• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Schule,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Amok und Nihilismus

    Über transzendentale Obdachlosigkeit

    Ich habe Amok nie verstanden. Bei Charles Bukowski, durch den man ebenso hindurch muß, wie durch Niklas Luhmann, geschieht das so nebenher. Irgendwer hat mal so richtig schlechte Laune, legt sich dann irgendwo auf die Lauer, nimmt sich ein Gewehr, wird Heckenschütze und ballert irgendwelche Leute ab, die einfach nur das Unglück haben, gerade in diesem Augenblick vor Ort zu sein.

    Nun, mir geht es ums Verstehen, nicht unbedingt um Verständnis. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

    Man legt sich dann irgendwelche Erklärungen zurecht, so etwas die bei Schulmassakern, daß da jemand mit narzisstischer Störung zutiefst verletzt worden sein muß, der darauf “Rache” ausübt. Das ist auch dürftig, weil es nicht die tieferen Gründe erklärt. Wir alle sind schon mal so richtig mies verletzt worden und waren ernstzunehmend sauer, haben aber in der Regel nicht einmal daran gedacht, auf diese Weise damit umzugehen, um die Sache wieder “aus der Welt zu schaffen”.

    Edvard Munch: Melancholie (1894f).

    Einmal habe ich, um besser zu empfinden, in meiner Vorlesung einen Amoklauf aus der Perspektive desjenigen Schülers versucht zu beschreiben, der nun mit seiner Waffe durch den Flur läuft, während die ihm persönlich bekannten und doch vielleicht auch ehedem freundschaftlich verbunden Mitschüler vor ihm fliehen.

    Darauf bin ich auf die Idee gekommen, daß es eine Exit–Strategie geben muß. Es kam mir nämlich so vor, als würde mancher Täter sich womöglich den Flüchtenden anschließen, gewissermaßen auf der Flucht vor sich selbst und dem eigenen Horror.

    Aber bei dem Anschlag in Heidelberg waren es Studenten, die zumeist persönlich einander gar nicht bekannt sein dürften. Hier entfällt also ein zentrales Argument, persönliche Rache aufgrund persönlicher Demütigungen sei der Grund und der Anlaß. — Also, wie kommt einer dazu, Leute zu “bestrafen”, die so rein gar nichts mit irgendetwas zu tun haben? Was ist dann deren “Schuld”?

    Mir tut es leid für alle die, die da in diesem Hörsaal waren, für die Verletzten und noch mehr für die Toten, ihre Angehörigen, Freunde und Freundesfreunde. Sie alle haben mein Mitgefühl.

    Dennoch will man immer etwas über die Motive hören, als ob es doch irgendwelche zureichende Gründe gäbe. Fast schon entlastend wirkt da, wenn diese Motive religiöser oder politischen Natur sind. Dadurch wird die Absurdität nicht geringer, aber irgendwie hat die Ratio dann etwas, an dem sie sich halten kann.

    Eines ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich von dem Amokläufer an der Uni in Heidelberg hörte. Er soll per Whatsapp kurz zuvor mitgeteilt und angekündigt haben, nachdem er sich die Waffen zuvor im Ausland beschafft hatte, „daß Leute jetzt bestraft werden müssen“. Dieses “Motiv” hat weiter gearbeitet in mir. Irgendwie scheint das ein Schlüssel zu sein für ein tieferes Verstehen ohne Verständnis.

    Dabei ist mir aufgefallen, daß diese Formel vom “Bestrafen” häufig verwendet wird, nicht nur von religiös motivierten Amoktätern, sondern auch von solchen, die eigentlich nicht religiös motiviert sein dürften, weil ihnen dazu jeder Backround fehlt. Dann bin ich heute beim Verfassen eines Textes auf den Zeitgeist der Moderne zu sprechen gekommen und darauf, daß mit der Entzauberung der Welt, mit dem Verlust eines Glaubens und einer transzendentalen Obdachlosigkeit diese grundverzweifelten Leute zunächst in Russland aufkommen, wie sie Dostojewski so eindringlich zur Darstellung bringt.

    Das hilft nun den Opfern und allen Betroffenen nicht wirklich, weil ihnen das die gesuchte und nicht zu findende Erklärung nicht geben kann. Und dennoch, es hat mit dem “Bestrafen” eine eigene Bewandtnis. Strafe, Sühne und Buße sind nämlich als Motive zutiefst religiös in einem tiefenpsychologischen Sinne. Das bedeutet, man muß nicht unbedingt auf irgendeine Weise gläubig sein, diese Archetypen sind einfach vorhanden im kollektiven Unbewußten.

    Edvard Munch: Der Schrei.

    Also, in der Moderne, wo nicht einmal mehr die Idee vom großen Ganzen noch möglich scheint, dort zerspringt die Welt in tausend Stücke und alle diese Fragmente erscheinen nur noch profan. Darauf wird dann die unselige Profanität selbst zum Skandal und zum verzweifelten Anlaß für Selbstverletzung, sei es am eigenen Leib oder auch am ›Körper‹ der Gemeinschaft. — Der Grund scheint zu sein, daß die Seele der Akteure in der von ihnen verachteten Welt seit geraumer Weile keine Nahrung mehr findet, zumal der Blick für Seelennahrung entweder gar nicht entwickelt oder eingetrübt ist.

    Auf diese Weise läßt sich nachvollziehen, warum es unter psychologisch prekären Umständen in den völlig entzauberten und profanisierten Fragmenten moderne Welten immer wieder zu diesen äußerst spektakulären und demonstrativen Terrorakten kommt, und woher die vielen religiösen Motive vor allem doch bei eigentlich religiös gar nicht motivierten Tätern rühren.

    Es läßt sich spekulieren, ob das Unvorstellbare nicht doch vorstellbar wird, wenn wir ernst nehmen, was viele dieser Täter als Motiv bekunden, sie wollten ›strafen‹. Als würde da ein geistig vollkommen entwurzeltes Prophetentum exerziert. Tatsächlich läßt sich aber annehmen, daß die Verletzungen in der Tat eine Art ›Buße‹ sein sollen, nur, in einem Kontinuum, das selbst völlig verirrt ist.

    Das hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der ganzen seelischen Dramatik vor Augen geführt. Er war ein Seismograph der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. In seinen Werken spiegelte er die irrlichternde menschliche Seele, ihre Sehnsüchte, Regungen und Träume, dann aber auch die Zwänge und Befreiungsversuche bis hin zum Verbrechen.

    Seit die Welt nur noch in Fragmenten erscheint, die allesamt nur noch profaner Natur sein können, konzentriert man sich ersatzhalber auf Äußerlichkeiten, spricht allenfalls von ›Werten‹ und verliert jede Vorstellung von Geist und Vernunft in ihrem Bezug zum Schönen, Erhabenen und daher auch zum Göttlichen. — Folgerichtig führt Friedrich Nietzsche dieser Befund zu einer verheerenden Diagnose: Nihilismus.

    Der junge Nietzsche selbst verwarf bereits in jungen Jahren diese Weltsicht der Haltlosigkeit und wandte sich der Philosophie von Arthur Schopenhauer zu, die nicht nur die Verzweiflung auf eine sehr konstruktive Weise deutet, sondern die auch eine Philosophie des Mitleids entwickelt und dabei bedeutende Gemeinsamkeiten mit fernöstlichem Denken entwickelt. — Es gäbe also schon philosophische Alternativen, die vor allem eigenes Handeln wieder möglich machen und nicht nur die aktive Weltverneinung und noch dazu die völlig unberechtigte “Bestrafung” zufällig anwesender Menschen, die dann zu Opfern werden. Kein Gott, kein Geist und nicht einmal ein Ungeist wird ein solches Opfer akzeptieren.

    Das ist keine Erklärung, die Trost spenden kann, es ist allerdings eine beunruhigende Einsicht in die seelische Kälte unserer Welt, die manche einfach nicht ertragen, schon gar nicht dann, wenn sie sich Hilfe nicht einmal mehr vorstellen können sondern meinen, sie könnten durch solche Taten irgendetwas bewirken, was alten Wunden heilt. – Stattdessen werden neue aufgerissen.

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    Die Narrative der Metaphern

    Über die Magie der Sprache und die Macht der Bilder 

    Narrative, immer wieder ist von Narrativen die Rede in letzter Zeit. Es ist eigentlich nur ein anderes Wort für eine Metaphorik, wobei das Narrativ scheinbar oder tatsächlich noch etwas Bekenntnishaftes hat, als wäre es ein Glaubensbekenntnisse. Man kann mitunter tatsächlich auch den Begriff “Weltanschauung” einsetzen. — Narrative sind zunächst einmal nichts weiter als Erzählungen, mustergültige Typen von Erzählungen, die wir einsetzen, um etwas zu verdeutlichen aber auch, um andere über den Tisch zu ziehen. 

    Narrative sind Metaphern, also “Übertragungen” von Sinnzusammenhängen, die zumeist mit der Sache eigentlich nicht das geringste zu tun haben. Nur wir stellen die Verknüpfung her, weil wir das Bild verstehen und glauben, wenn es sich mit der Sache auch so verhält, tatsächlich auch die Sache selbst verstehen zu können. — Man muß sich nicht schämen, so schwer von Begriff zu sein. Das ist typisch menschlich und kommt in den härtesten Naturwissenschaften vor.

    Interessanterweise arbeiten gerade die Natur- und Technikwissenschaften, die sich so viel darauf zu Gute halten, daß sie rechnen und nicht reden, mit erstaunlich vielen Metaphern. Wenn Einstein behauptet, “Gott würfelt nicht”, dann will er keine Theologie betreiben, sondern den universellen Anspruch von Mathematik deutlich machen. — Sollte aber der Schöpfer rein gar nicht gewürfelt haben, dann braucht der Physiker gar keinen Gott mehr, dann ginge alles wie von selbst, eben “evolutionär”. Und schon haben wir das nächste hochwissenschaftlich–literarische Bild vom Prozeß natürlicher Genese, wie Darwin es beschrieben hat.

    Interessant ist nun, daß Einstein, obwohl es ihm um Mathematik ging, zugleich auch Theologie betrieben hat, mit diesem Narrativ. Ob er es wollte oder nicht, der Geist dieser von ihm gewählten Formel besteht darauf, daß er auch das habe gesagt haben wollen soll.  Das ist nun der springende Punkt, Metapher unterschieben uns Aussagen, die konsequenterweise aus dem Narrativ folgen, aber sie unterstellen es in der Sache, also Vorsicht!

