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    Instanzen der Psyche

    Warum belügen und betrügen wir uns selbst?

    Wenn man vorzeiten ein Seminar unter dem Rubrum “Identität” anbot, platzten die Räume aus allen Nähten. Mit dem “Selbst” verhält es sich ähnlich, aber das “Selbstbewußtsein” ist ausgesprochen beliebt bei denen, die auf Karriere aus sind. – Die Nähe zur Verstellung ist fatal, vor allem dann, wenn Verstellung als solche zum Erfolgsprinzip erklärt wird. Dabei wird einfach unterstellt, daß man nur durch schlechtes Theater “aufsteigen” könne.

    Das heutige Thema im Seminar über “Die Schönheit der Seele” soll den Blick hinter die Kulissen dieser Schwindeleien öffnen. – Wir machen nicht nur anderen, sondern vor allem auch uns selbst alles erdenkliche vor. Dabei stellt sich die Frage, wie das eigentlich funktioniert, also: Warum belügen, hintergehen, strafen und zerstören Menschen sich selbst?

    Aber dazu müssen wir erst einmal ins Verstehen hineinkommen. Denn eigentlich müßten da doch innere Instanzen sein, die mehr ober minder unbestechlich sind. Allerdings sollten wir uns auf einiges gefaßt machen, denn alle diese Kategorien sind Konstrukte. – Es “gibt” Identität, Selbst, Ich, Unterbewußtsein, Geist und Selbstbewußtsein nicht wirklich, ebenso wenig wie es gelingen kann, die Seele als solche “dingfest” zu machen.

    Daher ist es hilfreich, mit einem Konstrukt zu beginnen, das nicht zu hoch aber auch nicht zu tief liegt in diesem komplizierten Gefüge von Beobachtungsbeobachtungen, die hinter allen unseren Selbstwahrnehmungen stehen. – Wer sich beispielsweise in Fragen der Erinnerung zu sicher ist, daß es wirklich so war, was, woran und wie wir erinnern, hat schon ein ganz hohes Potential, sich selbst zu betrügen, ohne es auch nur zu bemerken.

    Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, dann wird nicht wirklich rekonstruiert, was gewesen ist. Tatsächlich wird nur die letzte Erinnerung in Erinnerung gerufen. Wir greifen lediglich dieselben Worte, Gedanken, Gefühle, Perspektiven und Urteile wieder auf, die wir beim letzten Mal schon eingesetzt haben, als wir uns an diese bestimmte Begebenheit erinnerten.

    Das ist eigentlich so etwas wie Geschichtsklitterung. Es ist nicht wirklich objektiv, vielmehr höchst subjektiv, was kein Skandal wäre, wenn wir es denn tatsächlich auch von uns wüßten, daß wir uns nicht wirklich erinnern, sondern Erinnerung nur zelebrieren.

    Um das alles näher zu verstehen, sollte man auf das Selbstbewußtsein ein besonderes Augenmerk legen. Immerhin handelt es sich um ein Bewußtsein aller erdenklicher Bewußtseinszustände. – Diese Instanz weiß sehr viel von uns und über unsere Fähigkeiten, aber auch über unsere Grenzen in der Vielfalt unserer inneren Widersprüche. Die Nähe zwischen Selbstbewußtsein und Gewissen ist daher höchst bemerkenswert und eigentlich sogar ein Gewinn in der Selbsterfahrung für alle die, die es wirklich wissen wollen.

    François Chifflart: 
    Das Gewissen, 1877.

    Wann immer wir uns in eine bestimmte Rolle begeben, geschieht der Zugriff darauf über unser Selbstbewußtsein, das über unsere Potentiale an Perspektiven und Rollen verfügt. – Derweil ist das Gewissen idealerweise so etwas wie ein permanenter Zeuge dieser Selbstbeobachtung, und das aus einer möglichst unvoreingenommenen, unparteilichen Perspektive.

    Wir können uns in jedem beliebigen Augenblick auf eine bestimmte Weise geben, aber auch anders. Die Frage wäre also, warum wir uns so geben, wie wir uns geben. – Auf diese Weise erhalten wir Zugang zur Rollenbesetzung in unseren Inszenierungen.

    Eigentlich geht es in unsere Psyche zu wie in einem Theater, wo es Stücke, Rollen, Besetzungen, eine Intendanz, Regisseure, Dramaturgen, das Publikum und auch Kritiker gibt. – Interessant ist nun, daß wir das alles zugleich sind, weil wir in dem Theater, das wir sind, alle diese unterschiedlichen Perspektiven selbst einnehmen.

    Also spielen wir nicht nur Theater, wir sind eines, nicht nur für andere, sondern vor allem auch für uns selbst. – In der Wahrnehmung dieser unterschiedlichen Perspektiven liegt also unsere Individualität, unser Selbstsein und aus dieser Selbsterfahrung kann dann auch so etwas wie Selbstbewußtsein entstehen, wenn, solange und weil das Gewissen einverstanden ist.

    Hinzu kommen dann auch noch Ansprüche, wie etwa der nach Authentizität oder auch Empathie, was nichts anderes bedeutet als Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. – Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage, wie Selbstbetrug eigentlich überzeugend funktionieren kann, wenn wir doch selbst stets unser eigener Zeuge sind.

    Aber es gibt keine “objektive Wahrheit”. Wir können vieles messen oder auch nachweisen, aber die Bedeutung und die Bewertung des Gemessenen steht auf einem anderen Blatt. Es sind in der Regel daher auch nur Konventionen, die sich von Zeit zu Zeit verändern können, auf die alle erdenklichen Einschätzungen, Beurteilungen und Bewertungen zurückgeführt werden können. Entscheidend bei alledem ist der Wunsch nach einer Anerkennung, die uns selbst von Bedeutung ist.

    Daher kommt es oft zu großen Konflikten zwischen den einzelnen Perspektiven. Dann muß zwischen den konfligierenden Interessen vermitteln werden. Das können wir auch als Anzeichen von Freiheit und Autonomie deuten, daß es möglich ist, der einen Instanz den Vorzug zu geben und die andere Perspektive zu marginalisieren.

    Das ist dann auch ein Zeichen unserer Individualität, was durchaus heikel werden kann, weil vieles oft einfach nur vom Tisch gewischt wird, was vielleicht aus anderen, sehr guten Gründen wichtig gewesen wäre.

    Es ist eigentlich interessant, andere, aber auch sich selbst, in Hinsicht auf diese Metaperspektivität zu beurteilen. Was wird für wichtig erachtet, was wird eher in den Hintergrund gedrängt und in welchen Fällen setzt eine Selbstgerechtigkeit ein, die vielleicht ein wenig zu weit geht, nämlich bis hin zum Selbstbetrug. – Wenn es gilt, sich erklären zu wollen, warum Menschen sich selbst belügen und betrügen, warum sie sich selbst verletzen oder auch zerstören, dann liegt es am Stellenwert, der den einzelnen Perspektiven eingeräumt wird.

    Dabei ist es nun interessant, die Hauptthese dieses Seminars geltend zu machen. Die so überaus oft als Opfer von Umständen bemitleidete Psyche ist offenbar sehr häufig selbst nicht ganz so unschuldig, wie angenommen wird. Die Psyche ist viel mehr verwickelt, als daß sich noch ihre Opferrollen hochhalten ließe. – Das Konzept der Psyche hat immer mehr weltliche Aspekte in sich aufgenommen, die eher abträglich sind, und hierin dürfte auch die Ursache liegen, warum manche dazu neigen, sich selbst zu betrügen.

    In solchen Metakonflikten läßt sich Gestaltungsfreiheit gewinnen, wenn wir die verschiedenen Instanzen gegeneinander ausspielen. Mehr noch, wenn wir es gut einrichten, dann könnten wir es fertigbringen, daß wir gerade durch die Diskurse aller dieser so unterschiedlichen Instanzen untereinander sehr gut beraten und geradezu umfassend werden.

    Während es beispielsweise die Psyche eher auf weltliches, möglichst gegenwärtiges Glück abgesehen hat, vertritt die Seele dagegen eher überzeitliche Werte. – Wenn wir vom Modell einer Seelenwanderung ausgehen, dann sind gerade diese Rücksichtnahmen von entscheidender Bedeutung in der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, die mehr ist als eine Fassade reiner Äußerlichkeiten.

    Anstelle von Ethik und Moral haben Werbung und Unterhaltungsindustrie inzwischen die Orientierungsorientierung übernommen. – Es kommt fast nur noch auf den äußeren Schein an, auf Produkte, Konsum, Unterhaltung und Selbstinszenierung. Aber es sind zumeist nur Äußerlichkeiten, die da inszeniert werden.

