Kultur ist ein Mittel, nicht einfach nur verrückt zu werden, angesichts der überfordernden Komplexität einer Welt, der wir als Individuen und auch als Gattung ziemlich gleichgültig sind. Es gilt, darüber hinaus zu gehen und Ordnung zu schaffen, also Bedeutungen. Kultur bietet Orientierung und Schutz, sie gewährt Erwartungssicherheit, basale Gefühle und die Erfahrung, getragen sein von wieder erkennbaren Strukturen, die verläßlich sind.
Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich daran das eigene Orientierungsvermögen selbst wieder orientieren läßt. Daher ist Orientierungsorientierung von so große Bedeutung, denn Sinn verschafft Sicherheit im Geiste, und das in einer Welt, die übermächtig und eigentlich auch unbeherrschbar erscheint. Aber die Welt läßt sich in Geschichten verstricken, so daß wir uns wie an einem Ariadnefaden im Labyrinth einer immer unübersichtlicher werdenden Welt orientieren können, obwohl wir sie als ganze gar nicht überschauen.
Menschen sind Orientierungswaisen. Jedes Tier ist vollkommen integriert in den angestammten Lebensraum. — Man möchte annehmen, daß ›die‹ Natur mit dem Menschen das Spiel eröffnet hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaffen, das sich selbst orientieren kann. Inzwischen ist die Welt fast vollständig umgebaut worden. Schon bald werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben.
Der Anspruch, sich in diesen künstlichen Welten zu orientieren, steigt ständig. Zur Orientierung braucht es inzwischen Orientierungsorientierung. Dabei soll gerade auch die Individualität zum Zuge kommen. — Die Zeiten sind vorbei, in denen traditionelle Rollen mustergültig gelebt werden mußten, vor allem Geschlechteridentitäten, die keinen Ausbruch, keine Abweichung, keine Sperenzien duldeten. Immer weniger ›Sinn‹ ist vorgegeben, was eben bedeutet, sich selbst zu orientieren.
Seit alters her werden einschlägige Antworten auf letzte Fragen immer wieder neu von den Mythen gegeben, die das Kunststück beherrschen, Weltvertrauen und Zuversicht zu schaffen. Wie das geschieht, das soll mit immer wieder neuen Einsichten im Philosophischen Salon zur Erfahrung gebracht werden. — Menschen sind kosmische Waisen, ausgesetzt in dem Bewußtsein, sich selbst bedenken zu müssen.
16. Mai 2019 | Prof. Dr. Hans-Peter Schütt | Karlsruhe
Amor und Psyche
13. Juni 2019 | Dr. Joachim Hammann | Frankfurt
Die Heldenreise
4. Juli 2019 | Prof. Dr. Dieter Birnbacher | Düsseldorf
Über Moralisierung
18. Juli 2019 | Prof. Dr. Philipp Hübl | Berlin
Der Untergrund des Denkens
25. Juli 2019 | Prof. Dr. Jan Söffner | Friedrichshafen
SS 2019 | freitags | 11:30-13:00 Uhr | Café NUN | Gottesauer Str. 35 | Karlsruhe
Beginn: 3. Mai 2019 | Ende: 26. Juli 2019
Und sie laufen! Naß und nässer Wird’s im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! hör mich rufen! — Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. »In die Ecke, Besen! Besen! Seid’s gewesen. Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister.
(Goethe: Der Zauberlehrling)
In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.
Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie
der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.
Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswech sel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.
Oberseminar: Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II
SS 2019 | freitags | 14:00-15:30 Uhr | Raum: 30.91-009
Beginn: 27. April 2019 | Ende: 27. Juli 2019
Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.
Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tat sächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.
Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.
So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.
Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.
Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.
Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.
Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.
Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!
Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.
Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein. Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.
Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.
Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.
Die Reihe ZeitGeister erscheint mit insges. 7 Bänden bei tredition: → Reihe ZeitGeister
Lucas Cranach der Ältere: Melancholie. Nationalgalerie, Kopenhagen.<fn>Public domain via Wikimedia Commons.</fn>
Erläuterungen zur Psychogenese
Bereits die Ideale, an denen das eigene Selbstverständnis ausgerichtet wird, können korrupt sein. Oft wird auf naive, vor allem unreflektierte Weise das Unmögliche erwartet, etwa ein vollkommenes Selbst, das man zu finden oder zu heben versucht, als wäre es wie ein versunkenes Schiff, wie der Schatz in einem Berg, der von einem eifersüchtigen Drachen bewacht wird. — Viele der einschlägigen Ideale bedürfen der philosophischen Kritik, sie kommen irgendwoher, stellen maximale Ansprüche und werden doch nie und nirgends befragt, woher sie eigentlich ihre Autorität und ihren Anspruch auf Geltung nehmen. Dagegen ist es erst einmal von Interesse, ganz allgemein zur Kenntnis zu nehmen, was sich eigentlich so alltäglich im Selbst abspielt, welche Konflikte immer wieder neu entschieden werden müssen.
Wenn mit dem Ende der Kindheit auch noch das persönliche Reflexionsvermögen hinzukommt, wenn also dieser höhere Bewußtseinsgrad dann auch noch beherrscht werden soll, so wird schnell Chaos daraus. Schamgefühle, Ängste, Irrationalismen kommen auf, die sich gar nicht so einfach beherrschen lassen. — Nicht nur die Ideale sind problematisch, auch werden falsche Erwartungen gehegt. Und alles, was sich nicht erreichen läßt, wird womöglich zum Anzeichen einer persönlichen Unzulänglichkeit, die schlichtweg so gar nicht attestiert werden kann.
Wer glaubt, ein für allemal mit diesen Problemen fertig werden zu können und sich schämt, weil es immer noch nicht gelungen ist, diesem Ideal zu entsprechen, macht sich selbst unglücklich. Wer innere Probleme in der Außenwelt oder äußere Probleme in der Innenwelt anzugehen versucht, der irrt nicht nur, sondern ist per se falsch orientiert. Persönlich zu verantwortendes, psychisches oder soziales Unglück entsteht auch dann, wenn die Ideale korrupt sind, wenn wir von der Lösung eine falsche Vorstellung haben, wenn wir mit falschen Mitteln agieren oder etwas Unmögliches versuchen, vor allem aber, wenn wir Innen- und Außenwelt gegeneinander setzen. — Wir sollten uns die vielen Fronten vor Augen zu führen, an denen die Konfliktlinien verlaufen, an denen immer wieder neue Kämpfe ausbrechen müssen, von Augenblick zu Augenblick, um zu verstehen, welche Orientierungsleistungen ohnehin bereits erbracht werden.
Es ist gar nicht verwunderlich, daß sich inzwischen Anzeichen mehren, die mehr und mehr auf eine Erschöpfung des Selbst verweisen. Noch fehlt der philosophische Blick für die erstaunlichen Weiten unserer Innenwelten und vor allem fehlt noch jegliches Verständnis dafür, was sich ohnehin schon so alles ereignet, wenn die Götter in uns wieder einmal die uralten Streitigkeiten aufleben lassen.
Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse
Am 17. Juli 1999 hielt Peter Sloterdijk im oberbayerischen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Menschenpark“ – eine in Inhalt und Form überaus provokante Auseinandersetzung mit Fragen der Gentechnik im allgemeinen und des Klonens im besonderen. In über 1000 Artikeln und Rundfunkbeiträgen sowie zahllosen Leserbriefen artikulierte sich das Unbehagen an Sloterdijks unbequemen, schnell unter Faschismusverdacht gestellten Überlegungen.
Gerade dieser Skandal hielt sich beträchtlich lang in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Eskalation der Debatte begann, wie so viele zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, verlief dann aber doch anders und endete eben nicht mit der Exkommunikation. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreichte seinen Kulminationspunkt mit dem Philosophen–Kongreß in Konstanz und endete, als die Frankfurter Buchmesse eröffnet wurde.
Die Karawane öffentlicher Aufmerksamkeit war längst weitergezogen, so daß kaum Jemand ein winziges aber entscheidendes Detail noch hätte zur Kenntnis nehmen können. — Nur wer lange genug vor Ort blieb, einfach mit dem Gefühl, das könne noch nicht alles gewesen sein, sollte belohnt werden durch die Information über eine Begebenheit, auf die nur die Wirklichkeit kommt. Das Fazit ist dann auch überraschend mitten aus dem Leben gegriffen.
Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgen-abschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. Königshaus & Neumann, Würzburg 2003. [ISBN: 978-3-8260-2642-3] 650 S. 49,80 EUDieses merkwürdige Detail war zwar schon frühzeitig bekannt, aber nicht ganz. Die inkriminierte Rede war schon zwei Jahre zuvor im Theater zu Basel auf einer Sonntagsmatinee zu Gehör gebracht und mit Gelächter goutiert worden. Die Ironie des ganzen Arrangements, die Spitzfindigkeit dieser Kritik am Humanismus, das Groteske an der These, der Humanismus habe versagt, man müsse nunmehr unter Einsatz der Gentechnik an die Verbesserung, vulgo, an die Züchtung des Menschengeschlechts herangehen, war unter dem Ausdruck großer Heiterkeit vom Publikum aufgenommen worden. Das alles hatte der Redner selbst zu Protokoll gegeben in den vielen Interviews dieser Tage und Wochen.
Was er jedoch offenbar nicht ohne Hintersinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein ebenso winziges wie entscheidendes Detail. Darauf hatte niemand kommen können, der nicht dabei gewesen ist oder, der nicht nachrecherchiert hat im Theater zu Basel, was es mit dieser Matinee auf sich gehabt haben könnte. — Sloterdijk hatte höchstselbst berichtet von dieser Veranstaltung, in der er also anwesend gewesen sein muß. Was er aber nicht ausgeplaudert, sondern mutmaßlich ganz bewußt verschwiegen hat, war die nicht unerhebliche Tatsache, daß dieselbe Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Theater zu Basel von einem Schauspieler vorgetragen worden war. Es waren zwar dieselben Worte, aber Redner, Publikum und auch die Kulissen waren wie ausgewechselt. Die Ironie, die Satire und die humane Kritik am Humanismus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Berichterstatter vor Ort, die den Skandal suchten und fanden. Sie mißachteten dann auch die Signale der Ironie, sondern sahen und hörten, was sie gesehen und gehört haben wollen.
Es wäre ein wünschbarer Nebeneffekt dieser Studie, würde es künftig hin und wieder eine derartige Untersuchung in einem ähnlichen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qualität der Medien und ihrer Vertreter einmal mehr einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei lassen sich große qualitative Unterschiede feststellen: Es gibt durchaus positive Beispiele auch in dieser Debatte, wo Berichterstatter und Kommentatoren mit gutem Gespür, großem Feingefühl und nicht zuletzt auch mit Sachkenntnis vorgegangen sind. Vorentschiedenheit und beflissentliche Parteilichkeit, gepaart mit Unverständnis, sind dagegen häufig die entscheidenden Faktoren für definitiv schlechte, falsche, möglicherweise bewußt falsche Berichterstattung, mit der niemandem und schon gar nicht der Öffentlichkeit gedient sein kann.
Die vorliegende Chronik der Sloterdijk-Debatte ist zugleich ein philosophisches Experiment, den Fall einer Skandalisierung einmal bewußt systematisch zu rekonstruieren, um zu beobachten, wie sich Information und Desinformation, Inszenierung und Gegeninszenierung zueinander verhalten, wie sich Öffentlichkeit im Zeitalter ihrer Medienförmigkeit konstituiert, wie sich dabei die Alltagsvernunft ausnimmt und wie es um die Idealität idealer Diskurse bestellt ist, — alles wiederum beobachtet unter Anleitung eines Chronisten und bewertet aus den wechselnden Perspektiven eines Zuschauers, von dem angenommen wird, daß dieser sich auf etwas Besonderes versteht: „Die Kunst des Zuschauers“, erst allmählich herauszubekommen, was eigentlich gespielt wird.
Bezaubernde Bilder bezeugen, wie innig die Philosophie allem zugetan ist, was Flügel verleiht.
Bei Hegel beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung. – Platon schildert das Aufsteigen zur Erkenntnis mit der Allegorie vom Seelenwagen, bei dem es darum geht, am Triumphzug der Götter über das nächtliche Firmament, quer über die Milchstraße bis hin zum Reich der Ideen teilnehmen zu können. Aber den allermeisten Zeitgenossen fehle es dabei an “Federn”, auch beherrschen sie nicht die Selbstführung…
Die Gedanken sind frei, es kommt darauf an, sie schweben, fliegen und aufsteigen zu lassen. Es kommt darauf an, daß sie stets offen bleiben, sich inspirieren zu lassen.
Wenn herkömmliche Orientierungen unsicher werden, dann stellen sich Fragen der Selbstorientierung. Neue Antworten lassen sich jedoch erst finden, wenn zuvor genügend Abstand genommen wird. Erst aus der Distanz läßt sich das Ganze umfassend in den Blick nehmen. – Nur so kommt das Neue ins Denken und dazu ist Philosophie unverzichtbar. Philosophieren bedeutet, sich durch eigenes Denken zu orientieren, gerade dann, wenn vieles in der Schwebe ist.
Neben dem philosophischen Dialog als intensiver Form, sich in Themen von existentieller Bedeutung einzufühlen, um sie zu erörtern, bietet das Philosophische Café die Möglichkeit, auch in größeren Gruppen tiefer miteinander ins Gespräch zu kommen. – Es gilt, nicht einfach nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern alle erdenklichen Positionen vorbehaltlos zu erörtern. So wird die Sache selbst allmählich gemeinsam entwickelt und nicht selten lassen sich ihr ganz neue Seiten abgewinnen. Manches erscheint dann in anderem Licht, so daß sich auch für die eigene Stellungnahme ganz neue Perspektiven eröffnen.