    Darwin als Affe, eine Anspielung auf seine Evolutionstheorie, die seinerzeit ungeheuerlich erschien. In: The Hornet magazine, 22. März 1871.

    Wer hat nicht immerzu dieses darwinsche Narrativ im Kopf, das zumeist auch falsch verstanden wird. Aber es ist nicht nur schön, sondern vor allem bequem. Man kann sich damit manches erklären, solange man sich genügend kosmische Zeit nimmt. Aber das Narrativ entstammt dem seinerzeit so rasenden Frühkapitalismus. Dieses dauernde Gerede vom Überleben des Stärksten ist typisch deutsch, weil im Original von “to fit in”, also vom Eingepaßtsein gesprochen wird. Es überlebt also unter Selektionsbedingungen genau dasjenige Individuum, das am besten “angepaßt ist”, nämlich an seine Umwelt. — Es ist schön, über Narrative zu verfügen, so weit die Füße tragen. Interessant wird es, wenn sie aber kollabieren. 

    Die Zeit ist nämlich dankbar, verweist sie doch so gern kapitalistisch auf die als Naturzustand beschriebenen Verhältnisse der freien Wildbahn, was angeblich auf die “freie Wirtschaft” und vor allem auf die “freien Märkte”  zutreffen soll. Dabei wird schnell sichtbar, daß es auch Ammenmärchen sind, die gern erzählt werden, wenn mit solchen Narrativen eine unsolidarische Politik des wirtschaftlichen Freibeutertums als “natürlich” legitimiert werden soll. — Ein russischer Anarchist, Fürst Igor Kropotkin, hat ein anderes Narrativ dagegen gesetzt, das auch mit der Darwinschen Evolutionstheorie kompatibel ist, das Prinzip von der “Gegenseitigen Hilfe”, daß sich eben die Beutetiere zusammentun können, um den Habicht abstürzen zu lassen, eben durch Schwarmintelligenz. 

    Nun dürfte klar geworden sein, wie sehr mit Narrativen die Richtlinien der Politik bestimmt werden, durch die Macht der Bilder. Dagegen wiederum kann man sich nur verwahren durch ein wenig humanistische Bildung und durch Metaphorologie. Es macht aber auch Freude, ein solches Bild ernst zu nehmen wie ein Kind, um dann immer weiter zu fragen: Also wenn in der Natur die Zeit reichlich knapp ist wegen der Feinde und der dringend notwendigen Fortpflanzung, wieviel Zeit hat eigentlich eine Orchidee, wenn sie mit einer Innovation herauskommen möchte, um am “Markt” zu bestehen?

    Jean-Baptiste Barla: Flore illustrée de Nice et des Alpes-Maritimes, Iconographie des orchidées. Nice 1868.

    Also, wenn sich eine Orchidee eine Innovation hat einfallen lassen wie die, einen Hummelhintern zu simulieren, nebst dazu passender Pheromone, um Hummelmännchen rasend wild zu machen, so daß sie die Blüte begatten und dabei mißbraucht werden, um Bestäubungsarbeit für die Pflanze zu leisten, dann möchte ich gern wissen, wie lange Zeit die Orchidee hatte, den Hummelhinter doch einigermaßen echt hinzubekommen. Wenigstens fallen die Männchen einmal darauf herein, dann sinkt die Begeisterung statistisch gesehen rapide ab. 

    Genauso verhält sich das mit den Bildern, sie sind wie Zauberkünstler und machen uns was vor. Man sollte aber immer dorthin schauen, wovon man abgelenkt wird durch die Macht der Bilder. Es ist so schön, etwas verstanden zu haben, es ist aber schlimm, auf einem Holzweg zu sein. — Viele derer, die von Narrativen sprechen, meinen vor allem die manipulative Macht, die sie selbst nutzen oder vielleicht auch aufklären helfen. 

    Seit Goethes Zauberlehrling ist es offiziell, daß man die Geister, die man ruft auch wieder loswerden muß. Es ist eine Erfahrung, die jedes Kind macht, daß eine kleine Flamme nur ein wenig Nahrung braucht und schon wächst sie einem über den Kopf. — Man sollte also bei der Wahl der Metaphorik ganz besonders vorsichtig sein. Darum geht es eigentlich, wenn in der Diplomatie so schön verklausuliert von der Suche nach einer “gemeinsamen Gesprächsgrundlage” gesprochen wird, das sind die entscheidenden Narrative.  

    Wenn beispielsweise in der aktuellen Corona–Krise so etwas wie eine “moralische Pflicht” konstatiert wird, sich aus Gründen der “Solidarität” impfen zu lassen, dann steckt ein Narrativ dahinter, das man nicht wirklich teilen muß. Man kann nicht nur, sondern sollte zurückfragen, ob diese, unsere Gesellschaft denn ihrerseits solidarisch ist, oder nicht vielmehr betont lieblos. Nimmt sie denn die Rücksicht auf die Armen und Schwachen, denen es im Verlauf dieser Krise immer schlechter ergeht? Nimmt sie denn Rücksicht auf die Pflegekräfte und nicht vielmehr auf marode Verhältnisse im Gesundheitssystem, die sie selbst zu verantworten hat, als man Kliniken zu Spekulationsobjekten gemacht hat? 

    Der Zaubertrick, den man durchschauen sollte, liegt darin, bewußt die Unterschiede zu verdecken zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft kann und darf Solidarität ihren Mitgliedern abverlangen und sogar erwarten, eine Gesellschaft wie die unsere, kann es, je weniger sie vom Geist der Gemeinschaft beseelt ist, umso weniger. So erklären sich auch die Unterschiede im Staatsvertrauen. Die Nordländer sind nie so verführt, betrogen und mißbraucht worden von ihrem eigenen Staat wie die Deutschen. Da wäre mal Abbitte zu leisten. Die Sonntagsreden an den Kranzabwurfstellen der Republik sind inzwischen nicht mehr statthaft. Wer will das denn noch glauben, daß hier in unserem Lande die Grundrechte gewahrt werden, wenn sie bei der ersten Belastung ausgesetzt werden?

    Ganz anders, wenn es sich um wirkliche Gemeinschaft handelt. In der Afrikanischen Philosophie ist „Ubuntu“, der afrikanische Glaube daran, daß wir das, was wir sind, den Menschen um uns herum verdanken. — Während es hier bei uns nur eine Leihmutter, eine Nanny und eine Privatschule braucht, um ein Kind zu ‘erziehen’, nehmen Afrikaner bekanntlich ganze Dörfer dazu.

    So gesehen ist der ‘freie’ Westen einfach nur geistig–soziales Entwicklungsland. Wir sollten daher die Philosophie der Afrikaner endlich zur Kenntnis nehmen, dann würde es auch bei uns mit der Solidarität funktionieren. — Nur Gemeinschaften können Solidarität zu erwarten, Gesellschaften mitnichten.

    Daher steht in solchen Kulturen der Ausgang eines Rituals oftmals von vornherein fest, Beschlüsse können nur einstimmig gefaßt werden. Alles wird getan, auf daß bloß keine Antagonismen auftreten. Es soll und darf keine Verlierer geben. — Ein in diesem Zusammenhang beliebtes und instruktives Beispiel stammt von dem Ethnologen K. E. Read:
    “Als die Gahuku–Gama auf Neuguinea anfingen, Fußball zu spielen, konnten zwei gegnerische Klans tagelang um den Ausgang spielen — so lange, wie es notwendig war, um ein Unentschieden zu erzielen”. (K. E. Read: Leadership and Consensus in a New Guinea Society. In: American Anthropologist, 1959, N.S., 61 (3). S. 428, zit. n.: Heinz-Ulrich Nennen: Ökologie im Diskurs. Zu Grundfragen der Anthropologie und Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften. Mit einem Geleitwort von Dieter Birnbacher; Opladen 1991. S. 51.)

    ‘Gewinnen’ bedeutet im Symbolismus solcher Kulturen ‘töten’. — Ich frage mich da immer: Wer sind eigentlich die Primitiven? 

    Metaphern sind fremde, eigensinnige aber auch hilfreiche Geister der Sinnstiftung, auf die wir angewiesen sind, weil wir ansonsten “nur Bahnhof verstehen”, wie jene Soldaten, die nur nach Hause wollten, also “Bahnhof” hören wollten. — Da wir nun einmal die Sachen nicht gleich durchschauen, sondern nur mit übertragenen Bildern indirekt deuten können, müssen wir uns behelfen mit Sprachbildern, Dialogen und Diskursen. 

    Der Jargon der Diplomaten in seiner trockenen, übersachlichen, minutiösen Kleinkariertheit läßt durchblicken, worauf es ankommt, wenn man sich auf eine “Formel” als “gemeinsame Gesprächsgrundlage” einigt, so daß bald die “Verhandlungen auf dieser Grundlage” beginnen können. — Die Wahl des Narrativs ist aber auch wie ein Gottesurteil, denn niemand weiß im Voraus genau, ob die gewählte Metapher für die eigenen Interessen die notwendigen Gelegenheiten bieten wird, um möglichst viel herausverhandeln zu können für die eigenen Seite. 

    Unsere Sprache ist ein Wunderwerk, bei dem wir uns zu behelfen wissen, um Sachen zur Sprache zu bringen, für die die Worte versagen. Es hat etwas mit Magie zu tun, dann zu sehen, wie ein Bild die Imagination augenblicklich gefangen nimmt und alles glaubt, urplötzlich zu verstehen. Dabei versteht man vor allem das Bild und glaubt, damit auch in der Sache weiterzukommen. Vorsicht!

    Wenn eine Metaphorik im Verlauf eines Gesprächs aus dem Ruder läuft und immer mehr in eine unerwünschte, nicht mehr konstruktive Richtung verläuft, dann sollte man das sagen und daraufhin vorschlagen, gemeinsam die Richtung zu verändern. Es ist wie im Netzplan einer U-Bahn. Wichtig ist, sich zuvor möglichst offen und höflich und dankbar von der nunmehr zu verlassenden metaphorischen “Linie” zu verabschieden.

