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Anthropologie, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Moderne, Motive der Mythen, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Vorlesung, Zeitgeist, Zivilisation
Die Urbanisierung der Seele
Die Urbanisierung der Seele.
Über Zivilisation und Wildnis
Das Ewig-Weibliche als Motiv aller Motive ist weit weniger biologischer Natur, als gemeinhin angenommen wird, denn gerade die Geschlechterrollen sind eine Folge der Zivilisation. Zuvor waren die Verhältnisse der Geschlechter stets anders arrangiert.
Wildbeuter sind nicht sesshaft, daher wäre es unsinnig, Besitztümer anzuhäufen und vererben zu wollen. Insofern ist auch nicht das Haben, sondern das Sein entscheidend, wenn und wo es um Anerkennung geht. – Unter den Bedingungen der Zivilisation geht es jedoch um Besitz und Status, vor allem in Bezug auf Frauen, was sich anhand von Allegorien über Weiblichkeit demontrieren läßt. Pandora steht symbolisch für die Verlockungen, Folgen und Nebenfolgen im Prozess der Zivilisation. Aphrodite verkörpert als Göttin der Liebe den Verdrängungs-Wettbewerb unter Frauen und die Entschiedenheit, im Zweifelsfall alles einzusetzen. Derweil steht die schöne Helena für das Schicksal, im Spiel der Mächte zum willenlosen Opfer und zur schönen Beute gemacht zu werden, um als Trumpf, Trophäe, vielleicht sogar im Triumph gewaltsam genommen zu werden. Es gibt eine Fotografie, die minutiös von Friedrich Nietzsche gegen den Einspruch der Beteiligten arrangiert worden ist. – Lou Andreas-Salomé hat Friedrich Nietzsche und Paul Rée vor ihren Karren gespannt. So könnte eine Interpretation lauten, zumal die Begehrte kurz zuvor die Heiratsanträge beider Männer abgelehnt hatte. – Es mag sein, dass Nietzsche sich von dieser enttäuschenden Liebe inspirieren ließ. Aber neben der biographischen Interpretation ist eine andere noch tiefgründiger, es geht um das Motiv aller Motive. Das berühmte Foto spottet jeder landläufigen Interpretation des gemeinen Spruchs: »Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht«. Gerade dieser Satz hat Nietzsche in Verruf gebracht. Betrachtet man aber das Foto genauer, so zeigt sich, wer hier die Peitsche führt: Es ist das Weib.
- Die Reihe ZeitGeister erscheint mit insges. 7 Bänden bei tredition: → Reihe ZeitGeister
- Band 2: Die Urbanisierung der Seele – Über das → Buch
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Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben.
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Anthropologie, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Moderne, Motive der Mythen, Psyche, Psychosophie, Schönheit, Seele, Theographien, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Zeitgeist, Zivilisation
Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung
Der zerbrochene Spiegel
Wir wissen nicht, was Narziß auf der spiegelnden Wasseroberfläche gesehen haben mag. Der Mythos vom Narziß thematisiert weit mehr als den dummdreisten Narzißmus eines Selbstverliebten; wäre dem so, der Narziß wäre kaum der Rede wert. — Tatsächlich geht es um etwas anderes: Das Geheimnis menschlichen Bewußtseins, das sich selbst spiegelt, um sich seiner selbst gewiß zu werden, ist erst der Anfang einer langen Reise ins eigene Innere.
Die beiden Hauptfiguren in diesem Mythos haben bemerkenswerte Handikaps, so daß sie einander nicht begegnen können. Alles beginnt mit der Nymphe Echo, die von Zeus animiert worden ist, Hera nach Art der Scheherezade mit unendlichen Geschichten von den Amouren des Gemahls abzulenken, insbesondere wenn dieser wieder einmal bei den Nymphen weilt. Die oft rasend eifersüchtige Hera ist bereits im Begriff, ihren Gatten in flagranti zu überführen, aber die geschwätzige Echo hält sie davon ab, indem sie weiter und weiter redet.
Nachdem Hera das Spiel durchschaut hat, bestraft sie Echo, die nunmehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aussagt. Es wird der Nymphe genommen, was sie mißbraucht hat, um die Göttin hinters Licht zu führen: Hera nimmt ihr die Fähigkeit eigener Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus sprechen, sondern nur wiederholen kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fortan gar nicht mehr sprechen, es bleibt ihr nur noch, die letzten Worte lediglich zu wiederholen, — ein fatales Handikap, insbesondere wenn sie dem Narziß ihre Liebe gestehen will.
Eines Tages wird Narziß auf der Jagd von seinen Gesellen getrennt. Er gerät in eine sonderbare Landschaft am Helikon, die von der Nymphe Echo beseelt wird. Sobald diese den jungen Mann erblickt, wird sie sogleich in Liebe erglühen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Also folgt sie ihm heimlich, um ihm bei Gelegenheit näher zu kommen…
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Anthropologie, Diskurs, Ethik, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Ironie, Kunst, Künstler, Lehramt, Lehre, Leib, Melancholie, Moderne, Moral, Motive der Mythen, Platon, Politik, Professionalität, Psyche, Religion, Schönheit, Schuld, Schule, Seele, Technikethik, Theographien, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Utopie, Vorlesung, Wahrheit, Wissenschaftlichkeit, Zeitgeist, Zivilisation
Vorlesungen und Seminare
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Philosophie in Echtzeit
Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse
Am 17. Juli 1999 hielt Peter Sloterdijk im oberbayerischen Schloß Elmau eine Rede mit dem Titel „Regeln für den Menschenpark“ – eine in Inhalt und Form überaus provokante Auseinandersetzung mit Fragen der Gentechnik im allgemeinen und des Klonens im besonderen. In über 1000 Artikeln und Rundfunkbeiträgen sowie zahllosen Leserbriefen artikulierte sich das Unbehagen an Sloterdijks unbequemen, schnell unter Faschismusverdacht gestellten Überlegungen.
