Philosophie in Echtzeit

In eigener Sache: Der Zuschauer des Zuschauers

Schrei­ben ist mehr als nur eine Tätig­keit, son­dern viel­mehr eine Hal­tung…

Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2020.

Vie­les, was tag­täg­lich so daher­ge­re­det wird, käme geschrie­ben kaum noch zur Spra­che. Daher rüh­ren die gewal­ti­gen Unter­schie­de zwi­schen dem, was sich spü­ren, füh­len, den­ken, sagen, schrei­ben oder sogar erläu­tern läßt. – Jede Aus­sa­ge hat immer auch einen Stand­punkt, der zumeist aber gar nicht erst the­ma­ti­siert wird, genau dar­auf käme es aber an.

Phi­lo­so­phie in Echt­zeit bedeu­tet, den Ver­such zu unter­neh­men, einen Dis­kurs, einen Skan­dal oder eben auch die Coro­na-Kri­se zu deu­ten, noch wäh­rend sie sich soeben ereig­net. – Das ist ein gewag­tes Unter­neh­men, hängt doch wie ein Damo­kles­schwert dabei der Spruch des Boe­thi­us über dem Kopf des Phi­lo­so­phen: “Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblieben”.

Es kommt bei Boe­thi­us aller­dings nicht nur auf das Gesag­te an, son­dern auch dar­auf, ob dem Anspruch auf Phi­lo­so­phie gerecht gewor­den wird. Bei ihm war es vor allem auch der Habi­tus einer sto­isch-christ­li­chen Duld­sam­keit, die von vie­len Den­kern die­ser Epo­che emp­foh­len wur­de. Moder­ne Zei­ten geben dage­gen ande­re Bedin­gun­gen vor und bie­ten Mög­lich­kei­ten, etwa im Dis­kurs mit vie­len ande­ren wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen auf sehr viel mehr Wis­sen zurück­grei­fen zu kön­nen. Aber auch das ist hei­kel, weil die Rele­vanz einer Erkennt­nis sehr häu­fig nicht ange­mes­sen beur­teilt wird.

Richard West­all: Eng­lish: The Sword of Dam­o­cles. 1812 (pain­ting), 2008-01-20 (pho­to­graph). Ack­land Muse­um, USA.

Die Wis­sen­schaf­ten ins­ge­samt machen ein eher dis­kur­si­ves Vor­ge­hen mög­lich und erlau­ben, ganz im Sin­ne der Ver­nunft, die Ein­heit der Welt in der Viel­falt ihrer Per­spek­ti­ven syste­ma­tisch zu erfor­schen. Alte, sehr ehren­wer­te Vor­stel­lun­gen vom Göt­ter­him­mel keh­ren dabei wie­der zurück. So wie das Pan­the­on wirk­lich aller Göt­ter gedacht war, so soll­ten wir, wenn wir Phi­lo­so­phie betrei­ben, gleich­falls alle Per­spek­ti­ven sich­ten. – Das wäre Ver­nunft, eben durch Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, daher kommt es auf die Kunst des Zuschau­ers an, auf Per­spek­ti­vis­mus und dar­auf, das Den­ken selbst zu beden­ken und in der Schwe­be zu halten.

Das aktu­el­le Pro­jekt einer “Phi­lo­so­phie in Echt­zeit” ist dem Coro­na-Dis­kurs gewid­met. Es gilt, dar­über spe­ku­lie­ren zu kön­nen, was dar­auf fol­gen wird. Daher ist es erfor­der­lich, zunächst ein­mal nach­voll­zie­hen und ver­ste­hen zu kön­nen, wie es eigent­lich zum Shut-Down hat­te kom­men kön­nen. – Auch dazu gab es wie­der ein­mal kei­ne Alter­na­ti­ve, was prin­zi­pi­ell bezwei­felt wer­den muß.

Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung.
Heinz-Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Die Slo­ter­di­jk-Debat­te: Chro­nik einer Insze­nie­rung. Über Meta­phern­fol­gen­ab­schät­zung, die Kunst des Zuschau­ers und die Patho­lo­gie der Dis­kur­se. Würz­burg 2003.

Hier geht es aber nicht dar­um, im nach­hin­ein gewußt haben zu wol­len, was bes­ser gewe­sen sein wür­de. Es ist eine Situa­ti­on ohne Bei­spiel ent­stan­den, daher soll­ten wir uns ruhig etwas schwer­tun mit Erklä­run­gen und Deu­tun­gen. Auch gilt es zu beden­ken, was mit die­sem wochen­lan­gen Aus­nah­me­zu­stand selbst wie­der­um ein­her­ge­gan­gen sein wird.