    Sie muß offiziell verabschiedet werden, wie ein Geist, der ansonsten ungemütlich werden könnte. Auch kommen Zuhörer, die nicht ganz bei der Sache sind, mit abstrusen Rückfragen, worauf ein heilloses Durcheinander entstehen kann. — Daher trifft das Bild vom “Mitnehmen” solche Prozesse der Verständigung über Verstehen so gut. 

    Immerhin tut man sich da mit mächtigen Geistern zusammen, die erhebliche Probleme bereiten können und schnell eine gewisse Eitelkeit an den Tag legen, wenn sie nicht gewürdigt werden. Metaphern wollen im Geiste ihres Narrativ gewürdigt werden, es darf und kann daher nur das gesagt werden, was diesem Geist entspricht. — Wenn das aber beim besten Willen nicht geht, muß die Metaphorik ausgetauscht werden. Aber die anderen müssen dabei mitgehen, ansonsten wird man unter Umständen das Nachsehen haben. 

    Caspar David Friedrich: Das Eismeer (1823f.)

    Wer sich auf eine Metaphorik einläßt, verspricht sich etwas davon, also einen Gewinn von Verstehen, einen Zugewinn an Sinn oder vielleicht auch die Überzeugung Andersdenkender. Aber das kann alles scheitern. Es gibt daher zwei Metaphern, die unser Sein darstellen, die Metapher vom Theater und die von der Seefahrt. Dabei können die Planken, die beim Untergang bleiben, zu den Brettern werden, die die Welt bedeuten. 

    Narrative zu benutzen, ist abenteuerlich wie eine Seefahrt aufs offene Meer, was zu anderen Zeiten noch viel riskanter war. Die Risiken beim Metaphorisieren sind derweil nicht etwa kleiner, sondern eher größer geworden, weil unsere Ansprüche auf Begründungen selbst größer geworden sind.

    Wenn ein Redner seinen Schiffbruch erleidet, dann vermerkt das Protokoll im Bundestag darüber eine “allgemeine Heiterkeit” vor allem dann, wenn einer am Geist einer selbst gewählten Metaphorik scheitert, wie etwa der FDP–Abgeordnete Günter Verheugen, der eine etwas degoutante Vorlage von Joschka Fischer versuchte, in einen Treffer zu verwandeln aber ein Eigentor schießt: 

    “Immerhin gelingt es auch Günter Verheugen in seiner Rede, Kohl und das Hohe Haus zu amüsieren. Verheugen spricht kritisch von einem ‘Kanzler des Stillstands, der in sich ruht wie ein chinesischer Buddha’. Kohl ruft dazwischen: ‘Gefällt mir gut.’ Verheugen fassungslos: ‘Gefällt Ihnen gut?'” Man sieht, wie Kohl augenblicklich von der Regierungsbank zum Telefonhörer greift. 

    Minuten später erläutert Kohl, “warum er den Vergleich mit Buddha so schätze. Von der Regierungsbank aus habe er sich telefonisch informiert und aus einem Lexikon erfahren, daß Buddha als Persönlichkeit ‘sich durch Lebensernst, Sinn für das Wirkliche und Nötige, Mäßigung und Ausdauer’ ausgezeichnet habe. Jetzt muß selbst Verheugen lachen. Kohl bedankt sich für soviel Lob von der SPD und sagt: ‘So hat mich meine Partei nie verwöhnt.’ Was Buddhas Eigenschaften angehe, so sei er bereit, ‘all das zu akzeptieren’. Eine Einschränkung macht der Pfälzer jedoch: ‘Mit der Mäßigung hab’ ich gewisse Probleme, die teile ich mit dem Vorsitzenden der Grünen-Fraktion, eine der wenigen Gemeinsamkeiten. Kohl vergleicht sich im Parlament mit Joschka Fischer.” (Martin S. Lambeck: “So hat mich meine Partei nie verwöhnt”. Schlagabtausch mit Respekt: “Buddha” Kohl zwischen Fischers Häme und Verheugens “Lob”. In: Die Welt, 9.11.1995.)

    Die Titanic, die Metapher aller Schiffsmetaphern, als Inbegriff von Hybris und als Demütigung des modernen Größenwahns.

    Es gibt einige wirklich schillernde Bespiele für die Eigendynamik der Narrative und den Schiffbruch von Rednern. — Eine Metaphorik hat eben ihr Narrativ und dem muß man folgen. Wer einen solchen Geist ruft, wird sich nolens volens auf das Schicksal einlassen müssen, unmittelbar darauf nicht mehr wirklich der Herr des Verfahrens zu sein, so auch bei einer Begebenheit, die der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg erwähnt.

    “In der Haushaltsdebatte schildert ein Abgeordneter der Regierungskoalition den festen Kurs, den das Staatsschiff dank der koalierten Besatzung habe, und vergleicht die Opposition mit unruhigen Passagieren, die einen Nachholkurs in Navigation nehmen müßten, um eines Tages wieder auf die Kommandobrücke zu kommen.
    Zwischenruf der Opposition: ›Wir sitzen nicht in einem
    Boot.‹ —
    Redner: ›Ich spreche von dem Schiff unseres Landes, und
    dazu gehören Sie doch!‹ —
    Zwischenruf Wehner: ›Er ist ein blinder Passagier!‹ —
    Zwischenruf Opposition: ›Sie sitzen bald auf Grund, wenn
    Sie so weitermachen.‹ —
    Als der Redner seinen Vortrag mit nochmaligem Gebrauch
    der Metapher schließt: ›Weil dieses Schiff den richtigen
    Kurs hat und damit es weiterhin gute Fahrt macht …,‹
    bekommt er beim Abgang als letzten Ruf:
    ›Und Sie sind der Klabautermann.‹”

    (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1979. Anm. 5, S. 14.)

    Die Wahl der Metapher ist entscheidend, je nachdem erhält man Zuspruch vom Geist einer Metapher und ihrem Narrativ oder aber eine Abfuhr. Dabei haben wir die Wahl zwischen Hafen und offener See nicht wirklich. Betrachtet aus der unmenschlichen Langeweile im Paradiesgarten war die neue App vom Baum der Erkenntnis, also selbstständig zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden zu können, einfach zu verlockend.

    Aber auch damals schon wurde das Kleingedruckte im Paradiesvertrag zu schnell weggeklickt, denn dort steht, daß es unendlich lang dauern könnte, bis Menschen zu Göttern werden, mit allem, was dazu gehört nicht nur an Mächten, sondern auch an Kompetenzen.

    Einstweilen sollte gut überlegt werden, ob man nun die “Ehe als Hafen” mit paradiesischer Langeweile betrachtet oder eher als “Seefahrt” mit der Aussicht auf Katastrophen. Der in allem sehr zurückhaltende Caspar David Friedrich hat lieber ein Seestück gewählt, denn er mochte sich erst spät überhaupt dazu entschließen.
    Caspar David Friedrich und Caroline Bommer verlobten sich im Jahr 1816. Mit seiner Berufung in die Dresdner Akademie im Dezember 1816 bekam der Maler 150 Taler Gehalt und konnte sich somit eine Familie leisten. Er war damals 42 Jahre alt.

    Bei dem Paar handelt es sich um den Künstler selbst und seine junge Frau Caroline Bommer. Friedrich galt zeitlebens als ,,menschenscheuer Melancholiker“. Umso größer war das Erstaunen seiner Freunde und Bekannten, als der 44–Jährige am 21. Januar 1818 die 19 Jahre jüngere Caroline Bommer heiratete. 

    Bei dem im Bild dargestellten Paar handelt es sich um den Künstler selbst und seine junge Frau Caroline Bommer. Die Hochzeit fand am 21. Januar 1818 in der Dresdner Kreuzkirche statt, ohne Friedrichs Verwandtschaft. — Der Ehemann setzte seine Verwandten erst eine Woche nach der Eheschließung per Brief darüber in Kenntnis, nachdem seine Frau ihn dazu gedrängt hatte. In dem Brief offenbarte er auch seine Anschauungen über den neuen Zustand der Ehe:

    „… meine Frau fängt bereits an, unruhig zu werden und hat mich wiederholt malen erinnert zu schreiben; denn auch sie will schreiben um mit ihren neuen Brüdern bekannter zu werden. Es ist doch ein schnurrig Ding wenn man eine Frau hat, schnurrig ist wenn man eine Wirthschaft hat, sei sie auch noch so klein; schnurrig ist wenn meine Frau mir Mittags zu Tische zu kommen einladet. Und endlich ist es schnurrig wenn ich jetzt des Abends fein zu Hause bleibe, und nicht wie sonst im Freien umher laufe. Auch ist es mir gar schnurrig daß alles was ich jetzt unternehme immer mit Rücksicht auf meine Frau geschieht und geschehen muß.“ (Zit. n.: Wikipedia: Caroline Friedrich.)

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    Schweigen der Lämmer

    Schafe sind nie schuld, oder?

    Eine chinesische Verwünschung lautet: Mögest Du in interessanten Zeiten leben! — Was heißt „interessant“, wohl unruhig, unsicher, bedroht, voller Zweifel, verängstigt, vielleicht sogar panisch.

    Seit Menschengedenken wird darauf mit Opferkulten reagiert. Man verlangt sich was ab und opfert das Teuerste den Göttern. — Nichts dagegen, ich halte viel davon, den richtigen Göttern die richtigen Opfer zum richtigen Zeitpunkt zu bieten, in der Erwartung, daß man durch eine solche Meditation auf göttliche Kompetenzen kommt, wenn man denn die richtige Wahl trifft. — Sorry, ich sehe das Impfen von Kindern in diesem Sinne, das alles wirkt auf mich, als wären es Kindsopfer.

    Der Hintergrund dürfte der sein, daß viele Kinder es sich selbst wünschten und die eigenen Eltern bedrängt haben, einfach nur, um endlich wieder „normal“ zu sein mit dem Recht darauf, die eigene Kindheit leben zu dürfen. — Das hat mich von Anfang an befremdet von dieser Politik, diesem Staat und dieser Gesellschaft. Ungeheuer zornig gemacht hat mich die Dreistigkeit, über Kinder und Jugendliche herzufallen, ihnen die Unbeschwertheit zu nehmen, ihnen Begegnungen, Feiern, Selbsterfahrungen zu vereiteln. Gerade die Ausgangssperre war speziell gegen junge Leute gerichtet. — Und der Oberpriester, der diese Kindsopfer von Anfang an wider besseres Wissen gefordert hat, war der allseits geschätzte Virologe Drosten, der gewiß keine Ahnung hat von Pädagogik und Psychologie. Darf sich so einer bei so etwas irren? Nein! 

