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    Soziale Kompetenzen und geistige Inkompetenzen

    Fairneß als Zeichen von Größe

    Es gibt soziale Kompetenzen, die weit wichtiger sind als eine in sich selbst verliebte Konkurrenzgesellschaft, die doch nur am Ast sägt, auf dem sie sitzt. — Das wurde am Freitag deutlich, im Seminar für angehende Lehrer und Lehrerinnen, in dem es um Professionalität und Berufsethik geht.

    Man mag es kaum mehr glauben, aber Kinder bringen ein Gefühl für Gerechtigkeit gleich mit auf die Welt. Sie kämpfen sogar dafür, wissen aber vielleicht noch nicht genau, wie man solche Werte lebt ohne als dumm hingestellt zu werden.

    Hört man Vorschulkindern beim gemeinsamen Spielen zu, dann verhandeln sie die Regeln fast ebenso lange, wie tatsächlich auch gespielt wird. Und der Satz: „Das gildet nicht!“, klingt mir noch immer in den Ohren. — Wie so oft hat Jean Jacques Rousseau mal wieder Recht: Die Natur des Menschen ist und bleibt gut, solange die Gesellschaft keinen schlechten Einfluß ausübt.

    Gerade im Gerede über die vermeintliche Natur des Menschen glauben viele ohne die geringste Ahnung von Anthropologie, ihre beschränkte Sicht der Dinge und vor allem ihre Ressentiments unwidersprochen verallgemeinern zu dürfen.

    Wolfsmärchen

    Man glaubt es aus eigener Anschauung besser zu wissen. Wir leben angeblich in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, im Kampf aller gegen alle, auf der freien Wildbahn, inmitten hochzivilisierter Welten, die von vorn bis hinten menschengemacht sind. — Also was soll die Berufung auf die angebliche „Natur des Menschen“?

    Tatsächlich haben wir alle erdenklichen Freiheiten, uns nach eigenen Vorstellungen zu „kultivieren“ in unserer Natur, als Person und vor allem in unserem Charakter. Aber genau diese Freiheit ist vielen suspekt.

    Dagegen dient die Berufung auf eine angeblich schlechte Natur des Menschen der Rechtfertigung, den Einzelnen die ihnen zustehenden Freiheiten in der Selbstfindung vorzuenthalten und zugleich so etwas wie „Menschenführung“ zu beanspruchen, mit der sich die Herrschaften zu allen Zeiten immer sehr gut legitimieren haben. — Entmündigung und Bevormundung sind daher noch immer auch in angeblich „freien“ Gesellschaften die Regel.

    Die Corona-Zeit hat überdeutlich gemacht, wie begrenzt die Haltbarkeit der angeblich garantierten Grundrechte eigentlich ist. Aus purer Angst haben viele ihre unveräußerlichen Grundrechte gegen vermeintliche Sicherheiten getauscht. Aber so etwas war schon immer ein schlechter Tausch.

    Jean-Léon Gérôme: Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen (1896).

    Der von Kant geforderte Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, ist eben kein Kinderspiel. Angst war schon immer der schlechteste aller Ratgeber, Haß und Hetze waren noch nie ein Ausdruck guter Politik. Aber manche sind das Opfer eigener Ängste und greifen händeringend nach allem, was angeblich Halt verspricht. Es war manchmal wie bei einer Massenpanik, bei der manche einfach totgetrampelt wurden.

    Souveränität, Gelassenheit und Autonomie haben Seltenheitswert, wo alles über einen Leisten geschlagen wird.

    Fairneß

    Ausgerechnet im Leistungssport, bei dem es ja angeblich immer nur ums Gewinnen geht, also inmitten der Ellenbogengesellschaft, gibt es aber noch ganz andere Werte: Fairneß, Gerechtigkeit und Authentizität sind Zeichen wahrhafter Größe. Nur muß man sich so etwas leisten wollen und auch können.