Das alles wird eine Rol­le spie­len, wenn wir vor­grei­fen, um dar­über zu spe­ku­lie­ren, wel­che Welt danach zu wün­schen, zu erwar­ten oder auch zu befürch­ten sein wird. Die Zukunft ist offen, inzwi­schen wird bereits von Zukunft im Plu­ral gespro­chen, von Zukünf­ten. Es gibt also gleich meh­re­re davon.

Die Laten­zen und Ten­den­zen sind aber in den Pro­zes­sen, die von der Ver­gan­gen­heit über die Gegen­wart bis hin zu einer Zukunft füh­ren, mit­un­ter bereits ange­legt. Vie­les läßt sich vor­her­se­hen, vie­les aber ist auch noch offen. Es gilt, den Geist nach Coro­na jetzt schon zu deuten.

Das Glück muß beim Schop­fe gepackt wer­den, was aber nur gelingt, wenn es soeben vor­bei­zieht in einem glück­li­chen Augen­blick. Die Alle­go­rie für den Kai­ros hat lan­ge Locken, die aber nur vor dem Gesicht hän­gen, hin­ten ist For­tu­na kahl. Wenn sie vor­bei­ge­zo­gen ist, wird die Gele­gen­heit ver­tan wor­den sein. – Es gilt also, den Dis­kurs über die kom­men­de Zeit zu eröff­nen: In wel­cher Welt wol­len wir leben?

Und so han­delt es sich in die­sem Pro­jekt um ein wei­te­res Stück Expe­ri­men­tal­phi­lo­so­phie einer Phi­lo­so­phie in Echt­zeit. Dabei ist es von zen­tra­ler Bedeu­tung, den Stand­punkt der Betrach­tung immer wie­der zu wech­seln. Erst alle erdenk­li­chen Per­spek­ti­ven, erst alle wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen, erst alle Hin­sich­ten erlau­ben es, ganz all­mäh­lich einen kri­ti­schen Dis­kurs zu eta­blie­ren, der sich aus dem Panik­mo­dus heraushebt.

Kai­ros auf einem Fres­ko von Fran­ces­co Sal­via­ti im Audi­enz­saal des Palaz­zo Sac­chet­ti in Rom, 1552/54.

“Reden ist Sil­ber, Schwei­gen ist Gold!”, so lau­tet eine wei­te­re War­nungs­ta­fel. Bei aller Häme gegen unge­dach­te Nach­denk­lich­keit, steckt dahin­ter eine nicht unbe­rech­tig­te Erwar­tung: Was auch immer gesagt wird, Phi­lo­so­phie soll­te nicht ein­fach nur dane­ben lie­gen. Wird in ihrem Namen das Wort ergrif­fen, dann ist damit bereits ein Anspruch auf Rele­vanz und Gel­tung erho­ben worden.

Es soll­te also zu erwar­ten sein, daß Beschrei­bun­gen, Auf­fas­sun­gen, Deu­tun­gen und Ein­las­sun­gen sich als ange­mes­sen, berech­tigt, begründ­bar, ja sogar als wohl­be­grün­det erwei­sen. Aus­sa­gen mit dem Anspruch auf Phi­lo­so­phie soll­ten nach­hal­tig sein, sie soll­ten sich so schnell nicht von der Wirk­lich­keit ein­ho­len oder gar über­ho­len las­sen. Auch kann es nicht dar­um gehen, die Sache selbst aus den Augen zu ver­lie­ren und ein­fach nur zu dozie­ren, was neben­her von Belang sein mag aber mit der Sache selbst kaum noch etwas zu tun hat. Kurz­um, die Sache selbst soll­te deut­li­cher werden.

Phi­lo­so­phie zu betrei­ben bedeu­tet daher nicht nur, den Sachen auf die Spur zu kom­men, son­dern auch, sich selbst dabei zu beob­ach­ten. Also kom­men unbe­que­me Fra­gen auf wie die­se: War­um legen wir eigent­lich eine bestimm­te Wei­se der Wahr­neh­mung an den Tag, war­um kei­ne ande­re? War­um kon­stru­ie­ren wir unse­re Wirk­lich­kei­ten in bestimm­ten Situa­tio­nen nun ein­mal so und nicht anders? – Dage­gen ist es sehr bequem, eine jeweils gege­be­ne Auf­fas­sung ein­fach als alter­na­tiv­los hinzustellen.

Alle unse­re Auf­fas­sun­gen von Wirk­lich­keit beru­hen auf Kon­struk­tio­nen, also auf Anschau­un­gen, die auch anders aus­fal­len könn­ten. Wir soll­ten daher nicht nur die Sache, son­dern auch uns selbst mit ins Kal­kül zie­hen. Der Betrach­ter ist stets Teil der Betrach­tung, daher ist es so wesent­lich, das eige­ne Zuschau­er-Sein selbst noch ein­mal eigens zu betrach­ten und mit in Erwä­gung zu zie­hen. Phi­lo­so­phie geht daher nicht dar­in auf, nur Wis­sen­schaft oder nur Phi­lo­so­phie­ge­schich­te zu sein. Es geht immer auch um die Kunst, neue und viel­leicht sogar unge­wohn­te Per­spek­ti­ven syste­ma­tisch zu erschlie­ßen, um sie sodann mit­ein­an­der abzu­stim­men, viel­leicht auch gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len, so daß sich Dia­lo­ge oder auch Dis­kur­se erge­ben, die auf dem Weg zu den Sachen suk­zes­si­ve wei­ter­kom­men sollten.

