• Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Anerkennung, Macht, Liebe

    Hauptseminar: Anerkennung, Macht, Liebe

    SS 2019 | Donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum: 30.91-009

    Beginn: 25. April 2019 | Ende: 25. Juli 2019

    John William Waterhouse: Cleopatra. Privatsammlung. Quelle: Public Domain via Wikimedia.
    John William Waterhouse: Cleopatra. Privatsammlung. Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Echte Anerkennung ist nicht nur sozial, sondern auch psychologisch von erheblicher Bedeutung. Anerkennung bestätigt nicht nur, sie schafft Identität. Sie wirkt hoch motivierend, ihre Verweigerung dagegen verstörend. Das Ausgeschlossensein von jeder Form der Anerkennung ist hochproblematisch. — Die Psyche eines jeden Individuums muß darauf setzen, für andere von Bedeutung zu sein. Soziale Isolation steht als Todesursache an erster Stelle.

    Wie wichtig authentische Anerkennung tatsächlich ist, wird deutlich anhand der Dialektik jener zweier Selbstbewußtseine, die bei Hegel einander begegnen, weil sie, ein jedes für sich, nicht in der Lage sind, die entscheidende Anerkennung zu finden, eine, die zählt, die gelten, die etwas wert sein soll. — Wir legen also nicht von ungefähr ganz besonders Wert darauf, nicht nur wofür, sondern auch, von wem wir die für unser Selbstbewußtsein so lebenswichtige Anerkennung erhalten. Problematisch ist Beifall von der falschen Seite, überhaupt ist es leichter, mit Kritik umzugehen, nicht aber mit Lob.

    Wenn Anerkennung wirklich ›zählen‹ soll, dann muß sie unabhängig, fast freimütig, ohne jede Berechnung und vor allem ohne Hintergedanken eingeräumt, gewährt, ja geradezu aufgenötigt werden. Sie muß ferner vorgebracht worden sein von jemandem, an dessen Urteil einem liegt. — Augenhöhe ist entscheidend. Das geht bis weit in theologische Spekulationen: Gott habe den Menschen erschaffen, um ein Gegenüber, einen ernstzunehmenden Kritiker zu haben, der unabhängig und urteilsfähig genug ist, auch fundamentale Schöpfungskritik zu betreiben. Es genügt eben nicht, wenn ein Schöpfer tagtäglich stolz auf sein Werk ist, um sich immerzu selbst zu bekunden, daß alles gut sei.

    John William Waterhouse: Cleopatra. Privatsammlung. Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Jeder Zweifel an der Authentizität von Anerkennung offenbart gerade in der Liebe einen unheiligen Kern. Die Tragikomödie beginnt, sobald nach dem Warum einer Liebe gefragt wird. Das Problem liegt darin, daß kein ›Grund‹ diesen Zweifel würde je wieder aus der Welt schaffen können. Dasselbe gilt übrigens auch für die Eifersucht, deren Verdacht ebensowenig ausgeräumt werden kann. — Tatsächlich handelt es sich in beiden Fällen nicht um den Ausdruck des Zweifels am Anderen, sondern vielmehr um manifeste Selbstzweifel, die mit dem anderen eigentlich gar nichts zu tun haben.

    Anerkennung setzt nicht nur ein ehrliches Urteil voraus, sondern eben auch ein gesundes Selbstbewußtsein. Wer jedoch zweifelt, tatsächlich anerkannt oder gar geliebt zu werden, wird die Last sämtlicher Zweifelsfälle selbst abarbeiten müssen. — Tatsächlich haben die ›Gründe‹ für solche Dispositionen kaum etwas mit der Gegenwart zu tun, sie reichen vielmehr weit zurück und sind nicht selten ›systemisch‹ bedingt.

