Diskurs

Begriff und Realisierung

Dis­kurs ist italieni­schen Ursprungs, frü­hen Beleg­stel­len zufol­ge wer­den damit genau jene Gesprächs­ver­läu­fe bezeich­net, die von Zuhö­rern als aus­ge­spro­chen ener­vie­rend emp­fun­den wor­den sein dürf­ten. Im Unter­schied zur offe­nen Atmo­sphä­re eines Gesprächs erscheint der Dis­kurs in sei­ner ursprüng­li­chen Bedeu­tung zunächst als eine nicht leicht zu ertra­gen­de, mono­lo­gi­sie­ren­de weit aus­schwei­fen­de Rede­fol­ge, bei der die Wort­füh­rer selbst zwi­schen­zeit­lich offen­bar die Ori­en­tie­rung dar­über ver­lie­ren, was sie eigent­lich hat­ten sagen wol­len. Die Teil­neh­mer kom­men dann – wie es in einem zeit­ge­nös­si­schen Text heißt – nach lan­gem Her­um­ir­ren aus dem Wald her­aus als sol­che, die viel reden, aber nichts sagen.

Heinz–Ulrich Nen­nen (Hrsg.) 2000 Dis­kurs. Begriff und Rea­li­sie­rung. Würz­burg: Königs­hau­sen & Neu­mann Ver­lag. [ISBN: 9783826017544]
Wäre die Wort­be­deu­tung bei die­sem rein nega­ti­ven Bild geblie­ben, so wür­de uns der Begriff heu­te ver­mut­lich kaum noch etwas wesent­li­ches sagen. Aber im Ver­lauf der Begriffs­ge­schich­te läßt sich die Inte­gra­ti­on gegen­läu­fi­ger Moti­ve nach­wei­sen, und dabei geht es um das ent­ge­gen­ge­setz­te Moment der ursprüng­li­chen Fest­stel­lung, um Ori­en­tie­rung inmit­ten des Her­um­ir­rens. Das Ziel der­ar­ti­ger Exkur­se sei viel­mehr, so ein Rhe­to­rik-Buch aus dem 16. Jhrd. über Ange­le­gen­hei­ten des Gemein­we­sens so zu reden, wie es ihrem Cha­rak­ter ange­mes­sen ist.

Das Wort­feld Dis­kurs, Dis­kur­si­vi­tät, dis­kur­siv lei­tet sich ab von lat.: dis­cur­re­re, ‚aus­ein­an­der­lau­fen, Erör­te­rung, Ver­hand­lung‘, auch ‚hef­ti­ger Wort­wech­sel‘. Dis­kur­siv wird ein Den­ken genannt, das suk­zes­siv ver­fährt, dabei wird das Gan­ze zunächst in sei­nen Tei­len durch­lau­fen und in sei­ner Gesamt­heit erst all­mäh­lich erkenn­bar. Wesent­lich ist, daß es sich um ein metho­di­sches, syste­ma­ti­sches und ins­be­son­de­re um ein begriff­li­ches Vor­ge­hen handelt.

Begriff­lich, wie häu­fig in Defi­ni­tio­nen ange­führt, muß ein Dis­kurs von­stat­ten gehen, weil es dem mensch­li­chen Erkennt­nis­ver­mö­gen sei­ner Natur nach nicht gege­ben ist, durch unmit­tel­ba­re Anschau­ung zur unbe­ding­ten Erkennt­nis zu gelan­gen. Suk­zes­siv muß ein Dis­kurs ver­fah­ren, weil es eben nicht gelingt, alle ein­schlä­gi­gen Per­spek­ti­ven gleich­zei­tig ein­zu­neh­men. Im Umher­lau­fen las­sen sich zwar ver­schie­de­ne Moti­ve und Momen­te erfah­ren, deren Digni­tät wird aber erst nach und nach bewußt. Erst die inter­sub­jek­tiv nach­voll­zieh­ba­re Inte­gra­ti­on aller ent­schei­den­den Per­spek­ti­ven läßt ein hoch­gra­dig ange­mes­se­nes Beur­tei­lungs­ver­mö­gen in der anste­hen­den Sache erwar­ten, das womög­lich allen Sphä­ren, so wie es ihnen zukommt, glei­cher­ma­ßen gerecht zu wer­den verspricht.