Beim Phi­lo­so­phie­ren geht es zwar um Theo­rie, aber zugleich ist es eine Pra­xis, in der sich grö­ße­re Zusam­men­hän­ge aber auch ver­schwie­ge­ne Hin­ter­grün­de zei­gen. Ide­al wäre es, die Sachen selbst zur Spra­che, wenn mög­lich zum Reden zu brin­gen und dabei ist es wesent­lich, genau­er ein­schät­zen zu kön­nen, was über­haupt gesagt, wor­über dage­gen (noch) ganz bewußt geschwie­gen wer­den soll­te. Es geht daher gar nicht um die Alter­na­ti­ve, ent­we­der zu reden oder aber zu schwei­gen. – Die eigent­li­che Dif­fe­renz zwi­schen Reden und Schwei­gen ist viel sub­ti­ler, denn sie ist abhän­gig vom Stand der Unter­su­chung, von der Voll­zäh­lig­keit der unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven, von den Lücken in der Wahr­neh­mung und nicht zuletzt auch vom Aus­drucks­ver­mö­gen unse­rer Sprache.

Also geht es immer auch um Metho­de, um das syste­ma­ti­sche Auf­schlie­ßen neu­er und unge­wohn­ter Per­spek­ti­ven, um ein mög­lichst behut­sa­mes Vor­ge­hen bei der Bewer­tung des­sen, was beim jewei­li­gen Stand der Unter­su­chun­gen bereits gesagt wer­den kann und was dage­gen noch offen gehal­ten wer­den muß. – Den­ken ist ein Pro­zeß, der sich erst ereig­nen muß, der dann aber auch in Echt­zeit betrie­ben wer­den kann, soweit die Wor­te tragen.

Wir sind zumeist nicht auf Augen­hö­he mit dem Zeit­geist, ech­te Dia­lo­ge und tat­säch­li­che Dis­kur­se fin­den oft­mals gar nicht statt, weil dazu die nöti­ge Con­ten­an­ce fehlt. Wenn über­haupt, dann wird nur mit Gleich­ge­sinn­ten debat­tiert und dann auch nur in Hin­sicht auf ein “Wir”, die wir doch nicht so, wie die ande­ren sind. Es wird zu wenig und wenn, dann nicht rich­tig debat­tiert. Zumeist wird nicht pro­blem­zen­triert son­dern lösungs­ori­en­tiert argu­men­tiert. Wer bereits die Lösung hat, also nur noch ver­kau­fen will, wird gute aber doch nur sub­jek­ti­ve Grün­de haben, davon über­zeugt zu sein. Wer glaubt, die Lösung bereits zu haben, wird gar nicht pro­blem­ori­en­tiert den­ken wol­len, weil das ja nun auf­hal­ten wür­de, zu sei­ner Lösung, Reli­gi­on oder Wahr­heit zu kommen.

Wer pro­blem­ori­en­tiert vor­geht, ist schweig­sa­mer, schon gar nicht pol­ternd und laut. Das kann als Schwä­che aus­ge­legt wer­den. Also demon­strie­ren gewis­se Poli­ti­ker, daß sie anpacken und durch­grei­fen kön­nen. Dabei wird dann die Här­te und Kon­se­quenz bei der Durch­set­zung der Maß­nah­men und die star­re Hal­tung, gar nicht mehr mit sich reden zu las­sen, doch tat­säch­lich von vie­len als Füh­rungs­stär­ke emp­fun­den. Dabei ist es ein­fach nur die Insze­nie­rung eines Habi­tus, um zu imponieren. 

Vie­le las­sen sich blen­den, weil ihnen schwe­ben­des Den­ken wie alles, was in der Schwe­be ist, so ganz und gar nicht behagt. Vie­le wer­den die Offen­heit, die vie­len Mög­lich­kei­ten, die Grund­satz­dis­kus­sio­nen der kom­men­den Zeit uner­träg­lich fin­den. – Aber so viel kann jetzt bereits gesagt wer­den, der Zeit­geist in der Welt vor Coro­na wird ein ande­rer gewe­sen sein. Es gilt, her­aus­zu­brin­gen, was denn in der Welt nach Cora anders sein wird, viel­leicht auch anders sein könn­te und sollte.