    Wie die Anerkennung, so hat auch die Liebe zwei Seiten. Entscheidend ist der Unterschied zwischen Lieben und Geliebtwerden. Platon zufolge zählt eigentlich nur tätige Liebe, weit weniger dagegen das Geliebtwerden, denn nur dann ist der heilige Wahn inspirierend genug, so daß einem wieder neue Feder nachwachsen, um zusammen mit den Göttern zum Ideenhimmel aufzusteigen.

     

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  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophischer Salon

    Philosophischer Salon

    Literaturhaus im Prinz-Max-Palais

    SS 2019 | donnerstags | 18:00-20:00 Uhr

    Wassily Kandinsky: Thirty (1937). Musée national d’art moderne, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Kultur ist ein Mittel, nicht einfach nur verrückt zu werden, angesichts der überfordernden Komplexität einer Welt, der wir als Individuen und auch als Gattung ziemlich gleichgültig sind. Es gilt, darüber hinaus zu gehen und Ordnung zu schaffen, also Bedeutungen. Kultur bietet Orientierung und Schutz, sie gewährt Erwartungssicherheit, basale Gefühle und die Erfahrung, getragen sein von wieder erkennbaren Strukturen, die verläßlich sind.

    Wir sind immer auf der Suche nach Sinn, weil sich daran das eigene Orientierungsvermögen selbst wieder orientieren läßt. Daher ist Orientierungsorientierung von so große Bedeutung, denn Sinn verschafft Sicherheit im Geiste, und das in einer Welt, die übermächtig und eigentlich auch unbeherrschbar erscheint. Aber die Welt läßt sich in Geschichten verstricken, so daß wir uns wie an einem Ariadnefaden im Labyrinth einer immer unübersichtlicher werdenden Welt orientieren können, obwohl wir sie als ganze gar nicht überschauen.

    Literaturhaus | Prinz-Max-Palais | Karlstraße 10 | Karlsruhe

    Menschen sind Orientierungswaisen. Jedes Tier ist vollkommen integriert in den angestammten Lebensraum. — Man möchte annehmen, daß ›die‹ Natur mit dem Menschen das Spiel eröffnet hat, wie es wohl sei, ein Wesen zu erschaffen, das sich selbst orientieren kann. Inzwischen ist die Welt fast vollständig umgebaut worden. Schon bald werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben.

    Der Anspruch, sich in diesen künstlichen Welten zu orientieren, steigt ständig. Zur  Orientierung braucht es inzwischen Orientierungsorientierung. Dabei soll gerade auch die Individualität zum Zuge kommen. — Die Zeiten sind vorbei, in denen traditionelle Rollen mustergültig gelebt werden mußten, vor allem Geschlechteridentitäten, die keinen Ausbruch, keine Abweichung, keine Sperenzien duldeten. Immer weniger ›Sinn‹ ist vorgegeben, was eben bedeutet, sich selbst zu orientieren.

    Seit alters her werden einschlägige Antworten auf letzte Fragen immer wieder neu von den Mythen gegeben, die das Kunststück beherrschen, Weltvertrauen und Zuversicht zu schaffen. Wie das geschieht, das soll mit immer wieder neuen Einsichten im Philosophischen Salon zur Erfahrung gebracht werden. — Menschen sind kosmische Waisen, ausgesetzt in dem Bewußtsein, sich selbst bedenken zu müssen.

     

    16. Mai 2019 | Prof. Dr. Hans-Peter Schütt | Karlsruhe

    Amor und Psyche

    13. Juni 2019 | Dr. Joachim Hammann | Frankfurt

    Die Heldenreise

    4. Juli 2019 | Prof. Dr. Dieter Birnbacher | Düsseldorf

    Über Moralisierung

    18. Juli 2019 | Prof. Dr. Philipp Hübl | Berlin

    Der Untergrund des Denkens

    25. Juli 2019 | Prof. Dr. Jan Söffner | Friedrichshafen

    Körper und Geist

     

    Jeweils 18:00–20:00 Uhr im Prinz-Max-Palais.
     
