• Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Ironie und Ironiker

    Stuck-Dissonanz
    Franz von Stuck: Dissonanz.<fn>München, Vil­la Stuck via @ www.zeno.org.</fn>

    Irrtum verschleiert

    Der geläu­fig­ste Vor­wurf gegen Iro­nie dürf­te noch immer der sein, sie der Ver­stel­lung, des Betrugs, ja sogar der Lüge zu bezich­ti­gen. Das aber ist nicht wirk­lich der Fall, zwar ver­schlei­ert sich jede Iro­nie nur zu gern, sie schätzt die Anspie­lung, das­Wort­spiel, den Über­griff, aber im Unter­schied zur Lüge ist sie durch­aus dar­auf anlegt, ent­deckt zu werden.

    Bei­de, sowohl die Lüge als auch die Iro­nie ver­let­zen das Wahr­heits­ge­bot, aber sie wäh­len unter­schied­li­che Stra­te­gien, um zu errei­chen, was sie sich zum Ziel gesetzt haben: Die Lüge wird die für sie ent­schei­den­de Dif­fe­renz zwi­schen Sagen und Mei­nen, zwi­schen Behaup­tung und Wirk­lich­keit als per­sön­li­ches und bela­sten­des Geheim­nis mög­lichst dau­er­haft ver­heim­li­chen; sie wird gege­be­nen­falls wei­te­re Schutz­be­haup­tun­gen auf­stel­len, neue Legen­den bil­den, um die tat­säch­lich vor­han­de­ne Dif­fe­renz zwi­schen Wahr­heit und Unwahr­heit nur nicht spür­bar, offen­sicht­lich und offen­bar wer­den zu lassen.

    Anders dage­gen die Iro­nie, auch sie arbei­tet auf der Grund­la­ge sol­cher Dif­fe­ren­zen, aber es geht ihr nicht dar­um, eine Täu­schung auf­recht zu erhal­ten, son­dern sie möch­te gera­de von einem Irr­tum befrei­en. Für den Lüg­ner ist die Unwahr­heit ein Zweck, für die Iro­nie ist sie nur ein Mit­tel. Der Lüg­ner ver­spricht sich von der Behaup­tung der Unwahr­heit einen per­sön­li­chen Vor­teil, dem Iro­ni­ker ist dar­an gar nicht gele­gen. Er ver­sucht einen Irr­tum als sol­chen zu ent­schlei­ern, aber aus bestimm­ten Grün­den geht er nicht direkt son­dern nur indi­rekt vor. – Wür­den Iro­ni­ker und Lüg­ner auf­ein­an­der­tref­fen und soll­te der Iro­ni­ker die Lügen durch­schau­en, er wür­de auf die Ver­si­che­run­gen des Lüg­ners nicht mit der übli­chen Ent­rü­stung reagie­ren. Er wür­de viel­mehr ein Spiel mit dem Lüg­ner und mit sei­ner Lüge beginnen.

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  • Moderne

    Münsters Dionysos in der Tonne

    Philosophie aus dem Wohnmobil

    in: draußen! Straßenmagazin für Münster und Umland, Nov. 2009

    Bericht | Text und Foto: Nora Gantenbrink

    Wenn Men­schen in einem Wohn­mo­bil unter­wegs sind, gibt es dafür ver­schie­de­ne Grün­de. Sie könn­ten Urlaub machen, eine wei­te Rei­se, jeman­den besu­chen. Oder sie könn­ten ein­fach frei­heits­lie­bend sein, viel­leicht unge­wöhn­lich oder bei­des. Mög­li­cher­wei­se auch arm oder eigen. Aber es gibt auch Grün­de, die man nicht erwar­tet. Wie die von Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, die Nora Gan­ten­brink für die drau­ßen! in Erfah­rung gebracht hat.

    _Nennen ist Pri­vat­do­zent für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät in Karls­ru­he, hat in Mün­ster vor gut 20 Jah­ren stu­diert, mit „sum­ma cum lau­de” pro­mo­viert und ist dann weg­ge­gan­gen. Mit dem Her­zen ist er aber doch daheim geblie­ben. Seit fast vier Jah­ren zieht es Nen­nen immer wie­der für ein paar Tage im Monat in unse­re West­fa­len­stadt – zum Nach­den­ken. Nicht allein die Tat­sa­che, dass der Phi­lo­soph dafür in einem 12 Meter lan­gen, ame­ri­ka­ni­schen „Winnebago”-Wohnmobil lebt, ist bemer­kens­wert, son­dern vor allem das, was er sich dar­in ausdenkt.