Gerade dieser Skandal hielt sich beträchtlich lang in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Eskalation der Debatte begann, wie so viele zuvor, mit einem Faschismus–Vorwurf, verlief dann aber doch anders und endete eben nicht mit der Exkommunikation. Der Hype um die Sloterdijk–Debatte erreichte seinen Kulminationspunkt mit dem Philosophen–Kongreß in Konstanz und endete, als die Frankfurter Buchmesse eröffnet wurde.
Die Karawane öffentlicher Aufmerksamkeit war längst weitergezogen, so daß kaum Jemand ein winziges aber entscheidendes Detail noch hätte zur Kenntnis nehmen können. — Nur wer lange genug vor Ort blieb, einfach mit dem Gefühl, das könne noch nicht alles gewesen sein, sollte belohnt werden durch die Information über eine Begebenheit, auf die nur die Wirklichkeit kommt. Das Fazit ist dann auch überraschend mitten aus dem Leben gegriffen.
Dieses merkwürdige Detail war zwar schon frühzeitig bekannt, aber nicht ganz. Die inkriminierte Rede war schon zwei Jahre zuvor im Theater zu Basel auf einer Sonntagsmatinee zu Gehör gebracht und mit Gelächter goutiert worden. Die Ironie des ganzen Arrangements, die Spitzfindigkeit dieser Kritik am Humanismus, das Groteske an der These, der Humanismus habe versagt, man müsse nunmehr unter Einsatz der Gentechnik an die Verbesserung, vulgo, an die Züchtung des Menschengeschlechts herangehen, war unter dem Ausdruck großer Heiterkeit vom Publikum aufgenommen worden. Das alles hatte der Redner selbst zu Protokoll gegeben in den vielen Interviews dieser Tage und Wochen.
Was er jedoch offenbar nicht ohne Hintersinn ganz bewußt zunächst nicht publik gemacht hat, war ein ebenso winziges wie entscheidendes Detail. Darauf hatte niemand kommen können, der nicht dabei gewesen ist oder, der nicht nachrecherchiert hat im Theater zu Basel, was es mit dieser Matinee auf sich gehabt haben könnte. — Sloterdijk hatte höchstselbst berichtet von dieser Veranstaltung, in der er also anwesend gewesen sein muß. Was er aber nicht ausgeplaudert, sondern mutmaßlich ganz bewußt verschwiegen hat, war die nicht unerhebliche Tatsache, daß dieselbe Menschenpark–Rede von Elmau zuvor im Theater zu Basel von einem Schauspieler vorgetragen worden war. Es waren zwar dieselben Worte, aber Redner, Publikum und auch die Kulissen waren wie ausgewechselt. Die Ironie, die Satire und die humane Kritik am Humanismus kam gar nicht mehr oder ganz anders an. Noch dazu waren Berichterstatter vor Ort, die den Skandal suchten und fanden. Sie mißachteten dann auch die Signale der Ironie, sondern sahen und hörten, was sie gesehen und gehört haben wollen.
Es wäre ein wünschbarer Nebeneffekt dieser Studie, würde es künftig hin und wieder eine derartige Untersuchung in einem ähnlichen „Fall“ geben, nicht zuletzt, um die Qualität der Medien und ihrer Vertreter einmal mehr einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dabei lassen sich große qualitative Unterschiede feststellen: Es gibt durchaus positive Beispiele auch in dieser Debatte, wo Berichterstatter und Kommentatoren mit gutem Gespür, großem Feingefühl und nicht zuletzt auch mit Sachkenntnis vorgegangen sind. Vorentschiedenheit und beflissentliche Parteilichkeit, gepaart mit Unverständnis, sind dagegen häufig die entscheidenden Faktoren für definitiv schlechte, falsche, möglicherweise bewußt falsche Berichterstattung, mit der niemandem und schon gar nicht der Öffentlichkeit gedient sein kann.
Die vorliegende Chronik der Sloterdijk-Debatte ist zugleich ein philosophisches Experiment, den Fall einer Skandalisierung einmal bewußt systematisch zu rekonstruieren, um zu beobachten, wie sich Information und Desinformation, Inszenierung und Gegeninszenierung zueinander verhalten, wie sich Öffentlichkeit im Zeitalter ihrer Medienförmigkeit konstituiert, wie sich dabei die Alltagsvernunft ausnimmt und wie es um die Idealität idealer Diskurse bestellt ist, — alles wiederum beobachtet unter Anleitung eines Chronisten und bewertet aus den wechselnden Perspektiven eines Zuschauers, von dem angenommen wird, daß dieser sich auf etwas Besonderes versteht: „Die Kunst des Zuschauers“, erst allmählich herauszubekommen, was eigentlich gespielt wird.
Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit @ Google Books
Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie in Echtzeit @ Königshausen & Neumann Verlag
Heinz-Ulrich Nennen: Philosopie in Echtzeit. @ Amazon
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Anthropologie, Götter und Gefühle, Identität und Individualismus, Moderne, Motive der Mythen, Theorien der Kultur, Urbanisierung der Seele, Zeitgeist, Zivilisation
Der Hafen–Philosoph
Gedanken aus einem
indianischen Winnebago an Münsters HafenuferVon Tobias Winkler, winklerwirred
Der Karlsruher Hochschullehrer für Philosophie, Dr. Heinz-Ulrich Nennen, steht regelmäßig mit seinem amerikanischen Wohnmobil in Münsters Hafen. Denn das Leben dort schreibt seine Vorlesungen. In den Pausen lädt er als „ambulanter Philosoph“ zur kleinen Denkerrunde übers Denken.