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  • Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Philosophische Ambulanz

    Philosophische Ambulanz

    SS 2019 | freitags | 11:30-13:00 Uhr | Café NUN | Gottesauer Str. 35 | Karlsruhe

    Beginn: 3. Mai 2019 | Ende: 26. Juli 2019

     

    Ferdinand Bart: Der Zauberlehrling, (1882). Zeichnung aus dem Buch Goethe’s Werke, 1882. — Quelle: Public Domain via Wikimedia

    Und sie laufen! Naß und nässer
    Wird’s im Saal und auf den Stufen.
    Welch entsetzliches Gewässer!
    Herr und Meister! hör mich rufen! —
    Ach, da kommt der Meister!
    Herr, die Not ist groß!
    Die ich rief, die Geister,
    Werd ich nun nicht los.
    »In die Ecke,
    Besen! Besen!
    Seid’s gewesen.
    Denn als Geister
    Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
    Erst hervor der alte Meister.

    (Goethe: Der Zauberlehrling)

     

    In der Philosophischen Ambulanz kommt die Philosophie wieder zurück auf den Marktplatz, wo Sokrates seine Dispute führte, immer auf der Suche nach einer Philosophie, die es besser aufnehmen kann mit der Wirklichkeit. In den Dialogen und Diskursen der Philosophischen Ambulanz soll es darum gehen, in gemeinsamen Gedankengängen die besseren, höheren und tieferen Einsichten zu gewinnen.

    Verstehen ist Erfahrungssache, Verständigung ist eine Frage der Übung. Oft herrschen aber falsche Vorstellungen vor: Gemeinsames Verstehen entsteht im Dialog und in Diskursen, bei denen es nicht vorrangig um Meinungsäußerungen und Stellungnahmen geht. Es kommt auch nicht darauf an, Recht zu behalten, sich zu behaupten oder etwa vermeintliche ›Gegner‹ mundtot zu machen. — Gewalt entsteht, wo Worte versagen, wenn nicht gesagt und verstanden werden kann, was einem wirklich am Herzen liegt. Es kommt viel mehr darauf an, im gemeinsamen Verstehen weiterzukommen, so daß sich die Diskurse anreichern und ihre Sukzession, also einen Fortschritt erreichen. Daher ist es so wichtig, gerade im Konflikt aus einem Dissens heraus wie

    der zu neuem Einvernehmen zu finden. Erst das macht uns zu mündigen Zeitgenossen, wenn wir auch über die eigene Stellungnahme noch frei verfügen können. — Zu Philosophieren bedeutet, Widersprüche und Ambivalenzen nicht schleunigst aufzulösen, weil sie anstrengend sind. Vielmehr gilt es, das Denken selbst in der Schwebe zu halten. Der Weg ist das Ziel, gerade auch beim Philosophieren.

    Es gilt, nicht nur die üblichen Standpunkte zu vertreten, sondern neue und gänzlich unbekannte Perspektiven zu erproben. Daher ist der Positionswech sel von so eminenter Bedeutung. Genau das ist ›Bildung‹, den Standort der Betrachtung wechseln, um eine Stellungnahme ggf. auch aus einer beliebigen anderen Perspektive vornehmen, kommentieren und beurteilen zu können.

     

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  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Lehre,  Moderne,  Religion,  Zeitgeist

    EPG II

    Oberseminar: Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2019 | freitags | 14:00-15:30 Uhr | Raum: 30.91-009

    Beginn: 27. April 2019 | Ende: 27. Juli 2019

     

    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tat sächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

     

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  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Links zu Bibliotheken und zum Online-Buchhandel

    Bücher von Heinz-Ulrich Nennen

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition –

    werden aber auch hier sukzessive zum Download freigegeben → Downloads

     

     

     

     

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Religion,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nennen: Der Mensch als Maß aller Dinge? Über Protagoras, Prometheus und die Büchse der Pandora (ZeitGeister 1); tredition Hamburg 2018. 232 S. – Paperback 16,99 €, ISBN: 978-3-7439-0090-5. Hardcover 26,99 € ISBN: 978-3-7439-0091-2. Erscheinungsdatum: 11.12.2018.

