wol­len sehen ohne gese­hen zu wer­den. Sie machen im Ver­bor­ge­nen ihre Beob­ach­tun­gen und rät­seln dann über das, was sie gese­hen haben. Sobald die Spra­che zur Ver­fü­gung steht, wird dar­über gere­det. Einst­wei­len ist es auch mög­lich, zu gesti­ku­lie­ren, zu spie­len und zu demon­strie­ren, was gese­hen wur­de und was es womög­lich bedeu­ten könnte. 

    All­mäh­lich wer­den Ritua­le dar­aus, Tän­ze, Unter­wei­sun­gen und Ein­wei­sun­gen, um sich ver­traut zu machen mit dem, wor­auf es ankommt, wenn die Gestalt gewech­selt wird, wenn ein ande­rer Geist auf­kom­men soll, etwa der Geist des Büf­fels oder auch der des Mam­mut. — Men­schen wech­seln ihre Gestalt. Mas­ken sind dabei weit mehr als Ver­klei­dung und bei­lei­be kein Spiel. Ent­schei­dend ist Mime­sis, wenn es gilt, sich in ande­re Wesen hin­ein­zu­ver­set­zen, sich anzu­ver­wan­deln, um den frem­den Geist zu verstehen.

    Der Trick­ster ist in der Lage, ein ande­rer zu wer­den, kaum anders als ein Tore­ro beim Trai­ning, wenn eine Schub­kar­re mit Hör­nern den leib­haf­ti­gen Kampf­stier ersetzt. Seit eh und je sind scha­ma­ni­sti­sche Ritua­le, Tän­ze und Zere­mo­nien dar­auf aus, sich von der eige­nen Natur abzu­set­zen und frem­de Gestalt anzu­neh­men, um sich über die Gren­zen der eige­nen Welt zu erheben. 

    Die Tier­mas­ken der Scha­ma­nen sind dazu ange­tan, den Geist, auf den es jeweils ankommt, ange­mes­sen in Sze­ne zu set­zen, um ihn erle­ben, ver­ste­hen und viel­leicht auch beschwö­ren zu kön­nen. Alles, was vor­mals noch von Gei­stern ›drau­ßen‹ reprä­sen­tiert wur­de, wird im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se inter­na­li­siert. Was zuvor noch im Äuße­ren leib­haf­tig erfahr­bar schien, ver­stummt dort, nur um sich ›innen‹ wie­der ver­neh­men zu las­sen. — Nichts geht ver­lo­ren, alle Instan­zen, Kräf­te und Moti­ve tre­ten spä­ter im Inne­ren der Gesell­schaft und schluß­end­lich auch in der Psy­che eines jeden Ein­zel­nen wie­der auf. Und es wer­den immer mehr Stim­men, weil die Welt selbst immer viel­fäl­ti­ger wird.

    Seit Anbe­ginn der Zivi­li­sa­ti­on wur­den umlie­gen­de Häupt­lings­tü­mer syste­ma­tisch annek­tiert und mit ihnen auch die ein­schlä­gi­gen Kul­te. Die ehe­ma­li­gen Clan­g­ei­ster wer­den dabei fusio­niert und gewin­nen immer mehr an Gestalt. All­mäh­lich ent­wickeln sie mensch­li­che Glied­ma­ßen und tra­gen vor­erst noch Tier­köp­fe, die sich jedoch immer wei­ter redu­zie­ren, zunächst zur Per­so­na, dann zur Mas­ke. Wenn sie ihre Mas­ken lüf­ten, so kommt dar­un­ter ein mensch­li­ches Gesicht zum Vor­schein. — Grie­chi­sche Göt­ter öff­nen schließ­lich das ›Visier‹. Wenn sie ihre Mas­ken auf die Stirn hoch­schie­ben, wir­ken sie wie Schau­spie­ler in der Umbau­pau­se. Sie sind ganz offen­bar längst zu Inter­pre­ten und Dar­stel­lern ihrer selbst geworden.

    Es ist auf­fäl­lig, wie kon­se­quent in der grie­chi­schen Anti­ke die Mas­ken der Göt­ter gelüf­tet und auf die Stirn hoch­ge­scho­ben wer­den. Die Annah­me der Eben­bild­lich­keit ist inso­fern nicht von der Hand zu wei­sen: Nur sind nicht wir es, die gött­li­che Züge tra­gen, viel­mehr sind Göt­ter mensch­li­che Eben­bil­der. — Aller­dings sind Göt­ter kei­ne Men­schen, sie sind idea­le, glück­li­che und voll­kom­me­ne Wesen. Und als Schöp­fer aller die­ser Pro­jek­tio­nen soll­ten wir uns selbst in jedem Ein­zel­nen von ihnen wiedererkennen …

    Die Göt­ter sind tot und leben doch in unse­ren Innen­wel­ten, in den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen immer wei­ter. Wir täten gut dar­an, ihnen in ihrer ver­wir­ren­den Viel­falt unse­re Refe­renz zu erwei­sen, denn das ist der Sinn von Ver­nunft. In ihrem Namen soll­te, was auch immer sie in ihrer Viel­falt ver­kör­pern, als Ide­al gese­hen und ange­mes­sen gewür­digt wer­den. Ihr Pan­the­on ist der Geist der Dis­kur­se, ihre Viel­heit ist die Viel­falt der Vernunft.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Ökologie im Diskurs