In den frühen Morgenstunden, so gegen fünf Uhr, da findet er es hier am schönsten. „Wenn sich der Hafen im glatten, stillen Wasser spiegelt“, erzählt er verträumt, „da erlebt man diesen kleinen Mikrokosmos gleich doppelt.“ In diese „kleine eigene Welt“ ziehe er sich seit fast vier Jahren gerne zurück. Heinz-Ulrich Nennen arbeitet als Hochschullehrer an der Universität Karlsruhe. Aber sein mobiles Büro steht immer wieder an Münster Hafenufer.
Ein amerikanischer „Winnebago“. Es ist ein großräumiges, silbernes Wohnmobil: Baujahr 1988, mehr als elf Meter lang, geparkt direkt am Kanalufer gegenüber der bunten Gastro- und Flaniermeile des alten Münsteraner Industriehafens. Es ist ein schönes, stattlich ausgebautes Modell mit allem Schnick und Schnack an Bord. „Ich will mich hier komplett heimisch fühlen und auf nichts verzichten“, erklärt Heinz-Ulrich Nennen. „Ich habe lange nach diesem Wohnmobil gesucht. Es ist das einzige Modell, das diesen Luxus bietet.“ Nun ist der Winnebago sein „kleines Denkbüro“, wie er ihn liebevoll nennt. Er ist sein mobiles Schneckenhaus.
Fertighaus auf Rädern
Oft steht dieses nahezu stationär wie ein Fertighaus auf Rädern auf den ausgedienten Gleisen neben einem alten Hafenkran, der längst demontiert ist und an ein reges Leben der Hafenarbeiter erinnert. Oder im Wohnmobilhafen eines benachbarten Campingplatzes. Denn das mächtige Gefährt frisst zu viel Sprit, um darin ständig unterwegs zu sein. Will Nennen wirklich mobil sein, steigt er auf ein anderes Verkehrsmittel um. In Münster selbst ist er oft mit dem Fahrrad oder dem Auto unterwegs. „Nur zu Fuß gehe ich ungern“, fügt er hinzu. Geht es weiter weg, nimmt er die Bahn. Bis ins südliche Karlsruhe sind es immerhin mehr als vierhundert Kilometer, die Nennen – zumindest in der warmen Jahreszeit – nahezu jede Woche zurücklegt. Die Hälfte der Woche philosophiert er mit seinen Studenten, die andere Hälfte sucht er neues philosophisches Futter am münsterschen Kanalufer.
„Gegen halb sechs bringt die erste Welle das Leben zurück. Ganz langsam kommt sie herein“, führt er fort. „Man kann zuschauen, wie sie kommt, vorbeiläuft, vom anderen Ende wieder zurückkommt – und dann geht.“ Es klingt fast lyrisch, wie er die Worte mit seiner tiefen, einfühlsamen Stimme pointiert betont vorträgt. Dabei tippt Heinz-Ulrich Nennen mit seinen Fingern gefühlvoll einige Töne in die Luft. Es scheint als dirigiere er seine Gedanken, es scheint als spiele er auf seinem Luftklavier die Melodie des münsterschen Hafenlebens.
Sehnsucht nach Stille
Dabei mag man eine gewisse Sehnsucht nach Stille in seinen dunkelgrünen, stets offenen Augen erkennen. Aber Nennen ist keiner, der das Leben scheut. An diesem Tag kommt er gerade vom Hauptbahnhof. Er war den ganzen Tag über auf einer Philosophen-Tagung in Essen. Erst seit wenigen Minuten ist er „zuhause“. Er sitzt an seinem kleinen Schreibtisch. Den Fußboden unter ihm ziert echt anmutendes Buchen-Laminat. Zwischen den Fenstern hängen goldige Lampenhalter mit Faltschirmchen, daneben baumeln kleine Stoff-Gardinen und an den Wänden hängen Schränke in Eiche massiv. Ein bisschen US-geleiteter Biedermeier, ein wenig moderne Spätromantik oder doch deutsche Hochklassik? Der Einrichtungsstil ist nicht gleich klar.
„Die Wohnmobile werden von den Nachkommen der Indianer gebaut“, berichtet Nennen. „Eigentlich bin ich kein Eiche-Massiv-Typ. Ich stehe eher auf unterkühlte Moderne mit Selbstironie.“ Auch wenn die Inneneinrichtung durchaus anderes erahnen lässt, äußerlich hat Nennen offenbar das perfekte Heim gefunden: Der indianische Winnebago erinnert in seiner Form an amerikanische Kühlschränke. Diese klobigen, bunten oder metall-farbenen, rundlich-abgerundeten, quaderförmigen Exemplare, die nicht für die Montage in der gut bürgerlichen westfälischen Einbauküche geeignet sind. Sie müssen frei stehen. Und damit das Bild vollends perfekt ist, müssten Magnete an allen Seiten haften. Mit Notiz-Zettelchen, Fotos und Erinnerungen der schnelllebigen Welt dort draußen. Aber, so Nennen: „Entscheidend für den amerikanischen Automobilbau war die Eisenbahn und für diese wiederum der Schiffsbau. Dort hat sich das Auto nicht aus der Kutsche, sondern aus dem Waggonbau entwickelt. Daher ist die Spur, sind die Wagen breiter und größer als in Alt-Europa.“
„Ich kann hier zehn Tage lang autark leben.“
Nennen kennt sein Gefährt – und er legt Wert auf eine gepflegte Erscheinung. Das ist das erste, was auffällt. Der Hafen-Philosoph trägt ausschließlich schwarz. Aus dem Ausschnitt des wolligen Knopf-Pullis suchen sich dunkle Brusthaare ihren Weg ans Tageslicht. Mit weit geöffneten Augen schaut er über seinen grau-melierten Vollbart hinweg. Auch in seinem dunklen Haar schimmern immer wieder hellere, manchmal dünnere, manchmal dickere Strähnen. Er kocht Tee und erzählt. Auf dem für ein Wohnmobil durchaus großen Tisch steht noch das letzte, nicht ganz ausgetrunkene Rotweinglas, direkt daneben die ausgebrannten Teelichter von vergangener Nacht. Es war eine der längeren Nächte. Die kommen häufiger vor.