    Ähnlich hat man aber auch die Erwachsenen mit fadenscheinigen Aussichten erpreßt, mit allen erdenklichen Versprechungen, die dann nicht gehalten. sondern gebrochen wurden. Ständig neue Ziele wurden gesetzt, so daß alsbald der Eindruck entstehen mußte, ein fauler Zauber sollte aufrechterhalten werden, aber nicht irgend etwas Rationales. Der Schein von Rationalität wurde erzeugt und zur Einschüchterung gegen Andersdenkenden eingesetzt. Ach und es war so oft aus unberufenen Mündern von Rationalität und Wissenschaftlichkeit die Rede, man hat alledem einen Bärendienst erwiesen.

    Was nun?

    Jetzt ist eine Situation entstanden, in der Omikron zeigt, wie falsch die Hybris war, zu glauben, man könnte in der Liga mitspielen, in diesem Jahrmillionen währenden Kampf zwischen den Wirten und den Viren, in dem so etwas wie permanentes Wettrüsten vor sich geht, aber auch Konstruktives. Man denke doch nur an die Mitochondrien, die höheres Leben erst möglich machen. Es sind viele Schnipsel davon im Genetischen Code, alles potentielle Innovationen, die über Viren „hereingekommen“ sind.

    Was können „wir“, nicht viel! Was wissen wir, so gut wie nichts! – Von Anfang an war klar, daß da die Evolution ihre Spiele spielt. Es wäre klug gewesen und nicht einfach nur „rational“, sondern vielleicht sogar vernünftig, das zu tun, was die Moskowiter getan haben, als Napoleon mit seinen Invasionstruppen kam. Man hat Moskau verlassen und den Feind „ausgehungert“.

    Von den 400 Milliarden, die der Wahn gekostet hat, hätte man die Kliniken und Altersheime aufrüsten können in sichere Burgen mit Kontakt– und Berührungsmöglichkeit. Technik kann so gut wie alles, man muß nur das Zauberwort sagen: Koste es was es wolle! — Warum wurden die Kliniken nie wirklich optimiert? Warum hat man das Personal so allein gelassen. Warum hat man nicht gesagt, es gibt das Doppelte und Verhältnisse, in denen die Motivation nicht korrumpiert wird? Wer sich jetzt zur Ausbildung einschreibt, der bekommt erst einmal den roten Teppich und ja, die autoritären und jetzt auch noch kapitalistischen Verhältnisse im Gesundheitswesen sind einfach kontraproduktiv und haben nur dann etwas Menschliches, wenn sich Mitarbeiter bis zum Burnout übernehmen.

    Aber der Staat hat sich wie üblich an der Gesellschaft vergriffen, weil er ein Schläger ist und nie vertrauenswürdig war. Nicht von ungefähr stellt ihn die Mythologie der Ägypter als Monstrum dar, der Pharao hat einen Löwenkörper und die schrecklichen Augen einer Sphinx. Als solche ist er eiskalt, unberechenbar und unbezwingbar. — Das ist auch noch unser Staatsverständnis, daher wurde die Gewaltenteilung erfunden.

    Aber die Balance of Power hat versagt wie die Notstromaggregate in Fukushima, als dort die Welle kam. — Die Gewaltenteilung hat versagt. Die Obersten Richter haben sich nicht getraut, der Politik „rote Linien“ zu weisen. Man hat die Köpfe zusammengesteckt beim Dinner im Kanzleramt, ein Ding der Unmöglichkeit!

    Die Menschheit ist je fortschrittlicher umso mehr auf den Zufall angewiesen, daß, ausgerechnet dann, wenn es darauf ankommt, keine Duckmäuser und exzellente Unfähigkeiten an den entscheidenden Stellen sitzen. Da lobe ich mir die antike griechische Demokratie. Die Ämter wurden verlost, jeder mußte ran und zwar sofort. – Wer zum Richter ernannt wurde, mußte sofort und unverzüglich in den Prozeß, durfte nicht erst mit anderen sprechen, konnte also gar nicht manipuliert werden.

    Was nach Omikron kommt? Das konnte man schon bei Delta sehen, es ist nicht im Interesse eines Virus, seinen Wirt umzubringen. Wenn er das tut, ist er jung und noch ziemlich dumm. – Warum wissen das unsere auch so wissenschaftlichen Fachwissenschaftler nicht und wenn, warum sagen sie es nicht? Man muß nur Darwin lesen. — Stattdessen wurde stets die Dramaqueen gegeben. Dabei merkte man förmlich bei den Statements, das sich fast alle schnell auf die Zunge bissen, wenn irgendwas gar nicht so schlecht aussah. Wie in der Werbung hat man die Mutanten verkauft, jetzt noch schneller, noch tödlicher, noch heimtückischer.

    Die Angstmacherein der letzten viel zu langen Monate war nicht nur unverantwortlich, sie hat vor allem zur Demontage der Demokratie und zum Niedergang der politischen Kultur geführt. Die Leute reden ja gar nicht mehr miteinander, man prüft den Anderen erst, ob da bestimmte Trigger sind und dann wird gecancelt. Gespräche finden nur noch unter Gleichgeschalteten statt. Oder man schweigt. Tatsächlich, die Mehrheit schweigt, seit Monaten. Und es ist in der Tat harte Arbeit, in dieses Schweigen hineinzurufen.

    Das ist aber nun mal mein Job. Mir ist es gleich, was man mir nachsagt. Und die vielen gutgemeinten Aufforderungen, mal nicht ganz so laut zu sein beim Reinrufen, sind falsch. — Es ist meiner Reputation als Philosophen nicht abträglich, ich bin es ihr vielmehr schuldig, genau das zu tun, was ich immer schon getan habe, widersprechen, auch dann, wenn fast alle auf Tauchstation gehen. So habe ich mich schon vorzeiten mit meiner ganzen Kollegenschaft angelegt, als ich über den Diskurs der Sloterdijk–Debatte ca. 700 Seiten geschrieben habe mit minutiösen Analysen darüber, daß es auch unter Philosophen angepaßtes Denken und eben auch Nichtdenken gibt. Das Buch hat ein Namensverzeichnis, man kann sich also sofort nachschlagen. – Gern denke ich noch heute an die wenigen, die einfach exzellente Noten verdient hatten, eben weil sie das richtige Gespür mit Vernunft zusammenbringen konnten.

    Umkehr
     
    Es ist ungeheuer viel geopfert worden und es hat so gut wie nichts davon geholfen. Ja, ja, es hätte, sollte, würde, müßte alles noch viel schlimmer gekommen sein, wenn nicht? Nein!Corona ist stark, weil die Gesellschaft so schwach ist, weil der Staat ihr nicht beisteht, sondern sich darin gefällt, die Gesellschaft zappeln zu lassen und den großen Zampano zu geben. — Aber jetzt ist es eine interessante Zwischenphase wie bei einer Minutenpause in der Musik. Danach kommt was. Alles weiß, daß es jetzt kippen muß. Alle erdenklichen Vorzeichen sind bereits zu erkennen und werden eindeutiger. — Und als sie ihr Scheitern bemerkten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen. Ja, aber auch das geht nicht ewig so weiter.
     
    Jetzt fehlt eigentlich ein Skandal oder einer, der das Zeug hat, hinreichend aufgebauscht zu werden. Wie wäre es mit falschen Zahlen, wie Söder sie sich geleistet hat? Aber es müßte schon noch ein wenig mehr sein. Alles wartet doch jetzt auf die Lösung des Rätsels der Erfolglosigkeit aller Anstrengungen. Es scheint ja inzwischen schon fast so, als wären die Ungeimpften sicherer, ja doch wohl auch deswegen, weil sie sich nicht auf einen „Schutz“ verlassen können und weil sie ja nun aus erzieherischen Gründen leider überall draußen bleiben müssen. Ich lasse mich nicht erziehen, ich bin selbst Erziehungswissenschaftler für Erwachsenenbildung und hatte das als Nebenfach in Münster.

    Während die Impfpflicht eher nur noch von den unteren Chargen verfolgt wird und sich alle erdenklichen Zuträger, Beiträger, Mitläufer, Berufsbetroffene, Gläubige, Scharf– und Angstmacher so langsam unsicher umdrehen, wer noch alles bei ihnen steht, lichten sich die Reihen. Es wendet sich das Wetter, das gesellschaftliche Klima kippt. Nur wer möchte sich denn jetzt mal einfach so eingestehen, daß der Club der Kaiser schon seit Monaten nackt ist?

    Derweil will noch niemand wirklich genauer hinsehen, weil man schon viel zu viel und viel zu lange aufs falsche Pferd gesetzt hat. Das sagen auch die Mörder in den allabendlichen Mordorgien der Krimis im Fernsehen immerzu, man habe jetzt schon so viel auf dem Gewissen, da käme es auf etwas mehr auch nicht mehr an. Wenn dieser Spruch fällt, ist jemand wirklich von allen guten Geistern verlassen.

    Was die Rationalitäten nicht auf den Schirm bekommen

    In der theologischen Sprache gibt es manche Begriffe, die in Vergessenheit geraten sind, weil wir ja unsere wissenschaftlich-wissenschaftlichen Rationalitäten haben. Ich frage dann immer gern nach den Bedeutungen, um ganz schnell eine plötzlich aufkommende Bescheidenheit zu provozieren, zur Not auch zu erzwingen. Ein Mangel an Demut ist das Problem. Auch der Begriff der „Sünde“ ist von Interesse. Was mag es bedeuten, wenn gesagt wird, man habe sich an etwas versündigt? — Was die Kinder, die jungen Leute, die Alten, Dementen und Sterbenden betrifft, sehe ich das so. Da ist eine riesige Schuld entstanden und wer trägt sie wieder ab?
     
    Sobald das spürbar wird, daß man sich aufgrund von Sturheit, Selbstherrlichkeit und Maßlosigkeit schon seit geraumer Zeit auf einem Holzweg befunden hat, kommt es zu einem Impuls, für den es in der Theologie einen weiteren Begriff gibt. Dieser Begriff heißt „Umkehr“. Heidegger hat es mal mit „Kehre“ versucht, aber das ist und bleibt düster. Auch „Wende“ ist so eine Phrase, aber auch das bleibt eine nur äußerliche Sache, als würde man sich mal einfach so umdrehen. — Worte, die den Tiefen unserer Psyche gerecht werden sollen, müssen selbst Tiefgang haben, sonst brauchen sie gar nicht erst anzutreten.
     