Der Begriff und die mit ihm ver­bun­de­nen unter­schied­li­chen Theo­rien erfah­ren in der spä­ten Moder­ne eine umfas­sen­de Beach­tung auch außer­halb aka­de­mi­scher Krei­se. Zwei Rich­tun­gen las­sen sich dabei ein­an­der gegenübergestellen:

  • Eine deut­sche Schu­le der Dis­kurs­theo­rie, im wesent­li­chen als Ver­bin­dung aus der Kan­ti­schen Phi­lo­so­phie und Ele­men­ten der anglo-ame­ri­ka­ni­schen Sprech­akt­theo­rien, um im Rah­men einer Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns dis­kurs­ethi­sche Prin­zi­pi­en zu ermitteln.
  • Eine fran­zö­si­sche Schu­le der Dis­kurs­ana­ly­se, die im Anschluß an die Ratio­na­li­täts­kri­tik Nietz­sches und Heid­eg­gers mit Posi­tio­nen eines als post­mo­dern ver­stan­de­nen Neo­struk­tu­ra­lis­mus ver­bun­den ist und in Dis­kur­sen eher Phä­no­me­ne der Macht­aus­übung identifiziert.

Der­ar­tig ekla­tan­te Wider­sprü­che erfor­dern die ‚Arbeit am Begriff‘, nicht zuletzt auch in Hin­sicht auf die damit ein­her­ge­hen­den Anfor­de­run­gen an Pra­xis. Sol­che Pro­gram­ma­tik ist alle­mal inter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig, denn Dis­kurs ist zum Ide­al, Dis­kur­si­vi­tät zu einem Qua­li­täts­kri­te­ri­um gewor­den, um die Digni­tät und das Legi­ti­ma­ti­ons­ver­mö­gen von Pro­zes­sen der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung zu über­prü­fen. Bei anste­hen­den Ent­schei­dun­gen in Fra­gen von gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Trag­wei­te, ins­be­son­de­re von Ver­fah­ren der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung wird erwar­tet, daß sowohl dem Stand der Wis­sen­schaft als auch den Belan­gen der Öffent­lich­keit ent­spro­chen wird. Der Anspruch auf Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum theo­rie­för­mi­gen Modell­fall einer gelin­gen­den Praxis.

Wäh­rend es für die Ratio­na­li­tät wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Vor­ge­hens unwe­sent­lich sein mag, wel­chen Zie­len eine Tech­nik letzt­lich dient, wird bei ethi­schen Erwä­gun­gen gera­de die­ser Aspekt zum The­ma. Ent­schei­dend ist, wie sich nun­mehr auf metho­do­lo­gi­sche Wei­se eine pro­blem­zen­trier­te Ethik errei­chen läßt, auch und gera­de für sol­che Situa­tio­nen, die bereits durch man­geln­de Gemein­sam­kei­ten in grund­le­gen­den Ori­en­tie­rungs­fra­gen gekenn­zeich­net sind. Unter säku­la­ren Bedin­gun­gen sind daher bereits die Aus­gangs­be­din­gun­gen gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se umstrit­ten. Frag­lo­se Gewiß­hei­ten las­sen sich kaum noch kon­sta­tie­ren und sind dis­po­ni­bel gewor­den, wenn bereits im Vor­feld prak­ti­scher Dis­kur­se zunächst in Erfah­rung zu brin­gen ist, wo die wah­ren Zie­le lie­gen könnten:

