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    Heilsame Phase innerer Einkehr

    Die Pandemie zwischen kritischer und positive Betrachtung

    Interview, Vorarlberger Nachrichten, 5. Juni 2021

    Die Pan­de­mie zwi­schen kri­ti­scher und posi­ti­ver Betrachtung.

    Es ist sehr viel die Rede von einer ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on. Ist es wirk­lich so schlimm? 

    NENNEN Wer von einer „ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on“ spricht, stellt einen Ver­gleich her, der nicht ange­mes­sen sein kann. Bezeich­net wur­den damit die Kriegs­teil­neh­mer des Ersten Welt­kriegs. Erst all­mäh­lich ver­ste­hen wir, was das bewirkt hat an Lei­den. Da sind nicht phy­si­sche, son­dern psy­chi­sche Exi­sten­zen auf Dau­er ver­nich­tet wor­den. Wir kön­nen heu­te erst all­mäh­lich nach­voll­zie­hen, was Trau­ma­ti­sie­rung eigent­lich bedeu­tet. Erschreckend ist vor allem eines: dass so etwas wei­ter­ge­ge­ben wird, weil eine Gene­ra­ti­on über­for­dert ist mi der Auf­ar­bei­tung sol­cher Erlebnisse.

    Oft ver­weh­ren sich Jugend­li­che gegen eine sol­che Bezeich­nung. Ist die Jugend doch stär­ker, als wir es ihr zutrauen?

    NENNEN Es kommt immer auf die Rela­ti­on an. Coro­na hat die übli­chen Erwart­bar­kei­ten erheb­lich ver­un­si­chert, gera­de das wür­de ich nicht als schlimm betrach­ten, son­dern eher als Chan­ce. Unsi­che­re Zei­ten bie­ten immer auch neue Mög­lich­kei­ten. Wir leben ohne­hin in einer Zeit, in der die Jugend im Auf­wind begrif­fen ist. Coro­na war nur eine Ver­zö­ge­rung des anste­hen­den Generationenwechsels.

    Inso­fern ist es ein soli­der Selbst­be­zug, sich nicht in die Opfer­rol­le drän­gen zu las­sen. Es ist kei­ne ver­lo­re­ne, es ist eine kom­men­de Gene­ra­ti­on. Was mir aber von Stu­die­ren­den mit­ge­teilt wird, zeigt, dass die Bela­stun­gen gera­de für die unter 30–Jährigen ganz erheb­lich sind. 

    Können/sollten da nicht eher die Erwach­se­nen etwas lernen?

    NENNEN Aller­dings. Es sind von Anfang an in der Coro­na­kri­se bestimm­te Zei­chen gesetzt wor­den, die ein gene­rel­les Miss­trau­en in die Jugend signa­li­siert haben. Das wider­spricht den Prin­zi­pi­en huma­ner Päd­ago­gik und huma­ner Psy­cho­lo­gie. Offen­bar sind Gesell­schaft und Staat noch immer nicht reif genug, vom Obrig­keits­den­ken abzusehen.

    Aber die­ser Para­dig­men­wech­sel ist längst über­fäl­lig. Es ist zu erwar­ten, dass vie­les, was bis­lang für unmög­lich gehal­ten wur­de, plötz­lich nicht nur mach­bar, son­dern leb­bar wer­den kann.

    Wo spielt sich der größ­te Wan­del ab, wenn es denn einen sol­chen gibt?

    NENNEN Der größ­te Wan­del spielt sich in Macht­fra­gen ab. Fast über Nacht sind Poli­tik und Staat ermäch­tigt wor­den, die Geschicke der Gesell­schaft nicht nur zu bestim­men, son­dern auch zu for­men. Das wird so blei­ben. Die Kri­se hat uns vor Augen geführt, wie ver­wund­bar unse­re Syste­me sind. Das Gleich­ge­wicht der Gewal­ten ist gestört, daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te stär­ker wer­den. Wir brau­chen mehr Par­ti­zi­pa­ti­on, auch Basis­de­mo­kra­tie und vor allem auch mehr Rich­ter und rich­ter­li­che Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Pan­de­mie wur­de viel von neu­en Tugen­den gespro­chen, wie Ent­schleu­ni­gung, bewuss­te­res Wahr­neh­men von allem usw. Was wird davon bleiben?

    NENNEN Es war eine heil­sa­me und immer wie­der ver­län­ger­te Pha­se der inne­ren Ein­kehr. Man konn­te die Erfah­rung machen, was so alles von den vie­len Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten eigent­lich auch ver­zicht­bar sein kann. Aber Coro­na war nicht gleich und schon gar nicht gerecht, es hat die Schwä­che­ren sehr viel här­ter getrof­fen. Dar­auf muss eine Gesell­schaft reagie­ren, und der Staat hat die Auf­ga­be, ihr dabei zu helfen.

    Gibt es Wer­te, von denen wir uns tren­nen sollten?

    NENNEN Eini­ge Hal­tun­gen, die zuvor noch Aner­ken­nung fan­den, haben sich selbst ad absur­dum geführt: Kon­su­mis­mus ist nicht Frei­heit, Neo­li­be­ra­lis­mus ist nicht Ver­ant­wor­tung, Mis­an­thro­pis­mus ist nicht Sor­ge, Glau­bens­krie­ge sind kei­ne Dis­kur­se. Das alles hilft über­haupt nicht, den Weg in eine Zukunft zu fin­den, in der die Mensch­heit all­mäh­lich den Weg zur Selbst­ver­ant­wor­tung fin­den und gehen sollte.

    Wel­che Wer­te sind es wert, bei­be­hal­ten zu werden?

    NENNEN Die „Wer­te“, von denen immer­zu gespro­chen wird, sind oft nicht wirk­lich die eige­nen. Wir alle glau­ben zu wis­sen, wie Fami­li­en­glück, Mut­ter­lie­be, wie Jugend, Lie­be oder eine roman­ti­sche Situa­ti­on per­fekt aus­zu­se­hen haben, und wir alle kön­nen uns dabei beob­ach­ten, wie wir ent­schei­den­de Situa­tio­nen so insze­nie­ren, dass sie auch tat­säch­lich „rich­tig“ aus­se­hen. Kurz­um, wir insze­nie­ren uns und unser Leben nach Maß­stä­ben, die nicht die eige­nen sind. Ich möch­te in mei­nem Vor­trag eine ele­men­ta­re Kri­tik an der Selbst­ori­en­tie­rung, wie sie gera­de gelebt wird, vor­brin­gen. Zugleich möch­te ich Wege wei­sen, wie es mög­lich sein könn­te, tat­säch­lich zu sich selbst zu finden. 

    Was soll­te uns die Pan­de­mie gelehrt haben?

    NENNEN Wir soll­ten end­lich gese­hen und erkannt haben, wie kost­bar mensch­li­che Ver­bin­dun­gen sind und wie sehr es auf Berüh­run­gen ankommt, im umfas­sen­den Sin­ne des Wor­tes. Das ist mei­nes Erach­tens die eigent­li­che Leh­re aus der Pandemie.