    Nein, „Umkehr“, wenn man denn dem Begriff seine theologische Bedeutung auch zugesteht, das bedeutet „Eingeständnis der Schuld“, „Zugeben, sich versündigt zu haben“ und schließlich „Buße“. Dann erst kann es weitergehen. Dann kann die Katharsis, also die „Reinigung“, die „Entsühnung“, die „Vergebung“ und die „Freisprechung von der Schuld“ überhaupt vonstatten gehen. — Und da sind wir jetzt, noch kurz vor der Einsicht in die Schuld.
    Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819). Nun, die Katastrophe um das Floß der Medusa entstand, weil ein unfähiger aber hochwohlgeborener Kapitän auch noch resistent war gegen guten Rat. – Die Unglücklichen wurden ausgesetzt und sehen am Horizont das rettende Schiff, aber von links kommt eine haushohe Welle.
     
    Man wird sich nicht mehr lange stellvertretend an den Ungeimpften vergreifen können, um in ihnen die „Sündenböcke“ zu sehen, die einfach für alles verantwortlich sind.
     
    Bar jeder Vernunft sind sie nun monatelang als die wahrhaft „Bösen“ verkauft worden, nur, weil sie den angeblich ganz kleinen Piks mit dem ganz tiefen Vertrauen in einen Wissenschaftsglauben, der selbst wissenschaftsfeindlich ist, nicht mitmachen mochten, aus vielerlei Gründen. — Ja, selig sollen die sein, die nicht (selbst ein–)sehen und doch glauben. Das hätten die „Hirten“ gerne.
     
    Aber wenn jetzt die Ungeimpften als Ketzer, Ungläubige, Teufelsmenschen, UnholdInnen und Staatsfeinde nicht mehr zur Verfügung stehen, was dann? Die diskursive Formation muß dann dieser Tage kollabieren. Wer soll das denn jetzt alles gewesen sein? Also werden Ablenkungen vorgenommen. Herr Wieler vom RKI könnte abgesetzt werden, da hätte man schon mal ein Baueropfer, irgendwie. Boris Johnson, der offenbar jeden Freitag in der Downing Street nicht unberauschende Feste gegeben hat, wird jetzt abgesägt. Und Söder hat schon vor Wochen Kreide gefressen, denn seine Fähigkeit, sich äußerlich zu wandeln, haben etwas von einem Chameleon. — Politik macht es erforderlich immer mal die Farben zu wechseln, aber nur äußerlich, also „glaubwürdig“.
     
    Eines muß man dem Söder Markus neidvoll zugestehen. Ich hätte es ihm von Herzen gewünscht, daß er für seine narzißtischen Big–Man–Allüren abgestraft würde, daß man ihm als Scharfmacher vorhalten würde, was er alles mit angerichtet hat in der Corona-Krise, was so ungeheuer schief gelaufen ist. Ach ja und Frau Merkel, die nie vom Ende hergedacht hat, wenn überhaupt. Herr Spahn kann sich glücklich schätzen, daß er „weg“ ist. — Manches Mal habe ich gedacht, was ist das nur für ein Job, permanent Erklärungen, Beteuerungen und Versprechen abzugeben, wie etwa zum hundertsten Mal, daß es keine Impflicht gäbe. Und dann läßt sich das alles nicht halten, weil man vor anderem Hintergrund wieder die Farbe wechseln muß.
     
    Ja, die Rente ist sicher, ebenso sicher wie das Grundgesetz. Auch die Daten in der Luca-App sind sicher vor staatlichem Zugriff. — Viel von dem Vertrauen, das Staat, Politik und Medien noch hatten, ist weg.

    Nichts ist heilig

    Wie hieß es noch in einer dieser unverschämten Werkekampagnen zum geistig–moralischen Downgrade: „Ich bin doch nicht blöd!“ Aber ja doch, geraden mit dieser Einstellung, was könnte blöder sein als dieser Spruch. — Da war dann die Polizei in Mainz auch echt nicht blöd und auch die vom Gesundheitsamt. Man hat auf dem Wege der „Amtshilfe“ eine Infektion einfach mal so gefaked, weil man es kann und dann sind die lieben Kollegen an die Daten herangekommen. — Geht doch!
     
    Nicht mal Ehrlichkeit, Lauterkeit, Prinzipientreue, Verläßlichkeit geht. Man hätte sich viel, sehr viel zusätzliches Vertrauen verdienen können. Aber nun? — Jetzt kommt das Scherbengericht. Und der Söder Markus hat schon vor Wochen das Södern ganz sein lassen. Da ist dann FDP-Kubicki, der viel zu still war, als er hätte laut werden müssen, auch erst dann über ihn hergefallen, als sich die Änderung im politischen Klima längst abzuzeichnen begann.
     
    Ja, hinterher sind immer alle überaus klug. Aber wer erhebt denn von Anfang an Protest? Wer hat denn den Mut, aus der Reihe zu tanzen? Manche haben es ja am Anfang getan, sie wurden aber auf der Stelle exkommuniziert. Es sollte nur einen Gott und nur einen Hohepriester geben und der verlangte den Lockdown, um den Chinesen mal zu zeigen, daß wir so etwas auch können. Eine Gesellschaft, die so dumm ist, hat in der Tat auch keine bessere Politik verdient. — Und was mich am allermeisten stört, auch in der anstehenden Buße wird gelogen und betrogen werden. Allerdings wird es dann auch keine „Vergebung“ geben.
     
    Um das zu verstehen, muß niemand gläubig sein, es geht auch mit Tiefenpsychologie. Wer so viel falsch gemacht hat, wie Politik, Staat und Gesellschaft die letzten Monate, hat viele Leichen im Keller. Täter werden es am Anfang glatt ablehnen, die Verantwortung oder gar Schuld anzuerkennen. Leugnung, dann Verdrängung und schließlich Relativierung sind typische Stationen im Prozeß einer jeden Läuterung.
     
    Das Problem von Tätern ist nur, daß sie ständig auf der Hut sein und permanent darauf achten müssen, daß niemand was merkt. Aber spätestens seit der Systemischen Therapie kann man auch ohne humanistische Bildung wissen, daß es gar keine Geheimnisse geben kann, weil wir alle erdenklichen psychoaktiven Antennen besitzen. Wir haben den Neokortex entwickelt, weil das Sozialverhalten ansonsten viel zu viel Kopfschmerzen bereitet. Ja, es gibt Dinge, die sich unsere Rationalitäten nicht einmal träumen können.
     
    Ich frage mich aber, wie das gehen soll, dieses Scherbengericht? Wie sollen wir denn einander allesmögliche verzeihen? Die neugeschaffenen Traumata, die Verletzungen der Würde, die Mißhandlungen der Freiheit, dieser unübersehbare Vertrauensverlust, das alles läßt sich doch gar nicht wieder heilen. Natürlich werden die Montagsdemonstrationen größer, man wird immer weniger herzhaft darüber herziehen können. Derweil versucht man es noch immer mit Dämonisierung und Exkommunikation. Wenn jetzt noch mehr Gutbürgerliche „da“ einfach hingehen? Was soll man denn tun, wenn man was tun möchte gegen den Verfall der Kultur?
     
    Hauptsache, es kommt jetzt nicht auch noch zur Inszenierung von Gewalt.
     
    Ich denke, der Mainstream sollte jetzt auch mal Farbe bekennen und dazu stehen, daß man sich hat Angst machen und einschüchtern lassen, daß man sich benommen hat, wie ein artiges Kind, daß man sich die Würde nicht nur hat nehmen lassen, sondern daß man sie freiwillig abgeliefert hat. So viel Hausarrest, wofür eigentlich?
     
    Aber wie gewinnen wir die verlorene Nähe wieder? Geraten wir nicht alle inzwischen in Atemnot, wenn uns jemand „zu nahe“ kommt?
     
    Oh wie ist das alles krank, psychisch krank!
     
    Wieder einmal hat sich die Gesellschaft von falschen Hirten auf Irrwege führen und mißhandeln lassen. Wer trägt die Verantwortung?
     
    Schafe sind nie schuld, oder?
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    Demut schützt vor Hybris

    Hochmut kommt vor dem Fall

    Es ist mehr als nur eine Geste der Bescheidenheit, es ist auch eine Verneigung, wenn man konstatiert, bei aller Größe sei man selbst nun auch nicht voraussetzungslos. — Wie irre muß man eigentlich sein, das als Demütigung zu empfinden. Tatsächlich geht es um die Würde der Gesellschaft.

    Ähnlich irre meinen ja auch Vertreter der Wirtschaft, daß sie der Gesellschaft von Nutzen sei, einfach weil sie Geschäfte macht, um dabei die Infrastruktur, die Bildung, das Rechtsystem und die Infrastruktur einfach kostenlos zu nutzen. Wieso soll man sich denn an den Voraussetzungen beteiligen?

    Das ist auch die wirklich gemeingefährliche Vision der Superreichen, die offenbar dabei sind, genau diese Dystopie wirklich werden zu lassen. — Die Gated community, die geschlossenen und bewachten Wohnanlagen, in denen Privatrecht herrscht, sind bereits das erste Zeichen dieser unheilvollen Entwicklung. Dort gibt es ja schon Privatpolizei, wie wäre es denn mit einem eigenen Rechtssystem?

    Es ist ein Gebot von Demut und Bescheidenheit, generell anzuerkennen, daß das, was man ist, kann und geleistet hat, ob Gewinn oder Verlust, Sieg oder Niederlage, im Zweifelsfall den Göttern oder sonstigen höheren Mächten zu verdanken ist. Wo das nicht geschieht, dort wird es immer gefährlicher, denn dann kommt Hybris auf. Das ist nicht nur Hochmut, sondern Dummheit, weil man sich und die eigenen Kompetenzen dabei ganz erheblich überschätzt. Natürlich muß es dann zu Katastrophen kommen.