    Ökologie im Diskurs.
    Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie
    und zur Ethik der Wissenschaften

    Drei mög­li­che Begrün­dungs­ebe­nen las­sen sich unter­schei­den, auf die sich Moti­ve für Natur­schutz zurück­füh­ren las­sen: natur­wis­sen­schaft­li­che–, ästhe­ti­sche– und ethi­sche Begrün­dun­gen. Die­se drei mög­li­chen Per­spek­ti­ven wer­den aller­dings, anders als zu erwar­ten wäre, weder gleich­be­rech­tigt noch gleich­ran­gig ange­nom­men; es läßt sich ein Hang zur erste­ren, der natur­wis­sen­schaft­li­chen Argu­men­ta­ti­on beob­ach­ten, wenn Moti­ve fur Natur­schutz begrün­det wer­den sol­len. Gleich­falls ist eine gewis­se Scheu vor ästhe­ti­schen oder ethi­schen Kri­te­ri­en zu beob­ach­ten; letz­te­re ver­küm­mern gera­de­zu, wenn ihnen aus Grün­den, die wir prü­fen wol­len, allen­falls noch der Sta­tus von Hilfs­ar­gu­men­ten ein­ge­räumt wird.

    Heinz-Ulrich Nennen: Ökologie im Diskurs. Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften. Mit einem Vorwort von Dieter Birnbacher; Westdeutscher Verlag, Opladen 1993.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Öko­lo­gie im Dis­kurs. Stu­di­en zu Grund­fra­gen der Anthro­po­lo­gie, Öko­lo­gie und zur Ethik der Wis­sen­schaf­ten. Mit einem Vor­wort von Die­ter Birn­ba­cher; West­deut­scher Ver­lag, Opla­den 1993

    In der Tat sind die­se drei Begrün­dungs­ebe­nen nicht gleich­ran­gig. Die allein mit ästhe­ti­schen und ethi­schen Sät­zen for­mu­lier­ba­ren Kri­te­ri­en qua­li­ta­ti­ver Natur sind, sofern sie tat­säch­lich qua­li­ta­ti­ve Momen­te aus­for­mu­lie­re, immer schon dem natur­wis­sen­schaft­li­chen und quan­ti­fi­zie­ren­den Zugriff ent­zo­gen; sie sind nicht gleich­ran­gig, weil sie auf ver­schie­de­nen Erkennt­nis­ebe­nen ope­rie­ren, aber sie sind gleich­be­rech­tigt. — Begrün­dun­gen, war­um etwa ein Baum, eine Tier­art, eine bestimm­te Land­schaft oder z.B. die Wäl­der des Ama­zo­nas zu schüt­zen sei­en, las­sen sich bei­spiel­haft für alle drei Ebe­nen ange­ben: Weil der Baum z.B. Sau­er­stoff pro­du­zie­re oder weil Abhol­zen der Amazonas–Wälder das glo­ba­le Kli­ma gefähr­de, weil der Baum und sei­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Land­schaft dem Men­schen Erleb­nis­se äuße­rer und inne­rer Erfah­rung ermög­li­che, die unwie­der­bring­lich ver­lo­ren wären, und schließ­lich, weil es dem Men­schen nicht erlaubt sei ohne Not zu töten, weil jedes Lebe­we­sen ein allein durch sei­ne Exi­stenz ver­brief­tes Recht auf art­ge­rech­tes Leben habe und weil im Fal­le der Zer­stö­rung der Ama­zo­nas­wäl­der den dort leben­den India­nern die Exi­stenz­grund­la­ge genom­men wäre.

    Cha­rak­te­ri­stisch für die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Begrün­dungs­ebe­ne sind Argu­men­te, die einen bestimm­ten Zweck als not­wen­dig vor­aus­set­zen (Vor­der­satz) und dann im Rah­men einer Wenn–dann–Folge die Gefähr­dung oder mög­li­che Zer­stö­rung eines als zweck­ra­tio­nal aner­kann­ten lebens­not­wen­di­gen Zusam­men­hangs begrün­den (Schluß­satz). Ein der­ar­ti­ges Argu­men­ta­ti­ons­mu­ster insi­stiert stets auf die zwin­gen­de Not­wen­dig­keit uner­wünsch­ter Fol­gen. Weit­aus schwie­ri­ger las­sen sich Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge unter ästhe­ti­schen oder ethi­schen Gesichts­punk­ten gestal­ten, wenn erwar­tet wird, sie soll­ten eben­falls Schluß­fol­ge­run­gen ermög­li­chen, die zwin­gend not­wen­dig sind. Es kann aber von Sinn­zu­sam­men­hän­gen gera­de nicht ohne wei­te­res erwar­tet wer­den, daß sie zweck­ra­tio­na­le Schluß­sät­ze begrün­den, dazu sind sie nicht prä­de­sti­niert, denn sinn­haf­te und sinn­vol­le Argu­men­te wer­den mit­un­ter gera­de durch ein Rela­ti­vie­ren von Zwecken erst möglich.