Auch die in reprä­sen­ti­ven Demo­kra­tien obli­ga­te Dele­ga­ti­on ist bei der­art zukunfts­re­le­van­ten Ent­schei­dun­gen nicht mehr unan­ge­foch­ten; es wird daher ent­schei­dend, unter den Bedin­gun­gen der moder­nen Indu­strie­zi­vi­li­sa­ti­on Metho­den zu ent­wickeln, durch die es gelin­gen kann, die Ver­nünf­tig­keit eines Vor­schlags, einer For­de­rung oder einer Behaup­tung zu erwei­sen. Begrün­dun­gen stel­len ihrer­seits jedoch noch kei­ne Gemein­sam­kei­ten her, sie sind zunächst nur ein Ersatz für feh­len­de Gemein­sam­keit, ins­be­son­de­re dort, wo gemein­sa­me Leit­vor­stel­lun­gen nicht mehr oder noch nicht vor­lie­gen. Der Dis­kurs wird somit zum Inter­me­di­um, um die Erör­te­rung über Gel­tungs­an­sprü­che syste­ma­tisch auf­zu­neh­men, aber auch um gestör­te Inter­ak­ti­ons­ver­hält­nis­se wie­der herzustellen.

Dis­kur­si­vi­tät wird somit zum Sub­sti­tut für den Ver­lust der Funk­ti­on vor­ma­li­ger Wert­ethik; ent­schei­dend sind Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der Ver­fah­ren, in denen die Legi­ti­mi­tät vor­ge­brach­ter Gel­tungs­an­sprü­che auf ihre tat­säch­li­che Digni­tät hin über­prüft wird, wobei die Gel­tungs­ge­sichts­punk­te selbst trans­pa­rent und somit all­ge­mein nach­voll­zieh­bar vor­ge­bracht wer­den müs­sen. – So plau­si­bel sich die not­wen­di­gen Anfor­de­run­gen sei­tens die­ser Theorie(n) als Anfor­de­rung an die Pra­xis ablei­ten las­sen, eben­so umstrit­ten sind die Pro­ble­me, die sich ein­stel­len, im Sin­ne die­ser For­de­rung Dis­kur­si­vi­tätprak­tisch wer­den zu las­sen. Im Rah­men die­ses Buches wur­de der Ver­such unter­nom­men, die­se in der Pra­xis auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen näher zu betrachten.

Die Bei­trä­ge die­ses Ban­des gehen auf zwei Work­shops zurück, die von der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung in Baden-Würt­tem­berg ver­an­stal­tet wur­den mit dem Ziel, Mög­lich­kei­ten dis­kur­si­ver Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung aus­zu­lo­ten. Ein erster Work­shop fand unter dem The­ma Dis­kurs – Der Begriff im Kon­text der ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen im Sep­tem­ber ’96 statt, ein zwei­ter Work­shop folg­te im März ’97, um sich vor allem mit den Mög­lich­kei­ten einer dis­kur­si­ven Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zu befassen.

Die Autoren die­ses Ban­des haben es sich zur Auf­ga­be gemacht, unter­schied­li­che Theo­rien des Dis­kur­ses syste­ma­tisch auf die damit ver­bun­de­nen Anfor­de­run­gen an eine sol­che Pra­xis zu unter­su­chen. Die Bei­trä­ge zei­gen, wie der Dis­kurs­be­griff in das Selbst­ver­ständ­nis unter­schied­li­cher theo­re­ti­scher Dis­zi­pli­nen eben­so wie in die Belan­ge prak­ti­scher Ver­fah­rens­wei­sen Ein­gang gefun­den hat. Das The­men­spek­trum der Abhand­lun­gen reicht von Ver­nunft, Ethik und Ästhe­tikbis hin zu Fra­gen der Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on, der Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, des Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses und der All­tags­ver­nunft. Die theo­re­ti­sche Lei­stungs­fä­hig­keit des Dis­kurs­be­griffs soll­te dabei her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, gleich­falls waren die Chan­cen und Gren­zen dis­kur­si­ver Ver­fah­ren in der gesell­schaft­lich-poli­ti­schen Pra­xis zu erörtern.

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