    Wenn etwa bei der Tour de France alle Fahrer auf einen Konkurrenten warten, der zuvor unglücklich gestürzt war. Aus Gründen der Fairneß zügeln alle plötzlich den unbedingten Willen zum Sieg. Wenn sie dann mit beeindruckenden Gesten darauf warten, daß einer von ihnen aus höheren Gründen als erster ins Ziel fahren kann, dann zeigt sich, was menschliche Größe ausmacht. — Wenn eine Skiläuferin der Konkurrentin mitten im Rennen ihren Stock “ausleiht”, dann aber selbst  stürzen und sogar verlieren muß. Auch wenn jener Fußballer, der im Strafraum gestürzt aber keineswegs zu Fall gebracht worden ist, beim Schiedsrichter gegen den bereits gegebenen Elfmeter plädiert, dann haben wir gute Beispiele, die der dumpfen Ideologie unserer angeblich so herz– und geistlosen Konkurrenzgesellschaft haushoch überlegen sind.

    Wie lautet doch der dreiste Spruch einer der dümmsten Werbekampagnen aller Zeiten: „Ich bin doch nicht blöd!“ — Genau: Gelegenheit macht Diebe und wer etwas stehlen kann und es nicht tut, ist doch einfach nur blöd. Wer sich einen betrügerischen Vorteil verschaffen kann, wäre doch blöd, es nicht zu tun, oder?

    Die Seele des schlechten Gewissens

    Alle viel zu dürftig denkenden Schlaumeier vergessen dabei jedoch eines: Wir sind nie allein. Wir haben immer einen Zeugen dabei, nämlich uns selbst. Es ist das schlechte Gewissen und hinter alledem steht die eigene Seele.

    Davon ist seit geraumer Zeit immer weniger die Rede: Unsere Seele weiß offenbar sehr genau, was wirklich gut ist für andere und auch für uns selbst. — Ich vermute inzwischen, daß manche Depression von einem schlechten Gewissen herrühren dürfte, die von einer in die Ecke gestellten Seele ausgehen.

    Nicht von ungefähr wird dieser Tage der Unterschied zwischen Psyche und Seele immer wichtiger. Denn die Psyche ist offenbar inzwischen selbst zum Teil des Problems geworden. Sie stellt sich nur zu gern als Opfer hin, ist oft aber auch Täter an sich selbst, und dabei wirbt sie wie die Politiker für ihre viel zu einfältigen Machenschaften. — Tatsächlich sind die eigentlichen Motive oft nur von dieser Welt, wenn man an Narzißmus, Geltungssucht, Selbstverliebtheit, Voreingenommenheit, Rachsucht, Haß, Neid und Eitelkeit denkt.

    Aber fragen wir generell: Warum „gut“ sein wollen und vor allem wozu? — Nur aus Angst vor Strafe, wenn man erwischt würde, oder vielmehr aus eigenem Antrieb, also von innen her, aus eigener Motivation, weil wir uns eben die Freiheit zur Größe tatsächlich herausnehmen und auch leisten wollen.

    Würde den Belangen der Seele mehr Raum verschafft, die Weiterentwicklung der eigenen Person, der ganzen Welt, ja sogar der ganzen Menschheit würde bemerkenswerte Entwicklungen machen bis hin zu einer sehr viel menschlicheren Welt. — Aber viele glauben, mit dunklen Machenschaften, Rücksichtslosigkeiten, ja sogar mit Lug und Betrug sehr viel besser durchzukommen. Fragt sich nur wozu und wohin sie “durchkommen” wollen.

    Ein Zauberring, der unsichtbar macht

    Bei Platon wird dieses Problem näher erläutert anhand eines Motivs von einem magischen Ring mit der Fähigkeit, den Träger unsichtbar zu machen. Der Mythos vom Ring des Gyges geht auf eine antike Erzählung zurück, die in vielen Varianten durchgespielt worden ist. — Die Kernfrage aber lautet immer: Was würde man tun, wenn man diesen Ring hätte und dann ungestraft tun könnte, was und wie es einem beliebt.

    Eglon van der Neer: Die Frau des Kandaules entdeckt den versteckten Gyges (1660).