    Dabei mangelt es an Geist und Vernunft, es fehlt an tatsächlichem Selbstbewußtsein, weil das Gewissen nicht wirklich mit von der Partie ist. Vor allem fehlt es an dem, was Menschsein ausmacht, die Entfaltung dessen, was in uns steckt und was erst noch entwickelt werden müßte.

     

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    Ich weiß, daß ich nichts weiß

    Über Urteilsvermögen im Umgang mit Nichtwissen

    Wer kennt diese Selbstaussage nicht. – Aber wer hat wirklich verstanden, was sie bedeutet? Ja, die Sentenz stammt von Sokrates und die meisten machen es sich zu leicht, wenn sie annehmen, daß  es Ausdruck seiner Bescheidenheit ist. Irrtum!

    Sokrates ist ganz und gar nicht bescheiden, er will immer alles ganz genau wissen und geht dann bis an die Grenzen dessen, was überhaupt noch möglich ist. Nicht selten steht er dann da, wie einst Keith Jarrett bei einem Konzert in Hamburg. – Der Flow kam einfach nicht und man kann ja nun die Götter nicht zwingen, wenn sie offenkundig ganz woanders was besseres zu tun haben.

    Also hat er sich redlich bemüht, ist dann aufgestanden und hat sich direkt ans Publikum gewandt mit der Frage: “Ist hier ein Pianist, der das Konzert fortsetzen kann?”

    In solchen Situationen neigen die meisten Zeitgenossen dazu, ins Glauben zu springen. Man gibt die Steuerung aus der Hand und schaltet das Denken auf Autopilot. Aber in Wahrheit weiß man doch gar nicht, wo es hingehen soll. Und beurteilen, was man denn nun annehmen oder gar glauben sollte, können die wenigsten, weil es ihnen an Urteilsfähigkeit fehlt.

    Willkürliche Motive, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben, spielen dann immer herein. Aber der eigentliche Grund für dieses Einknicken vor den Risiken der Seefahrt im Denken liegt woanders: Man kann das eigene Denken nicht in der Schwebe halten!

    Und dann wird der Mainstream bemüht, man schließt sich irgendeiner herrschenden Meinung an, die zuvor von den Alphatieren unter den Meinungsmachern bei Twitter ausgekaspert worden ist. Dankbar wird das dann von karrierebeflissenen Nachwuchskräften aufgegriffen und exekutiert. Alle, die jetzt noch anders denken, sollen entweder schweigen oder sie werden exkommuniziert. – Wo kämen wir hin mit der herrschenden Meinung, wenn jeder selbst denken wollte?

    Die wenigsten Zeitgenossen sind willens und in der Lage, die eigenen Gedanken in der Schwebe zu halten, um dann auch noch sanktioniert zu werden von Besserwissern und vor allem von Bessermenschen. – Und dennoch hat sich da eine neue Identität herausgebildet, es ist die derer, die dem Druck beachtlicherweise standgehalten haben. Es sind die, die sich haben verunglimpfen lassen, die sich tagtäglich haben “freitesten” lassen müssen, um noch ihrer Arbeit und ihren Verpflichtungen nachgehen zu können.

    “Zeit der Abrechnung”, das klingt wie der Titel für einen schlechten Western. Wobei ich allerdings zugestehen muß, daß mir ein wenig danach ist, Abrechnung. – Die Doppelmoral, sich einerseits zu verbiegen, weil man doch schon zeitlebens ein Häkchen hatte werden wollen, um dann doppelt zu kassieren, ist geradezu skandalös. Einerseits war man ja so etwas von vorbildlich des “kleinen Piksens” wegen und andererseits wurde man auch noch belohnt, durfte wieder ins Restaurant und in den Urlaub fliegen, während Sonderlinge wie ich nicht einmal mehr in den Baumarkt gehen durften, um sich wenigstens etwas zum Basteln zu holen.

    Ja, ich möchte Vergangenheitsbewältigung, bevor ich überhaupt wieder bereit bin, mich mit denen zu verständigen, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube gemacht haben.

    Ich will mir jetzt von den Impfvordränglern nicht auch noch erklären lassen, daß ich nicht nur Impfskeptiker bin, sondern auch noch Putinversteher, wenn ich auf die Verantwortung des Westens unter der egomanischen Führung der USA hinzuweisen nicht müde werde. – Die rhetorischen Figuren sind dieselben, man ist dann ein Leugner, der angeblich ausgegrenzt gehört. In den Augen der Überangepaßten ist Verstehen nunmehr zur Sünde geworden.

    Ich habe frühzeitig öffentlich davor gewarnt, daß sich die Erwachsenen in ihrer panischen Angst nicht auch an Kindern, Jugendlichen und an alten und sterbenden  Menschen vergreifen dürfen. Aber die Angst hat viele ermächtigt, gewissermaßen über Leichen zu gehen. – Und jetzt will es wieder mal keiner gewesen sein. Die Vertreter der Ethik-Kommission, die Bundesverfassungsrichter und die Riege der Scharfmacher und Haßprediger zucken einfach nur mit den Schultern und möchten nicht mehr daran erinnert werden. Shit happens?

    Sorry, als es mir zu dumm wurde, habe ich seinerzeit schon zwischen Nichtdenkern und Selbstdenkern unterschieden. Und nicht selten ging es mir in der Corona-Zeit, hinter den Gitterstäben des Lockdown-Syndroms, wie dem Panther von Rilke und wie Keith Jarrett im mißlungenen Konzert von Hamburg.

    Über dem Eingang zur Akademie von Platon in Athen soll der Spruch gestanden haben, es möge niemand eintreten, der nichts von Mathematik verstünde, was damals eher eine durchaus anschauliche Geometrie war. – Mein Prinzip habe ich bei Hans Blumenberg gefunden, der davon sprach, daß man den Augenhintergrund spiegeln sollte, um zu sehen, worauf andere wirklich Wert legen.

    Es ist ja nun nicht so, daß nicht ein und derselbe Gedanke immer wieder, in allen erdenklichen Darreichungsformen geboten worden ist. Hier etwa bei Frankie Goes to Hollywood:

    “Relax, don′t do it
    When you wanna go do it
    Relax, don’t do it
    When you wanna come”

    In meinen Seminaren fordere ich dazu auf, auch steile Thesen zu vertreten. Die Kunst liegt schließlich darin, möglichst genau in Erfahrung zu bringen, wann eine Theorie kollabiert. Nicht wenige brechen bereits an ihrem eigenen Gewicht in sich zusammen, man muß sie nicht einmal schief anschauen.

    Dann gibt es welche, die unter Belastung erstaunlich lange halten, worauf ich dann aber den Meistertest mache, ob eine hochmögende Auffassung auch in der Lage ist, sich selbst zu ertragen. – Eine gute Theorie sollte fähig sein, “neben sich” auch noch ganz andere, womöglich konkurrierende Auffassung tolerieren und mit ins Gespräch ziehen zu können.

    Wenn eine Theorie die das nicht kann, weil deren Vertreter zumeist derart überzeugt sind von ihrer “Alternativlosigkeit”, dann disqualifizieren sie sich selbst, denn das ist unphilosophisch und nicht selten auch unmoralisch.  – Sokrates war gerade nicht bescheiden, ganz im Gegenteil. Die anderen, haben ihn zum Tode verurteilt, weil sie das Philosophieren nicht mehr ertrugen, weil sie nicht weiterhin bei ihren Dummheiten öffentlich überführt werden mochten.

    Sokrates glaubt den Priestern des Orakels nicht, weil er es doch besser von sich weiß, weil er weiß, daß er nichts weiß. – Darauf beginnt er seine Kampagne, mit der er sich in den Augen der Honoratioren unmöglich macht, wenn er sie der Reihe nach alle vorführt. – Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht auch ein geschicktes Manöver der Priester von Delphi gewesen sein könnte, dafür zu sorgen, daß Sokrates sich selbst unmöglich zu machen beginnt.

    Mark Antokolski: Death of Socrates, 1875.

    Ich stelle mir vor, wie Sokrates in seiner ganzen Barfüßigkeit an einer Seite die Agora betritt und auf der anderen Seite die gefühlt Wissenden fluchtartig das Weite suchen. Wer nicht schnell genug ist, wird sich einem Gespräch stellen müssen, das eigentlich nicht dazu dient, den anderen nur vorzuführen, denn das machen die Besserwisser schon selbst.

    Ihr Fehler ist kardinal, sie meinen, daß man dieses und jenes wirklich so verbindlich und eindeutig wissen könne, so daß man richten kann über andere, die eben nicht “richtig” denken. – Genau diese hochmögenden Zeitgenossen werden jetzt aber vorgeführt, indem ihnen die Gelegenheit gegeben wird, sich selbst vorzuführen.