    An der Not­wen­dig­keit öko­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen in den Natur­wis­sen­schaf­ten scheint nie­mand mehr ernst­haft zwei­feln zu wol­len, es kommt nun­mehr dar­auf an, auch die Gei­stes­wis­sen­schaf­ten mit ein­zu­be­zie­hen. Was ange­sichts anthro­po­lo­gi­scher Fra­ge­stel­lun­gen gelang, muß auch in der Öko­lo­gie gelin­gen; not­wen­dig ist der mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Dis­kurs der Öko­lo­gie, wobei die Zahl der hier zu betei­li­gen­den Wis­sen­schaf­ten aller­dings bedeu­tend gro­ßer wäre. Dabei muß es den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen zunächst im Rah­men ihrer jewei­li­gen Zustän­dig­keit selbst über­las­sen blei­ben, ihre je eige­nen Kri­te­ri­en zur Bestim­mung des Öko­lo­gi­schen zu ent­wickeln. Im Vor­feld der Dis­kur­se muß die Möglich­keit zur Selbst­be­stim­mung gewähr­lei­stet sein, Über­grif­fe oder vor­schnel­le Ver­bin­dun­gen sind abzu­leh­nen; eine Begren­zung des­sen was Öko­lo­gie ist, kann nur in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Fra­ge­stel­lung, also von Fall zu Fall rat­sam sein, im Grun­de aber ist die­ser Dis­kurs als mul­ti­dis­zi­pli­nä­rer offe­ner denn je. Wenn zudem noch öko­lo­gi­sche Dis­zi­pli­nen den Men­schen mit ein­be­zie­hen sol­len, und sie wer­den nicht umhin kön­nen die­ses zu tun, so tre­ten neben die Kri­te­ri­en der phy­si­schen Natur zusätz­lich sol­che der psychischen–.

    Zur psy­chi­schen Natur des Men­schen gehört die Mög­lich­keit ästhe­ti­scher Erfah­rung, eine Fähig­keit, die unter bestimm­ten Umstän­den auf­tritt, die unter den Erschwer­nis­sen ent­frem­de­ter Lebens­ver­hält­nis­se die per­so­na­le Inte­gra­ti­on durch das Erle­ben von Ganzheits–Erfahrungen gewähr­lei­sten kann. So wie das Indi­vi­du­um sei­ner­seits sei­ne Ent­ste­hung einem bestimm­ten histo­ri­schen und topo­gra­phi­schen Ort ver­dankt, so ist auch die Wahr­neh­mung des Natur­schö­nen ihrer­seits an Vor­aus­set­zun­gen gebun­den, die bedingt erfüllt sein müs­sen, bevor eine Land­schaft in Abse­hung vom Zweck als schön emp­fun­den wer­den kann…

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  • Anthropologie,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Moderne,  Technikethik,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Energie und Ethik

    Leitbilder im philosophischen Diskurs

    Rio de Janei­ro, Ber­lin, Kio­to und Bue­nos Aires — wei­te­re Kon­fe­ren­zen der UNO wer­den hin­zu­kom­men in dem Bemü­hen um inter­na­tio­nal ver­bind­li­che Ver­ein­ba­run­gen zum Schutz der Erd­at­mo­sphä­re. Die Ver­bren­nung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger wie Koh­le, Gas oder Öl im der­zei­ti­gen Umfang führt zu erhöh­ten Kon­zen­tra­tio­nen von Koh­len­di­oxid in der Atmo­sphä­re, wodurch aller Vor­aus­sicht nach das Kli­ma der Erde ent­schei­dend ver­än­dert wird. Als Fol­ge erwar­ten die mei­sten Exper­ten eine Tem­pe­ra­tur­er­hö­hung und damit die Aus­deh­nung von Trocken­ge­bie­ten, eine Erhö­hung des Mee­res­spie­gels sowie die Zunah­me von Wir­bel­stür­men, Über­schwem­mun­gen und extre­men Wet­ter­la­gen. Um die damit ein­her­ge­hen­den Fol­gen abzu­mil­dern, ver­sucht die inter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft, Reduk­ti­ons­zie­le für CO2 fest­zu­le­gen. So hat sich bei­spiels­wei­se Deutsch­land ver­pflich­tet, 25% bei der CO2 –Emis­si­on bis zum Jah­re 2005 ein­zu­spa­ren. Aller­dings sind die­se Maß­nah­men nicht unum­strit­ten, denn die Simu­la­tio­nen der zukünf­ti­gen Kli­ma­ent­wick­lung geben immer noch hin­rei­chend Raum für Inter­pre­ta­ti­on und Spekulation.

    Heinz--Ulrich Nennen, Georg Hörning (Hrsg.): Energie und Ethik. Leitbilder im philosophischen Diskurs. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1999.
    Heinz–Ulrich Nen­nen, Georg Hör­ning (Hrsg.): Ener­gie und Ethik. Leit­bil­der im phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs. Cam­pus-Ver­lag, Frank­furt am Main 1999.