    Im Dialog bei Platon wird mit der Allegorie vom Zauberring erörtert, was in Pädagogik und Psychologie als „intrinsische Motivation“ bezeichnet wird. — Wer sich nämlich unsichtbar machen kann, der wäre schlicht unangreifbar und daher übermächtig.

    Die Frage liegt also auf der Hand: Wenn einem gar nichts passieren kann, egal was man tut; warum sollte man dann noch moralisch motiviert sein?

    Schön und lehrreich ist es immer, so etwas durchzuspielen, um in Erfahrung zu bringen, was dann wirklich geschieht, wenn man es täte. Die Aussichten auf den vermeintlichen Erfolg finsterer Machenschaften werden tatsächlich alsbald getrübt, wenn wir die Folgen näher in Augenschein nehmen. — Menschen haben nämlich nicht wirklich echte Freude am Erschwindelten. Genauer besehen zählt es nicht nur nicht, es fällt sogar alles zurück auf die, die es versucht haben, auf diese Weise einen Erfolg einzuheimsen, der gar keiner war.

    Gerade gegen diesen Impuls, sich solche Freiheiten zum Lügen und Betrügen herauszunehmen, gibt es wieder sehr schöne Gegenbeispiele. Tatsächlich ist uns nämlich an echter, wohlverdienter Anerkennung gelegen und alles andere zählt nicht wirklich.

    Da gibt es beispielsweise die Ballade von einem mächtigen Mann, der eine junge Frau begehrt, die ihm aber nicht zugetan ist. In seiner Liebesnot verlegt sich dieser seltsame Vogel auf einen Seelenzauber, um die Dame seines Herzens doch noch dazu zu bewegen, ihm gewogen zu sein und der Zauber verfängt. — Aber er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Er kann einfach nicht glücklich werden mit dieser gestohlenen Liebe, weil sie ja nicht „echt“ ist.

    Oder wenn etwa der vermögende Intimfreund einer aufstrebenden Künstlerin dieser einen ganz großen Gefallen tun will, indem er die von ihr geschaffenen, bisher nicht sonderlich gut verkauften Kunstwerke einfach seinerseits erwirbt. Er hat ja schließlich Geld genug und kann es sich leisten. — Was wird aber geschehen, sobald sie dahinterkommt, daß er es war, der alles aufgekauft hat? Käme sie sich dann nicht reichlich blöd vor?

    Man sieht, solche Rechnungen gehen einfach nicht auf. Wenn etwas nicht echt ist, dann kann und darf es gar nicht zählen, das wissen bereits Kinder sehr früh. — Daher wollen wir entweder echte Anerkennung oder lieber gar keine. Im Zweifelsfall kann man das eigene Scheitern noch immer als Zeichen echter Größe zelebrieren. Man hat es eben ehrlich versucht, aber die Welt war noch nicht reif genug.

    Wir legen also großen Wert darauf, sicher zu gehen, daß andere uns nicht einfach nur schmeicheln und etwas vormachen wollen. Und sogar Kinder, die erst noch das Auch–mal–Verlieren–Können lernen müssen, sind im Prinzip längst so weit, einsehen zu können, daß ein geschenkter Sieg nicht wirklich zählt. — Mit Augenzwinkern kann man ihnen tatsächlich bereits zu verstehen geben, daß man sie diesmal noch gewinnen läßt, weil sie sich noch allzu sehr ärgern über eine Niederlage im Spiel.

    Wie es wäre, Donald Trump zu sein

    Bei alledem denke ich immer mal wieder über den Charakter von Donald Trump nach, weil mir seine Unaufrichtigkeit und sein fortwährender Selbstbetrug nur schwer nachvollziehbar ist. Ich will verstehen, scheitere aber immer wieder an meinem Vorstellungsvermögen, wie es wohl vonstatten gehen könnte, derart von sich überzeugt zu sein, so daß man glaubt, sich selbst und andere auf Dauer belügen und betrügen zu können. — Und diese Gedanken drängten sich mir auch im Seminar über die “Fairneß im Sportunterricht” wieder auf.