    Aber es geht dabei keineswegs um eine Kampf, wie so viele noch immer meinen. Als wäre Philosophie so etwas wie eine Lust am Scharmützel, wobei es darauf ankäme, andere derart in Verlegenheit zu bringen, so daß sie “nichts mehr sagen können”. – Ein wirklicher philosophischer Dialog hat dagegen immer etwas Konsensuelles. Man spricht gemeinsam etwas an und entwickelt dann auch gemeinsam weitergehendes Denken.

    Dabei wird es aber immer komplexer, weil wir ganz allmählich gemeinsam immer mehr sehen und “einsehen”, was auch auf irgendeine Weise relevant sein dürfte. – Genau das aber halten die wenigsten aus. Sie glauben ernsthaft, am Ende käme immer nur die einzige, unteilbare, wissenschaftlich-wissenschaftliche Wahrheit über die wirklich wirkliche Wirklichkeit dabei heraus. Und alle hätten sich nun dieser einzigen Wahrheit wie beim Götzendienst zu unterwerfen.

    Gerade diese Zeitgenossen haben sich gehen lassen während der bleiernen Zeit. Man konnte mal wieder so richtig einer einzig richtigen Auffassung sein und endlich auch mal wieder den Blockwart geben. Ich habe mich gern von manchen Menschen getrennt in dieser Zeit, weil ich gesehen habe, daß sie mir auch bisher eigentlich immer nur meine Denkzeit gestohlen und die Musen vergrault haben.

    Die ganz große Feigheit kam bei denen hinzu, die sich in die Schweigespirale zurückgezogen haben, und rein gar nichts mehr kund getan haben. Sie haben ihr Süppchen im Stillen gekocht. – Aber auch sie sind mit verantwortlich für de Irrsinn, in den sich ein Großteil der Gesellschaft vor allem in Deutschland hat von einer Presse treiben lassen, die sich plötzlich wie die Heilige Inquisition aufgeführt hat. – Ja, und jetzt kommt die Abrechnung, wenn die unseligen Unsäglichkeiten aus den Protokollen der Pantherzeit wieder zum Besten gegeben werden. Im Nachhinein klingt das alles noch schauderhafter, so daß man sich fragen möchte, wie sehr wollen eigentlich die, die sich da so haben gehen lassen, mit ihrem Schamempfinden klar kommen?

    Sie haben sich verführen, in ihrer eingebildeten Gewißheit zu wissen, was sie nicht wissen können, und das alles mit gefährlichem Halbwissen. Mit Entsetzen denke ich an die vielen unbeholfenen Gespräche über naturwissenschaftliche Zusammenhänge zurück, die einfach nur heillos verliefen.

    Ja, es ist so. Wir wissen nichts! – Das hat der griesgrämige Herbert Wehner in dem berühmten Fernsehinterview mit Hans Dieter Lueg mit aggressiver Hochpotenz unbezweifelbar klar gestellt. –  Übrigens ist es köstlich, wie sich beide beharken und Wehner sein Gegenüber als “Herr Lüg” tituliert, worauf dieser, gar nicht verlegen mit “Herr Wöhner” kontert.

    Ungefähr so stelle ich mir eine philosophische Performance des Philosophen unter den Philosophen vor, wie er, gefolgt von einer Entourage hochwohlgeborener Jünger den Honoratioren wieder einmal eine Abfuhr nach der anderen erteilte und die Jünglinge darüber in wieherndes Gelächter ausbrachen. Nichts ist schlimmer als die eingebildete Weisheit, daher habe ich auch kein Mitleid, denn die Vertreter des Nichtselbstdenkens haben sich den Spott redlich verdient.

    Und nein, wir stehen keineswegs nackt da, sondern ganz im Gegenteil. Es wird sogar immer bunter, sobald das Denken ins Schweben kommt, weil sich immer mehr gute Geister einstellen, denn wo einer ist, kommen bald schon andere hinzu. – Das geschieht aber nur, wenn gar nicht mehr irgendein Anspruch erhoben wird, irgendetwas jetzt aber nun ernsthaft und unbezweifelbar mit Gewißheit wissen zu können und zwar so, daß sich andere gefälligst daran zu halten haben.

    Worauf es beim Umgang mit Nichtwissen ankommt? – Wir verfügen hoffentlich über eine Urteilskraft, die sich auf das Schweben versteht. Und dieses Urteilsvermögen ist für Situationen zuständig, in denen wir einfach nicht genug wissen können.

    Philosophie ist daher auch nicht einfach nur eine Tätigkeit, es geht auch nicht nur um Techniken des Denkens, Schlußfolgerns und Beweisens. Es geht vielmehr um eine Lebenshaltung, die allerdings auch eingeübt werden kann.

    Wenn Dialoge und Diskurse sich in unserer einfältigen Zeit und unter Absehung der vielen Eindimensionalitäten endlich einmal lösen von der Gedankenschwere ihrer Blindheit und riskieren, mit dem Schweben zu beginnen, dann ist es der Ausdruck von Selbstbewußtsein.

    Man muß es sich eben auch leisten können, vielen Gedanken ihre Chancen zukommen zu lassen. Dann ist Schluß mit diesem grimmigen Rechthabenwollen, wenn endlich die Einstimmung in die philosophische Grundhaltung aufkommt, um bereitwillig Platz zu machen für den Auftritt aller erdenklicher Gedanken, Gefühle und Geister, von denen einer bemerkenswerter als der andere ist.  

    Wenn dem so ist, dann kann Geist aufkommen. Aber dieser macht das nur in Ausnahmesituationen, weil er ansonsten weit besseres zu tun hat. – Wenn wir uns aber diese Freiheiten herausnehmen im Gespräch, dann kommt auf, was in den alten Schriften als “Lachen der Weisen” dargestellt wird.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Über Wildheit und Schönheit

    Ariadne reitet den Panther des Dionysos

    Märchen, Mythen und Metaphern sind so etwas wie Algorithmen. Es ist daher nicht nur interessant, sondern hilfreich, sich je nach Fragestellung stets eingehender mit den einschlägig bekannten mythischen Figuren zu befassen.

    So läßt sich genauer nachvollziehen, was im Zuge der Kulturgeschichte an Erfahrungen in die Mythen ›hineingeschrieben‹ worden ist, denn das läßt sich auch wieder ›herauslesen‹. — Darin liegt der eigentliche Hintersinn von Mythologie, es geht nämlich um mehr als erbauliche Geschichten.

    Der Eingang ins Verstehen läßt sich finden, indem wir unter den vielen Mythen diejenigen auswählen, die vielversprechend erscheinen, weil ähnliche Probleme verhandelt werden. — Das ›passende‹ Narrativ einer mythischen Begebenheit wird dann ›übertragen‹ auf unseren Sachverhalt, über den wir die überzeitlichen Erfahrungen aufschließen sollten.

    In diesem Fall scheint Ariadne hilfreich zu sein, weil sie sich generell mit Labyrinthen auskennt. Die Prinzessin von Kreta war Theseus dabei behilflich, sich im eigens für den stierköpfigen Minotaurus geschaffenen Labyrinth zu orientieren. Daß es sich beim Ariadnefaden aber um ein banales Wollknäuel gehandelt haben soll, ist nicht wirklich überzeugend. — Selbstverständlich steht es uns frei, im Zweifelsfall unzufrieden zu sein mit dem, was uns die kindsgerechten Lesarten bieten.

    Die Mythen sind von einer Kultur auf die nächste übergegangen, so daß wir über viele Möglichkeiten verfügen, in den Feinheiten zwischen den Varianten genauer zu lesen, um den darin verborgenen Sinn herauszulesen: Ariadne ist Schülerin der Circe, die wiederum auf die Isis zurück geht, einer überaus mächtigen ägyptischen Göttin der Zauberkunst.

    Wie Medea ist auch Ariadne bestens mit dem Zaubern vertraut, die Wege blockieren aber auch öffnen können. Dabei wird das Labyrinth bald zum Symbol für den Lebensweg, der oft in ausweglose Lagen führt aber nicht  wieder heraus. — Die eigentliche Bedeutung von Ariadne liegt also darin, Orientierung zu bieten, gerade auch in Konstellationen, die etwas von einem Labyrinth haben.

    Der Zauber, mit dem Ariadne ganze Labyrinthe zu bewältigen hilft, liegt jedoch rätselhafterweise im Geheimnis von Schönheit. — Das Prinzip lautet: Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit.

    Auf diese geheimnisvolle Formel kommt der württembergische Bildhauer Johann Heinrich von Dannecker aufgrund seiner Studienreise nach Rom. Damit bringt er seine Inspiration auf den Begriff. — Der Geist seiner vorzeiten überaus populär gewordenen Skulptur: Ariadne auf dem Panther, entbirgt eine philosophische Spekulation von ganz besonderer Bedeutung.

    Johann Heinrich von Dannecker, Ariadne auf dem Panther, 1803-1814, im Liebieghaus in Frankfurt am Main.