Das Philosophische Café versteht sich als Forum für eine Philosophie, die erst im gemeinsamen Gespräch aufkommen kann. Das Thema wird in der Regel nicht vorgegeben, es ergibt sich zwanglos fast wie von selbst. Der Gang des Gesprächs ist offen und dabei ist es nicht so entscheidend, wie sich andere Philosophen bereits dazu geäußert haben. Gewiß ist es anregend zur Kenntnis zu nehmen, was bereits gesagt worden ist, aber viel wichtiger ist es, sich selbst beim gemeinsamen Philosophieren zu erfahren.
Überzeugungen sollen nicht einfach nur vertreten, sondern dargelegt werden. Die Situation ist handlungsentlastet, nichts muß beschlossen werden. Niemand muß sich überzeugen lassen, denn wir überzeugen uns ohnehin immer nur selbst. Entscheidend ist, das eigene Denken an den Tag zu legen. Erst dann wird jene Freiheit spürbar, von der die Höhenflüge der Philosophie getragen werden. – Philosophie hat eben auch ihre Praxis: Es ist die Freude daran, wie unterschiedlich die Perspektiven doch sein können.
Kaum eine davon ist ohne Berechtigung, aber nur wenige davon sprechen wirklich fürs Ganze. Es gibt viele aber nicht unendlich viele Hinischten, aus denen sich dieselbe Sache betrachten läßt. Entscheidend sind daher vor allem solche Hinsichten, die in der Sache weiter bringen und helfen, besser zu verstehen, worauf es ankommen könnte.
Für den Gang solcher Untersuchungen prägte Hegel das Bild vom Flug der Eule der Minerva und bei Platon findet sich die Allegorie vom Seelenwagen. Diese bezaubernden Bilder bezeugen, wie innig die Philosophie allem zugetan ist, was Flügel verleiht, weniger um abzuheben, sondern um einen guten Überblick und neue Einblicke zu erhalten. – Alles was Flügel verleiht, hat daher einen symbolischen Bezug zur Philosophie, weil Federn zum Schreiben taugen, weil sie Gedanken beflügeln und weil dann nur noch die notwendige Seh-, Erkenntnis- und Urteilskraft dazu gehört, um erkennen zu können, was sich in der Dämmerung abzuzeichnen beginnt.
Das ultimative Ziel solcher Reisen ist Platon zufolge eine Expedition ins Reich der Ideen. Beim Ausritt zusammen mit den Göttern über das nächtliche Firmament alle 10.000 Jahre kommt es darauf an, sehr schwere Himmelspassage zu bestehen, mit einem allzu menschlichen Gespann aus einem guten und einem schlechten Pferd. Viele stürzen dabei ab und fallen unmittelbar wieder ins Sein ohne sich wiedererinnern zu können. – Erst hinter dieser schwierigen Himmelspassage würde man zusammen mit den Göttern die Ideen anschauen.
Es kommt darauf an, die Kunst des Schwebens zu beherrschen. Dazu braucht es ,Federn`und die wachsen nur denen die lieben, denn die Liebe in ihrem heiligen Wahn soll wiederum Ähnlichkeit haben mit dem, wie denen zumute ist, die die Ideen erschauen. Und Platon zufolge verleiht gerade die Philosophie solche Flügel, schließlich geht es ihr – nicht nur dem Namen nach, um die Liebe zur Weisheit.
Solche Gespräche sind dazu angetan, die Sache selbst wie eine Feder durch den Atem aller, die mitreden und mitdenken, in der Schwebe zu halten, um beim gemeinsamen Philosophieren wie im Flug ins Reich der Ideen unterwegs zu sein.
Der Karlsruher Hochschullehrer für Philosophie, Dr. Heinz-Ulrich Nennen, steht regelmäßig mit seinem amerikanischen Wohnmobil in Münsters Hafen. Denn das Leben dort schreibt seine Vorlesungen. In den Pausen lädt er als „ambulanter Philosoph“ zur kleinen Denkerrunde übers Denken.
In den frühen Morgenstunden, so gegen fünf Uhr, da findet er es hier am schönsten. „Wenn sich der Hafen im glatten, stillen Wasser spiegelt“, erzählt er verträumt, „da erlebt man diesen kleinen Mikrokosmos gleich doppelt.“ In diese „kleine eigene Welt“ ziehe er sich seit fast vier Jahren gerne zurück. Heinz-Ulrich Nennen arbeitet als Hochschullehrer an der Universität Karlsruhe. Aber sein mobiles Büro steht immer wieder an Münster Hafenufer.
Ein amerikanischer „Winnebago“. Es ist ein großräumiges, silbernes Wohnmobil: Baujahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanalufer gegenüber der bunten Gastro- und Flaniermeile des alten Münsteraner Industriehafens. Es ist ein schönes, stattlich ausgebautes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier komplett heimisch fühlen und auf nichts verzichten“, erklärt Heinz-Ulrich Nennen. „Ich habe lange nach diesem Wohnmobil gesucht. Es ist das einzige Modell, das diesen Luxus bietet.“ Nun ist der Winnebago sein „kleines Denkbüro“, wie er ihn liebevoll nennt. Er ist sein mobiles Schneckenhaus.
Fertighaus auf Rädern
Oft steht dieses nahezu stationär wie ein Fertighaus auf Rädern auf den ausgedienten Gleisen neben einem alten Hafenkran, der längst demontiert ist und an ein reges Leben der Hafenarbeiter erinnert. Oder im Wohnmobilhafen eines benachbarten Campingplatzes. Denn das mächtige Gefährt frisst zu viel Sprit, um darin ständig unterwegs zu sein. Will Nennen wirklich mobil sein, steigt er auf ein anderes Verkehrsmittel um. In Münster selbst ist er oft mit dem Fahrrad oder dem Auto unterwegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hinzu. Geht es weiter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins südliche Karlsruhe sind es immerhin mehr als vierhundert Kilometer, die Nennen – zumindest in der warmen Jahreszeit – nahezu jede Woche zurücklegt. Die Hälfte der Woche philosophiert er mit seinen Studenten, die andere Hälfte sucht er neues philosophisches Futter am münsterschen Kanalufer.
„Gegen halb sechs bringt die erste Welle das Leben zurück. Ganz langsam kommt sie herein“, führt er fort. „Man kann zuschauen, wie sie kommt, vorbeiläuft, vom anderen Ende wieder zurückkommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Worte mit seiner tiefen, einfühlsamen Stimme pointiert betont vorträgt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nennen mit seinen Fingern gefühlvoll einige Töne in die Luft. Es scheint als dirigiere er seine Gedanken, es scheint als spiele er auf seinem Luftklavier die Melodie des münsterschen Hafenlebens.