    Auch natür­li­che Kli­ma­schwan­kun­gen sind erheb­lich. Eis­zei­ten, Zwi­schen­eis­zei­ten, Wär­me– und Käl­te­pe­ri­oden, mit­un­ter aus­ge­löst durch Meteo­ri­ten­ein­schlag, sind immer wie­der zu ver­zeich­nen gewe­sen. Die­sen Kata­stro­phen sind gan­ze Kul­tu­ren zum Opfer gefal­len, aller­dings sind sie ohne das Hin­zu­tun des Men­schen ein­ge­tre­ten. Die Mög­lich­keit einer anthro­po­ge­nen glo­ba­len Kli­ma­än­de­rung ist dage­gen ein abso­lu­tes Novum in der Erd­ge­schich­te. Mitt­ler­wei­le befas­sen sich Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­men in wohl­ver­stan­de­nem Eigen­in­ter­es­se ver­stärkt mit Maß­nah­men zur Vorsorge.

    Selbst wenn die Welt­kli­ma­mo­del­le auf abseh­ba­re Zeit kei­ne dezi­dier­ten Vor­her­sa­gen erlau­ben soll­ten, so wäre es auch aus ande­ren Grün­den sinn­voll, nach Wegen zu suchen, den Ein­satz fos­si­ler Ener­gie zu begren­zen. Im Gegen­teil, es wäre begrün­dungs­pflich­tig, den bis­he­ri­gen Ein­satz die­ser Ener­gien im gewohn­ten Umfang bei­zu­be­hal­ten, obwohl Alter­na­ti­ven zur Ver­fü­gung ste­hen. Kon­kret stellt sich damit die Fra­ge glo­ba­ler Umwelt­ver­än­de­run­gen als Her­aus­for­de­rung an das Gestal­tungs­ver­mö­gen vor Ort. Die Moti­ve sind viel­fäl­ti­ger Natur, sie rei­chen von der Sor­ge um den Ver­lust an Lebens­qua­li­tät bis hin zu wirt­schaft­li­chen, sozia­len und ent­wick­lungs­po­li­ti­schen Anliegen.

    Das Problem

    Es sind nicht ledig­lich Fra­gen der Tech­nik ange­spro­chen, wenn es um die Gestal­tung zukünf­ti­ger Ener­gie­sy­ste­me geht. Das wird beson­ders dort deut­lich, wo unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­se von Ver­zicht auf­ein­an­der tref­fen. Allein die Dif­fe­ren­zie­rung, ob es sich um ein Ver­zich­ten müs­sen oder um ein Ver­zich­ten kön­nen han­delt, ist bezeich­nend für die Ebe­ne auf der sich der Energie–Diskurs bewegt. Wel­che Tech­nik, wel­ches Ver­hal­ten und wel­cher Zukunfts­ent­wurf sind maß­geb­lich für die Gestal­tung der künf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung? Die­se Aspek­te von Tech­nik­fol­gen­be­wer­tung las­sen sich in Leit­bil­dern ver­dich­ten, mit denen sich auch Gene­ra­tio­nen von­ein­an­der abgrenzen.

    Unter­schied­li­che Leit­bil­der mit­ein­an­der in den Dis­kurs zu brin­gen, war Auf­ga­be des hier doku­men­tier­ten Pro­zes­ses. Es galt zu beur­tei­len, wel­ches von vier exem­pla­ri­schen Sze­na­ri­en einer zukünf­ti­gen Ener­gie­ver­sor­gung und –nut­zung zu emp­feh­len sei. Dabei wer­den unmit­tel­bar Fra­gen der Ethik auf­ge­wor­fen, ins­be­son­de­re dort, wo Grund­rech­te zur Dis­po­si­ti­on ste­hen könn­ten. Die Wahl einer der mög­li­chen Stra­te­gien zur CO2 –Reduk­ti­on stellt eine Her­aus­for­de­rung an die demo­kra­ti­sche Kul­tur dar, weil sich mit die­sen Stra­te­gien unter­schied­li­che Lebens­sti­le verbinden.

    Dis­kur­se zur Ener­gie­fra­ge sind Aus­druck tie­fer­ge­hen­der gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te: Ver­schie­de­ne Ent­wür­fe eines gelin­gen­den Lebens oder einer erfolg­rei­chen und erstre­bens­wer­ten Wirt­schafts­wei­se ste­hen zur Debat­te, gera­de weil nicht ledig­lich Tech­no­lo­gien der Strom­erzeu­gung oder Nut­zungs­tech­ni­ken, wie Kern­ener­gie und 3–Liter–Auto, im Vor­der­grund ste­hen. Gesamt­ge­sell­schaft­li­che Kon­flikt­lö­sun­gen las­sen sich immer weni­ger aus der tages­po­li­tisch moti­vier­ten Zusam­men­schau iso­lier­ter Per­spek­ti­ven ablei­ten. Statt­des­sen ist eine Gesamt­schau erfor­der­lich, im Wech­sel der Per­spek­ti­ven ver­schie­de­ne, auf kon­trä­ren Leit­bil­dern beru­hen­de Optio­nen zu Ener­gie­nach­fra­ge und –ver­sor­gung zu eröffnen.