    Der Panther ist das Wappentier für den Wein– und Rauschgott Dionysos, der im übrigen nicht nur der Vorläufer von Jesus Christus in vielen Aspekten seiner Symbolik ist, sondern der dabei auch noch tiefer blicken läßt in seine bipolare Psyche.

    Dieser Gott der Ekstase hat selbst eine überaus komplizierte Vergangenheit, und die macht ihn zum Borderliner. Sobald er auch nur den geringsten Verdacht verspürt, er könnte eventuell auch nur schief angeschaut worden sein, greift er zu drakonischen, unerbittlichen und scheußlichen Racheakten, die völlig unverhältnismäßig sind.

    Da wird dann das, was diese Skulptur zu sagen versteht, zur frohen Botschaft über die Potentiale einer notwendigen heiligen Handlung: Ariadne bewältigt das Wilde, Rohe und Unmenschliche solcher Rachsucht durch Schönheit! Dieser Gedanke ist vor allem philosophisch von derartiger Brisanz, so daß ich sagen würde, versuchen wir es doch! Immerhin hat sich bereits Hannah Arendt an diesem Projekt nicht ganz vergeblich versucht, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln. — Wir sollten endlich wieder nach den Sternen greifen

    Es gibt inzwischen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Vernunft als Meisterin der Multiperspektivität mit Ästhetik vorgeht, wenn es gilt, in irgendeiner Angelegenheit ›das Ganze‹ zu verstehen. Erst dann kommen Dialoge und Diskurse wirklich zur Entfaltung, wenn alle, die nur Recht haben wollen, endlich ergriffen werden und sich zu fassen versuchen.

    Es kann nämlich in der Ästhetischen Urteilskraft gar nicht mehr ums Rechthaben gehen. — Wir können nur noch an den Anderen appellieren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimmtes so empfinden wie wir, um dann auf die tieferen Beweggründe zu sprechen zu kommen, die sich einstellen, wenn man es versteht, sich endlich für Höheres zu öffnen.

    Im Mittelalter wurde die Höfische Gesellschaft auf ähnliche Weise geschaffen, als man die rauhbeinigen Warlords von Raubrittern auf ihren zugigen Burgen abbringen wollte, von ihrem lukrativen Tun und Treiben, nach eigenem Gesetz auf Beutezug zu gehen. — Sie wurden nachhaltig ›gezähmt‹ im Minnesang, also durch Schönheit. Für ihre Dame opferten sie ihre Wildheit, ihre Ungestümtheit und wohl auch einen nicht unbeträchtlichen Teil einer Männlichkeit, die inzwischen manchen Frauen bei Männern fehlt.

    Es kommt darauf an, die Multiperspektivität mit allen ihren Zumutungen und Herausforderung zu würdigen in einer Welt, die immer mehr zum Amoklaufen neigt. — Irgendwas muß den ständig drohenden Irrsinn im Zaum halten. Und genau das macht sie, die Göttin der ästhetischen Urteilskraft: Ariadne.

     

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    Burnout der Gesellschaft

    Über die Macht der Medien und das Unbehagen in der Kultur

    Vortr., geh. am 31. Oktober 2022 im Studium generale: »Zeitenwenden – ein Kommen und Gehen«. Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Wintersemester 2022.

    Eine neue Medienrevolution, die dem des Buchdrucks in nichts nachsteht, hat soeben erst begonnen. Wir erleben nur den Anfang dieser Zeitenwende und sind jetzt schon maßlos überfordert. Das alles führt zum Burnout der Gesellschaft, zum Verlust der Dialogfähigkeit und zum Rückfall in längst überwundene Zeiten.

    Reinhold Völkel: Café Griensteidl in Wien (1896). — Das berühmt–berüchtigte Künstlerlokal in Wien, auch bekannt als ›Café Größenwahn‹, war ein bevorzugter Treffpunkt der Literaten. — Eines vor allem sieht man hier, wie sehr die Zeitungen alles dominierten und sich die Gemüter erhitzten. Es grassierte die ›Neurasthenie‹, das ›Burnout‹ jener Tage.

    Das ist der heimliche Hintersinn solcher Krisen und Wendezeiten: Die Menschheit wird sich angesichts dieser neuen Verbundenheit entweder weiter entwickeln oder im Chaos untergehen und dann zumindest einige Stufen herunterfallen in ihrer Entwicklung vom Tier zum quasi göttlichen Wesen.

    Bei alledem ist eine allgemeine Tendenz ersichtlich, die offenbar von Anfang an hinter dieser Entwicklung steht: Es geht um mehr Individualität, Autonomie und Selbstorientierung, es geht um mehr Bewußtsein, Empathievermögen, Selbstbewußtsein und Geist.

    Die Natur hat im Menschen ein Auge aufgeschlagen, um sich selbst in den Blick zu nehmen. Dabei spielt Religion nach wie vor eine ganz bemerkenswerte Rolle, nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne.

    Aber als Gespür für Höheres, insbesondere für Aufklärung und Humanismus, werden religiöse Motive noch über lange Zeit erforderlich sein. Denn was der Psyche gut tut, muß nicht unbedingt auch gut sein für die Seele.
     

    Audiodatei des Vortrags:

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    Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat

    Ein Kritiker vor dem Herrn

    Nur in bestimmten Religionen ist der Teufel nicht wohl gelitten, sondern gefürchtet und sogar verhaßt. Das sagt mehr über den schlechten Charakter mancher Religionen, als über den Teufel selbst aus. Natürlich muß auch er ein Geschöpf Gottes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stammen soll.

    Wenn es nur einen einzigen, noch dazu wahren, allgegenwärtigen, allwissenden und gütigen Gott geben soll, dann darf es keinen zweiten und schon gar keinen Gegen–Gott geben. Warum? — Eher aus Gründen der Konkurrenz, die Priester nicht mögen. Sie möchten vielmehr das Monopol für alles Göttliche.

    Mit dem sogenannten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Herausforderung einher, so daß sich das sogenannte Gute bewähren muß.

    An seiner Aufgabe, die er sich selbst gegeben hat, läßt sich der Teufel am ehesten verstehen: Er ist der Versucher , das ist seine Sache. — Mephistopheles stellt sich in Goethes Faust vor als:

    Franz von Stuck: Luzifer (1890). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Ein Teil von jener Kraft,
    Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
    (…)
    Ich bin der Geist, der stets verneint!
    Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrunde geht;
    Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
    So ist denn alles, was ihr Sünde,
    Zerstörung, kurz das Böse nennt,
    Mein eigentliches Element.
    (…)
    Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
    Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, …

    (Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Werke; Bd. 3. S. 47.)

    Ein Geschöpf Gottes soll er sein, sogar einer der Mächtigsten, wenn nicht der Mächtigste überhaupt, dann aber sei er abtrünnig geworden. — Das soll so gekommen sein: Als der mit sich selbst jeden Schöpfungstag immer zufriedener werdende Schöpfer seinen Engeln endlich die fertige Schöpfung und dann auch deren vermeintliche Krone vorstellte, soll er von den Geistwesen verlangt haben, vor dem Menschen niederzuknien.

    Das haben auch fast alle folgsam getan, nur einer nicht. Luzifer, einer vom Schlage der Erzengel mit dem Flammenschwert soll diese Huldigung ebenso selbstbewußt wie konsequent verweigert haben. — Und jetzt kommt, was nur Philosophen sich getrauen: Der Sache nachgehen, die möglichen Gründe prüfen, um dann zu dem ketzerischen Ergebnis zu kommen: Recht hat er, der Luzifer!

    Es gehört stets gewisser Mut dazu, auszuscheren und aus der Reihe zu tanzen, und das bringen nur wenige fertig. Wenn man sich in die so feierliche Situation hineinversetzt: Da ist der Schöpfer dieser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt dieser Kritiker daher. Die allererste Lektion erteilt Luzifer dem Schöpfergott. — Das Selberdenken macht ihn philosophisch höchst interessant, so wird er zum Kritiker aller Kritiker.

    Unermüdlich wie Sisyphos versucht der Teufel seither, möglichst konkret nachzuweisen, daß der Mensch es nicht verdient, daß Engel sich tatsächlich vor ihm verneigen. — Da wir uns den Sisyphos aufgrund einer Bemerkung von Albert Camus als einen glücklichen Menschen vorstellen sollten, dürfte es sich auch bei Luzifer um einen glücklichen Engel handeln, weil er sich seine Aufgabe selbst gegeben hat.