    Enrico Mazzanti: Pinocchio (1883).

    Trump ist gewiß kein Sportsmann, dachte ich mir. Aber er spielt doch Golf, also müßte er doch irgendwie „fair“ sein, dachte ich mir dagegen auch wiederum.

    Derweil kam mir die Szene aus dem Bond-Film „Goldfinger“ in den Sinn, wo ein Bond-Bösewicht auf ganz jämmerliche Weise beim Golf betrügt, weil die von Gerd Fröbe so hervorragend gespielte Figur einfach nicht verlieren und daher auch nicht fair sein kann. — Der ins Nirgendwo verschlagene Golfball wird vom finsteren Gehilfen einfach durch ein Loch in der Hosentasche an Ort und Stelle platziert, was natürlich von Bond durchschaut und auch aufgeklärt wird.

    Um aber in der entscheidenden Frage weiterzukommen, habe ich einfach nach „Trump sportsman“ gegoogelt. — Gleich der zweite Fund ist eine Meldung aus dem Spiegel:

    „So gewinnt er immer.  Der US-Präsident Donald Trump hält sich für einen exzellenten Golfer. Tatsächlich schummelt er bei jeder Gelegenheit, sogar gegen prominente Mitspieler wie Tiger Woods.“ — Danke, mehr brauche ich nicht. Manchmal ist es mir schon wieder zu blöd, so einfach Recht zu haben.

    Das erklärt aber nur, daß er so ist, wie zu befürchten war. Aber erklärt wird nicht, warum Trump so ist, wie er ist. — Also versuche ich mir zu erklären, wie man sich wohl fühlen muß, wenn die Seele als Geisel genommen worden ist und am Kopenhagen-Syndrom leidet, wo die Geiseln beim Feuergefecht mit der Polizei den Tätern die Waffen nachgeladen haben.

    Um etwas zu verstehen, müssen wir es uns erst einmal vorstellbar und nachvollziehbar machen, aber dazu gehört sehr viel Einfühlungsvermögen. — Wenn es schon einen berühmten Aufsatz von Thomas Nagel gibt unter der Fragestellung: „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein“, dann sollte es doch auch gelingen, sich vorstellen zu können, wie es wohl sein würde, Donald Trump zu sein, nicht auf Dauer, aber solange, bis man gesehen hat, wie Trump–Sein geht.

    Als Hilfsargument nehme ich derweil ein „Faktum“ aus anderen Zeiten. Es wurde nämlich vorzeiten über Mercedes–Fahrer, ihre Karossen und ihr Verhalten im Straßenverkehr gesagt, daß bei diesen die Vorfahrt bereits eingebaut sei. — So jedenfalls versuche ich mir zu erklären, wie der Trumpismus als Betriebssystem und Massenbewegung wohl funktionieren könnte. In der non–binären Welt von Trump, seiner Anhängerschaft und denen, die an ihn und seine Mission glauben, ist er ja so etwas wie ein Messias.

    Im Trump–Spiel kann es immer nur einen Gewinner geben. Demnach gibt es gar nicht die Möglichkeit, daß er auch mal verlieren könnte, denn so etwas ist im Schöpfungsplan einfach nicht vorgesehen! — Also kann eine Wahl, in der er verloren hat, einfach nur ein Fake sein, genauso wie die Fotos seiner Amtseinführung mit einem bemerkenswerter Neologismus gekontert wurden, bei dem man sich nicht genug die Augen reiben kann: Es gäbe neben der normalen Wirklichkeit noch so etwas wie „Alternative Fakten“, sagte seine seltsam anmutende Pressesprecherin damals.