    Die Bewer­tung der Optio­nen erfor­dert einer­seits den phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs sowie ande­rer­seits ein geeig­ne­tes Ver­fah­ren der Bür­ger­be­tei­li­gung, wobei ent­schei­dend ist, daß es um mehr geht, als um den iso­lier­ten Aus­druck par­ti­ku­la­rer Fach­in­ter­es­sen, wirt­schaft­li­cher Fol­gen oder gesell­schaft­li­cher Kon­se­quen­zen, son­dern um den umfas­sen­den Pro­zeß der Abwä­gung vor dem Hin­ter­grund des gesam­ten Fra­ge­spek­trums. Dazu sind ein fun­dier­tes Auf­ar­bei­ten der Sach­la­ge, die Dar­stel­lung rea­li­sti­scher Hand­lungs­op­tio­nen ein­schließ­lich der mög­li­cher­wei­se damit ein­her­ge­hen­den Kon­se­quen­zen sowie eine Refle­xi­on der gesell­schaft­lich rele­van­ten Bewer­tungs­kri­te­ri­en aus der Sicht­wei­se von Betrof­fe­nen erforderlich.

    Immer häu­fi­ger wer­den auch Ethi­ker um Rat gefragt, wenn es um Fra­gen der Zukunfts­ge­stal­tung geht. Oft­mals wird dabei unter­stellt, sei­tens der phi­lo­so­phi­schen Ethik lie­ßen sich unanzwei­fel­ba­re und ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten, ›rich­ti­ge‹ und ›all­ge­mein­gül­ti­ge‹ Lösungs– und Bewer­tungs­stra­te­gien bei kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Sach­ver­hal­ten für die ver­ant­wort­li­che und ver­ant­wort­ba­re Ent­schei­dungs­vor­be­rei­tung geben. Die­ser Erwar­tung kann nicht ent­spro­chen wer­den: Ein sol­ches phi­lo­so­phi­sches ›Macht­wort‹ kann nicht die Auf­ga­be der phi­lo­so­phi­schen Ethik sein. Vor dem Hin­ter­grund einer ange­spann­ten Welt, in der fun­da­men­ta­li­sti­sche Strö­mun­gen mit der Wis­sen­schaft um das Mono­pol der Welt­deu­tung rin­gen, kön­nen weder Ethik noch Phi­lo­so­phie zu Garan­ten letzt­ver­bind­li­cher Hand­lungs­ma­xi­men und all­ge­mein­ver­bind­li­cher Gesichts­punk­te der Bewer­tung wer­den. Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie kann es schon gar nicht sein, vor­schnell Par­tei zu ergrei­fen. Sie kann Anre­gun­gen geben und auch advo­ka­to­risch pro­vo­zie­ren­de Posi­tio­nen ver­tre­ten — in der Hoff­nung, neue Optio­nen und Per­spek­ti­ven zu eröffnen.

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  • Moderne

    Diskurs

    Begriff und Realisierung

    Dis­kurs ist italieni­schen Ursprungs, frü­hen Beleg­stel­len zufol­ge wer­den damit genau jene Gesprächs­ver­läu­fe bezeich­net, die von Zuhö­rern als aus­ge­spro­chen ener­vie­rend emp­fun­den wor­den sein dürf­ten. Im Unter­schied zur offe­nen Atmo­sphä­re eines Gesprächs erscheint der Dis­kurs in sei­ner ursprüng­li­chen Bedeu­tung zunächst als eine nicht leicht zu ertra­gen­de, mono­lo­gi­sie­ren­de weit aus­schwei­fen­de Rede­fol­ge, bei der die Wort­füh­rer selbst zwi­schen­zeit­lich offen­bar die Ori­en­tie­rung dar­über ver­lie­ren, was sie eigent­lich hat­ten sagen wol­len. Die Teil­neh­mer kom­men dann – wie es in einem zeit­ge­nös­si­schen Text heißt – nach lan­gem Her­um­ir­ren aus dem Wald her­aus als sol­che, die viel reden, aber nichts sagen.

    Heinz–Ulrich Nen­nen (Hrsg.) 2000 Dis­kurs. Begriff und Rea­li­sie­rung. Würz­burg: Königs­hau­sen & Neu­mann Ver­lag. [ISBN: 9783826017544]
    Wäre die Wort­be­deu­tung bei die­sem rein nega­ti­ven Bild geblie­ben, so wür­de uns der Begriff heu­te ver­mut­lich kaum noch etwas wesent­li­ches sagen. Aber im Ver­lauf der Begriffs­ge­schich­te läßt sich die Inte­gra­ti­on gegen­läu­fi­ger Moti­ve nach­wei­sen, und dabei geht es um das ent­ge­gen­ge­setz­te Moment der ursprüng­li­chen Fest­stel­lung, um Ori­en­tie­rung inmit­ten des Her­um­ir­rens. Das Ziel der­ar­ti­ger Exkur­se sei viel­mehr, so ein Rhe­to­rik-Buch aus dem 16. Jhrd. über Ange­le­gen­hei­ten des Gemein­we­sens so zu reden, wie es ihrem Cha­rak­ter ange­mes­sen ist.

