Der Corona-Diskurs als Katharsis

Heinz–Ulrich Nen­nen: Phi­lo­so­phie in Echt­zeit: Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Trans­for­ma­ti­on. (ZeitGeister4); Ham­burg 2021. Titel­bild: Wolf­gang Gan­ter: Bac­te­ria­li­ty, Work in Pro­gress. Mit freundl. Genehm. durch Wolf­gang Gan­ter, Ber­lin. (Alle Rech­te vorbehalten!)

Erscheint im Herbst 2021

Seit Urzei­ten waren Men­schen fast immer auf Wan­der­schaft. Aber vor 12.000 Jah­ren kam die Seß­haf­tig­keit auf, also Städ­te, Krie­ge, Reich­tum, Armut, Hoch­kul­tur, Luxus, Elend und Epidemien.

Inner­halb weni­ger Mona­te hat sich ein Virus welt­weit aus­brei­ten kön­nen. Fast über­all wur­de der Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen mit tie­fen Ein­grif­fen in Grund­rech­te. Der Shut–Down schien vie­len als ein­zig mög­li­che Kon­se­quenz, ein Dis­kurs fand gar nicht erst statt.

Eine Rie­ge aus­er­wähl­ter Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen insi­nu­ier­te die Richt­li­ni­en der Poli­tik und die­se betä­tig­te dar­auf den Not–Aus–Schalter. Gan­ze Län­der sind seit­her in Ago­nie, mit immensen Fol­gen für die Exi­stenz, die Kul­tur und nicht zuletzt für die Psyche.

Die­ses Buch wur­de Mit­te März 2020 in der Absicht begon­nen, dem Zeit­geist eine Nasen­län­ge vor­aus zu sein, anfangs noch in der Erwar­tung, die Corona–Krise sei zwar eine lehr­rei­che Epi­so­de, aber bald schon wie­der vor­über. Es galt, die Ent­wick­lung im gro­ßen Gan­zen zu ver­ste­hen, was war und sein wür­de, wel­che Ver­lu­ste zu bekla­gen, wel­che sozia­len, per­sön­li­chen, psy­cho­lo­gi­schen und see­li­schen Kata­stro­phen zu bewäl­ti­gen sind. Dazu zäh­len neue Äng­ste, die blei­ben, Trau­ma­ta, die akut wur­den und sol­che, die neu geschaf­fen wor­den sind. — Wie wer­den wir mit den vie­len per­sön­li­chen Schick­sa­len umge­hen in der Welt, die nach Coro­na kommt?

85% eines Eis­bergs lie­gen unter Was­ser, so ver­hält es sich hier auch. Unse­re Dis­kur­se sind ober­fläch­lich, bei wei­tem nicht umfas­send und sie gehen nicht in die Tie­fe. Wir haben nur den sicht­ba­ren Teil vor Augen. Es gibt sehr viel mehr, wor­auf zu ach­ten wäre. Nicht min­der ent­schei­dend sind alle erdenk­li­chen wei­te­ren Fol­gen, kul­tu­rel­le, exi­sten­ti­el­le und vor allem auch die psy­chi­schen und sozia­len Neben­wir­kung sämt­li­cher Maßnahmen.

Man bekommt das Gan­ze gar nicht erst in den Blick. Die herr­schen­de Stra­te­gie wird wie üblich als alter­na­tiv­los hin­ge­stellt. Weil vie­le Äng­ste im Spiel sind, wird fast alles mit einer Schick­sals­er­ge­ben­heit hin­ge­nom­men, die gar nicht ange­bracht ist. — Auch wird immer wie­der kon­sta­tiert, man dür­fe Men­schen­le­ben nicht auf­rech­nen, aber genau das geschieht die gan­ze Zeit. Es wer­den andau­ernd heik­le Ent­schei­dun­gen in Ziel– und Wert­kon­flik­ten gefällt aber nicht offengelegt.

Es fehlt das Gespür für die ange­mes­se­ne Art, ergeb­nis­of­fe­ne Debat­ten zu füh­ren. Unse­re Gesprächs­kul­tur hat sich im Zuge der Kri­se wei­ter ver­schlech­tert. Mehr denn je wird Gesin­nungs­kon­trol­le betrie­ben, Ver­un­glimp­fun­gen sind fast schon salon­fä­hig gewor­den. Vie­le sind ein­ge­schüch­tert und wagen gar nicht mehr, sich über­haupt noch zu äußern. Wir haben viel zu wenig Phan­ta­sie und Diver­si­tät in den Debat­ten, weil stän­dig mit Exkom­mu­ni­ka­ti­on bedroht wird, wer auch nur Anstal­ten macht, in Alter­na­ti­ven zu den­ken. — Man kann aller­dings die Maß­nah­men kri­tisch sehen, ohne Coro­na zu leug­nen. Die Kurz­for­mel von den Corona–Leugner oder gar von den Covidio­ten, Aluhut–Trägern und die Dif­fa­mie­rung jed­we­der Kri­tik ist zutiefst unde­mo­kra­tisch. Das alles sind kei­ne Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, ganz im Gegenteil.

