Münsters Dionysos in der Tonne

Philosophie aus dem Wohnmobil

in: draußen! Straßenmagazin für Münster und Umland, Nov. 2009

Bericht | Text und Foto: Nora Gantenbrink

Wenn Menschen in einem Wohnmobil unterwegs sind, gibt es dafür verschiedene Gründe. Sie könnten Urlaub machen, eine weite Reise, jemanden besuchen. Oder sie könnten einfach freiheitsliebend sein, vielleicht ungewöhnlich oder beides. Möglicherweise auch arm oder eigen. Aber es gibt auch Gründe, die man nicht erwartet. Wie die von Dr. Heinz-Ulrich Nennen, die Nora Gantenbrink für die draußen! in Erfahrung gebracht hat.

_Nennen ist Privatdozent für Philosophie an der Universität in Karlsruhe, hat in Münster vor gut 20 Jahren studiert, mit „summa cum laude” promoviert und ist dann weggegangen. Mit dem Herzen ist er aber doch daheim geblieben. Seit fast vier Jahren zieht es Nennen immer wieder für ein paar Tage im Monat in unsere Westfalenstadt – zum Nachdenken. Nicht allein die Tatsache, dass der Philosoph dafür in einem 12 Meter langen, amerikanischen „Winnebago”-Wohnmobil lebt, ist bemerkenswert, sondern vor allem das, was er sich darin ausdenkt.

_Zuletzt hat Heinz-Ulrich Nennen ein „Philosophisches Cafe” im münsteschen Schlossgarten initiiert. Oder besser gesagt, Vertreter der Volkshochschule hatten ihn gefragt, ob er die Veranstaltung moderieren wolle, und er willigte ein. Seitdem treffen sich interessierte Menschen zu unterschiedlichen Fragestellungen mit Heinz-Ulrich Nennen und philosophieren. Das Thema entwickelt sich nach klassisch-antiker Manier: Im Diskurs des Augenblicks. Beim letzten Mal sprach Nennen mit den Teilnehmern über das „Scheitern”. „Ein wichtiges Thema”, weiß Nennen, „es geht fast immer im Leben um die Angst des Menschen davor, bei irgendwas zu scheitern. Und es gibt deshalb auch viele, die sich als gescheitert empfinden.” Und weil Nennen sein ganzes Leben nichts anderes gemacht hat, als mit Menschen zu reden, hat er auch aus dieser Beobachtung eine Idee entstehen lassen. Er möchte in Münster eine „Philosophische Ambulanz” einrichten, eine Art Lebenshilfe. Denn er sieht wie Sokrates eine Schnittstelle zwischen Philosophie und Psychologie, zwischen Meditation und Marktplatz. „Mich interessieren vor allem Menschen, die nach ihrer eigenen Souveränität suchen”, erklärt Nennen. „Zur Souveränität gehört es, über eigene Ideen zu verfügen, um selbst darüber zu entscheiden, was wann richtig, schön und gut sein soll.” „Woran erkennt man eigentlich die Ziele, die man selbst verfolgen möchte?”, stellt Nennen die entscheidende Frage.

_Nennen glaubt, dass viele ihr Leben deshalb für unvollkommen oder gescheitert erachten, weil sie nach falschen Idealen in der Liebe, im Beruf und im Selbstverständnis suchen. Ideale, die die Gesellschaft vorgibt, die dadurch aber nicht von Richtigkeit geprägt sind und meistens nichts mit den eigenen gemein haben. „Nietzsche ist gescheitert daran, selbst Nietzsche sein zu wollen. Ebenso wie Michael Jackson, der das Problem hatte, nicht besser sein zu können als Michael Jackson.” Zwänge, Ideale, Versagensängste – Nennen hat sich mit den Abgründen der menschlichen Seele auseinandergesetzt, in seiner „Philosophischen Ambulanz” wird er deshalb anregen, mit ihnen nach „Alternativen im Leben zu suchen.”

_Warum er in einem „Winnebago” besonders kreativ ist, erklärt Nennen mit der Bewegung um ihn herum, die er als inspirierend erachtet. Fußgänger, Nachtschwärmer, Wachleute – je nachdem, wo Nennen mit seinem Camper steht, umgeben ihn andere Gegebenheiten, die er von seinem „Denkbüro” studieren kann. Die Vorlesung für seine Studenten an der Uni in Karlsruhe schreibt er jedoch am liebsten im Hot Jazz Club, momentan arbeitet er an einer Vortragsreihe über „Sinn und Sinnlichkeit”. Danach ist Semesteranfang und Nennen wird für eine Weile erstmal weg sein. Sicher ist, er wird wiederkommen. Und er wird weiter philosophieren. Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat einmal gesagt: „Philosophie ist etwas Notwendiges und heutzutage täte sie allerorten Not, vornehmlich die praktisch angewandte, aber sie wird nicht genügend beachtet.” Was Münster und Nennen betrifft, so hat Dostojewski nicht Recht behalten.

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