    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Es sollte keine weitere Dynastie von Göttern mehr geben. — Wir sind werdende Götter in einer Welt, die wir selbst erschaffen haben, für die wir auch ganz allein verantwortlich sind.

    Mit sämtlichen göttlichen Gaben bedacht, ist Pandora die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nur zivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle damit verbundenen Übel in die Welt. Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneut zu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unserer Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbstbestimmung? Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit. — Inzwischen tragen wir die Götter in uns.

    Die Reihe ZeitGeister ist der Psychogenese gewidmet, denn Orientierungswissen ist von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in den Meistererzählungen ein uraltes Orientierungswissen findet, das überraschend aktuell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Protagoras von Sokrates um Erläuterung gebeten wird, was man denn nun gegen teures Geld bei ihm erlernen könne, dann zeigt sich ein tiefgreifender Wandel. — Nicht einmal mehr die Einführung ins Erwachsenenleben gehorcht noch der Tradition der Jäger. Die Kultur in den Städten setzt eigene Maßstäbe und bespiegelt sich dabei selbst. Fraglose Maßstäbe sind nicht mehr vorhanden: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Protagoras erläutert anhand des Mythos von Prometheus, es mangle nicht an der nötigen Technik, Städte zu errichten. Allein sie zu halten, sei schier unmöglich gewesen. — In der Tat mußte die dringend gebotene Kunst der Politik eigens von Hermes im Auftragdes Zeus nachgereicht werden. Und er, der Sophist, vermittle genaudiese vakanten Kompetenzen.

    Politik ist die Kunst, ständig gegenzusteuern, wenn Gesellschaften wieder einmal aus irgendeinem Gleichgewicht geraten. Die eigentliche ›Wildnis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städten. — Seither muß also ›studiert‹ werden. Dann ist es durchaus möglich, Karriere zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pandora ist das Abschiedsgeschenk der abdankenden olympischen Götter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämtlichen göttlichenGaben bedacht, ist sie die Allegorie aller Verlockungen, wie sie nurzivilisierte Welten bieten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vorher nicht waren. — Um die Frage nach dem Warum ranken sich seither viele Meistererzählungen. Grund genug, sie erneutzu befragen, um ›unsere‹ Antworten zu finden.

    Philosophie kommt auf, wo Götter schlecht gedacht werden. So entsteht allmählich Souveränität in Fragen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewissen bis zur multiplen Identität, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Reihe ZeitGeister ist der bisher kaum bedachten Psychogenese gewidmet, dabei ist Orientierungswissen von zunehmender Bedeutung. Es geht um die neuen Perspektiven einer Philosophischen Psychologie, die in Zweifelsfällen immer wieder auf die Orientierungsorientierung durch Philosophische Anthropologie zurückgreifen kann.

    Alle Bände der Reihe ZeitGeister erscheinen bei tredition – werden aber auch hier sukzessive zum Downloads freigegeben.

     

  • Anthropologie,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel

    Wir wissen nicht, was Narziß auf der spiegelnden Wasseroberfläche gesehen haben mag. Der Mythos vom Narziß thematisiert weit mehr als den dummdreisten Narzißmus eines Selbstverliebten; wäre dem so, der Narziß wäre kaum der Rede wert. — Tatsächlich geht es um etwas anderes: Das Geheimnis menschlichen Bewußtseins, das sich selbst spiegelt, um sich seiner selbst gewiß zu werden, ist erst der Anfang einer langen Reise ins eigene Innere.

    Die beiden Hauptfiguren in diesem Mythos haben bemerkenswerte Handikaps, so daß sie einander nicht begegnen können. Alles beginnt mit der Nymphe Echo, die von Zeus animiert worden ist, Hera nach Art der Scheherezade mit unendlichen Geschichten von den Amouren des Gemahls abzulenken, insbesondere wenn dieser wieder einmal bei den Nymphen weilt. Die oft rasend eifersüchtige Hera ist bereits im Begriff, ihren Gatten in flagranti zu überführen, aber die geschwätzige Echo hält sie davon ab, indem sie weiter und weiter redet.