    _Zuletzt hat Heinz-Ulrich Nen­nen ein „Phi­lo­so­phi­sches Café” im mün­ste­schen Schloss­gar­ten initi­iert. Oder bes­ser gesagt, Ver­tre­ter der Volks­hoch­schu­le hat­ten ihn gefragt, ob er die Ver­an­stal­tung mode­rie­ren wol­le, und er wil­lig­te ein. Seit­dem tref­fen sich inter­es­sier­te Men­schen zu unter­schied­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen mit Heinz-Ulrich Nen­nen und phi­lo­so­phie­ren. Das The­ma ent­wickelt sich nach klas­sisch-anti­ker Manier: Im Dis­kurs des Augen­blicks. Beim letz­ten Mal sprach Nen­nen mit den Teil­neh­mern über das „Schei­tern”. „Ein wich­ti­ges The­ma”, weiß Nen­nen, „es geht fast immer im Leben um die Angst des Men­schen davor, bei irgend­was zu schei­tern. Und es gibt des­halb auch vie­le, die sich als geschei­tert emp­fin­den.” Und weil Nen­nen sein gan­zes Leben nichts ande­res gemacht hat, als mit Men­schen zu reden, hat er auch aus die­ser Beob­ach­tung eine Idee ent­ste­hen las­sen. Er möch­te in Mün­ster eine „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz” ein­rich­ten, eine Art Lebens­hil­fe. Denn er sieht wie Sokra­tes eine Schnitt­stel­le zwi­schen Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie, zwi­schen Medi­ta­ti­on und Markt­platz. „Mich inter­es­sie­ren vor allem Men­schen, die nach ihrer eige­nen Sou­ve­rä­ni­tät suchen”, erklärt Nen­nen. „Zur Sou­ve­rä­ni­tät gehört es, über eige­ne Ideen zu ver­fü­gen, um selbst dar­über zu ent­schei­den, was wann rich­tig, schön und gut sein soll.” „Wor­an erkennt man eigent­lich die Zie­le, die man selbst ver­fol­gen möch­te?”, stellt Nen­nen die ent­schei­den­de Frage.

    _Nennen glaubt, dass vie­le ihr Leben des­halb für unvoll­kom­men oder geschei­tert erach­ten, weil sie nach fal­schen Idea­len in der Lie­be, im Beruf und im Selbst­ver­ständ­nis suchen. Idea­le, die die Gesell­schaft vor­gibt, die dadurch aber nicht von Rich­tig­keit geprägt sind und mei­stens nichts mit den eige­nen gemein haben. „Nietz­sche ist geschei­tert dar­an, selbst Nietz­sche sein zu wol­len. Eben­so wie Micha­el Jack­son, der das Pro­blem hat­te, nicht bes­ser sein zu kön­nen als Micha­el Jack­son.” Zwän­ge, Idea­le, Ver­sa­gens­äng­ste – Nen­nen hat sich mit den Abgrün­den der mensch­li­chen See­le aus­ein­an­der­ge­setzt, in sei­ner „Phi­lo­so­phi­schen Ambu­lanz” wird er des­halb anre­gen, mit ihnen nach „Alter­na­ti­ven im Leben zu suchen.”

    _Warum er in einem „Win­ne­bago” beson­ders krea­tiv ist, erklärt Nen­nen mit der Bewe­gung um ihn her­um, die er als inspi­rie­rend erach­tet. Fuß­gän­ger, Nacht­schwär­mer, Wach­leu­te – je nach­dem, wo Nen­nen mit sei­nem Cam­per steht, umge­ben ihn ande­re Gege­ben­hei­ten, die er von sei­nem „Denk­bü­ro” stu­die­ren kann. Die Vor­le­sung für sei­ne Stu­den­ten an der Uni in Karls­ru­he schreibt er jedoch am lieb­sten im Hot Jazz Club, momen­tan arbei­tet er an einer Vor­trags­rei­he über „Sinn und Sinn­lich­keit”. Danach ist Seme­ster­an­fang und Nen­nen wird für eine Wei­le erst­mal weg sein. Sicher ist, er wird wie­der­kom­men. Und er wird wei­ter phi­lo­so­phie­ren. Der rus­si­sche Schrift­stel­ler Fjo­dor Michai­lo­witsch Dosto­jew­ski hat ein­mal gesagt: „Phi­lo­so­phie ist etwas Not­wen­di­ges und heut­zu­ta­ge täte sie aller­or­ten Not, vor­nehm­lich die prak­tisch ange­wand­te, aber sie wird nicht genü­gend beach­tet.” Was Mün­ster und Nen­nen betrifft, so hat Dosto­jew­ski nicht Recht behalten.