Sehnsucht nach Stille
Dabei mag man eine gewisse Sehnsucht nach Stille in seinen dunkelgrünen, stets offenen Augen erkennen. Aber Nennen ist keiner, der das Leben scheut. An diesem Tag kommt er gerade vom Hauptbahnhof. Er war den ganzen Tag über auf einer Philosophen-Tagung in Essen. Erst seit wenigen Minuten ist er „zuhause“. Er sitzt an seinem kleinen Schreibtisch. Den Fußboden unter ihm ziert echt anmutendes Buchen-Laminat. Zwischen den Fenstern hängen goldige Lampenhalter mit Faltschirmchen, daneben baumeln kleine Stoff-Gardinen und an den Wänden hängen Schränke in Eiche massiv. Ein bisschen US-geleiteter Biedermeier, ein wenig moderne Spätromantik oder doch deutsche Hochklassik? Der Einrichtungsstil ist nicht gleich klar.
„Die Wohnmobile werden von den Nachkommen der Indianer gebaut“, berichtet Nennen. „Eigentlich bin ich kein Eiche-Massiv-Typ. Ich stehe eher auf unterkühlte Moderne mit Selbstironie.“ Auch wenn die Inneneinrichtung durchaus anderes erahnen lässt, äußerlich hat Nennen offenbar das perfekte Heim gefunden: Der indianische Winnebago erinnert in seiner Form an amerikanische Kühlschränke. Diese klobigen, bunten oder metall-farbenen, rundlich-abgerundeten, quaderförmigen Exemplare, die nicht für die Montage in der gut bürgerlichen westfälischen Einbauküche geeignet sind. Sie müssen frei stehen. Und damit das Bild vollends perfekt ist, müssten Magnete an allen Seiten haften. Mit Notiz-Zettelchen, Fotos und Erinnerungen der schnelllebigen Welt dort draußen. Aber, so Nennen: „Entscheidend für den amerikanischen Automobilbau war die Eisenbahn und für diese wiederum der Schiffsbau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kutsche, sondern aus dem Waggonbau entwickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen breiter und größer als in Alt-Europa.“
„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“
Nennen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Das ist das erste, was auffällt. Der Hafen-Philosoph trägt ausschließlich schwarz. Aus dem Ausschnitt des wolligen Knopf-Pullis suchen sich dunkle Brusthaare ihren Weg ans Tageslicht. Mit weit geöffneten Augen schaut er über seinen grau-melierten Vollbart hinweg. Auch in seinem dunklen Haar schimmern immer wieder hellere, manchmal dünnere, manchmal dickere Strähnen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohnmobil durchaus großen Tisch steht noch das letzte, nicht ganz ausgetrunkene Rotweinglas, direkt daneben die ausgebrannten Teelichter von vergangener Nacht. Es war eine der längeren Nächte. Die kommen häufiger vor.
Dann sitzt der Philosoph immer an seinem schwarzen IBM-Laptop und beobachtet durch die gut geputzten Fensterscheiben die Welt außerhalb seines mobilen Denkbüros. Schnell erkennt man: Nennen ist kein Camper. Auch nicht der Typ, der romantisch am Lagerfeuer grillt. Nennen ist vielmehr ein Feldforscher mit mobilem Wohnbüro – ausgestattet mit UMTS-Laptop, Satelliten-TV, Navigations-Touchscreen, Schlafzimmer, Dusche und eigenem Stromgenerator. Außer Spül- und Waschmaschine ist alles an Bord. Nennen: „Ich kann hier zehn Tage lang autark leben. Dann sind die Wasser-, Gas- und Benzintanks leer.“
Partygänger am anderen Ufer
Aus diesen eigenen vier, sicheren und mobilen, Wänden beobachtet er in dunklen Nächten die Partygänger auf der anderen Uferseite des Kanalhafens. Er schaut, wie die Menschen an verschiedenen Wochentagen gehen oder wie sie in Gesprächen gestikulieren. Dann denkt er sich Geschichten dazu aus. „Die Menschen gehen jeden Tag anders“, berichtet er. „Am Sonntag flanieren sie gelassen an den Cafés und Kneipen vorbei. Sehen und gesehen werden – das ist wie auf der Promenade in Venedig.“ Wochentags hingegen sei der Gang hektischer. Die Leute seien dann gar nicht dort, wo sie gerade sind, sondern in Gedanken bereits sehr viel weiter. „Sie nehmen die Umgebung gar nicht richtig wahr, weil sie nur Distanzen überwinden. Das ist beim Flanieren ganz anders.“
Sein philosophisches Denkwerk hat Heinz-Ulrich Nennen an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster gelernt. Bereits im Teenager-Alter tauchte der gebürtige Rheinenser in der Domstadt auf, er ging hier zur Schule, studierte und promovierte vor knapp zwanzig Jahren an der philosophischen Fakultät. „Mit summa cum laude“, betont er nicht arrogant oder protzend, aber durchaus wissend. Wohl wissend und bedacht um den gesellschaftlichen Doktoren-Status, aber durchaus mit der Lebenserfahrung, dass ein „Dr.“ im Lebenslauf nicht allmächtig macht. Nach seiner Promotion dachte er, die Arbeitswelt reißt sich um ihn. Aber sie drehte sich auch ohne ihn weiter.
Atomkraftwerke und Klimawandel
Die erste Zeit war er arbeitslos und auf der Suche. Dann unterrichtete er an der Dortmunder Fachhochschule für öffentliche Verwaltung angehende Polizisten in Ethik und forschte für zehn Jahre für die Stuttgarter Akademie für Technikfolgenabschätzung rund um die Auswirkungen der Atomkraft und des Klimawandels. Zwei Themen, die den gesellschaftspolitischen Diskurs bis heute prägen. „Sie waren bereits in den sechziger und siebziger Jahren ein brennendes philosophisches Thema“, erzählt Nennen. Schließlich habilitierte er über die Sloterdijk-Debatte: „Das war Philosophie in Echtzeit. Ich habe alles aus dem Moment heraus analysiert. Ein philosophischen Experiment, um zu zeigen, dass so etwas möglich ist.“
Dieses Prinzip hat er sich bis heute zu eigen gemacht. Es sind immer wieder kleine Momente und winzige Augenblicke des Alltags und deren Menschen, die ihn inspirieren. Sie sind ein kleiner Teil eines philosophischen Analyse-Patchworks. „Ich schreibe meine Vorlesungen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gerade treibt – und um das, was sich um ihn herum in Münsters Hafen treibt. Wissenschaftlich ausgedrückt: „Empathie“, „Psyche“, „Selbstverständigung“, „Philosophie und Psychologie“ oder „Psychogenese“. Das sind die Bereiche, die Nennen in Forschung und Lehre der Karlsruher Uni hauptsächlich übernimmt.