    Im jüdischen Glauben werden Engel sehr viel differenzierter vorgestellt. Das findet sich auch bei Rainer Maria Rilke in seinen Duineser Elegien. — Dort sind sie nicht einfach nur lammfromm, vielmehr mystische Wesen. Sie sind schön und schrecklich zugleich, und sie stehen dort, wo große Geheimnisse zu erwarten sind. Der Anfang der ersten Elegie hat etwas von dem, was hier dargestellt werden soll:

    Wer, wenn ich
    schriee, hörte mich denn aus der Engel
    Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
    einer mich plötzlich
    ans Herz: ich verginge von seinem
    stärkeren
    Dasein. Denn das Schöne ist nichts
    als des Schrecklichen
    Anfang, den wir noch grade ertragen,
    und wir bewundern
    es so, weil es gelassen verschmäht,
    uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

    (Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. In: Sämtl. Werke; Bd. 1. S. 685.)

     

    Der Mensch ist zwischen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hause bei sich, wie Rilke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigentliche Grund, warum Luzifer in seiner Eigenschaft als Lichtbringer und als der Oberste aller Teufel gewisse Entwicklungsdienste leistet. Der Teufel ist also ein Selbstdenker, mehr noch, er ist ein Schöpfungskritiker und dabei nicht unbedingt ein Feind des Menschen, sondern eher einer, der sich vom sogenannten allzu Menschlichen ebensowenig abhalten läßt in seinem Urteil, wie der ägyptische Schreibergott Thot beim Jüngsten Gericht. Auf der Seelenwaage wird das Gewicht einer Feder, in der einen Schale, gegen die mit Erdenschwere belastete Seele, in der anderen Schale, abgewogen. Derweil wirkt die Waage wie ein Lügendetektor, der auf jede Unwahrheit reagiert. Für den Fall ist die Seele verloren, sie wird verstoßen und dem hundsköpfigen Anubis zum Fraß zugeworfen.

    Rechts: Der ibisköpfige Thot als Schreiber beim ›Wiegen des Herzens‹, hinter Anubis (1300 BC). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist in der Tat befremdlich, desöfteren dabei zu sein, wenn Zeitgenossen sich selbst und anderen einiges vormachen wollen, was einfach nicht stimmt. Das ist schon eine wundersame Art der Urteilsbildung, sich auf den eigenen Leim zu kriechen. — Es braucht nicht viel an geistiger Durchdringungskraft und empathischer Beobachtungsgabe, um zu sehen, daß manche sich selbst und anderen gewissenlos etwas vormachen wollen.

    Wir haben allerdings auch ein Gespür für Unstimmigkeiten: Zumeist warten Sprache und Grammatik mit Seltsamkeiten auf, wobei man sehen kann, was alles zueinander passen muß, wenn etwas wirklich stimmt. — Wahrheit ist weit mehr als eine Frage der Logik, sondern ein ganzes Ensemble unterschiedlichster Aspekte, die nicht nur in der Aussage, sondern in ihrer ganzen Darbietung harmonisch abgestimmt sein müssen. Es zeigt sich, was alles im Kleinen und auch im Großen zusammenstimmen und im Einklang miteinander sein muß.

    Wenn eine Seele belastet ist durch die Erdenschwere solcher Selbstbetrügereien, dann wird sie gewiß keinen Freispruch erhalten. Es würde ohnehin nicht funktionieren, sich im Leben zu belasten, um dann nach dem Tode entlastet zu sein. — Da wirkt das Manöver der Christlichen Kirchen, daß die Schuld wie eine Lokalrunde schon für alle Zeiten im Voraus abgetragen sei, kaum besser als eine durchsichtige Abofalle.

    Erlösen müssen wir uns schon selbst. Luzifer ist dabei einer der besten Ratgeber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schweben. Dabei würden wir so gern engelsgleich abheben.

    Bei Platon gibt es dazu einen phantastischen Mythos vom gemeinsamen Zug mit den Göttern über das nächtliche Firmament bis zum Reich der Ideen am Rande der Welt.

    Die Götter haben allerdings ein Gespann mit zwei sehr guten Pferden. — Beim Seelenwagen der Menschen ist jedoch nur eines der Pferde wirklich tauglich für den Aufstieg ins Reich der Ideen.

    Der Versucher ist ein begnadeter Prüfer und wir tun gut daran, ihm zu vertrauen, denn wo er sich nicht bereit finden kann für seine Zustimmung, da haben wir sie auch noch nicht verdient. — Man sollte daher eher auf die Hilfestellung achten, die Luzifer als Versucher zu leisten imstande ist.

    Bei Goethe ist Mephisto ein Ironiker und manchmal zynisch, aus guten Gründen. Aber seine Ironie hat Empathie und sein Intellekt ist messerscharf, man kann ihm nicht mit dummen Ausreden kommen, denn er kennt sie alle.

    Das Teuflische am Alkohol

    Da sich der Teufel aber nicht ständig um alle höchstpersönlich kümmern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesentlich, das Teuflische am Alkohol zu verstehen, um darüber sich selbst zu verstehen.

    Udo Jürgens irrt, wenn er meint, der Teufel habe den Schnaps gemacht, um uns zu verderben. Das ist zu kurz gegriffen.— Wie bereits dargestellt, geht es ihm darum, uns zu prüfen, ob wir es verdient haben, seine Achtung zu erhalten und eine Fluglizenz ins Transzendentale.

    Der Songtext von Udo Jürgens, hat allerdings eine bemerkenswerte Pointe. Da sitzt ein Antiheld in seiner Stammkneipe. Ein Mädchen von der Heilsarmee versucht ihn engelsgleich zu retten, indem sie dem Trinker ins Gewissen redet, was natürlich mitnichten verfängt. — Bekanntlich können alle, immer und zu jeder Zeit aufhören, nur momentan gerade nicht, und darauf trinken wir erst mal noch einen.

    Dann aber kommt die wirklich luziferische Pointe: Er bringt das Mädchen nach Hause und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zimmer. — Aber dort macht der verhinderte Held eine teuflische Selbsterfahrung:

    Sie lud mich in ihr Zimmer ein
    Und dort erfuhr ich dann
    Wer zuviel trinkt
    Ist leider oft
    Nur noch ein halber Mann.

    (Udo Jürgens: Der Teufel hat den Schnaps gemacht (1973).

    Unvergeßlich ist auch Wilhelm Busch:

    Es ist ein Brauch von alters her,
    wer Sorgen hat, hat auch Likör!

    (Wilhelm Busch: Die Fromme Helene. In: Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 282.)

    Der Spruch bringt es zuverlässig auf den Punkt. Man achte wieder auf den Kontext: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Helene, dann hätte sie nicht ganz so viele Sorgen und bräuchte auch nicht so viel Likör. — Wer der alkoholischen Versuchung nicht widerstehen kann, tröstet sich also über etwas ganz Anderes hinweg.

    Der Alkohol ist wie ein Eisberg, bei dem auch vier von fünf Teilen unter der Oberfläche liegen. Aber weder Luzifer, noch der Alkohol ist das Problem, sondern der vermeintliche Trost, den er spendet, durch Betäubung seelischer Schmerzen. — Aber die Linderungen halten nicht vor, denn es werden nur die Symptome bekämpft. Dann kommen die Schmerzen wieder, um erneut im Alkohol ertränkt zu werden. Alles schreit förmlich danach.

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    Die Schönheit der Seele

    Psyche und Seele

    Das Symposion ist schon weit fortgeschritten, als sich unerwartet ein illustrer Gast einstellt. Alkibiades, reichlich berauscht und gestützt auf zwei Flötenspielerinnen, begehrt Einlaß, was ihm selbstredend gewährt wird. — Und wie es in solchen Situationen häufig so ist, läßt er sich kurz erläutern, daß man sich nicht zum Zechen, sondern zu einem weiteren Dichterwettstreit zusammengefunden haben. Es gelte, ein Loblied auf den Gott der Liebe, auf Eros aufzuführen.

    Anselm Feuerbach: Das Gastmahl. Nach Platon (zweite Fassung: 1871). — Im Mittelpunkt steht der Gastgeber Agathon, geschmückt mit dem Lorbeerkranz, weil er den Dichterwettstreit gewonnen hat. In der rechte Bildhälfte, mit dem Gesicht vom Geschehen abgewandt, vollkommen in sich versunken, sieht man auch Sokrates. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Wer so spektakulär auftritt, steht ohnehin im Mittelpunkt. Also legt der später nicht unumstrittene Machtpolitiker einstweilen los mit seinem Lobgesang auf den Gott der Liebe. Er läßt sich nieder und erzählt von einer ungeheuren Liebe, der er verfallen sei, die ihm aber unerfüllt blieb. Dabei sei die Verführung bestens vorbereitet worden. Er habe die Diener weggeschickt, die Bettdecken bis auf eine reduziert, so daß man einander zwangsläufig habe näherkommen müssen, und dennoch habe er kein Glück damit gehabt. — Dabei sei doch die Person, um die es ging, rein äußerlich nicht nur nicht schön, sondern eigentlich häßlich, wäre da nicht diese Schönheit der Seele, die von innen her kommt.