    Das Wort­feld Dis­kurs, Dis­kur­si­vi­tät, dis­kur­siv lei­tet sich ab von lat.: dis­cur­re­re, ‚aus­ein­an­der­lau­fen, Erör­te­rung, Ver­hand­lung‘, auch ‚hef­ti­ger Wort­wech­sel‘. Dis­kur­siv wird ein Den­ken genannt, das suk­zes­siv ver­fährt, dabei wird das Gan­ze zunächst in sei­nen Tei­len durch­lau­fen und in sei­ner Gesamt­heit erst all­mäh­lich erkenn­bar. Wesent­lich ist, daß es sich um ein metho­di­sches, syste­ma­ti­sches und ins­be­son­de­re um ein begriff­li­ches Vor­ge­hen handelt.

    Begriff­lich, wie häu­fig in Defi­ni­tio­nen ange­führt, muß ein Dis­kurs von­stat­ten gehen, weil es dem mensch­li­chen Erkennt­nis­ver­mö­gen sei­ner Natur nach nicht gege­ben ist, durch unmit­tel­ba­re Anschau­ung zur unbe­ding­ten Erkennt­nis zu gelan­gen. Suk­zes­siv muß ein Dis­kurs ver­fah­ren, weil es eben nicht gelingt, alle ein­schlä­gi­gen Per­spek­ti­ven gleich­zei­tig ein­zu­neh­men. Im Umher­lau­fen las­sen sich zwar ver­schie­de­ne Moti­ve und Momen­te erfah­ren, deren Digni­tät wird aber erst nach und nach bewußt. Erst die inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­ba­re Inte­gra­ti­on aller ent­schei­den­den Per­spek­ti­ven läßt ein hoch­gra­dig ange­mes­se­nes Beur­tei­lungs­ver­mö­gen in der anste­hen­den Sache erwar­ten, das womög­lich allen Sphä­ren, so wie es ihnen zukommt, glei­cher­ma­ßen gerecht zu wer­den verspricht.

    Der Begriff und die mit ihm ver­bun­de­nen unter­schied­li­chen Theo­rien erfah­ren in der spä­ten Moder­ne eine umfas­sen­de Beach­tung auch außer­halb aka­de­mi­scher Krei­se. Zwei Rich­tun­gen las­sen sich dabei ein­an­der gegenübergestellen:

    • Eine deut­sche Schu­le der Dis­kurs­theo­rie, im wesent­li­chen als Ver­bin­dung aus der Kan­ti­schen Phi­lo­so­phie und Ele­men­ten der anglo-ame­ri­ka­ni­schen Sprech­akt­theo­rien, um im Rah­men einer Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns dis­kurs­ethi­sche Prin­zi­pi­en zu ermitteln.
    • Eine fran­zö­si­sche Schu­le der Dis­kurs­ana­ly­se, die im Anschluß an die Ratio­na­li­täts­kri­tik Nietz­sches und Heid­eg­gers mit Posi­tio­nen eines als post­mo­dern ver­stan­de­nen Neo­struk­tu­ra­lis­mus ver­bun­den ist und in Dis­kur­sen eher Phä­no­me­ne der Macht­aus­übung identifiziert.

    Der­ar­tig ekla­tan­te Wider­sprü­che erfor­dern die ‚Arbeit am Begriff‘, nicht zuletzt auch in Hin­sicht auf die damit ein­her­ge­hen­den Anfor­de­run­gen an Pra­xis. Sol­che Pro­gram­ma­tik ist alle­mal inter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig, denn Dis­kurs ist zum Ide­al, Dis­kur­si­vi­tät zu einem Qua­li­täts­kri­te­ri­um gewor­den, um die Digni­tät und das Legi­ti­ma­ti­ons­ver­mö­gen von Pro­zes­sen der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung zu über­prü­fen. Bei anste­hen­den Ent­schei­dun­gen in Fra­gen von gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Trag­wei­te, ins­be­son­de­re von Ver­fah­ren der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung wird erwar­tet, daß sowohl dem Stand der Wis­sen­schaft als auch den Belan­gen der Öffent­lich­keit ent­spro­chen wird. Der Anspruch auf Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum theo­rie­för­mi­gen Modell­fall einer gelin­gen­den Praxis.

    Wäh­rend es für die Ratio­na­li­tät wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Vor­ge­hens unwe­sent­lich sein mag, wel­chen Zie­len eine Tech­nik letzt­lich dient, wird bei ethi­schen Erwä­gun­gen gera­de die­ser Aspekt zum The­ma. Ent­schei­dend ist, wie sich nun­mehr auf metho­do­lo­gi­sche Wei­se eine pro­blem­zen­trier­te Ethik errei­chen läßt, auch und gera­de für sol­che Situa­tio­nen, die bereits durch man­geln­de Gemein­sam­kei­ten in grund­le­gen­den Ori­en­tie­rungs­fra­gen gekenn­zeich­net sind. Unter säku­la­ren Bedin­gun­gen sind daher bereits die Aus­gangs­be­din­gun­gen gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se umstrit­ten. Frag­lo­se Gewiß­hei­ten las­sen sich kaum noch kon­sta­tie­ren und sind dis­po­ni­bel gewor­den, wenn bereits im Vor­feld prak­ti­scher Dis­kur­se zunächst in Erfah­rung zu brin­gen ist, wo die wah­ren Zie­le lie­gen könnten:

    Auch die in reprä­sen­ti­ven Demo­kra­tien obli­ga­te Dele­ga­ti­on ist bei der­art zukunfts­re­le­van­ten Ent­schei­dun­gen nicht mehr unan­ge­foch­ten; es wird daher ent­schei­dend, unter den Bedin­gun­gen der moder­nen Indu­strie­zi­vi­li­sa­ti­on Metho­den zu ent­wickeln, durch die es gelin­gen kann, die Ver­nünf­tig­keit eines Vor­schlags, einer For­de­rung oder einer Behaup­tung zu erwei­sen. Begrün­dun­gen stel­len ihrer­seits jedoch noch kei­ne Gemein­sam­kei­ten her, sie sind zunächst nur ein Ersatz für feh­len­de Gemein­sam­keit, ins­be­son­de­re dort, wo gemein­sa­me Leit­vor­stel­lun­gen nicht mehr oder noch nicht vor­lie­gen. Der Dis­kurs wird somit zum Inter­me­di­um, um die Erör­te­rung über Gel­tungs­an­sprü­che syste­ma­tisch auf­zu­neh­men, aber auch um gestör­te Inter­ak­ti­ons­ver­hält­nis­se wie­der herzustellen.

    Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum Sub­sti­tut für den Ver­lust der Funk­ti­on vor­ma­li­ger Wert­ethik; ent­schei­dend sind Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der Ver­fah­ren, in denen die Legi­ti­mi­tät vor­ge­brach­ter Gel­tungs­an­sprü­che auf ihre tat­säch­li­che Digni­tät hin über­prüft wird, wobei die Gel­tungs­ge­sichts­punk­te selbst trans­pa­rent und somit all­ge­mein nach­voll­zieh­bar vor­ge­bracht wer­den müs­sen. – So plau­si­bel sich die not­wen­di­gen Anfor­de­run­gen sei­tens die­ser Theorie(n) als Anfor­de­rung an die Pra­xis ablei­ten las­sen, eben­so umstrit­ten sind die Pro­ble­me, die sich ein­stel­len, im Sin­ne die­ser For­de­rung Dis­kur­si­vi­tätprak­tisch wer­den zu las­sen. Im Rah­men die­ses Buches wur­de der Ver­such unter­nom­men, die­se in der Pra­xis auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen näher zu betrachten.

    Die Bei­trä­ge die­ses Ban­des gehen auf zwei Work­shops zurück, die von der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden-Würt­tem­berg ver­an­stal­tet wur­den mit dem Ziel, Mög­lich­kei­ten dis­kur­si­ver Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung aus­zu­lo­ten. Ein erster Work­shop fand unter dem The­ma Dis­kurs – Der Begriff im Kon­text der ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen im Sep­tem­ber ’96 statt, ein zwei­ter Work­shop folg­te im März ’97, um sich vor allem mit den Mög­lich­kei­ten einer dis­kur­si­ven Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zu befassen.

    Die Autoren die­ses Ban­des haben es sich zur Auf­ga­be gemacht, unter­schied­li­che Theo­rien des Dis­kur­ses syste­ma­tisch auf die damit ver­bun­de­nen Anfor­de­run­gen an eine sol­che Pra­xis zu unter­su­chen. Die Bei­trä­ge zei­gen, wie der Dis­kurs­be­griff in das Selbst­ver­ständ­nis unter­schied­li­cher theo­re­ti­scher Dis­zi­pli­nen eben­so wie in die Belan­ge prak­ti­scher Ver­fah­rens­wei­sen Ein­gang gefun­den hat. Das The­men­spek­trum der Abhand­lun­gen reicht von Ver­nunft, Ethik und Ästhe­tikbis hin zu Fra­gen der Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on, der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, des Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses und der All­tags­ver­nunft. Die theo­re­ti­sche Lei­stungs­fä­hig­keit des Dis­kurs­be­griffs soll­te dabei her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, gleich­falls waren die Chan­cen und Gren­zen dis­kur­si­ver Ver­fah­ren in der gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Pra­xis zu erörtern.

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  • Diskurs,  Ethik,  Moderne,  Professionalität,  Technikethik,  Wissenschaftlichkeit,  Zivilisation

    Das Expertendilemma

    Zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung

    Was ist im Spiel, wenn in der Poli­tik­be­ra­tung die Aus­sa­gen wis­sen­schaft­li­cher Exper­ten ein­an­der wider­spre­chen? Die­se Fra­ge bewegt Poli­ti­ker, die von der Wis­sen­schaft Rat erwar­ten, sie beschäf­tigt vie­le Wis­sen­schaft­ler selbst, die Öffent­lich­keit zumal. Aus­ein­an­der­set­zun­gen um diver­gie­ren­de Exper­ten­gut­ach­ten sind häu­fig von der Hypo­the­se geprägt, schwar­ze Scha­fe in der Wis­sen­schaft wür­den die Beför­de­rung eige­ner oder frem­der Inter­es­sen über die stren­ge Norm des aus­schließ­li­chen Rin­gens um Wahr­heit stel­len. Wo es um die Tech­nik­fol­gen­for­schung und –bewer­tung geht, stel­len sich häu­fig gera­de der­ar­ti­ge Pro­ble­me. Daher hat die Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden–Württemberg den Dis­kurs ‘Exper­ten­di­lem­ma’ angeregt.