„Der Hafen ist unberechenbar.“
Zwischendurch grüßen Spaziergänger und Hafenmeister. Die Leute hier kennen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohnmobil beobachtet er das Treiben, kommt ins Denken und findet den Stoff für seine Studenten. Nennen: „Der Hafen ist unberechenbar. Mal sind Schwimmer im Wasser, dann sind Triathlon-Wettbewerbe. Mal ist Hafenfest, dann legt die ‚MS Wissenschaft‘ an, um Baumstämme zu verladen. Mal setzt die Halle Münsterland stillgelegte Gleismaschinen für eine Ausstellung auf die alten Schienen, dann kommt plötzlich doch noch ein Güterzug.“ Dabei sind die Gleise neben dem alten Hafenkran seit Jahren längst verwaist. Als grün verwachsene, rostig-rötliche Linien ziehen sie sich unter Nennens Wohnmobil her. Sie führen die Spaziergänger und ihre Hunde und weisen ihnen einen geradlinigen, parallelen Weg zum welligen Wasser im Hafenbecken.
Es ist wohl die Abwechslung, das ständig Neue, was der Philosoph braucht. Vor allem ist es aber das Unvorhersehbare und das Unvorhergesehene. Das scheint ihn in seiner Philosophie anzutreiben. Dazu gehört auch der gewohnte, aber nicht zwangsläufi g gleichmäßige Takt der Tanzjünger im „Heaven“, einem Szeneclub, der einige Dutzend Meter Luftlinie entfernt am anderen Ufer des Kanals liegt. Wenn Nennen am Wochenende oder nach Münsters studentischem Partymittwoch spät nachts in seinem Denkbüro hockt, hört er wie sie den Beat zur frühen Tagesstunde erhöhen. Unwillkürlich denkt er an Kinder von Fließbandarbeitern: „Dieser Sound wirkt, als suchten sie das Band als Lebensrhythmus. Um drei Uhr wird immer der Arbeitstakt erhöht.“
„Ich brauche den Rummel.“
Allerdings nicht nur bei den Tänzern – auch im Wohnmobil: „Ich brauche den Rummel um mich herum. Der inspiriert mich“, bestätigt Nennen. Nachdenklich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgendwann ist es dann wieder fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem kleinen Fenster seines Winnebagos. Irgendwann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Welle das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nennen krault durch seinen ergrauten Bart. Sie kommt, läuft vorbei, kehrt vom anderen Ende wieder zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem kleinen Hafenkosmos Leben ein. Nennen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die nächste Idee.
Szenenwechsel
Es ist nicht ganz zwölf Monate später. Diesmal verabreden wir uns am anderen Ufer des Hafens gegenüber von Nennens Wohnmobil. Besser gesagt: gegenüber vom gewohnten Platz des Winnebagos. Denn der steht an diesem Tag nicht dort. Nennen hat an diesem Tag im nahen Fuestrup am Kanalübergang einen anderen Hafen für sein Denkbüro gefunden. Dieser kleiner Umstand hält ihn allerdings keineswegs vom Denken ab. Ganz im Gegenteil.
An einem Geländer schließt Heinz-Ulrich Nennen sein gemütliches Fahrrad ab. Der Rahmen hat eine äußerst außergewöhnliche Form. Das elegant, leichte Modell erinnert an Omas altes Hollandrad, aber irgendwie hat es auch etwas von einem dieser modernen Cruiser-Bikes. Der Rahmen aus geradem, schwarzen Rohr ist mehrfach verstrebt. Seine Winkel bilden die Silhouette eines schwebenden Drachens, der während der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Dieses Modell ist bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden“, erklärt Nennen. Das gilt zwar nicht für sein Exemplar, aber zumindest für das Patent: „Das Pedersen ist ein um 1890 von dem Dänen Mikael Pedersen entwickeltes Rad, das drei Jahre später zum Patent angemeldet und später in Christiania, einer alternativen Wohnsiedlung in Kopenhagen, wiederentdeckt wurde. Man hat damals überlegt, ob es möglich ist, Fahrräder aus Bambus zu bauen, was fast funktioniert hätte.“
Unscheinbare Augenblicke
Auch bei diesem seiner Verkehrsmittel weiß Nennen um die Historie. Der Winnebago als indianisches, großräumiges Lebensdomizil und eine dänische, geschichtsträchtige Leeze – für Philosoph Nennen sind sie nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Luxusgegenstände. Sie unterscheiden den landstreichenden Globetrotter, den grillenden Lampion-Camper und Heinz-Ulrich Nennen einmal mehr ganz deutlich voneinander. Gekleidet ist er wie beim ersten Treffen: Wieder trägt er einen schwarzen, eleganten Wollpulli zu einem dezent gestreiften Sakko. Der Bart sieht nicht bedeutend grauer aus, die Haare auch nicht. Nennen schreitet über die alten Güterschienen, die ihn geradeaus mit Blick in Richtung der bunten Leuchtreklame des Kinos führen.
„Wir sind sehr mächtig im Kulissenschieben“, murmelt er durch seinen Vollbart. „Es sind unscheinbare Augenblicke, die wir schnell übersehen. Augenblicke, die eine entscheidende Weiche im Leben stellen. Besonders spannend sind Irrtümer“, sagt der Philosoph. „Wir irren uns in Momenten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bauen darauf unser komplettes Leben auf. Wir bauen unsere Bühne so, wie wir es wollen. Das birgt eine gewaltige Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nennen hält kurz inne und überlegt. Etwa wir selbst? Das ganze Leben ein Theater? „Aber es eröffnet zugleich eine riesige Chance“, fährt er fort. Allerdings unter einer sehr entscheidenden, wenn nicht notwendigen Bedingung: „Wir müssen unsere Souveränität behalten! Nur dann kann man sagen: Es sind meine ganz persönlichen Erfahrungen, die ich mache, nicht irgendwelche. Ich lass’ das jetzt erst mal so laufen – und schaue einfach mal zu, was mit mir passiert.“
Philosophisches Café
Man merkt schnell, was er bereits vor diesem Gespräch angekündigt hat: Heinz-Ulrich Nennen hat sein philosophisches Schaffen in Münster ausgeweitet. Er arbeitet hier nun auch als lebensphilosophischer Wegweiser. Das einstige Phantom des Industriehafens ist zu einem Ratgeber in Münsters alltagsphilosophischer Oper geworden. Denn Nennen hat im vergangenen Jahr ein neues Betätigungs- und Denkfeld entdeckt. Er lädt inzwischen gemeinsam mit der Volkshochschule zum sonntäglichen „Philosophischen Café“ und zieht als „ambulanter Philosoph“ durch die westfälische Domstadt. Soll heißen: Der Philosoph kommt zu Besuch oder man kann ihn besuchen – in seinem amerikanischen Winnebago-Wohnmobil.