Dann sitzt der Philosoph immer an seinem schwarzen IBM-Laptop und beobachtet durch die gut geputzten Fensterscheiben die Welt außerhalb seines mobilen Denkbüros. Schnell erkennt man: Nennen ist kein Camper. Auch nicht der Typ, der romantisch am Lagerfeuer grillt. Nennen ist vielmehr ein Feldforscher mit mobilem Wohnbüro – ausgestattet mit UMTS-Laptop, Satelliten-TV, Navigations-Touchscreen, Schlafzimmer, Dusche und eigenem Stromgenerator. Außer Spül- und Waschmaschine ist alles an Bord. Nennen: „Ich kann hier zehn Tage lang autark leben. Dann sind die Wasser-, Gas- und Benzintanks leer.“
Partygänger am anderen Ufer
Aus diesen eigenen vier, sicheren und mobilen, Wänden beobachtet er in dunklen Nächten die Partygänger auf der anderen Uferseite des Kanalhafens. Er schaut, wie die Menschen an verschiedenen Wochentagen gehen oder wie sie in Gesprächen gestikulieren. Dann denkt er sich Geschichten dazu aus. „Die Menschen gehen jeden Tag anders“, berichtet er. „Am Sonntag flanieren sie gelassen an den Cafés und Kneipen vorbei. Sehen und gesehen werden – das ist wie auf der Promenade in Venedig.“ Wochentags hingegen sei der Gang hektischer. Die Leute seien dann gar nicht dort, wo sie gerade sind, sondern in Gedanken bereits sehr viel weiter. „Sie nehmen die Umgebung gar nicht richtig wahr, weil sie nur Distanzen überwinden. Das ist beim Flanieren ganz anders.“
Sein philosophisches Denkwerk hat Heinz-Ulrich Nennen an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster gelernt. Bereits im Teenager-Alter tauchte der gebürtige Rheinenser in der Domstadt auf, er ging hier zur Schule, studierte und promovierte vor knapp zwanzig Jahren an der philosophischen Fakultät. „Mit summa cum laude“, betont er nicht arrogant oder protzend, aber durchaus wissend. Wohl wissend und bedacht um den gesellschaftlichen Doktoren-Status, aber durchaus mit der Lebenserfahrung, dass ein „Dr.“ im Lebenslauf nicht allmächtig macht. Nach seiner Promotion dachte er, die Arbeitswelt reißt sich um ihn. Aber sie drehte sich auch ohne ihn weiter.
Atomkraftwerke und Klimawandel
Die erste Zeit war er arbeitslos und auf der Suche. Dann unterrichtete er an der Dortmunder Fachhochschule für öffentliche Verwaltung angehende Polizisten in Ethik und forschte für zehn Jahre für die Stuttgarter Akademie für Technikfolgenabschätzung rund um die Auswirkungen der Atomkraft und des Klimawandels. Zwei Themen, die den gesellschaftspolitischen Diskurs bis heute prägen. „Sie waren bereits in den sechziger und siebziger Jahren ein brennendes philosophisches Thema“, erzählt Nennen. Schließlich habilitierte er über die Sloterdijk-Debatte: „Das war Philosophie in Echtzeit. Ich habe alles aus dem Moment heraus analysiert. Ein philosophischen Experiment, um zu zeigen, dass so etwas möglich ist.“
Dieses Prinzip hat er sich bis heute zu eigen gemacht. Es sind immer wieder kleine Momente und winzige Augenblicke des Alltags und deren Menschen, die ihn inspirieren. Sie sind ein kleiner Teil eines philosophischen Analyse-Patchworks. „Ich schreibe meine Vorlesungen jede Woche neu“, erklärt er. Es geht immer um das, was ihn gerade treibt – und um das, was sich um ihn herum in Münsters Hafen treibt. Wissenschaftlich ausgedrückt: „Empathie“, „Psyche“, „Selbstverständigung“, „Philosophie und Psychologie“ oder „Psychogenese“. Das sind die Bereiche, die Nennen in Forschung und Lehre der Karlsruher Uni hauptsächlich übernimmt.
„Der Hafen ist unberechenbar.“
Zwischendurch grüßen Spaziergänger und Hafenmeister. Die Leute hier kennen ihn – und er kennt sie. Aus dem Wohnmobil beobachtet er das Treiben, kommt ins Denken und findet den Stoff für seine Studenten. Nennen: „Der Hafen ist unberechenbar. Mal sind Schwimmer im Wasser, dann sind Triathlon-Wettbewerbe. Mal ist Hafenfest, dann legt die ‚MS Wissenschaft‘ an, um Baumstämme zu verladen. Mal setzt die Halle Münsterland stillgelegte Gleismaschinen für eine Ausstellung auf die alten Schienen, dann kommt plötzlich doch noch ein Güterzug.“ Dabei sind die Gleise neben dem alten Hafenkran seit Jahren längst verwaist. Als grün verwachsene, rostig-rötliche Linien ziehen sie sich unter Nennens Wohnmobil her. Sie führen die Spaziergänger und ihre Hunde und weisen ihnen einen geradlinigen, parallelen Weg zum welligen Wasser im Hafenbecken.