    Platon ist ein Schalk, wenn er dem überschwenglichen Alkibiades erst in diesem Augenblick erlaubt, sich der anderen Seite hinzuwenden, um dann unmittelbar neben sich jenen zu erblicken, um den es ihm in allen seinen Liebesbekundungen die ganz Zeit geht: Sokrates. Dieser hatte zuvor seine Lobrede auf den Gott der Liebe gehalten, aber durch die Wiedergabe eines wegweisenden Dialogs über die Liebe, mit einer Lehrerin namens Diotima. — Diese prägende Unterweisung hat er in jungen Jahren erfahren. Die weise Frau aus Mantineia in Arkadien muß
    ihn sehr beeindruckt haben.

    Josef Simmler: Diotima. Porträt der Jadwiga Luszczewska (1855). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Erneut geht es, wie bereits im Höhlengleichnis oder beim Seelengespann um einen Aufstieg, nunmehr aber in der Liebe.—Diotima empfiehlt eine Orientierung am Begehren des Schönen, wobei nicht typischerweise die Erotik schlecht geredet und dann ausgegrenzt wird. Vielmehr wird zugestanden, daß diese Form der Liebe zum Schönen den Anfang macht.

    Insofern ist die Rede von ›platonischer Liebe‹ als einer ohne Begehren philosophisch nicht berechtigt, weil ausdrücklich jede Form der Liebe zugelassen wird. — Sie sei ein ›heiliger Wahn‹, der von sich aus über sich selbst hinaus in transzendente Höhe führen werde, wenn sich dem nichts entgegengestellt. Den Anfang macht das erotische Begehren und die Fixierung auf äußere und individuelle Schönheit, dann aber erweitert sich diese Liebe zur Schönheit und wandelt sich zur Freude an der Schönheit der Liebe. Allmählich wird man mehr die innere und universelle Schönheit schätzen lernen, was sich schließlich auf den ganzen Kosmos erweitern kann.

    Damit hat die Schönheit einen bedeutenden Rang erhalten, der kaum mehr übertroffen werden kann. Und tatsächlich gibt es einige Hinweise, die Anlaß geben können, darüber zu spekulieren, ob womöglich diese ›innere‹ Schönheit nicht tatsächlich dem Absoluten noch am allernächsten kommen kann.

    Auch über die Vernunft läßt sich gleichermaßen spekulieren, daß sie, wenn sie damit betraut ist, ein Ganzes als solches vor Augen zu führen, sich dabei stets auf die Perspektiven der Ästhetik und der ästhetischen Urteilskraft zu stützen versteht. Das Interessante daran liegt darin, daß beim Empfinden von Schönheit nur noch plädiert aber nicht mehr argumentiert und schon gar nicht mehr bewiesen werden kann.—Das wiederum hat Hannah Arendt zu einem bemerkenswerten Experimentieren motiviert, eine Politische Theorie auf der Grundlage der Ästhetischen Urteilskraft zu entwickeln.

    Kristian Zahrtmann: Sokrates und Alkibiades (1911). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Damit ist ein tiefes Geheimnis angesprochen, es geht darum, daß wahre Schönheit von innen herkommt, von der Schönheit der Seele. — Und wie sich den begehrlich Vorwürfen des Alkibiades dem Sokrates entnehmen läßt, ist der Politiker in seinen Besitzansprüchen und seinen Eifersüchteleien eben weit weniger an wahrer Liebe interessiert, sondern vielmehr an seiner eigenen Eitelkeit. Er wird damit zu einem mustergültigen Beispiel, wie man es besser nicht halten sollte, mit der Liebe.

    Hier läßt sich der Faden aufnehmen, um zu untersuchen und zu verstehen, wie denn der Zusammenhang zwischen Seele und Psyche beschaffen sein mag. Vor allem interessiert eines: Die zunehmenden Depressionen mögen auch als Hinweis genommen werden, daß wir uns viel zu sehr mit der Psyche, aber viel zu wenig mit der Seele befassen.

    Es ist an der Zeit, manche Begriffe endlich auch allgemeinsprachlich wieder in Gebrauch zu nehmen, die allenfalls noch von Theologen bemüht werden, die daher in diesen Sachen über das bessere Artikulationsvermögen verfügen. — Wir sollten nicht mehr nur vom Körper , sondern auch vom Leib sprechen, was nicht dasselbe ist. Wir sollten nicht mehr nur von der Psyche, sondern auch von der Seele reden. Wir sollten nicht mehr nur von Rationalität, sondern auch von Vernunft sprechen. Und wir sollten nicht mehr nur Rationalität, Verstand und Vernunft bemühen, sondern auch, was nicht leicht faßbar ist, den Geist.

    Psyche und Seele

    Nur bei oberflächlicher Betrachtung scheinen Psyche und Seele dasselbe zu meinen. Während die Seele häufig in religiösen, meditativen und esoterischen Kontexte thematisiert wird, erscheint die Psyche inzwischen eher wie ein Part of the game mit alltäglichen Belangen. — Und mögen wir noch so verheißungsvoll von unserem vermeintlichen Inneren sprechen, die Psyche ist nicht selten auch nur ein Spiel mit der Alltagsmaske.

    Es scheint, als habe die Psyche viel weniger von jener Tiefe, wie sie der Seele zugesprochen wird. Die Psyche ist offenbar sehr viel jüngeren Datums und damit auch ein Spiegel narzißtischer, selbstbezüglicher und materialistischer Belange, von denen sich viele versprechen, große Sehnsüchte zu stillen. Es sin Illusionen, die durch Konsumismus nicht bewältigt werden können.

    Vordergründig wirkt die Psyche als besonderer Teil unserer Seele, den wir uns über uns selbst bewußt machen möchten. — Das Gerede von der ›Suche nach dem wahren Selbst‹ kann die Sehnsucht nicht stillen, denn die Psyche ist selbst ein Teil des Theaters, das wir uns und anderen vorspielen. Ist die Theatermaske erst einmal mit dem eigenen Gesicht und den üblichen Oberflächlichkeiten fest verwachsen, dann kann auch kein Ausdruck von Tiefe mehr aufkommen, denn damit gehen auch Empathie und Authentizität verloren.

    Der Geist der Narrative

    Zugang zu den Tiefen in uns hat nur der Geist, der in den Narrativen wohnt.  Es kommt darauf an, mit Feingefühl die eigene Geschichte in tiefgründigen Dialogen ganz allmählich bewußt werden zu lassen. — Um Freundschaft mit sich selbst zu schließen, sollte man sich einstweilen näher kennenlernen. Dann kann man mithilfe der Philosophischen Psychologie noch einige wesentliche Schritte darüber hinaus gehen.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Politik,  Diskurs,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Psyche,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Nähe und Enge

    Wenn es eng wird ums Herz

    “Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen.” (Christa Wolf: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Frankfurter Poetik–Vorlesungen; Darmstadt, Neuwied 1983. S. 76f.)

    Es gibt einen ethisch nicht zulässigen Tierversuch:  Zwei Ratten werden in einen Käfig gesperrt, der eine ziemlich klar definierte Größe unterschreitet.  Dann gehen sich beide augenblicklich an die Gurgel, bis nur noch eine übrig bleibt. 
     
    Auf mehrtägigen Veranstaltungen gibt es diesen magischen 3. Tag.  Auch da gehen sich Teilnehmer aus einem inneren Zwang heraus an, weil irgendeine Geduld am Ende ist und man vom vielen Weglächeln allmählich Gesichtskrämpfe bekommt. — Es ist auch komisch, wenn gleich ganz viele wie auf ein geheimes Kommando ziemlich unvermittelt und aufgrund von Nichtigkeiten plötzlich aufeinander losgehen.
     
    Wenn man als Referent später dazu kommt und wissen möchte, wie die Stimmung so ist, kann man sehr gut Teilnehmerinnen befragen.  Frauen haben es wie selbstverständlich auf dem Schirm, wer mit wem, warum nicht und weswegen.  — Ich bin da immer bass erstaunt, wie leicht frau Gruppendynamik durschauen kann, weil ich dazu mit Bordmitteln ziemlich lange brauche, bis ich es auch sehe.
     
    Jérôme-Martin Langlois: Cassandra fleht Minerva an, sich an Ajax zu rächen (1810).
    Es ist überaus wichtig, hinter die Kulissen zu schauen.  Das ist auch der Sinn von Höflichkeit, denn es gilt, anderen zuvorkommend zu begegnen, so daß sie gar nicht erst Beklemmungen bekommen, sondern sich wohlfühlen, verstanden, geachtet, gewürdigt.  — Das läßt sich sehr schön bei Knigge studieren, dem es mitnichten um den Einsatz des Fischmessers geht. 
     