    Nachdem Hera das Spiel durchschaut hat, bestraft sie Echo, die nunmehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aussagt. Es wird der Nymphe genommen, was sie mißbraucht hat, um die Göttin hinters Licht zu führen: Hera nimmt ihr die Fähigkeit eigener Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus sprechen, sondern nur wiederholen kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fortan gar nicht mehr sprechen, es bleibt ihr nur noch, die letzten Worte lediglich zu wiederholen, — ein fatales Handikap, insbesondere wenn sie dem Narziß ihre Liebe gestehen will.

    Eines Tages wird Narziß auf der Jagd von seinen Gesellen getrennt. Er gerät in eine sonderbare Landschaft am Helikon, die von der Nymphe Echo beseelt wird. Sobald diese den jungen Mann erblickt, wird sie sogleich in Liebe erglühen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Also folgt sie ihm heimlich, um ihm bei Gelegenheit näher zu kommen…

     

     

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Lehramt,  Lehre,  Leib,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Schuld,  Schule,  Seele,  Technikethik,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Vorlesung,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.

     

     

  • Identität und Individualismus,  Melancholie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Die Sehnsucht nach der Sehnsucht

    Nur wer die Sehnsucht kennt

    Goethe-Lotte-Werther
    Goethe Lotte Werther. Stadt– und Industriemuseum, Wetzlar 2014. — Quelle: 3StepsCrew, Giessen, Germany via Wikimedia, Lizenz: CC-BY-SA-2.0.

    Mit seinem Werther trifft Goethe das epochale Lebensgefühl junger Leute im Spannungsfeld zwischen der neuen Empfindsamkeit und einer überkommenen Moral, die eigentlich alles Persönliche im Keim erstickte. Dagegen gründete sich die seinerzeit als Lesesucht bezeichnete Suche nach den Motiven einer neuen Sehnsucht auf Individualität und auch auf Narzissmus. So entstand der neue Zeitgeist mit einem Hang zum sentimentalischen Charakter, der erst in der Romantik ganz zum Ausdruck kommen und auch seine Schattenseiten entwickeln sollte.

    Das neu heranbrausende Zeitalter der Empfindsamkeit war selbstverständlich höchst umstritten, denn damit wurde ein ganz bedeutender Schub in der Psychogenese ausgelöst. Anstelle der stets so tugendhaft und alternativlos hingestellten Fügsamkeit, sich den Anforderungen eines überkommenen Konventionalismus klaglos zu überantworten, wurde nun der Ausdruck eines neuen Individualismus möglich, der Weltschmerz und Melancholie zum Ausdruck brachte und dabei bis zum Narzissmus führen konnte. — Die Figur des Werther war dabei der Prototyp eines neuen Zeitgenossen, der mit seiner unstillbaren Sehnsucht, seinem überbordendem Narzissmus und mit seiner Melancholie an der herrschenden Moral einfach scheitert.

    Das war eine, wenn nicht die erste ›Jugendbewegung‹. Weitere Reaktionen in Kunst und Literatur ließen nicht auf sich warten. Massive Veränderungen im Selbstverständnis und im Selbstverhältnis gingen damit einher. Es kam zur Vorbildfunktion, zur Identifikation, zur Nachahmung der Hauptfigur und schließlich zum Werther–Kult mit einer Reihe von Suiziden oder Suizidversuchen. — Das war nicht nur ein Bruch mit der Tradition der Fremdbestimmung, sondern eine Demonstration des Anspruchs auf Individualität jenseits der herkömmlichen Moral. Und so wurde dann auch der Selbstmord dieses tragischen Helden nicht mehr als Sünde tabuisiert, sondern als ›Freytod‹ betrachtet, als Ausdruck einer individuellen Freiheit, sich gegen gesellschaftliche Zwänge zu behaupten, indem man sich dem Weiterleben ›entzieht‹.