    Kritik der Esoterik

    Allerdings bereitet es mir besondere Probleme, genauer nachzuvollziehen, warum es unter Esoterikern häufiger gerade solche Zeitgenossen gibt, die in Trump einen ganz großen, weisen, auserwählten, durchaus von den Göttern gesandten Erlöser sehen. — Ich muß gestehen, daß ich dann in meiner Gedankenarbeit regelmäßig an Belastungsgrenzen stoße, weil ich da einfach nicht mehr mitkomme.  Dabei spiele ich ganz gern auch mit schrägen Gedanken.

    In Kindertagen hatte ich unermüdliche Gedankenspiele mit Versuchen, mir etwas vorzustellen, was ich mir nicht vorstellen kann. Also wurde eine Vorstellung nach der anderen durchgewunken; sobald sie vorstellbar geworden war, wurde sie auch schon wieder abgelehnt… — So etwas erweitert den Horizont des Vorstellbaren ungemein und dennoch bleiben gewisse Grenzen der Phantasie.

    Nicht ohne schadenfrohe Selbstironie sehe ich mir selbst beim Experimentieren mit den Gedankenwelten mancher dieser Esoteriker zu. Bald zeigen sich nämlich in meiner Weltvorstellung die ersten Risse, dann kommen Strukturbrüche hinzu und schon bald brechen ganzen Gedankengebäude krachend in sich zusammen, wenn ich ernsthaft versuche, alledem einen nachvollziehbaren Sinn einzuhauchen.

    Da werden nicht nur die zu prüfenden Gedanken zu Crashtest-Dummies, schlußendlich kollabiert die ganze Versuchs-Anlage. — Es dauert übrigens etwa drei Tage, bis alles so einigermaßen wieder steht.

    Trump, Sportsgeist, Fairneß, wahrhafte Größe, tatsächliche Würde, Konzilianz und vor allem Persönlichkeit, wie das alles zusammengehört? — Manchmal paßt es eben nicht wirklich und alles bricht unter der Last der Lügen in sich zusammen.

    Für Gläubige ist so etwas aber nichts weiter als eine Prüfung in der Festigkeit des eigenen Glaubens. — Wie heißt es doch: Als sie ihr Scheitern bemerkten, da verdoppelten sie ihre Anstrengungen.

    Allerdings ist dieser Tage nicht nur ein Zentralgestirn reaktionären Denkens im Sinkflug begriffen. So ergeht es manchen dieser Tage, die einfach zu hoch geflogen sind. — Man kann nicht Angst mit Haß bekämpfen, man sollte auch nicht die Seelenheilkunde in die Hände vermeintlicher Coaches legen, die auf den Marktplätzen im Internet wie Wunderheiler herumziehen.

    Zur Fairneß, vor allem auch zu der, sich selbst gegenüber, braucht es Mut und Zuversicht. Aber so etwas fällt nicht vom Himmel. — Auf Bildung kommt es an, so viel Umweg muß sein.

    Manche wollen aber Erleuchtung nach dem Motto: “I like Genuß sofort”, noch so eine saublöde Werbung vorzeiten. Und diesen Spruch haben sich viele auch noch aufs Auto geklebt. — Da  mag es günstig erscheinen, gleich in den Glauben zu springen, als wäre es nur eine Mutprobe. Aber so etwas ist gar keine Leistung, sondern nur die Flucht vor der geistigen Freiheit.

    Auf die Bildung der Persönlichkeit kommt es daher an. Wir sollten einigermaßen sicher gehen können, daß wir uns selbst und anderen nicht einfach nur etwas vormachen. – Das ist es doch gerade, was “Kritik” ausmacht. Wir sollten uns nicht selbst auf den Leim gehen, sondern uns selbst ganz besonders “kritisch” betrachten.

    Als Kontrastmittel kann man dabei auf Philosophie, Kunst und Dichtung zurückgreifen:

    „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

    Hat auch Religion;

    Wer jene beiden nicht besitzt,

    Der habe Religion.“

    (Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte. Nachlese. In: Berliner Ausgabe; Bd. 2, S. 383.)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Der amerikanische Pragmatismus ist unethisch

    „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“

    (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werke. Bd. VI; S. 245.)