Es ist wohl die Abwechslung, das ständig Neue, was der Philosoph braucht. Vor allem ist es aber das Unvorhersehbare und das Unvorhergesehene. Das scheint ihn in seiner Philosophie anzutreiben. Dazu gehört auch der gewohnte, aber nicht zwangsläufi g gleichmäßige Takt der Tanzjünger im „Heaven“, einem Szeneclub, der einige Dutzend Meter Luftlinie entfernt am anderen Ufer des Kanals liegt. Wenn Nennen am Wochenende oder nach Münsters studentischem Partymittwoch spät nachts in seinem Denkbüro hockt, hört er wie sie den Beat zur frühen Tagesstunde erhöhen. Unwillkürlich denkt er an Kinder von Fließbandarbeitern: „Dieser Sound wirkt, als suchten sie das Band als Lebensrhythmus. Um drei Uhr wird immer der Arbeitstakt erhöht.“
„Ich brauche den Rummel.“
Allerdings nicht nur bei den Tänzern – auch im Wohnmobil: „Ich brauche den Rummel um mich herum. Der inspiriert mich“, bestätigt Nennen. Nachdenklich stützt er den Kopf auf die Hand. Irgendwann ist es dann wieder fünf Uhr, dann ist es sechs. Er schaut aus dem kleinen Fenster seines Winnebagos. Irgendwann kehrt Ruhe ein, dann bringt die erste Welle das Leben zurück. Heinz-Ulrich Nennen krault durch seinen ergrauten Bart. Sie kommt, läuft vorbei, kehrt vom anderen Ende wieder zurück. Sie kommt, sie geht und haucht dem kleinen Hafenkosmos Leben ein. Nennen trinkt einen Schluck Tee. Da ist sie, die nächste Idee.
Szenenwechsel
Es ist nicht ganz zwölf Monate später. Diesmal verabreden wir uns am anderen Ufer des Hafens gegenüber von Nennens Wohnmobil. Besser gesagt: gegenüber vom gewohnten Platz des Winnebagos. Denn der steht an diesem Tag nicht dort. Nennen hat an diesem Tag im nahen Fuestrup am Kanalübergang einen anderen Hafen für sein Denkbüro gefunden. Dieser kleiner Umstand hält ihn allerdings keineswegs vom Denken ab. Ganz im Gegenteil.
An einem Geländer schließt Heinz-Ulrich Nennen sein gemütliches Fahrrad ab. Der Rahmen hat eine äußerst außergewöhnliche Form. Das elegant, leichte Modell erinnert an Omas altes Hollandrad, aber irgendwie hat es auch etwas von einem dieser modernen Cruiser-Bikes. Der Rahmen aus geradem, schwarzen Rohr ist mehrfach verstrebt. Seine Winkel bilden die Silhouette eines schwebenden Drachens, der während der Fahrt zügig und knapp über den Boden fliegt. „Dieses Modell ist bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden“, erklärt Nennen. Das gilt zwar nicht für sein Exemplar, aber zumindest für das Patent: „Das Pedersen ist ein um 1890 von dem Dänen Mikael Pedersen entwickeltes Rad, das drei Jahre später zum Patent angemeldet und später in Christiania, einer alternativen Wohnsiedlung in Kopenhagen, wiederentdeckt wurde. Man hat damals überlegt, ob es möglich ist, Fahrräder aus Bambus zu bauen, was fast funktioniert hätte.“
Unscheinbare Augenblicke
Auch bei diesem seiner Verkehrsmittel weiß Nennen um die Historie. Der Winnebago als indianisches, großräumiges Lebensdomizil und eine dänische, geschichtsträchtige Leeze – für Philosoph Nennen sind sie nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Luxusgegenstände. Sie unterscheiden den landstreichenden Globetrotter, den grillenden Lampion-Camper und Heinz-Ulrich Nennen einmal mehr ganz deutlich voneinander. Gekleidet ist er wie beim ersten Treffen: Wieder trägt er einen schwarzen, eleganten Wollpulli zu einem dezent gestreiften Sakko. Der Bart sieht nicht bedeutend grauer aus, die Haare auch nicht. Nennen schreitet über die alten Güterschienen, die ihn geradeaus mit Blick in Richtung der bunten Leuchtreklame des Kinos führen.