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    Heinz–Ulrich Nennen, Detlef Garbe (Hrsg.): Das Expertendilemma. Springer Verlag; Berlin, Heidelberg 1996.
    Heinz–Ulrich Nen­nen, Det­lef Gar­be (Hrsg.): Das Exper­ten­di­lem­ma. Zur Rol­le wis­sen­schaft­li­cher Gut­ach­ter in der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung. Sprin­ger Ver­lag; Ber­lin, Hei­del­berg 1996.

    Der Begriff ‘Exper­ten­di­lem­ma’ bezeich­net eine Situa­ti­on, in der zu einem bestimm­ten Sach­ver­halt ver­schie­de­ne Gut­ach­ten ein­ge­holt wor­den sind, die zu diver­gie­ren­den, oft wider­sprüch­li­chen Aus­sa­gen kom­men. Vom ‘Exper­ten­di­lem­ma erster Art’ wird dann gespro­chen, wenn Wider­sprü­che wis­sen­schafts­in­tern auf­tre­ten. Das ‘Exper­ten­di­lem­ma der zwei­ten Art’ zeigt sich dage­gen an der Naht­stel­le zwi­schen Wis­sen­schaft und Öffent­lich­keit bzw. Wis­sen­schaft und Poli­tik. Zum einen wird die Exper­ti­se in der poli­ti­schen Pra­xis häu­fig als selek­ti­ves Instru­ment benutzt, um bereits getrof­fe­ne Ent­schei­dun­gen nach­träg­lich zu legi­ti­mie­ren, statt anste­hen­de Ent­schei­dun­gen dar­auf zu stüt­zen. Zum ande­ren, was gra­vie­ren­der ist, hat sich die Pra­xis her­aus­ge­bil­det, daß der Poli­ti­ker damit rech­nen kann, zu jeder Sach­fra­ge das gewünsch­te, als ‘wis­sen­schaft­lich’ bezeich­ne­te Gut­ach­ten zu bekom­men. — Die­se Pro­ble­ma­tik ist bis dato, sowohl auf theo­re­ti­scher wie prak­ti­scher Ebe­ne, weder für die Wissenschaft(en) selbst, noch für Poli­tik, Wirt­schaft oder in den Augen der Öffent­lich­keit adäquat beant­wor­tet. Ziel war es daher, zunächst die von Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­me­nen Dilem­ma­ta offen­zu­le­gen, zu dis­ku­tie­ren und nach Lösungs­mög­lich­kei­ten zu suchen in der Fra­ge, ob die Anzwei­fel­bar­keit von Gut­ach­ten, wie viel­fach behaup­tet, glei­cher­ma­ßen zu einem Auto­ri­täts­ver­lust der Wis­sen­schaft füh­ren muß.

    Unstrit­tig scheint zu sein, daß damit ein Kri­sen­phä­no­men ange­spro­chen ist, von dem die in der Debat­te um mög­li­che Ent­wick­lungs­zie­le und –wege begrif­fe­nen moder­nen Indu­strie­ge­sell­schaf­ten und damit ent­spre­chen­de Wei­ter­ent­wick­lun­gen selbst betrof­fen sind. Zu den abseh­ba­ren Ergeb­nis­sen die­ser Debat­te ist zu zäh­len, daß auf der einen Sei­te den Wis­sen­schaf­ten im Ver­hält­nis zur Öffent­lich­keit ein man­geln­des Ein­ge­hen auf spe­zi­fi­sche Pro­blem­stel­lun­gen atte­stiert wer­den muß. Eben­so läßt sich auf der ande­ren Sei­te, bei poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern eben­so wie in der Öffent­lich­keit, ein feh­len­der adäqua­ter Umgang mit dem Ein­ge­ständ­nis des Nicht–Genau–Wissens der Exper­ten fest­stel­len. Somit sind Wis­sen­schaft, Poli­tik und Öffent­lich­keit glei­cher­ma­ßen gefor­dert. Inso­fern ist das ‘Exper­ten­di­lem­ma’ weni­ger ein Dilem­ma der Exper­ten, denn nicht die­se, son­dern ihre Kli­en­ten, die Ent­schei­der, müs­sen aus der Fül­le alter­na­ti­ver Optio­nen wäh­len und sich entscheiden.

    Die Mehr­deu­tig­keit der wis­sen­schaft­li­chen Exper­ti­se muß aber nicht not­wen­dig ein Pro­blem für die Ent­schei­der sein — im Gegen­teil. Sie könn­te auch als Mög­lich­keit begrif­fen wer­den, wei­te­re Kri­te­ri­en und Wert­ge­sichts­punk­te in die Ent­schei­dungs­fin­dung ein­flie­ßen zu las­sen. Damit gewinnt ins­be­son­de­re die Poli­tik Ent­schei­dungs– und Hand­lungs­spiel­räu­me wie­der zurück, und auch die Öffent­lich­keit selbst erscheint als nicht zu unter­schät­zen­der Fak­tor in den gesell­schaft­li­chen Dis­kur­sen bei der Bewer­tung der Optio­nen mög­li­cher Entwicklungen.

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