    Die Demutsformel von den „Voraussetzungen, die man selbst nicht geschaffen hat“, muß wirklich von Herzen kommen. Denn dann versteht man sich als das, was man ist, ein ziemlich kleines Teil eines reichlich großen Ganzen, das man nicht nur nicht in der Hand hat, sondern zumeist nicht einmal versteht. Ich empfehle zunächst eine Roßkur mit Luhmann–Lektüre gerade für Weltverbesserer, wie ich selbst einer bin. Und darüber hinaus muß auf jeden Fall sehr viel mehr Philosophie in die öffentlichen Debatten, denn es ist einfach ganz schrecklich, was da so tagein tagaus an Böcken geschossen wird. Als würde neuerdings mangelndes Denken belohnt.

    Es besteht die Gefahr, daß man mit dem besten Willen und noch besseren Absichten ganz schlimmes Unheil anrichten kann. — Daher hat man die Gewaltenteilung erfunden und den Monotheismus auf der Ebene von Staatstheorie und Rechtsphilosophie schon seit langem überwunden. Nur, daß die Leute es nicht verstehen, weil sie größtenteils noch in Märchenwelten leben. Immerzu wird gequatscht, wie im Kindergarten, es sollten für alle dieselben Regeln herrschen, das müsse doch alles zentralistisch, aus einem Guß, ohne Ausnahmen, selbstverständlich mit hartem, härtestem, ach, drakonischen Maßnahmen. Seufz. — Nein!

    Das Gegenteil ist richtig. Auch Schwarmintelligenz braucht erst einmal Zeit, sich zu entwickeln und eine gute Pädagogik, die Gelegenheiten schafft, daß sie sich auch entfalten kann.

    Was tut man, das Gegenteil. Jetzt soll auch noch telegram verboten werden, so wie es den totalitären Staaten nun auch nicht gefällt, daß die Leute einfach so, also unkontrolliert miteinander reden. Sorry, geht es noch?

    Das Gegenzeit ist richtig! Es soll eine argwöhnische und eifersüchtige Feindschaft zwischen den staatlichen Gewalten herrschen! Es soll, darf und kann nicht alles in einer Hand liegen. – Diese Lektion sollten alle aus der Geschichte längst bezogen haben.

    Wieso kommt das Gesundheitsamt in Mainz dieser Tage einer Bitte der Polizei nach und simuliert einen Infektionsfall, um an Daten der Luca-App zu kommen, um eine Straftat aufzuklären? Ich habe meine Teilnahme nunmehr deinstalliert. — Wer „pragmatisch“ wird, ist nur ein Mensch ohne Prinzipien und sollte gar nicht in Staatsdienste übernommen werden. Wo zum Pragmatismus aufgefordert wird, wollen Leute pfuschen und nur das. Warum, weil sie die Demutsformel nicht beherrschen.

    Das Leben ist komplizierter und auch das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft, Gemeinschaft und Identität ist es. Es ist einfach grober Unfug, wenn so getan wird, Gesellschaft und Staat, das alles sei dasselbe. Nein, ist es überhaupt nicht! – Im Prozeß der Zivilisation haben Könige kleine Häuptlingstümer unterworfen und in Gesellschaften gezwungen. So sind die ersten Staaten entstanden.

    Staaten sind in diesem Sinne noch immer die Unterdrücker ganzer Gesellschaften und die Unterjocher von Gemeinschaften, die dann als Minderheiten tituliert und darüber hinaus verunglimpft und entmenschlicht werden. Das sieht man allenthalben aber nun auch immer unverblümter im angeblich freien Westen. Im Westen galt bisher noch ein gewisser Stil.

    Der Staat lebt nicht für, sondern von der Gesellschaft, ebenso wie die Wirtschaft. Sie ist die Kuh, die alle besitzen, melken und am liebsten schlachten würden.  

    Im wohlverstandenen eigenen Interesse ist jedoch wärmstens zu empfehlen, sich die Demutsformel zu Herzen zu nehmen. Denn ein Parasit ohne Wirt sieht alt aus. Es wäre viel klüger, wenn der Parasit zum Symbionten wird. Genau das steckt ja auch hinter der Gewaltenteilung. Und dieses Theater wird auch schon häufig inszeniert. Es kommt aber noch immer nicht von Herzen.

    Die uralte Brutalität, die übrigens erst mit der Zivilisation in die Welt gekommen ist, schlägt noch immer durch. — Daher nun mal kein historischer Vergleich, sondern eine Allegorie.

    Der Staat ist ein Schläger, immer schon, ein brutaler Ausbeuter und nicht eben ein Freund der Gesellschaft, sondern ihr Unterdrücker, eigentlich  ihr Zuhälter. Natürlich ist diesem am Wohlergehen seiner „Liebste“ gelegen. — Aber wie macht man daraus allmählich ein ausgewogenes Verhältnis?

    Wie oft ist es allein in den letzten 200 Jahren dazu gekommen, daß der Staat die Gesellschaft mißbraucht, geschändet, verkauft, geschädigt, ausgebeutet, erniedrigt und auf den falschen Weg geführt hat? Heraus aus dem Glück und der Hochkultur in der Aufbruchstimmung um 1900, hinein in den Krieg. Warum? Weil eine „Elite“ keine Demokratisierung wollte. — Moderne ja, aber nur nach militaristischer Manier, später dann als Faschismus. Man will die Vorzüge, aber nicht die Nachtteile, nämlich „mehr Demokratie“ wagen.

    „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, und das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“ (Perikles, um 500 – 429 v. Chr., athenischer Politiker und Feldherr, Quelle: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges.)

    Genau das spielte sich damals ab im alten Athen, als die Griechen sich gegen die übermächtigen Perser wehren mußten. Sogar das Orakel von Delphi lag falsch. Natürlich war es unwahrscheinlich, daß die Griechen das durchstünden. Aber es gab da einen Mann namens Perikles, ein begnadetet Stratege und Rhetor, der dafür sorgte, daß der gemeine Mann auf eigene Kosten mit in den Krieg zog und nicht nur der Adel, der ja im Zweifelsfalle doch ein wenig schwach ist, wenn es wirklich darauf ankommt.

    Aber und das ist der Gag: Also forderte der gemeine Mann dann aber auch bei der Herrschaft im Staat mitzuwirken. So entstand die erste Demokratie, in der nicht in Ämter gewählt wurde, sondern sie wurden verlost und es war Pflicht, dem nachzukommen. Man sollte vielleicht wieder das Los entscheiden lassen, dann hätte das Glück wenigstens eine Chance.

    Das Bundesverfassungsgericht trägt den größten Teil der Verantwortung für den Niedergang der Demokratie in der Corona–Krise, für die Spaltung der Gesellschaft und dafür, daß die Politik inzwischen über Hecken und Zäune geht. Es wäre an der Zeit gewesen, die Demutsformel in Erinnerung zu rufen und zu konstatieren, daß der Zweck die Mittel nicht heiligen kann, wenn es gegen Grundgesetze geht und einfach alles, was heilig ist.

    Franz von Stuck: Dissonanz (1910).

    Hätte das nicht mehr ehrenwerte Gericht doch die Politik in Grenzen verwiesen. Das hätte die Politik entlastet, denn sie hätte immer sagen können, es seien ihr nun mal die Hände gebunden. Sie könne nur und müssen daher mehr Eigenverantwortung wagen, der Staat wäre darauf angewiesen, daß die Gesellschaft ihm Voraussetzungen schafft, die er nicht herbeizwingen kann.

    Schön wäre es gewesen, wir hätten dann eine Zivilgesellschaft mit Achtung vor dem Gesetz und der Gesellschaft und vor Andersdenkenden bekommen. Wir hätten eine Solidargemeinschaft, die heute nur noch angeführt wird, um Druck gegen Andersdenkende zu erzeugen. Wir hätten den Schritt vom Obrigkeitsstaat in die Zivilgesellschaft geschafft, das wäre nach 1989 so etwas gewesen wie eine Metamorphose. Aus der häßlichen Raupe der Deutschen wäre ein Schmetterling geworden…

    Klingt das zu naiv, nun, naiv sind vor allem die Moralisten dieser Tage, denn sie geben vor, alles abzuwägen, dabei sind sie nur Denkverweigerer. Und so fragt man sich: Was ist schlimmer, Querdenken oder Nichtdenken?

     

     

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    Verstehen

    Über Sacha Lobos „Denkpest“

    und die Steingärten des Denkens

    Hannah Arendt stellte sich im Interview mit Günther Gaus vor mit dem Satz: „Ich will verstehen!“ Das spricht mir aus dem Herzen. Ich muß, was ich verstehen will, überhaupt nicht teilen und derselben Meinung sein. Ich muß es nur nachvollziehen können, denn Verstehen ist eine Art Mit–Sein. Nicht–Verstehen, Unverständnis, Falschverstehen, Mißverstehen, das alles ist problematisch und gewissermaßen unphilosophisch.

    Sollten wir nämlich auf falscher Grundlage zu einem Urteil oder zu einer Reaktion gelangen, ist das alles natürlich auch falsch. Wir hätten dann ja rein gar nichts verstanden, glaubten aber dennoch, darüber auch noch abschließend urteilen zu können.  Die Kunst des Zuschauers verlangt daher, ohne Ansicht der Person, der Partei und auch ohne Ansehen der eigenen Vorurteile möglichst alles in Betracht zu ziehen.  

    In der Denkpraxis ist das binäre Kodieren, wonach alles entweder ganz wahr oder ganz falsch ist, natürlich völlig naiv. Es gibt immer irgendein Fünkchen Wahrheit und sei es noch so klein.

    Ein Wort von Sacha Lobo dieser Tage läßt tief durchblicken und erahnen, wie militant Parteilichkeit praktiziert wird. Er spricht allen Ernstes von der „Denkpest“ dieser Tage. Er meint wohl, andere sollen nicht so viel nachdenken, es sei denn, man dächte das Denken der Vorbeter, wie er einer ist. Denken ist aber nun mal kein Nachbeten.

    Ich habe mehrfach in meinem Buch ernsthafte Versuche unternommen, den Gipfel der Verschwörungstheorien zu erklimmen, den QAnon-Mythos. Der Mega–Plot hat was, denn wir leben ja angeblich darin.