„Wir sind sehr mächtig im Kulissenschieben“, murmelt er durch seinen Vollbart. „Es sind unscheinbare Augenblicke, die wir schnell übersehen. Augenblicke, die eine entscheidende Weiche im Leben stellen. Besonders spannend sind Irrtümer“, sagt der Philosoph. „Wir irren uns in Momenten, die wir uns gar nicht bewusst machen, und bauen darauf unser komplettes Leben auf. Wir bauen unsere Bühne so, wie wir es wollen. Das birgt eine gewaltige Gefahr.“ Wer führt da Regie? Nennen hält kurz inne und überlegt. Etwa wir selbst? Das ganze Leben ein Theater? „Aber es eröffnet zugleich eine riesige Chance“, fährt er fort. Allerdings unter einer sehr entscheidenden, wenn nicht notwendigen Bedingung: „Wir müssen unsere Souveränität behalten! Nur dann kann man sagen: Es sind meine ganz persönlichen Erfahrungen, die ich mache, nicht irgendwelche. Ich lass’ das jetzt erst mal so laufen – und schaue einfach mal zu, was mit mir passiert.“
Philosophisches Café
Man merkt schnell, was er bereits vor diesem Gespräch angekündigt hat: Heinz-Ulrich Nennen hat sein philosophisches Schaffen in Münster ausgeweitet. Er arbeitet hier nun auch als lebensphilosophischer Wegweiser. Das einstige Phantom des Industriehafens ist zu einem Ratgeber in Münsters alltagsphilosophischer Oper geworden. Denn Nennen hat im vergangenen Jahr ein neues Betätigungs- und Denkfeld entdeckt. Er lädt inzwischen gemeinsam mit der Volkshochschule zum sonntäglichen „Philosophischen Café“ und zieht als „ambulanter Philosoph“ durch die westfälische Domstadt. Soll heißen: Der Philosoph kommt zu Besuch oder man kann ihn besuchen – in seinem amerikanischen Winnebago-Wohnmobil.
In einem benachbarten Café bestellt er einen Prosecco und plaudert. „Ich will den Menschen gedankliche Impulse mit auf den Weg geben und das Denken über das eigene Denken und Tun fördern“, erklärt er. Die Terminvereinbarung laufe modern per E-Mail und an Ambulanz möge er die „Ironie des Notdürftigen”. Denn die Philosophie sei gar nicht so akademisch, wie viele Menschen denken. „Sie ist in ihren Ursprüngen vor allem eine Lebenskunst, die auch mit Heiterkeit zu tun hat und die uns zum Schmunzeln bringt. Erkenntnis muss doch nicht weh tun. Gerade Selbsterkenntnis sollte bereichern!“ Der ambulante Philosoph selbst habe bereits in seiner revolutionär-aufmüpfigen Zeit der Pubertät angefangen, übers Denken nachzudenken. „Ich habe angefangen, in Eventualitäten zu denken”, erklärt er. Er habe damals wie viele seiner Zeitgenossen mit seiner Vorstellung von gesellschaftlichen Idealen und moralischen Regeln nicht in dieses System und diese Welt gepasst.
Student mit Selbstversorger–Hof
Als er als Teenager nach Münster kam, hauste er zunächst in einer Wohngemeinschaft. Später mietete er sich ein altes Bauernhaus in Ascheberg – rund fünfundzwanzig Kilometer entfernt der Domstadt. Nennen: „Das musste damals einfach sein!” Schließlich war es die Zeit der ländlichen Kommunen, Aussteiger und Selbstversorger. Nennen selbst war für hundertfünfzig Deutsche Mark Miete allerdings ganz bewusst allein zu Haus. Möglichst viel lesen, meditieren und diskutieren stand auf dem Programm. Wenn der kleine Kotten im Winter eingeschneit war, holte er sich seine Post auch schon mal aus einem Baum an der Straße. Nennen: „Ganz wichtig war die tägliche Berliner Tageszeitung. Die war damals ein Muss!” Nur im tiefsten Winter zog es ihn von seinem kleinen Selbstversorger-Hof in das münsterländische Domzentrum: „Wenn die Toiletten zugefroren waren, dann hatte man verloren und musste in die Stadt.”
Heinz-Ulrich Nennen spielt mit einer goldenen Flieger-Sonnenbrille, die er auf dem Tisch vor sich plaziert hat. Nach der Zeit des „programmatischen Aussteigertums” habe er dann den Weg in „diese Welt” gesucht, fährt er fort: „Weg von den magisch-mystischen Weltanschauungen der Hippie-Generation.” Mit seiner Hand vertreibt er immer wieder die Fliegen vom süßen Kaffee des Interviewers. Die eine oder andere Droge habe er damals probiert. „Nicht zum wegschädeln, sondern zur Bewusstseinserweiterung”, betont er in gelassenem Tonfall, aber durchaus mit einem stimmlich erhobenen Zeigefinger. Man könne schließlich nur solange gesund philosophieren, wie man nicht psychotische Züge annimmt und aus der eigenen Umgebung und Wirklichkeit davon fliegt. So hat er irgendwann in Büchern die Welt und in der Welt wiederum vieles an Philosophie entdeckt. Denn Philosophieren ist eine Frage der Perspektiven.
Viele verschiedene Kameraperspektiven
So hat er sich gesetzten Alters offenbar gut mit dieser Welt arrangiert – möglicherweise gar versöhnt: „Wir können uns aus vielen verschiedenen Kameraperspektiven betrachten. Der gesellschaftliche Diskurs betont immer wieder, dass wir einstimmig sein sollen. Dabei besitzt jeder Mensch doch so mannigfaltige Perspektiven auf sich selbst, dass er auch unterschiedlichen Stimmen folgen kann.” Da komme es darauf an, „Herr der eigenen Vielfalt” zu sein. Das bedeute nicht, sich an vagen Lianen durch den sozialen Großstadtdschungel zu hangeln, sondern vielmehr, die richtige Liane zu suchen, bevor man auf die weitere Lebensreise geht. Nennen: „Wir sollten in jeder Situation ganz genau ausloten, welcher Stimme wir bewusst folgen wollen. Zunächst kommt es aber darauf an, alle diese Stimmen wirklich zu vernehmen.”