In einem benachbarten Café bestellt er einen Prosecco und plaudert. „Ich will den Menschen gedankliche Impulse mit auf den Weg geben und das Denken über das eigene Denken und Tun fördern“, erklärt er. Die Terminvereinbarung laufe modern per E-Mail und an Ambulanz möge er die „Ironie des Notdürftigen”. Denn die Philosophie sei gar nicht so akademisch, wie viele Menschen denken. „Sie ist in ihren Ursprüngen vor allem eine Lebenskunst, die auch mit Heiterkeit zu tun hat und die uns zum Schmunzeln bringt. Erkenntnis muss doch nicht weh tun. Gerade Selbsterkenntnis sollte bereichern!“ Der ambulante Philosoph selbst habe bereits in seiner revolutionär-aufmüpfigen Zeit der Pubertät angefangen, übers Denken nachzudenken. „Ich habe angefangen, in Eventualitäten zu denken”, erklärt er. Er habe damals wie viele seiner Zeitgenossen mit seiner Vorstellung von gesellschaftlichen Idealen und moralischen Regeln nicht in dieses System und diese Welt gepasst.
Student mit Selbstversorger–Hof
Als er als Teenager nach Münster kam, hauste er zunächst in einer Wohngemeinschaft. Später mietete er sich ein altes Bauernhaus in Ascheberg – rund fünfundzwanzig Kilometer entfernt der Domstadt. Nennen: „Das musste damals einfach sein!” Schließlich war es die Zeit der ländlichen Kommunen, Aussteiger und Selbstversorger. Nennen selbst war für hundertfünfzig Deutsche Mark Miete allerdings ganz bewusst allein zu Haus. Möglichst viel lesen, meditieren und diskutieren stand auf dem Programm. Wenn der kleine Kotten im Winter eingeschneit war, holte er sich seine Post auch schon mal aus einem Baum an der Straße. Nennen: „Ganz wichtig war die tägliche Berliner Tageszeitung. Die war damals ein Muss!” Nur im tiefsten Winter zog es ihn von seinem kleinen Selbstversorger-Hof in das münsterländische Domzentrum: „Wenn die Toiletten zugefroren waren, dann hatte man verloren und musste in die Stadt.”
Heinz-Ulrich Nennen spielt mit einer goldenen Flieger-Sonnenbrille, die er auf dem Tisch vor sich plaziert hat. Nach der Zeit des „programmatischen Aussteigertums” habe er dann den Weg in „diese Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mystischen Weltanschauungen der Hippie-Generation.” Mit seiner Hand vertreibt er immer wieder die Fliegen vom süßen Kaffee des Interviewers. Die eine oder andere Droge habe er damals probiert. „Nicht zum wegschädeln, sondern zur Bewusstseinserweiterung”, betont er in gelassenem Tonfall, aber durchaus mit einem stimmlich erhobenen Zeigefinger. Man könne schließlich nur solange gesund philosophieren, wie man nicht psychotische Züge annimmt und aus der eigenen Umgebung und Wirklichkeit davon fliegt. So hat er irgendwann in Büchern die Welt und in der Welt wiederum vieles an Philosophie entdeckt. Denn Philosophieren ist eine Frage der Perspektiven.
Viele verschiedene Kameraperspektiven
So hat er sich gesetzten Alters offenbar gut mit dieser Welt arrangiert – möglicherweise gar versöhnt: „Wir können uns aus vielen verschiedenen Kameraperspektiven betrachten. Der gesellschaftliche Diskurs betont immer wieder, dass wir einstimmig sein sollen. Dabei besitzt jeder Mensch doch so mannigfaltige Perspektiven auf sich selbst, dass er auch unterschiedlichen Stimmen folgen kann.” Da komme es darauf an, „Herr der eigenen Vielfalt” zu sein. Das bedeute nicht, sich an vagen Lianen durch den sozialen Großstadtdschungel zu hangeln, sondern vielmehr, die richtige Liane zu suchen, bevor man auf die weitere Lebensreise geht. Nennen: „Wir sollten in jeder Situation ganz genau ausloten, welcher Stimme wir bewusst folgen wollen. Zunächst kommt es aber darauf an, alle diese Stimmen wirklich zu vernehmen.”
Das bewusstseinserweiternde Hilfsmittel der Drogen war ihm dabei immer schon suspekt. Das gleiche gilt sowohl für die Schulmedizin, als auch die Arbeit mit Patienten, Klienten oder Kranken. So ist Nennen bewusst nicht Heilpraktiker geworden. Als ambulanter Philosoph will er nicht heilen, sondern der eigenen Souveränität zum Auftrieb verhelfen. „Im inspirierenden Dialog“, betont er. Er habe die Drogen bewusst für sein Bewusstsein eingesetzt. Aber er habe immer darüber nachgedacht, wie sie ihn ihrerseits beeinflussen, ihn hinters Licht führen und an seinen Strippen ziehen, um ihn möglicherweise aufs Kreuz zu legen. „Viele Menschen handeln wie Marionetten, die sich in Erwartungen und Idealen verwickelt haben”, gibt er zu bedenken. Weil sie nicht über ihr Denken nachdenken, seien viele Mitmenschen verstrickt und gefangen in Erwartungen, Idealen und sozialen Netzen, die sich häufig als verfehlt herausstellen, sobald das Denken darüber in Gang kommt.
Weniger Antworten als Fragen
Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psycho-Doc. Oder ist es eine typische Seminarsituation, wie Nennen sie regelmäßig mit seinen Studenten teilt? Die Wahrheit bewegt sich wohl irgendwo dazwischen. Ganz trennscharf sind die Linien zwischen Philosophie und Psychologie ohnehin nicht immer, gibt auch der Philosoph zu. Der Unterschied zwischen beiden ist wohl der Grad an Freiheit. Ein Psychologe behandle eher Störungen, die einen Menschen in seinem Leben einschränken, differenziert Nennen. Als ambulanter Philosoph hingegen will er im Menschen selbst das Hand- und Denkwerkzeug wecken, sich in seiner sozialen Umwelt zu finden und zu verorten: „Das ist Selbstprogrammierung”, sagt Nennen. „Philosophieren kostet Zeit. Wer es ausgelassen tut, entlastet sich nicht, sondern belastet sich zusätzlich.” Denn die Philosophie beherberge weniger konkrete Antworten als immer mehr Fragen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesellschaft stellen kann. Nennen: „Daher braucht es den Philosophen als Ratgeber in diesen Fragen. Wie einen Pfadfinder, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedanken, Ideale und Gefühle hindurch führt.”