    Das ist ja alles auch spannend: Also, in der Nähe des einzig wahren Präsidenten Trump soll sich ein gewisser Herr Q aufhalten, der wie ein guter Geist diesem gescheitesten aller Präsidenten dabei helfen soll, den „Deep State“, den Sumpf einer verschworenen Elite und das ganze Machtkartell ihrer Privilegien auszutrocknen. Anweisung von der Regie: Bitte nicht darauf achten, daß Trump doch selbst einer von denen ist…

    Generalanweisung der Regie: Generell bitte nicht zu sehr auf Widersprüche und vor allem nicht auf Selbstwidersprüche achten. Auch das Ockhams Rasiermesser, also das Prinzip der Denkökonomie, darf vorerst nicht zum Einsatz kommen! Es gibt eine ganze Reihe philosophischer Methoden, die bei diesem Selbstversuch nicht zum Einsatz kommen dürfen, will man den Gipfel dieser Verschwörung erklimmen.

    Die Kunst des Zuschauers macht es erforderlich, jede beliebige Perspektive einnehmen zu können, also auch solche. Es ist allerdings abenteuerlich, dort überhaupt hinzugelangen. Am besten versorgt man sich gleich zu Beginn dieses Weges mit passenden Allegorien. Zum Beispiel wirkt der Weg, um auf den Berg dieser Verschwörung zu kommen, eher märchenhaft. Es scheint, als wäre es eine verrückte Welt, besser noch, als wäre es nicht wirklich diese Welt, sondern eine mit sehr viel Phantasie und Absurditäten.

    Das fiel mir auf, als ich heute einen Artikel las über diesen QAnon–Schamanen beim Sturm auf das Kapitol. Ich habe sodann versucht, mir   aus seiner Perspektive   seine Motive zu eigenen zu machen, ohne sie zu teilen. Ich will einfach nur verstehen, wie man ticken muß, um wie er zu sein.

    Es sei kein Angriff auf dieses Land gewesen, das sei nicht sein Motiv, sagte Jake Angeli dem US-Sender CBS News in seinem ersten Interview nach seiner Verhaftung. „Ich habe ein Lied gesungen, das ist Teil des Schamanismus. Es geht darum, positive Energie in einer heiligen Kammer zu erzeugen“. Seine Absicht sei es gewesen, „Gott zurück in den Senat zu bringen“. Deswegen habe er dort „ein Gebet gesprochen.“ Nun das klingt subjektiv glaubwürdig.

    Er wußte also, daß er einen Ort mit großer Bedeutung doch eigentlich als Unberufener einfach so besetzt und damit doch vielleicht eher selbst entweiht hat. Ich hätte nicht übel Lust auf einen Disput mit ihm genau darüber.

    Übrigens kommen jetzt gewiß bei einigen Nicht–Facklern und Durchgreifern die üblichen Formulierungen auf wie: „Spielt doch keine Rolle, was er sich dabei gedacht hat. Ab ins Gefängnis und Schluß mit der Debatte!“

    Vorsicht, das Bild dieses singenden QAnon–Schamanen ist zur Ikone geworden, vielleicht auch, weil es das schlechte Gewissen bedient, den indianischen Ureinwohnern gegenüber. Diese Bildikone ist in aller Köpfe und wirkt, auch auf die stolzen Besitzer von Steingärten des Denkens, in denen garantiert nichts mehr wächst.

    Aber genau darum geht es doch eigentlich: Gedanken anzuzüchten wie in der Infektiologie, um zu sehen, was sie eigentlich für welche sind. Und natürlich treffen auch Philosophen ihre Schutzmaßnahmen.   Ich muß zugeben, daß das Verstehen-Wollen manchmal etwas zu viel wird. Mir ist mehrfach wie bei einem kollossalen Systemfehler das ganze Denken zusammengebrochen. Ratsam wäre es, wenigstens nicht auch noch an den Ästen sägen, auf denen man gerade sitzt.

    Nun macht das Verschwörungsdenken ja deswegen so große Probleme, weil man es „nachwollziehen“ will, um es aus seiner Perspektive zu verstehen, weil aber immerzu behauptet wird, das alles sei wirklich wirklich wirklich. Also das mit der Pizzeria, in deren Keller kleine Kinder verkauft werden, das mit der Schuppenhaut von “Bill Gates”, den ich in seiner Rolle als angemaßter Weltgesundheitsminister völlig inakzeptabel finde, das mit dem “Deep State” oder auch das mit dem “Great Reset”, also dem „Menschenaustausch“. 

    Alle diese Theoreme bringen denkerisch ganz erhebliche Belastungen mit sich, es sind Attacken, die schnell zur Systemüberlastung führen, so daß zusammenbrechen muß, was eigentlich obligatorisch wäre. Das macht die Gespräche mit aktiven Verschwörungstheorie–Anhängern so schwierig, weil man schnell konfus wird darüber, daß sie von eins aufs andere kommen. Alles hängt mit allem zusammen, gewiß, nur sieht man es auch beim besten Willen nicht. 

    Mein Lieblingssatz aus der Ethologie lautet folgendermaßen: Der Schamane Katka sieht auf einem Baum eine Hexe. Ich sehe, wie Katka die Hexe sieht, sehe aber selbst die Hexe nicht. Nun damit sollte man schon klarkommen, als Ethnologe und auch als Philosoph.

    Mit dem hypothetischen Für-Wahr-Halten ist das so eine Sache. Da irren die Steingarten-Besitzer nicht. Und die Denkpest von Sacha Lobo fordert tatsächlich ihre Opfer, wenn man denn keine Methoden hat und noch dazu die Hosen voll. Es könnte sich ja irgendwas Ungeheuerliches als wahr herausstellen und was dann? Daher die Steingärten, in denen gleich gar nichts wächst. 

    Aber ich habe mich nie damit zufriedengegeben, nur über Verschwörungstheorie zu reden und mich darüber billig zu amüsieren. Ich habe es mehrfach und immer wieder anders versucht, obwohl so ein Breakdown ziemlich viel kostet. Es dauert, bis man danach einigermaßen auf der Höhe ist und sich wieder selbst über den Weg trauen kann, von wegen: All Systems Running.

    Ich hatte bereits bei vorangegangenen Untersuchungen feststellen können, daß manche der Ereignisse, von denen in den Verschwörungs–Theoremen gesprochen wird, tatsächlich in der Menschheitsgeschichte vorgekommen sind, wie etwas der “Menschen–Austausch”, etwa mehrfach durch die Pest oder auch durch die Sintflut, also den Einbruch des Schwarzen Meeres, was inzwischen nachweisbar geworden ist.

    Mit der Hypothese, daß wir das alles präsent haben im kollektiven Unbewußten, läßt sich dann auch nachvollziehen, warum diese Horrorvorstellungen präsenter erscheinen als sie es sind. Das ist dann auch der entscheidende Aspekt, daß so etwas stattfinden kann und auch bereits geschehen ist, daß man aber   jetzt kommt Ockhams Rasiermesser doch zum Einsatz nicht ohne weiteres behaupten darf, daß beispielsweise jetzt der “Great Reset” wieder unmittelbar bevorstünde.

    Man macht diese Behauptung gern fest anhand eines Appells von Klaus Schwab, dem Leiter des Bonzenfestivals in Davos, genannt Weltwirtschaftsforum. Auch da läßt sich die Perspektive durchaus übernehmen. Es ist vom „Great Reset“ die Rede, weil es um die menschengemachte Welt ökologisch, ökonomisch und politisch überhaupt nicht gutsteht. Es braucht in der Tat einen Kurswechsel, ein Update, einen Reboot, um die Metapher voll zur Geltung zu bringen. Aber nun anzunehmen, es käme dabei auf einen Gen–Austausch etc. an, ist reichlich bei den Haaren herbeigezogen und bedürfte daher eigens einer hinreichenden Begründung, warum das denn doch gelten soll, warum diese Behauptung glaubhaft sein soll.

    So weit so gut. Das genügt mir aber noch nicht, denn es ist noch nicht hinreichend für das Verstehen. Bis ich heute darauf kam, wie man auch und ganz bewußt mit Verschwörungstheorien umgehen könnte.

    Es sind Träume. Daher haben sie alle Rechte von Träumen und so gut wie keine Pflichten. Denn Träume machen ja nun wirklich, was sie wollen. Und dabei regen wir uns auch nicht darüber auf, daß sie wirr sind, unrealistisch, blödsinnig und sonstwie für den hemdsärmeligen Intellekt einfach ein Ärgernis, weil er nicht weiß, wie und wo er anpacken soll.

    Anders geht damit jedoch unser Geist um, über den wir auch verfügen sollten, falls wir keine stolzen Steingarten–Besitzer sind und auch nicht Sacha Lobo heißen. Der Geist kann mitunter Träume deuten, und das ist die Lösung des Problems. Es sind „Träume“, zumeist Horrorträume, oft ohne Sinn und Botschaft aber auch das ist ja nun etwas, das wir den Träumen zugestehen müssen. Wir sollten die Zeichen darin sehen und erkennen, um ihnen die Bedeutung zuzugestehen, wie wir sie manchmal auch Träumen geben, wenn sie uns etwas zu Verstehen geben, zumeist auf symbolischer Ebene. 

    Am Ende kommt es darauf an, was der Zuschauer im Rücken des Zuschauers sieht. Was er glaubt, ganz allmählich verstehen und dann sogar auch in eigenen Worten vertreten zu können. Das ist dann wiederum der Abstieg aus den massiven Gebirgen unserer Phantasien, die wer weiß wo in den unendlichen Weiten unseres Unbewußten zu besuchen sind, denn dort sind sie in der Tat „real“.   

    Es liegt an den Grenzen der Sprache, denn zumeist fehlen einfach die Worte. Und im übrigen regelt die Grammatik das Privileg der Phänomene generell, ob sie für die Wirklichkeit überhaupt in Frage kommen. Wir können aber nun unser Denken nicht erweitern, wenn wir uns von der Grammatik das Denkmögliche vorbeten lassen. Die deutsche Sprache hat einige Entwicklungen noch nicht genommen. Sie verfügt über keinen Irrealis als eigenständigen Modus, jedoch über das Konzept.