Das bewusstseinserweiternde Hilfsmittel der Drogen war ihm dabei immer schon suspekt. Das gleiche gilt sowohl für die Schulmedizin, als auch die Arbeit mit Patienten, Klienten oder Kranken. So ist Nennen bewusst nicht Heilpraktiker geworden. Als ambulanter Philosoph will er nicht heilen, sondern der eigenen Souveränität zum Auftrieb verhelfen. „Im inspirierenden Dialog“, betont er. Er habe die Drogen bewusst für sein Bewusstsein eingesetzt. Aber er habe immer darüber nachgedacht, wie sie ihn ihrerseits beeinflussen, ihn hinters Licht führen und an seinen Strippen ziehen, um ihn möglicherweise aufs Kreuz zu legen. „Viele Menschen handeln wie Marionetten, die sich in Erwartungen und Idealen verwickelt haben”, gibt er zu bedenken. Weil sie nicht über ihr Denken nachdenken, seien viele Mitmenschen verstrickt und gefangen in Erwartungen, Idealen und sozialen Netzen, die sich häufig als verfehlt herausstellen, sobald das Denken darüber in Gang kommt.
Weniger Antworten als Fragen
Das Gespräch hat gar etwas von einem Besuch beim Psycho-Doc. Oder ist es eine typische Seminarsituation, wie Nennen sie regelmäßig mit seinen Studenten teilt? Die Wahrheit bewegt sich wohl irgendwo dazwischen. Ganz trennscharf sind die Linien zwischen Philosophie und Psychologie ohnehin nicht immer, gibt auch der Philosoph zu. Der Unterschied zwischen beiden ist wohl der Grad an Freiheit. Ein Psychologe behandle eher Störungen, die einen Menschen in seinem Leben einschränken, differenziert Nennen. Als ambulanter Philosoph hingegen will er im Menschen selbst das Hand- und Denkwerkzeug wecken, sich in seiner sozialen Umwelt zu finden und zu verorten: „Das ist Selbstprogrammierung”, sagt Nennen. „Philosophieren kostet Zeit. Wer es ausgelassen tut, entlastet sich nicht, sondern belastet sich zusätzlich.” Denn die Philosophie beherberge weniger konkrete Antworten als immer mehr Fragen, die man an sich selbst, sein Leben und die Gesellschaft stellen kann. Nennen: „Daher braucht es den Philosophen als Ratgeber in diesen Fragen. Wie einen Pfadfinder, der Wege kennt, die durch das Dickicht der Gedanken, Ideale und Gefühle hindurch führt.”
So müssen seine Gesprächspartner auch die Kosten für die einstündige Winnebago-Denkerrunde von fünfzig Euro selbst bezahlen. Einen Psychologen zahlt im Regelfall die Krankenkasse. Davon, dass das deutsche Gesundheitssystem auch die philosophische „Orientierung zur Selbstorientierung”, wie Nennen sie nennt, bezahlt, sind wir wohl noch ein Stückchen entfernt. Der gesellschaftliche Trend zum Nachdenken übers Denken sei Jahrtausende nach Platon allerdings wieder auf dem Weg zurück ins allgemeine Bewusstsein, stellt er fest: „Warum bekommt Richard David Precht sonst eine eigene Fernsehsendung?” Die Philosophie scheint gerade in der Krise und in einer Übergangszeit an Bedeutung zu gewinnen. Denn gerade dann suchen die Menschen nach etwas Neuem, woran sie sich festhalten können. Dabei sollten sie doch viel besser darüber nachdenken, wie sie sich selbst vor allem auch von neuen Seiten kennen lernen und selbst orientieren können, mahnt Nennen.
Postmoderne Zersplitterung
Nur allzuoft sieht der ambulante Philosoph unsere Ideale mehr als nur zwiespältig. „Ich habe den begründeten Verdacht, viele unsere Ideale könnten gar falsch sein”, streut er auf einmal und ein wenig plötzlich ein. „Wir treffen Entscheidungen ohne darüber nachzudenken, was wir uns dabei gedacht haben. Wir spielen Rollen, ohne zu wissen, warum wir sie so und nicht anders spielen. Und das Schlimmste ist: Die meisten Menschen glauben, sie wüßten, was sie denken und tun!” Kurzum: Wir machen fremde Ideale zu unseren eigenen – ohne zu wissen, warum. Einfach so. Ohne jemals darüber nachgedacht zu haben. Es ist die soziale Entfremdung und postmoderne Fragmentisierung, die der Philosoph beklagt.
Das Leben gestaltet sich zunehmend komplexer. Es ist soviel da, aber alles nur bruchstückhaft. Die Zivilisation und Verstädterung habe die Menschen zu versprengten, zersplitterten Individuen gemacht, sagt Nennen. Bei allen positiven Facetten der Individulität handelten die Menschen allerdings bei weitem noch nicht genügend selbständig und aus sich selbst heraus. Denn gerade das ist eine nicht immer wohlschmeckende Pille – vor allem für die, die in der Lage sind, souverän zu denken.
Denken wie eine freischwebende Feder
Heinz-Ulrich Nennen ist ein Freidenker. Er vergleicht die Philosophie gerne mit einer freischwebenden Feder: „Ziel des Philosophierens ist es, die Feder stets in der Schwebe zu halten.” Sie darf nicht herunterfallen, aber sie darf sich auch nicht mit dem nächsten Windstoß so einfach verabschieden. Nennen denkt bei diesem Bild insbesondere an die Ur-Philosophie eines Platon: Solange alles in der Schwebe bleibt, ist der philosophische Diskurs, der eigene Geist und damit auch das eigene Leben in Bewegung. Allerdings offenbart die Schwebe-Philosophie – nicht zuletzt in Person eines Friedrich Nietzsche – gewiss auch ein enormes Absturzpotential. Ständig das eigene, im unendlichen Raum schwebende Selbst zu suchen und zu finden, kann auch eine ewige Jagd zwischen Hase und Igel sein. Philosophie kann federleicht beflügeln, aber sie kann auch schwermütig fesseln – bis zum Exzess.