So müssen seine Gesprächspartner auch die Kosten für die einstündige Winnebago-Denkerrunde von fünfzig Euro selbst bezahlen. Einen Psychologen zahlt im Regelfall die Krankenkasse. Davon, dass das deutsche Gesundheitssystem auch die philosophische „Orientierung zur Selbstorientierung”, wie Nennen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stückchen entfernt. Der gesellschaftliche Trend zum Nachdenken übers Denken sei Jahrtausende nach Platon allerdings wieder auf dem Weg zurück ins allgemeine Bewusstsein, stellt er fest: „Warum bekommt Richard David Precht sonst eine eigene Fernsehsendung?” Die Philosophie scheint gerade in der Krise und in einer Übergangszeit an Bedeutung zu gewinnen. Denn gerade dann suchen die Menschen nach etwas Neuem, woran sie sich festhalten können. Dabei sollten sie doch viel besser darüber nachdenken, wie sie sich selbst vor allem auch von neuen Seiten kennen lernen und selbst orientieren können, mahnt Nennen.
Postmoderne Zersplitterung
Nur allzuoft sieht der ambulante Philosoph unsere Ideale mehr als nur zwiespältig. „Ich habe den begründeten Verdacht, viele unsere Ideale könnten gar falsch sein”, streut er auf einmal und ein wenig plötzlich ein. „Wir treffen Entscheidungen ohne darüber nachzudenken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spielen Rollen, ohne zu wissen, warum wir sie so und nicht anders spielen. Und das Schlimmste ist: Die meisten Menschen glauben, sie wüßten, was sie denken und tun!” Kurzum: Wir machen fremde Ideale zu unseren eigenen – ohne zu wissen, warum. Einfach so. Ohne jemals darüber nachgedacht zu haben. Es ist die soziale Entfremdung und postmoderne Fragmentisierung, die der Philosoph beklagt.
Das Leben gestaltet sich zunehmend komplexer. Es ist soviel da, aber alles nur bruchstückhaft. Die Zivilisation und Verstädterung habe die Menschen zu versprengten, zersplitterten Individuen gemacht, sagt Nennen. Bei allen positiven Facetten der Individulität handelten die Menschen allerdings bei weitem noch nicht genügend selbständig und aus sich selbst heraus. Denn gerade das ist eine nicht immer wohlschmeckende Pille – vor allem für die, die in der Lage sind, souverän zu denken.
Denken wie eine freischwebende Feder
Heinz-Ulrich Nennen ist ein Freidenker. Er vergleicht die Philosophie gerne mit einer freischwebenden Feder: „Ziel des Philosophierens ist es, die Feder stets in der Schwebe zu halten.” Sie darf nicht herunterfallen, aber sie darf sich auch nicht mit dem nächsten Windstoß so einfach verabschieden. Nennen denkt bei diesem Bild insbesondere an die Ur-Philosophie eines Platon: Solange alles in der Schwebe bleibt, ist der philosophische Diskurs, der eigene Geist und damit auch das eigene Leben in Bewegung. Allerdings offenbart die Schwebe-Philosophie – nicht zuletzt in Person eines Friedrich Nietzsche – gewiss auch ein enormes Absturzpotential. Ständig das eigene, im unendlichen Raum schwebende Selbst zu suchen und zu finden, kann auch eine ewige Jagd zwischen Hase und Igel sein. Philosophie kann federleicht beflügeln, aber sie kann auch schwermütig fesseln – bis zum Exzess.
Gerade in Zeiten einer allgemeinen sozialen Verunsicherung ist der Schwebezustand logischerweise besonders prekär. Menschen brauchen Orientierung. Viele Jahrhunderte lang waren die Kirche und der Glaube an Gott dafür zuständig. Es gibt Götter, sie verkörpern unsere Ideale aber auch unsere Ängste, das steht auch für den Philosophen außer Frage. Nennen: „Sie waren und sind seit Jahrtausenden das, wonach die Menschen streben.“ In Zeiten, in denen es Religion und Kirche schwer haben, übernehmen allerdings zunehmend andere deren Aufgabe. Michael Jackson etwa. Nennen meint Idole, an denen sich die Menschen ausrichten – ohne dass diese Idole noch echte Menschen wären. Denn sie sind lediglich Bilder, ein „Imago”, wie Nennen sagt. Sie bilden das populäre Image als vermenschlichten Lebensgeist ab.
Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler
Bis zur Selbst-Aufgabe habe der „King of Pop” den Menschen etwas darbieten wollen. „Dabei hätte es doch gereicht, wenn er einfach nur dagewesen wäre”, bedauert Nennen. „Jackson musste kaum mehr etwas dafür tun, dass die Massen außer sich gerieten.” So habe er ein Konzert durch minutenlanges Stillstehen begonnen, worauf die Fans jede noch so geringe ruckartige Bewegung frenetisch feierten. „Auch bei der neuen Tournee hätten die Fans ihn vergöttert”, denkt Nennen. Aber Jackson habe zu viel gewollt: „Er wollte besser sein als Michael Jackson und hat damit den gleichen Fehler gemacht wie Nietzsche.” Während der Popstar im Alter von einundfünfzig Jahren an einer Überdosis von Schmerzmitteln starb, hielt es Philosoph Nietzsche zwar noch eine Handvoll Jahre länger aus. Aber auch er stürzte ab.
Er habe seine Feder zu hoch fliegen lassen, sagt Nennen, sich daraus sehr vage Flügel gebaut. Er hätte sich am Rat seines Vaters Daedalus orientieren sollen, stets in der Mitte zwischen dem kalten Meer und der heißen Sonne zu fliegen. Aber er sollte bekanntlich der Sonne zu nahe kommen und mit gebrochenen Flügeln abstürzen. Er ist zu lange zu hoch geflogen, um die göttliche Sonne seines eigenen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewachsten Tragflächen seiner Seele verbrannt. Er starb schließlich im Alter von sechsundfünfzig Jahren. „Irgendwann löst sich bei den Stars unserer Tage das prominente Götterbild ab und beginnt ein Eigenleben zu führen”, erläutert Philosoph Nennen. „Da kommt es auf den Charakter hinter der Kunstfigur kaum mehr an. Die Leute wollen den Menschen dahinter gar nicht mehr sehen. Sie kennen ihn schließlich überhaupt nicht, sondern spiegeln lediglich ihre eigenen Ideale auf ein unerreichbares Bild.”