    Tatsächlich ist Gesellschaft immer auch Theater.  Wir spielen unsere Rollen und dabei uns selbst und anderen etwas vor.  Aber was wäre die Alternative?  — Der Untertitel bei Knigge lautet, vom Umgang mit Menschen.  Dabei geht es um eine Diplomatie, die alles andere ist als Schmeichelei oder Manipulation.  Allerdings ist dazu ein wenig Lebensart und Lebenserfahrung erforderlich und vor allem ein humanistischer Geist. 
     
    Das Rollenspiel ist ja selbst wieder ein Medium, eine Sprache, mit der wir uns darstellen.  Das wird einem klar bei einer Empfehlung, die Knigge gibt:  Seinerzeit war die Bewegungsfreiheit nicht so wie heute. Nur Adelige und Handwerksgesellen durften und mußten reisen, um sich in der weiten Welt zu beweisen.  In der Tat lernt man sich selbst am besten in der Fremde kennen und vor allem dann, wie man mit dem Unbekannten umgehen muß. 
     
    Wenn man in der Stadt eine Kutsche gemietet hat und die Kutscher wie verrückt losfahren, sollte man sich keineswegs darüber beschweren.  Es geht nur um eine Belastungsprobe.  Wenn nämlich die Räder schwach sind, dann sollten sie hier und jetzt brechen – aber nicht im Wald, wo bekanntlich die Räuber sind.
     
    Die meisten Probleme entstehen durch nicht thematisiertes Mißverstehen. Es ist falsche Höflichkeit, irgendeine Form zu wahren, aber nicht auf das zu sprechen zu kommen, was wirklich von Bedeutung ist, um einander zu verstehen.  — Das ist voraussetzungsreicher als gedacht.  Zunächst müßte man erst einmal sich selbst verstehen und dann auch den Anderen. Dann braucht man eine gemeinsame Gesprächsgrundlage, wie es schon im Jargon der Diplomaten heißt.  Das alles verlangt der Sprache derart viel ab, so daß viele lieber alles weglächeln und Meta–Toleranz–Gepflogenheiten vor sich hertragen oder auch Parteinahmen, je nach Tagesbefehl, was
    noch mehr Probleme bereitet.
     
    Die Welt ist in der Tat abhängig vom Willen und von der Vorstellung, die man sich darüber macht oder auch nur machen läßt.  Das hat die Corona-Krise leidlich unter Beweis gestellt.  Die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, wurden ständig verletzt.  Man hat sich in eine Stimmung aus Panik, Furcht und Bedrohung versetzen und dauerhaft halten lassen.
     
    Und jetzt erscheint es so, als wäre Corona nur eine Art Vorkrieg gewesen.  Die Polarisierung der Gesellschaft, der Kultur, mancher Gemeinschaften und das Gefühl, im Anderen eine infektiöse Bedrohung zu sehen und Nähe generell fürchten zu müssen, sich auf nichts mehr verlassen zu können, schon gar nicht auf das eigene Immunsystem, das hat alles sehr viel mehr Schaden angerichtet, als manche bereit wären, sich zuzugestehen.
     
    Auch ist es kein Zufall, daß nunmehr mit möglichst großer Öffentlichkeit dieses toxische Männlichkeitsgehabe wieder fröhliche Urstände feiert.  — Wie war es noch, als Deutsche in den Krieg fuhren? Das taten sie ja nur, um dort mit ihrer neuen, französischen Geliebten auf der Chaussee de Elysee flanieren zu gehen.  Zurück kamen sie, wenn überhaupt, zutiefst traumatisiert.
     
    Die Weltkriege haben diese Schattenfiguren des prekären Maskulinismus erzeugt, einen manisch-depressiven Männertyp, der nicht sprechen kann über die Scheußlichkeiten, die nicht wieder verschwinden wollen.  Also liegt er den ganzen Tag auf der Couch, bekommt aber einmal am Tag seinen Anfall, die ganze Familie zu vermöbeln.
     
    Das gegenwärtige, affenhafte Brustklopfen der Machomanie ist ja nur das, was im Vorkrieg demonstriert wird.  Später wird sich die Gesellschaft in großer Dankbarkeit für die erbrachten Opfer von diesen Helden nur noch angewidert abwenden.  Also was soll das?
     
    Es ist kein Kunststück, gegen den Krieg zu sein, gegen jeden, weil das einfach für nichts gut ist.  Außerdem befand man sich schon immer in der besseren Gesellschaft mit denen, die sich ein eigenes Urteilsvermögen zutrauen und auch zumuten mochten.  — Zwischen der Zustimmung zur Impfung und der Zustimmung zum Krieg gibt es eine gespenstische Gemeinsamkeit.
     
    I am not convinced.  — Wo kommt nur das Bedürfnis nach Haß her?  Ist es nicht eine viel zu späte Reaktion darauf, daß man sich wieder einmal hat viel zu viel Duldsamkeit abverlangt, zu viel Nähe zugemutet und zu wenig Verstehen aufgebracht hat?  Warum wehren sich so wenige gegen Übergriffe und lächeln sich weg?  Warum kommt es dazu, daß man irgendwann einfach platzt, wenn es bereits zu spät ist? Das ist falsche Höflichkeit, das ist Feigheit, Unbedarftheit, Unselbstständigkeit, Unsicherheit, Unmündigkeit.
     
    Warum haben so viele die Gelegenheit zum Bashing nicht verstreichen lassen, um auch mal ganz kräftig auszuteilen?  — Die Gründe liegen woanders, in einem allgemeinen Unglücklichsein, das mit dem eigentlichen Anlaß kaum etwas zu tun hat. 
     
    In einem Mangel an Denken und Sprache liegen die eigentlichen Gründe.  Daher laufen die Konflikte völlig aus dem Ruder nach dem Motto:  Und was ich Dir überhaupt immer schon mal sagen wollte…! — Machtworte sind Verlautbarungen einer Ohnmacht, aus Gründen der Sprache, des Denkens und aus Mangel an Geist.
     
    Als Ethologen einem Volk ohne Fernseher vom Weltkrieg erzählten, haben sich diese zunächst köstlich amüsiert.  So etwas bräuchten sie auch mal. Offenbar dachten sie an eine zünftige Wirtshausschlägerei, die sie auch noch nicht kannten.  — In einem Science Fiction las ich mal über eine fremde Spezies, sie seien ursprünglich sehr kriegerisch gewesen, dann aber hätten sie sich selbst immer weiter pazifiziert.  Aber von Zeit zu Zeit bräuchten sie noch eine Drangwäsche, ein bemerkenswertes Wort für das, was da gerade vor sich geht.
     
    Es ist vielen zu eng geworden.  Es wäre aber besser, einander mehr Raum zu gewähren.  Raum gewähren kann man auch durch mehr Verständnis, etwa für die, die sich gerade völlig verunsichert in den Geschäften bewegen, daß jetzt keine Maskenpflicht mehr herrscht.  Aber wo kommen wir da jetzt hin, wenn jeder wieder macht was er oder sie will!  – Genau das ist das Problem, dieses unausgesprochene Mißtrauen, der verborgene Selbst– und Menschenhaß.
     
    Der Liberalismus steht einer rechtskatholische Tiefengesinnung gegenüber und einer Reihe von selbstüberzeugten Besserwissern, die in sich das Potential zum guten Diktator verspüren.  Nicht nur Krieg, sondern auch Diktatur scheint wieder machbar.
     
    Aber der Liberalismus hat den Humanismus auf seiner Seite.  Er kann sagen, warum wir uns in unserer Freiheit selbst finden und entwickeln müssen.  Nur so wird aus Menschen das, was sich aus ihrer Emanzipationsgeschichte längst herauslesen läßt, Wesen individueller Weisheit, Selbstverantwortung, Empathie, Authentizität und einem immens gestiegenen Verbalisierungsvermögen.
     
    Erst wenn wir sagen können, was mit uns und der Welt nicht stimmt, wenn wir auch in der Bewegtheit noch die Contenance bewahren können, um uns gleichwohl nicht unterbuttern zu lassen, erst dann sind wir auf dem richtigen Weg. — Dabei ist die Bezeichnung Homo sapiens bislang nur eine Anmaßung.
     
    Die letzte aller Kompetenzen ist die schwerste von allen, das ist in jeder Entwicklung so. Sich selbst moderieren zu können, freundschaftlich, verständnisvoll und hoffnungsvoll, das ist einzig das, was zählt. Der Staat hat überhaupt nicht das Recht, sich da einzumischen. Er hat nicht die Aufgabe, über die Gesellschaft zu herrschen, er hat ihr zu dienen, um sie darin zu unterstützen, zu sich selbst zu kommen. — In Pädagogik und Psychologie ist das der state of the art, alle Eltern wissen das.
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    EPG II b (online und Block)

    Oberseminar

    EPG II b (Online)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2022: 5 Seminare online | donnerstags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Workshops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91-110

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    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

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    Studienleistung

    Eine regelmäßige und aktive Teilnahme am Diskurs ist wesentlich für das Seminargeschehen und daher obligatorisch. — Studienleistung: Gruppenarbeit, Präsentation und Hausarbeit.