Gerade in Zeiten einer allgemeinen sozialen Verunsicherung ist der Schwebezustand logischerweise besonders prekär. Menschen brauchen Orientierung. Viele Jahrhunderte lang waren die Kirche und der Glaube an Gott dafür zuständig. Es gibt Götter, sie verkörpern unsere Ideale aber auch unsere Ängste, das steht auch für den Philosophen außer Frage. Nennen: „Sie waren und sind seit Jahrtausenden das, wonach die Menschen streben.“ In Zeiten, in denen es Religion und Kirche schwer haben, übernehmen allerdings zunehmend andere deren Aufgabe. Michael Jackson etwa. Nennen meint Idole, an denen sich die Menschen ausrichten – ohne dass diese Idole noch echte Menschen wären. Denn sie sind lediglich Bilder, ein „Imago”, wie Nennen sagt. Sie bilden das populäre Image als vermenschlichten Lebensgeist ab.
Jacksons Fehler war Nietzsches Fehler
Bis zur Selbst-Aufgabe habe der „King of Pop” den Menschen etwas darbieten wollen. „Dabei hätte es doch gereicht, wenn er einfach nur dagewesen wäre”, bedauert Nennen. „Jackson musste kaum mehr etwas dafür tun, dass die Massen außer sich gerieten.” So habe er ein Konzert durch minutenlanges Stillstehen begonnen, worauf die Fans jede noch so geringe ruckartige Bewegung frenetisch feierten. „Auch bei der neuen Tournee hätten die Fans ihn vergöttert”, denkt Nennen. Aber Jackson habe zu viel gewollt: „Er wollte besser sein als Michael Jackson und hat damit den gleichen Fehler gemacht wie Nietzsche.” Während der Popstar im Alter von einundfünfzig Jahren an einer Überdosis von Schmerzmitteln starb, hielt es Philosoph Nietzsche zwar noch eine Handvoll Jahre länger aus. Aber auch er stürzte ab.
Er habe seine Feder zu hoch fliegen lassen, sagt Nennen, sich daraus sehr vage Flügel gebaut. Er hätte sich am Rat seines Vaters Daedalus orientieren sollen, stets in der Mitte zwischen dem kalten Meer und der heißen Sonne zu fliegen. Aber er sollte bekanntlich der Sonne zu nahe kommen und mit gebrochenen Flügeln abstürzen. Er ist zu lange zu hoch geflogen, um die göttliche Sonne seines eigenen Selbst zu suchen. Dann aber sind die gewachsten Tragflächen seiner Seele verbrannt. Er starb schließlich im Alter von sechsundfünfzig Jahren. „Irgendwann löst sich bei den Stars unserer Tage das prominente Götterbild ab und beginnt ein Eigenleben zu führen”, erläutert Philosoph Nennen. „Da kommt es auf den Charakter hinter der Kunstfigur kaum mehr an. Die Leute wollen den Menschen dahinter gar nicht mehr sehen. Sie kennen ihn schließlich überhaupt nicht, sondern spiegeln lediglich ihre eigenen Ideale auf ein unerreichbares Bild.”
Ergebnisoffene Wege
Sie verehrten anstelle dessen ein kunterbuntes Potpourri ihrer eigenen Gefühle und Sehnsüchte, wie sie etwa in einem Gott Jackson deutlich intensiver zu Tage treten, als sie es jemals in der Person hinter der Pop-Ikone könnten. Daher werde in den Regenbogenmedien so gern der so genannte „Mensch dahinter” inszeniert, was den Widerspruch nur noch weiter verschärfe. So stellt Nennen fest: „Götter müssen sich nicht rechtfertigen. Wir aber müssen das.” Dabei sei doch jeder Irrtum das Größte, das man an und in sich entdecken kann: „Gerade der Unterschied zwischen Mensch und Gott ist das, worauf es ankommt. Wenn ein Irrtum auffliegt, lachen wir doch sehr oft auch. Dann sind wir fröhlich – und sogar überaus glücklich.” Kein Irrtum sei es wert, sich darüber zu ärgern. Man sollte nur erkennen und darum wissen, dass man eine „systematisch falsche Methode” benutzt hat. Anderes Denkinstrument – neue Chance. Was für Nennen zählt, ist der „ergebnisoffene Weg” – nicht eine voreilige Entscheidung oder ein vorschnelles Urteil.
Heinz-Ulrich Nennen schaut aus dem großen Fenster des Cafès auf das wellige Wasser des Kanals und die alten, verwaisten Bahnschienen, die davor durchs wild gewachsene Gras schimmern. „Wenn wir die Weiche finden, vor der wir noch alle Optionen hatten, können wir nur daraus lernen”, sagt er. Dann verabschiedet er sich für diesen Tag. Der ambulante Philosoph hat noch einen Termin. Er krault noch einmal durch seinen Bart, steigt auf sein gemütliches Pedersen-Drachenrad und fährt über die holprigen alten Waschbetonplatten davon. Aber schon bald, kommt er wieder. Das ist sicher. Zum Denken übers Denken in seinem indianischen Winnebago.
Bio
Dr. Heinz-Ulrich Nennen
Bis 1989 studierte Heinz-Ulrich Nennen Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Uni Münster. Er promovierte über „Ökologie im Diskurs“, habilitierte 2003 über die „Sloterdijk-Debatte“ und arbeitet nun als Hochschullehrer an der Uni Karlsruhe. Zuhause aber fühlt er sich noch immer in Münster.