Ergebnisoffene Wege
Sie verehrten anstelle dessen ein kunterbuntes Potpourri ihrer eigenen Gefühle und Sehnsüchte, wie sie etwa in einem Gott Jackson deutlich intensiver zu Tage treten, als sie es jemals in der Person hinter der Pop-Ikone könnten. Daher werde in den Regenbogenmedien so gern der so genannte „Mensch dahinter” inszeniert, was den Widerspruch nur noch weiter verschärfe. So stellt Nennen fest: „Götter müssen sich nicht rechtfertigen. Wir aber müssen das.” Dabei sei doch jeder Irrtum das Größte, das man an und in sich entdecken kann: „Gerade der Unterschied zwischen Mensch und Gott ist das, worauf es ankommt. Wenn ein Irrtum auffliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröhlich – und sogar überaus glücklich.” Kein Irrtum sei es wert, sich darüber zu ärgern. Man sollte nur erkennen und darum wissen, dass man eine „systematisch falsche Methode” benutzt hat. Anderes Denkinstrument – neue Chance. Was für Nennen zählt, ist der „ergebnisoffene Weg” – nicht eine voreilige Entscheidung oder ein vorschnelles Urteil.
Heinz-Ulrich Nennen schaut aus dem großen Fenster des Cafès auf das wellige Wasser des Kanals und die alten, verwaisten Bahnschienen, die davor durchs wild gewachsene Gras schimmern. „Wenn wir die Weiche finden, vor der wir noch alle Optionen hatten, können wir nur daraus lernen”, sagt er. Dann verabschiedet er sich für diesen Tag. Der ambulante Philosoph hat noch einen Termin. Er krault noch einmal durch seinen Bart, steigt auf sein gemütliches Pedersen-Drachenrad und fährt über die holprigen alten Waschbetonplatten davon. Aber schon bald, kommt er wieder. Das ist sicher. Zum Denken übers Denken in seinem indianischen Winnebago.
Bio
Dr. Heinz-Ulrich Nennen
Bis 1989 studierte Heinz-Ulrich Nennen Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Uni Münster. Er promovierte über „Ökologie im Diskurs“, habilitierte 2003 über die „Sloterdijk-Debatte“ und arbeitet nun als Hochschullehrer an der Uni Karlsruhe. Zuhause aber fühlt er sich noch immer in Münster.
Walter Crane: Die Rosse des Neptun. Neue Pinakothek München, Public Domain @ Wikimedia
Das multible Selbst
Die Götter der Antike sind wie die Stars unserer Tage, die Sterne von damals sind die Sternchen von heute. Alle ihre einzelnen Fähigkeiten, mit denen sie sich im Verlaufe der Zeit angereichert haben, lassen sich oft noch an den vielen Beinamen erkennen, es sind Spuren vereinnahmter Häuptlingstümer, es sind die Geister von Clans, Landschaften und Kulturen, die längst aufgegangen sind im größeren Ganzen dieser Göttergestalten. Gerade Götter verfügen über multiple Identitäten, daher fällt es ihnen so leicht, in fremder Gestalt aufzutreten, um sich selbst dabei doch treu zu bleiben. Daher beherrschen sie das Spiel mit den Masken. Besonders Zeus wechselt ein ums andere Mal für Liebesabenteuer äußerst spektakulär die eigene Gestalt: Er nähert sich seiner späteren Gattin Hera als durchnäßter, zitternder Kuckuck, als Stier der Europa, als Schwan der Leda, als goldener Regen der Danaë und um den Herakles zu zeugen, verwandelt er sich in Amphitryon, den Gatten der Alkmene.
Götter wie Zeus beherrschen einfach dieses bedeutende Kunststück, sich auch in fremder Gestalt noch immer selbst treu zu bleiben. Im Prozeß der Zivilisation wird nicht nur die Außenwelt, sondern auch die Innenwelt immer weiter ausdifferenziert. Mit der Zivilisation, Rationalität und Moderne geht daher stets auch ein Prozeß der Psychogenese einher. Götter haben uns dabei stets etwas voraus, sie verkörpern die Ideale, auf die es ankommt. Dementsprechend läßt sich anhand der außerordentlichen Fähigkeiten von Götter die Zukunft der Psyche ablesen. Das nunmehr im Zuge der Psychogenese anstehende multiple Selbst wird seinerseits über diese entscheidende göttliche Fähigkeit verfügen, sich anverwandeln zu können.
Die klassischen Einwände dagegen, das sei keine Wahrhaftigkeit mehr, sondern eben Inszenierung, es sei keine Authentizität, sondern nur Vorspiegelung im Spiele, können nicht mehr verfangen. Wir haben nicht eine einzig wahre Natur, das einzig verbindliche Selbst oder irgendeine fixierte Identität in uns, die ehrlichkeitshalber nur zum Ausdruck gebracht werden muß, während alles andere nur Lug und Trug sein würde. Die Frage nach der Wahrhaftigkeit eines Gottes, der eine Metamorphose vollzogen hat, ist unangebracht, es kommt darauf an, was sich in der Wahrnehmung ereignet. Entscheidend ist das Erleben, etwa einem Schauspieler abnehmen zu können, was er vorgibt zu sein.
Wir alle spielen Theater, was eben nicht bedeutet, daß es uns nicht ernst damit wäre. Das Maskenspiel ist dabei mehr als nur eine ausgezeichnete Metaphorik für das, was sich da eigentlich ereignet, es ist der Bruch mit der naiven Erwartung, daß wir immer dieselben sind und es auch bleiben. Wer eine Maske aufsetzt, übernimmt eine Rolle, wird somit zu jemand Anderen, wechselt also die Identität.
Auguste Rodin: Der Denker. Detail aus: Das Höllentor; Musée d’Orsay. Foto: Stefan Kühn via @ Wikimedia.org, Creative Commons 3.0 (CC-BY-SA 3.0).
Ich stand vor wenigen Stunden noch vor einem monumentalen Werk von Auguste Rodin (1840–1970): Das Höllentor, 1880–1970, — ein fast sieben Meter hoher und acht Tonnen schwerer Bronze–Guß für ein äußerst beeindruckendes Portal, das in einer Kopie seit 1949 vor dem Kunsthaus in Zürich steht. Es handelt sich dabei um eine von Dantes Inferno inspirierten Vision mit 186 Figuren, die sich um einen darüber befindlichen ›Denker‹ gruppieren, während alles derweil im Sturz begriffen ist.
Wieder einmal ist die Welt alles, was im Fall ist. Wieder einmal vollzieht sich ein Höllensturz; wieder einmal ist kein Halten mehr, wenn alle mit vergeblicher Verzweiflung einfach nur noch zu Objekten der näheren Umständen geworden sind und von einer unmenschlichen Bewegung, die einfach nur noch alles in die Tiefe reißt, mitgerissen werden.
Und über allem dann dieser Denker, es scheint, als thronte er über dem ganzen apokalyptischen Höllentheater. Er hockt brütend darüber und zermatert sich sein
Hirn über das Ganze. — Und dieser Denker thront genau dort, wo kurz zuvor noch der Gott des Christentums thronte.
So ist also der Mensch in die Verantwortung seines eigenen Schicksals getreten, auch
die Apokalypse bereiten wir uns nunmehr selbst. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht,
der Mensch macht die Geschichte selbst und ist dabei Gott und Teufel in einer Person.