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    EPG II a (online)

    Oberseminar

    EPG II a

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | freitags | 14:00-15:30 Uhr | online 

    Beginn: 22. April 2022 | Ende: 29. Juli 2022

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    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

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    Studienleistung

    Eine regelmäßige und aktive Teilnahme am Diskurs ist wesentlich für das Seminargeschehen und daher obligatorisch. — Studienleistung: Gruppenarbeit, Präsentation und Hausarbeit.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Schuld: Eine mächtige Kategorie

    Johann Heinrich Füssli: Lady Macbeth, schlafwandelnd, (um 1783). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

    Der Dichter und Maler Johann Heinrich Füssli war derart fasziniert von den Werken des William Shakespeare, so daß er sich schon in jungen Jahren an Übersetzungen versuchte. — Als Maler schuf er einen ganzen Bilder–Zyklus mit berühmten Szenen, in denen die phantastische Stimmung eingefangen ist.

    So inszenierte er auch die dramatische Szene: Lady Macbeth V,1 von William Shakespeare. Die tragische Heldin wird von Alpträumen geplagt und findet einfach keine Ruhe mehr. Sie träumt mit offenen Augen und beginnt zu schlafwandeln. — Und es scheint, als wollte sie sämtliche Plagegeister vertreiben, die Zeugen ihrer Untaten, von denen sie verfolgt und um den Schlaf gebracht wird.

    Die Szenerie führt das schlechte Gewissen der Lady Macbeth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treuergeben. Aber drei Hexen prophezeien ihm, selbst zum König zu werden. Um dem verheißenen Schicksal nun aufzuhelfen, schrecken Macbeth und seine Lady selbst vor einem heimtückischen Königsmord nicht zurück.

    Beide sind von blindem Ehrgeiz getrieben und verlieren im Verlauf der Ereignisse aufgrund ihrer Verbrechen zuerst ihre Menschlichkeit, dann ihr Glück und schließlich auch noch den Verstand, von ihrem Seelenheil ganz zu schweigen. — Dabei wirkt die Frau skrupelloser als der Mann. Ähnlich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel entschiedenere Frau wirklich alles aufs Spiel, während der Mann eher zaghaft erscheint. Dahinter dürfte die Problematik stehen, daß Frauen lange Zeit nicht direkt aufsteigen konnten, nur über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter.

    Es kommt im fünften Akt zu der im Bild von Füssli dargestellten Szene. Während sich Macbeth auf Burg Dunsinane mehr und mehr zum verbitterten, unglücklichen Tyrannen wandelt, wird Lady Macbeth immer heftiger von Gewissensbissen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Duncan ist ungesühnt. — Alpträume kommen auf, sie beginnt im Schlaf zu wandeln und die Phantasie nimmt Überhand, bis sie schließlich den Verstand verliert und sich das Leben nimmt.

    Das Gefühl, sich womöglich gleich am ganzen Kosmos versündigt zu haben, durch eine Freveltat, dürfte sehr früh aufgekommen sein. Es gibt viele Beispiele dafür, daß durch ein Sakrileg eine ›heilige Ordnung‹ gestört wird, was nicht so bleiben kann. — Beispiele sind Sisyphos, ein Trickster, der nicht sterben will und den Tod immer wieder hinters Licht führt, oder Ixion, der erstmals einen Mord an einem Verwandten beging.

    Es gibt eine Klasse von Mythen, die sich als Urzeitmythen klassifizieren lassen. Väter verschlingen ihre Kinder, die Welt bleibt im Chaos, sie gewinnt gar keine Gestalt. Titanen herrschen, wobei der Eindruck entsteht, als wären sie die Verkörperung jener Geister, mit denen die Schamanen der Vorzeit noch umgehen konnten. — Die klassischen Mythen sind insofern auch ein Spiegel der Zivilisation, weil sie die angeblich barbarischen Zeiten zuvor als absolut brutal in Szene setzen.

    Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

    Francisco de Goya: Saturn verschlingt seinen Sohn (1820f). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Das sind auch Ammenmärchen der Zivilisation, die Rede ist dann von finsteren Zeiten. Zugleich setzen sich Mythen damit als Aufklärung in Szene, schließlich künden sie von der Überwindung dieser Schrecklichkeiten. Nicht nur der technische, zivilisatorische Fortschritt spielt bei alledem eine beträchtliche Rolle, sondern auch die Psychogenese. — Vermutlich kommt Individualismus erst allmählich auf, ebenso wie das Bedürfnis, sich selbst zu beobachten.

    Die klassischen Mythen inszenieren nicht nur das Sakrileg, sie errichten zugleich auch die Tabus dagegen, indem man die Ereignisse in eine viel frühere Urzeit abschiebt und zugleich demonstriert, wie entsetzlich die Folgen möglicher Tabubrüche tatsächlich sind.

    Wenn etwas Ungeheuerliches geschehen ist, dann treten bald schon Ungeheuer auf den Plan. Als würde die Welt selbst darum ringen, in den Zustand der ›vormaligen Harmonie‹ wieder zurückzukehren. — Aber irgendwie muß das Vergehen gesühnt werden. Es muß erst wieder aus der Welt geschafft werden durch Buße, weil erst dann die ›heilige Ordnung‹ wieder hergestellt werden kann.

    Zugleich sind die Götter selbst im Prozeß der Theogenese. Eine Götterdynastie folgt auf die nächste. — Interessant sind die Reflektionen darüber. So hat Kronos durch fortgesetzte Kindstötung der Gaia vorenthalten, was Mütter wollen, die Kinder aufwachsen sehen.

    Der Mythos schildert in dieser Vorstufe einen Zustand, in dem nicht wirklich Entwicklung statthaben konnte. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Menschheit zentriert. Dann treten die glücklichen Götter Athens sogar freiwillig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Menschheit die Welt zu überlassen.

    Die Entstehung des Gewissens

    François Chifflart: Das Gewissen. 1877, Maisons de Victor Hugo, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist vermutlich der aus Ägypten durch den Tempelpriester Moses beim Auszug der Juden mit auf den Exodus genommene monotheistische Gott, der bereits bei den Ägyptern mit einem allsehenden Auge symbolisiert wurde. Auch die Idee vom Jenseitsgericht stammt aus Ägypten, was zur bemerkenswerten Tradition der Ägyptischen Totenbücher geführt hat, das Leben als Vorbereitung auf den Tod zu betrachten.

     

    Mit der Bedrohung durch das Jüngste Gericht des Lebens kommt eine Psychogenese in Gang, die eine systematische Selbstbeobachtung erforderlich macht. — Wenn ein allgegenwärtiger und allwissender Gott ohnehin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts verbergen kann, dann scheint es angeraten zu sein, sich ein Gewissen zuzulegen, um sich genau zu beobachten und ggf. zu kontrollieren.

    Dementsprechend ist Kain auf der Flucht vor dem ›allsehenden Auge‹, weil er ›vergessen‹ hat, sich beizeiten ein Gewissen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weniger anspruchsvolle Deutung des vermeintlichen Brudermords. Aus Gründen der Ethnologie können Ackerbauern und Hirten keine ›Brüder‹ sein. Offenbar hat sich der hier verehrte Gott, der das Opfer des Bauern ›ablehnt‹, noch nicht damit arrangiert, daß die Tieropfer seltener und die Opfer von Getreide und Früchten zunehmen werden.

    Kain auf der Flucht

    Erst mit der Urbanisierung erhält der Prozeß der Zivilisation seine entscheidende Dynamik. Der alles entscheidende Impuls geht mit dieser Gottesidee einher, mit der ganz allmählich aufkommenden Vorstellung eines Gottes, der alles ›sieht‹. — Dementsprechend illustriert Fernand Cormon die Flucht des Kain unmittelbar nach der Tat. Das Werk ist durch Victor Hugo inspiriert und schildert die Szene auf groteske Weise.

    Der Plot selbst ist zutiefst paradox: Kain ist Bauer. Er lebt von den Früchten der Erde, fürchtet sich jedoch schrecklich vor dem neuen transzendenten Gott, der im Himmel über den Wolken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er verliert im Opferwettstreit, erschlägt seinen Kontrahenten, ist aber von diesem missionarischen Hirten offenbar längst bekehrt worden, denn er fürchtet sich fortan wie wahnsinnig vor diesem Gott. Darauf beginnt er eine halsbrecherische Flucht, um sich dem allsehenden, allwissenden, allgegenwärtigen Auge dieses Gottes doch noch zu entziehen.

    Fernand Cormon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.