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    drau­ßen!

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    Der Bildungsnomade

    Hochschullehrer Dr. Heinz-Ulrich Nennen arbeitet in einem amerikanischen Reisemobil am Kanal

    Der Bildungsnomade

    Von Julia Gottschick 

    Westfälische Nachrichten, 26.06.2015

    Mün­ster – Unter einem grü­nen Schirm, zwi­schen Bir­ken­stäm­men, sitzt der Phi­lo­soph am Dort­mund-Ems-Kanal und tippt in sein Note­book. (…) War­um er in Mün­ster am Kanal arbei­tet, in einem Heim auf Rol­len? „Na“, ant­wor­tet der Mann, der in Rhei­ne gebo­ren ist, und schiebt sich eine silb­ri­ge Locke hin­ters Ohr, „weil Mün­ster mei­ne Hei­mat ist und ich ein gei­sti­ger Noma­de. Ich brau­che stän­dig Per­spek­tiv­wech­sel.“ Sess­haf­tig­keit ist nichts für einen wie ihn, der am Kanal „gedul­det ist“ („man kennt mich hier“) und in Karls­ru­he im Hotel über­nach­tet. Mit dem Win­ne­bago dort­hin zu fah­ren, das hat er schnell dran­ge­ge­ben. „35 Liter Super schluckt der, und es kostet Ner­ven, ihn zu fah­ren“, ver­rät Nen­nen und schickt ein belu­stig­tes Blit­zen aus Bern­stein-Augen hin­ter­her. Fährt er mit dem Wagen durch die Stra­ßen, blei­ben die Leu­te am Rand ste­hen und lachen. „Das ist ein­fach ein Unge­tüm.“ Teil sei­ner phi­lo­so­phi­schen Exi­stenz, sei der Win­ne­bago eine Art Selbst­ver­such. Anders als Dio­ge­nes in der Ton­ne ist der 60-Jäh­ri­ge jedoch mit der Zeit gegan­gen – immer­hin hat der Wagen Dusche und Klimaanlage.

    Und so sitzt Heinz-Ulrich Nen­nen heu­te im Wind­schat­ten des Unge­tüms, Bir­ken­pol­len im Haar und klei­ne Gewit­ter­flie­gen auf den Schul­tern, und berei­tet sei­ne Vor­le­sun­gen vor. An der „Gren­ze zwi­schen Psy­cho­lo­gie, Anthro­po­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie“ geht er der „Erschöp­fung des Selbst“ auf die Spur und arbei­tet her­aus: Was ist das genau, ein Burn­out? Und wie ent­ste­hen Depres­sio­nen? Dafür doku­men­tiert er, was in den Köp­fen der Men­schen heu­te so vor­geht. Beleuch­tet den krank­ma­chen­den Drang, sich für alles ver­ant­wort­lich zu fühlen. (…)

    In den Seme­ster­fe­ri­en soll Nen­nens neu­es Buch erschei­nen. „Die Mas­ken der Göt­ter“, sagt er, sei ein Stück Psy­cho­lo­gie auf der Grund­la­ge von Göt­ter­ge­schich­ten. Exper­ten in Lie­bes- und Kriegs­an­ge­le­gen­hei­ten, sei­en alle Gott­hei­ten schon immer unse­re Pro­jek­tio­nen gewe­sen. „Und weil sie das sind, sind sie nicht nichts.“

    Ein hel­ler Kopf, der Mann am Kanal, der dort eine eige­ne „Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz“ betreibt. Der Begriff sei ein Gag, räumt er ein, sein Anlie­gen jedoch ernst gemeint. Wer zu ihm kommt, dem hilft er, „durch Erwä­gen neue Ein­sich­ten zu gewin­nen“. Phi­lo­so­phie als See­len­heil­kun­de also, Bera­tung zur Selbst­be­ra­tung – „für alle Zwei­fels­fäl­le des Lebens, des Den­kens und nicht zuletzt des Fühlens“.

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  • Anthropologie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Geldhandel als Krieg

    Auguste Rodin: Das Höllentor

    Augu­ste Rodin: Der Den­ker. Detail aus: Das Höl­len­tor; Musée d’Orsay. Foto: Ste­fan Kühn via @ Wiki​me​dia​.org, Crea­ti­ve Com­mons 3.0 (CC-BY-SA 3.0).