Die mona­te­lan­ge Eng­füh­rung der Debat­ten ist ver­hee­rend, so kann gar kei­ne Ver­nunft in den Dis­kur­sen auf­kom­men. Nur bestimm­te Per­spek­ti­ven sind über­haupt zuge­las­sen. Wer ande­res anspricht, läuft Gefahr, exkom­mu­ni­ziert zu wer­den. Es ist ein Kli­ma der Ein­schüch­te­rung ent­stan­den, dabei käme es dar­auf an, alle erdenk­li­chen Alter­na­ti­ven offen und öffent­lich zu dis­ku­tie­ren. — Das gilt ins­be­son­de­re für Restau­rants und Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die längst bewie­sen haben, daß sie es kön­nen. Man läßt sie nicht, warum?

›Sor­ge‹ ist oft gar nicht so selbst­los, wie sie sich gibt. Sie spie­gelt sich gern selbst und glaubt, unver­zicht­bar zu sein. Dabei steht sie der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung nur im Wege. Die Poli­tik möch­te ganz offen­bar nichts von der neu hin­zu­ge­won­ne­nen Macht wie­der abge­ben. Dage­gen spricht neben der Gewal­ten­tei­lung ein wei­te­res Prin­zip, die Gewalt staat­li­cher Macht ein­zu­schrän­ken, die Sub­si­dia­ri­tät. — Dem­nach wird ein Pro­blem gene­rell zunächst auf der unter­sten Ebe­ne gelöst, also indi­vi­du­ell, fami­li­är oder in der Gemein­de. Erst dann, wenn die­se Mög­lich­kei­ten erschöpft sind, sol­len, dür­fen und müs­sen staat­li­che Insti­tu­tio­nen eingreifen.

Für vie­le gibt es aus­schließ­lich die Kate­go­rien Rich­tig und Falsch. Was bedeu­tet die­se Pola­ri­sie­rung für das Funk­tio­nie­ren der Gesell­schaft? Das Behar­ren auf die­se Unter­schei­dung ent­spricht einer bestimm­ten Ent­wick­lungs­stu­fe bei Kin­dern. Das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ist dann noch nicht so weit ent­wickelt. Tat­säch­lich ist aber erst dann die Über­nah­me per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung mög­lich. Je weni­ger Regeln vor­ge­ge­ben sind, son­dern nur noch Prin­zi­pi­en, umso mehr muß man schon selbst sehen, was jeweils ange­mes­sen ist, auch auf die Gefahr hin, danebenzuliegen.

Die schwar­ze Päd­ago­gik setz­te da noch ganz auf Stra­fen, was nur dazu führt, die Intel­li­genz her­aus­zu­for­dern. Dann wer­den Regeln nicht aus eige­nen Moti­va­ti­on ein­ge­hal­ten, son­dern nur, weil man nicht erwischt wer­den möch­te. So wird genau der­je­ni­ge Unter­ta­nen­geist erzeugt, den wir eigent­lich hat­ten über­win­den wol­len. Schwar­ze Päd­ago­gik, die mit Zwang und Stra­fe ope­riert, ist seit Jahr­zehn­ten pas­sé. Aber in Poli­tik und Staat sind die alten Zöp­fe aus dem Kai­ser­reich offen­bar noch immer nicht abge­schnit­ten. — Selbst­ver­ant­wor­tung ist eine Fra­ge der Kul­tur, sie muß ein­ge­übt und dann aus­ge­übt wer­den, weil man ganz gewiß immer mal an Gren­zen stößt, über die die Ent­wick­lung hin­aus­füh­ren muß.

Viel hal­ten es aber nerv­lich nicht aus, sich selbst zu ori­en­tie­ren und das Den­ken in der Schwe­be zu hal­ten. Man­che sehen sogar eine Schwä­che dar­in, wenn nicht sofort ent­schie­den und gehan­delt wird, egal wie. Aber die, die das eili­ge Han­deln ver­spre­chen, ver­fol­gen oft ganz ande­re Inter­es­sen. — Noch immer herrscht die Vor­stel­lung vor, beim Dis­ku­tie­ren gin­ge es ums Hau­en und Ste­chen. Dabei fehlt das Lächeln der Wei­sen und die Freu­de dar­an, gemein­sam ein neu­es Den­ken zu ent­wickeln, um damit sehr viel mehr zu ver­ste­hen als jemals zuvor.