    Im Wilhelm Meister wird diese träumende Sehnsucht weiter zum Ausdruck gebracht, aber auch eine Naivität, die zustande kommt, wo Empathie ohne Theorie einfach nur auf eine neue Sehnsucht zielt, von der nicht inhaltlich gesagt werden kann, was denn nun die Sehnsucht dieser Sehnsucht sein soll:

    Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit
    seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mi-
    gnon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herz-
    lichsten Ausdrucke sangen:

     

    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich ans Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt,
    Ist in der Weite.
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!

    (Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre.

    In: Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 7. S. 240f.)

    So träumt dann Wilhelm Meister noch in träumender Sehnsucht, kommt aber aus dem Leiden am Leiden nicht heraus. Es bleibt bei der Sehnsucht nach dem, was der Sehnsucht wert ist. Und so geht Goethes Faust weit darüber hinaus: Er greift wirklich nach den Sternen und macht dabei diejenigen Welt– und Selbst–Erfahrungen, die dazu angetan sind, für sich selbst besser wahrnehmen zu können, was denn gewollt werden sollte.

    Faust ist rastlos, unerfüllt, umtriebig und voller Sehnsucht nach einer Sehnsucht, deren Beweggründe ihm selbst aber unbekannt sind. Er täuscht sich darüber, was und wo denn nun das Land seiner Träume liegt, was das Ziel aller Sehsüchte sein soll. — Im Dialog mit der Sorge, die sehr melancholische Züge trägt, erläutert er die zunehmende Ruhe der Weisheit, die mit der Erfahrenheit einhergeht:

    FAUST.
    Ich bin nur durch die Welt gerannt;
    Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
    Was nicht genügte, ließ ich fahren,
    Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
    Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
    Und abermals gewünscht und so mit Macht
    Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
    Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
    Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
    Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
    Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
    Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
    Er stehe fest und sehe hier sich um;
    Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
    Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
    Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
    Er wandle so den Erdentag entlang;
    Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang,
    Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück,
    Er, unbefriedigt jeden Augenblick!
    SORGE.
    Wen ich einmal mir besitze,

    Dem ist alle Welt nichts nütze;
    Ewiges Düstre steigt herunter,
    Sonne geht nicht auf noch unter,
    Bei vollkommen äußern Sinnen
    Wohnen Finsternisse drinnen,
    Und er weiß von allen Schätzen
    Sich nicht in Besitz zu setzen.
    Glück und Unglück wird zur Grille,
    Er verhungert in der Fülle; …

    (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Hamburger Ausgabe
    Hamburger Ausgabe, Hamburg  1977ff. Bd. 8. S. 344f.)

    Faust muß in der Tat alles erst selbst in Erfahrung bringen und braucht dafür einen Teufelspakt mit dem genialen Mephisto, der das allumfassende Probieren und Studieren ihm erst möglich macht. — In der Faustwette geht es schließlich um die Lösung der Frage nach der Sehnsucht der Sehnsucht:

    FAUST.
    Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
    Verweile doch! du bist so schön!
    Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
    Dann will ich gern zugrunde gehn!
    Dann mag die Totenglocke schallen,
    Dann bist du deines Dienstes frei,
    Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
    Es sei die Zeit für mich vorbei! (Ebd. S. 57.)

    Derweil wirkt Mephisto stets so, als habe er das alles längst hinter sich und wüßte um das Wesen des Menschen, um Träume und Schäume. Dieser Dämon spricht wie ein Nihilist, der sich längst zum Zyniker gewandelt hat, und in der Tat ist Mephisto bar jeder Sehnsucht, so daß man sich fragen muß, woher er dann noch seine Energie nimmt.

     

    Auszug aus: Heinz-Ulrich Nennen: Empathie. S. 148ff.