    Kant ist ebenso berühmt wie berüchtigt für seinen Rigorismus. Das läßt sich sehr gut illustrieren anhand des Beispiels vom unschuldig Verfolgten, der sich bei mir versteckt. Ich soll, ich muß den Verfolgern verraten, daß er sich bei mir aufhält.

    Diese beinharte Prinzipientreue erscheint zunächst völlig weltfremd, wenn das Lügenverbot derart absolut gesetzt wird, ohne jede Ausnahme. Aber bei Kant kommt es nicht auf die Folgen an, sondern einzig und allein auf den persönlichen Entschluß zum Guten Willen als Grundlage jeglicher Moral. – Es wird ein tätiges Vertrauen eingefordert, sich nicht über das Gesetz zu stellen, sich nicht für klüger zu halten als alle anderen. Entscheidend ist, ob man in der eigenen Person den eigenen Pflichten gerecht geworden ist oder nicht. Alles Weitere muß und wird  sich dann schon zeigen.

    Das sieht der Amerikanische Pragmatismus völlig anders. Ihm zufolge ist einzig und allein das Ziel entscheidend, und die Mittel zum Zweck sind dann „gut“, wenn sie erreichen, was man sich nun einmal in den Kopf gesetzt hat.

    Allerdings geht es in der Philosophie stets ums Grundsätzliche, daher wird es interessant, die möglichen Alternativen bewußt durchzuspielen. Und da wird Sokrates beispielhaft mit seinem Verhalten, den Giftbecher zu schlucken, obwohl die Wächter bereits bestochen sind und eigentlich von ihm sogar erwartet wird, daß er sich dem Urteil durch Flucht entzieht. – Aber Sokrates bleibt, trinkt und stirbt, wobei sehr deutlich beschrieben wird, wie das Gift des Schierlings seine Wirkung zu entfalten beginnt.

    Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787).

    Wenn man nun darauf spekuliert, Sokrates habe, wie Protagoras rund 10 Jahre zuvor, ebenfalls die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, dann wird deutlich, daß Sokrates nicht hätte weiterhin Sokrates sein und bleiben können nach dieser Flucht. Er hätte durch sein Verhalten seiner ganze Philosophie eine Narrenkappe aufgesetzt, er wäre zu Recht zum Gespött geworden. Und Platon hätte ihn mitnichten so in Szene setzen können, wie er es getan hat. – Mit diesem Opfertod wurde der Philosophie ein unumstößliches Denkmal gesetzt, gegen das kein Pragmatismus und auch kein Utilitarismus ankommen kann.

    Genau das kommt auch heraus, wenn man das Lügen verallgemeinert. Wenn nämlich alle lügen würden und niemand sicher sein kann, daß nicht doch gelogen worden ist, dann gibt es keine Wahrheit mehr und auch kein Vertrauen. Alles wäre ruiniert. Der Lügner spekuliert ja darauf, daß ihm geglaubt wird, obwohl er weiß, daß er kein Vertrauen verdient hat. – Also wieviel Zynismus, wieviel Eigenmächtigkeit, wieviel Selbstherrlichkeit, Selbstgerechtigkeit und Geheimhaltung braucht man eigentlich, wenn man sich so über alles hinwegsetzen will, was angeblich allgemein verbindlich gilt?

    Das wirft ein anderes Schlaglicht auf die Situation mit dem unschuldig Verfolgten. Wir nähmen der Gemeinschaft und auch den Verfolgern durch unseren eigenmächtigen Eingriff in das Geschehen jede Gelegenheit, selbst hinter die Unschuldsvermutung zu kommen. – Auch wer aus angeblich guter Absicht lügt, stört die moralische Entwicklung der ganzen Menschheit für die Verfolgung niedriger Zwecke. Das Recht auf die Wahrheit haben Kinder gegenüber ihren leiblichen Eltern und Kranke gegenüber Ärzten und Angehörigen.

    Das Geheimhalten selbst ist also bereits ein Indiz für potentielles Unrecht. Genau das aber tun die Geheimdienste aller Staaten, vor allem aber die der US-Amerikaner. Die Liste der geheimen Kommandosachen, die durchaus denen von James Bond entsprechen, läßt sich offen bei Wikipedia nachschlagen. Und der Amerikanische Pragmatismus segnet das üble Tun und Treiben auch noch ab.

    Darin liegt der entscheidende Unterschied zur kontinental-europäischen Philosophie, die auch den englischen Utilitarismus nicht wirklich mittragen kann. – Daß ein gekapertes Passagier-Flugzeug mit Kurs auf ein besetztes Fußballstadion nicht auf Geheiß des Verteidigungsministers abgeschossen werden darf, weil dieser dazu das Recht gar nicht hat, ist ein einschlägiges Grundsatzurteil in solchen Angelegenheiten. – Menschenleben werden nicht gezählt, es wird nicht gerechnet und schon gar nicht wird aufgerechnet. Vielmehr ist es dem europäischen Denken fremd, so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen.

    Ginge es wirklich um das “größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl”, dann wäre zuletzt nicht einmal mehr ausgeschlossen, daß man Menschen hernimmt, um sie auszuweiden. Ein Einzelner könnte wirklich sehr viele andere Organempfänger überaus „glücklich“ machen.

     

    Die Frage Cui bono?

    Es spricht nicht viel dafür, daß Putin höchstselbst die Bomben in großer Tiefe an den Pipelines hat platzieren lassen. Wenn dem so wäre, dann würde das geschehen sein in der Absicht, es den USA in die Schuhe zu schieben. – Vielversprechender scheint aber die Vermutung zu sein, daß es die USA waren, die schon vor Monaten diese Möglichkeit erwogen und auch in Aussicht gestellt haben.

    Ein Unding, was da passiert ist, als der amerikanische Präsident Biden in Anwesenheit von Bundeskanzler Scholz genau das offen ausgesprochen hat, daß die USA im Zweifelsfall schon über “Mittel und Wege” verfügen würden. – Der Augenblick der Zündung dieser mutmaßlich bereits vor Monaten installierten Bomben kann selbst als Indiz genommen werden dafür, daß die USA nicht nur diesen Krieg, sondern auch den Rückweg in den Frieden verbauen wollen.

    Wenn es nämlich gar nicht so gut steht um die Kriegsziele von Putin, dann könnte dieser ja erwägen, eventuell doch auf Verhandlungen einzugehen. Wenn diese dann fruchten würden, dann könnte ja alsbald auch wieder Gas durch die Leitungen fließen. – Genau das ist jetzt unmöglich gemacht worden.

    Die Maximen US-Amerikanischer Außenpolitik waren und sind niemals wirklich am Wohl der Menschheit ausgerichtet worden, es ging und geht immer nur um oft sehr kurzfristige Interessen und dazu ist dann jede Mittel recht, also auch Lügen, Betrügen, Hintergehen und Vortäuschen falscher Tatsachen. – Genau das aber macht alle Geheimdienste zu einem Stein des Anstoßes, weil sie im Sinne von Kant per se unrecht sind und Unrecht tun.

    Bereits die Tatsache, daß sie ihr Tun und Treiben nicht öffentlich machen können, diskreditiert sie alle, wirklich alle. Es kann keine guten Geheimdienste, keine gute Geheimpolitik im ethischen Sinne geben. Es kann sie schon deswegen nicht geben, weil sie dem Prinzip der Demokratie widersprechen. – Wenn das „Volk“ der Souverän sein soll, dann muß dieser auch erst einmal informiert werden, wer, weshalb, wozu und warum solche Aktionen geboten sein sollen.

    Geheimdienstaktionen wie die Sabotage an Pipelines erweisen der vielberufenen Demokratie einen Bärendienst. Es geht zuletzt auch nur um die Macht-Gelüste ganz kleiner Eliten, die ihre Glasperlenspiele betreiben. Und dabei verspielen sie genau das, worauf es ankäme, worauf Kant und Sokrates unerbittlich gesetzt haben: Vertrauen.

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.