    Der Konjunktiv II kann dazu benutzt werden, einen Irrealis der Gegenwart und einen Irrealis der Vergangenheit zu bilden, der als irreales bzw. unerfüllbares Konditionalgefüge erscheint:

    Wenn ich gedanklich reich wäre, also keinen Steingarten des Denkens hätte und auch nicht Sacha Lobo hieße, böten sich mir mehr Möglichkeiten des Verstehens. (Irrealis der Gegenwart, mit Konjunktiv II)

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Querkopf II

    Worum es geht? Darum, daß wir alle selbst denken

    Als das Orakel von Delphi mit dem Spruch herauskam, Sokrates sei der Weiseste unter den Athenern, hatte er nichts Besseres zu tun, als daran zu zweifeln.   Jetzt müßte der Chor des Mainstreams energisch ausrufen: Das ist Gotteslästerung gegenüber Apollon, dem Herrn des Orakels zu Delphi!

    War es das? Vielleicht ja, vielleicht nein. Wir wissen nicht, was Apollon gesagt hätte.

    Aber Sokrates hatte nun einmal nicht den Eindruck von sich, wirklich weise zu sein. Also „testete“ er alle anderen, von denen er annehmen mußte, sie verstünden wenigstens was von ihrer Sache und da er nun mal von gar nichts was wußte, mußten sie ja nun nachvollziehbar auch als weiser erscheinen. Er hat dann ganz Athen gegen sich aufgebracht, aber das ist eine längere Geschichte…

    Das bei derartigen Untersuchungen etwas Überraschendes herauskommt und eben keine Petitio Principii, ist ja der Grund, warum man sich überhaupt solcher Mühen unterzieht, an allem zu Zweifeln. Und Descartes als Vater der Methode des systematischen Zweifels hatte zeitlebens Angst vor der Inquisition.

     Man wird aber auch immer mal wieder belohnt dafür, sich mit Zweifeln abzugeben.

    Erst so kommt man zur eigenen Sicht, zu Inspirationen, zu Vorstellungen, daß irgend etwas auch ganz anders gesehen, gewesen oder sein könnte. Das ist der Moment, wo im Krimi der Kommissar nach der vermeintlichen Lösung des Falles einem entsetzten Kollegen sagt: Das war zu einfach, wir fangen jetzt noch einmal von vorne an!

    Mir ist nun derweil tatsächlich etwas Überraschendes untergekommen, als ich versucht habe, dahinterzukommen, was denn wohl die Motive der Impfverweigerer sein könnten. So arbeite ich und das ist meine Methode: Man glaubt einfach alles, tritt gutwillig wie ein Kind voller Vertrauen heran und versucht alles nachzuempfinden, um aus der Perspektive des Anderen einfach nur zu verstehen. Dabei muß man die Einstellung nicht wirklich übernehmen oder gar teilen. Es genügt bereits, die Beweggründe nur nachvollzogen zu haben.

    Als Philosoph weiß ich nun wiederum aus Erfahrung, daß die meisten Thesen schon bei der Vorstellung in sich zusammenbrechen, sie können sich einfach nicht halten aus vielerlei Gründen. Oft haben sie gar kein Fundament. Sobald sie stabil erscheinen, mache ich Belastungstests wie die Brückenbauer es tun. Ich will genauer wissen, wie belastbar eine These ist und wann sie, unter welchen Umständen, wie schnell kollabiert.

    Das Besondere an den allseits verteufelten Ungeimpften scheint mir zu sein, daß sie es sich nicht leichtgemacht haben, zu ihrer Entscheidung zu kommen und dann auch dazu zu stehen. Mich reizt immer die Qualität von Begründungen, daher teste ich möglichst vieles tagtäglich auf philosophische Dignität. Ich teste nicht auf Kompatibilität zu den Glaubensbekenntnissen des Mainstreams. Da interessiert mich vieles andere, etwa, woher diese Kirchengläubigkeit kommt, die jetzt „die“ Wissenschaft zum einzig wahren Glauben erklärt und in allen Zweiflern nur gemeingefährliche Ketzer sieht.

    Es geht um sehr viel mehr in der Corona-Kris. Und auch beim Philosophieren geht es um alles. Das Ganze ist immer das, was man mit Spekulationen andauernd in Erfahrung zu bringen versucht, das Ganze ist die Vernunft. Die vielbeschworenen Rationalitäten, im Plural, stehen immer nur für einen Teil des Ganzen.

    Meinen vielen Untersuchungen zufolge ist es die Aufgabe der Vernunft, Modell–Vorstellungen vom großen Ganzen zu entwickeln. Also wann wäre etwa eine Expertenrunde vollständig, welche Positionen müssen einfach vertreten werden? Das war mein Job in der Technikfolgenabschätzung über viele Jahre, so etwas zu organisieren, zu moderieren und den Diskurs darüber zu initiieren. Wenn ich dagegen heute sehe, wie engstirnig, ja hochnotpeinlich einseitig die öffentlichen Debatten verlaufen, dann bin ich auf der falschen Party.

    Wir haben es, so meine Diagnose, mit multiplen Systemversagen zu tun, was nicht hätte müssen sein. Die Hauptlast der Verantwortung liegt beim Bundesverfassungsgericht und dann bei den Medien, weil sie von Anfang an in Konkurrenz zum Internet auf Eskalation gesetzt haben. Die Politik hat sich verführen lassen, den großen Zampano zu geben.

    Genau davor hat der heilige Niklas (Luhmann) immer gewarnt, zu glauben, man könnte den Autopiloten der Systeme mal abschalten und auf Handsteuerung gehen. Sorry, die Pilotenkanzel ist unbesetzt! Ja es gibt sie nicht einmal, die Hebel der Macht. Da irren viele derer, die wirklich was dafür geben würden, wenn es die eine Geschichte von dem einen Bösen, also vom Haupt der Verschwörung wirklich gäbe, so wie bei James Bond, den ich deswegen mit Eifer schaue, weil er so rein gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

    Philosophie ist die Mutter aller Wissenschaften, daher haben wir auch einen Zugang zu allen Disziplinen. Als sie sich emanzipiert haben, um selbständige Wissenschaft zu werden, haben sie die radikalsten Fragen in der Philosophie zurückgelassen. Daher und daran läßt sich zu jeder Zeit sehr leicht anknüpfen. Wir haben jeder Zeit jeden Zugang.  

    Aber Philosophie ist auch eine Wissenschaft, was mich damals, als ich anfing, schwer begeistert hat, daß sogar die Denkfehler einen Namen haben, wie gute alte Bekannte.   Aber Philosophie ist auch Literatur, also arbeitet sie mit Metaphern, Mythen, mit allen erdenklichen Motiven für Idealvorstellungen, wie es die Götter für uns sind.

    Worum es geht? Darum, daß wir alle selbst denken, auch auf die Gefahr hin, schief angesehen zu werden, was man sich denn wohl einbildet. Das ist nun mal der Preis. Und im übrigen besteht die Gefahr, ganz enorm daneben zu liegen.

    Vieles ist eine Frage der Methode, und es gibt ein paar ziemlich gute Methoden. Ich bezeichne eine davon als die „Kunst des Zuschauers“, die andere als „Philosophie in Echtzeit“. Und über allem hängt als Damoklesschwert der Leitspruch meiner Philosophie: Und hättest Du geschwiegen, wärst Du Philosoph geblieben!

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Georg Stefan Troller zum Hundertsten

    Sich auf das Verstehen verstehen

    Er hat mich geprägt, denn er zeigt immer wieder, wie Verstehen möglich ist und wie fantastisch es sein kann. Dabei ist sein Verständnis oft etwas mutwillig hergeholt, aber genau damit wird er zum Vorbild.

    Ja, man kann verstehen, muß sich aber nicht gleichmachen. Aber vielleicht war und ist es ja auch “nur” die Sonne in seinem Herzen und das bei diesem Lebensweg, – vielleicht auch gerade deswegen.

     

     

    Dieses Niveau ist einmalig. Der freundliche, leicht ironische Unterton, das stets bereitwillige Understatement, das zur Not auch betont hemdsärmelig daherkommt, von wegen, es müsse doch wohl so sein…  Das ist höchste Kunst der Begegnung. Dabei kommt alles so leichtsinnig und flaneurhaft daher, aber es werden Tiefen erreicht, die oft nicht einmal erahnt werden.
     
    Es ist schon bestechend, dabei zu sein, um mitzuerleben, wie leicht man auf wirklich Wichtiges kommt ohne diese stromlinienförmige Oberflächlichkeit, die nur so tut, als wäre da Tiefe. Dann dieser Ton mit einer verlockenden Komplizenschaft für den Zuschauer, der mit ihm gern auf Erkundung. Man vertraut sich gern an.
     
    Da weiß einer sehr viel zu erzählen und versteht sich auf das Verstehen und das auch noch in grotesken Begegnungen. Man spürt, wie eine Zeit auf die andere folgt im Sauseschritt. Stets sind es bereichernde Begegnungen und Erfahrungen, die sogleich ein Teil werden, als hätte man es selbst erlebt.
     
    Troller tut das, was die Mythen immer schon wollten: Weltvertrauen schaffen auf der Grundlage eines Understatements, das es sich leisten kann, sich zu riskieren.
     
    Herzlichen Glückwunsch, Georg Stefan Troller!
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    Kunst, Künstler und Gesellschaft

    Video: Anmerkungen zum Projekt Hawerkamp

    Seit 1988/89 hat sich auf dem ehemaligen Gewerbegelände „Am Hawerkamp“ in Münster mit städtischer Duldung bzw. Unterstützung ein „Kulturgelände“ entwickelt. Dort finden sich Ateliers für Künstler, Clubs, Bühnen, Werkstätten und Initiativen.

    Der Videokünstler Jürgen Hille hat mit „Projekt Hawerkamp“ im Frühsommer 2021 an diesem Ort mit einer Reihe von Interviews und Filmszenen auf seine Weise eine „Realitätsforschung“ betrieben, um den Geist des Ortes zu charakterisieren.

    Meine „Philosophische Ambulanz“ findet sich in Sichtweite, wenige Projekte, wie etwa mein „Public Writing“ haben ich auch schon dort inszeniert.  Also wurde ich zum Interview gebeten. Dabei nahm ich die Gelegenheit wahr, einmal das Verhältnis zwischen Kunst, Künstlertum und Gesellschaft zur Sprache zu bringen.

    Jürgen Hille: Realitätsforschung, 2021.  

    Der Ursprung von Kunst hat immer etwas Sakrales. Sie dient dem Ausdruck einer Schönheit, hinter der etwas Heiliges steht.  Im Hintergrund steht der wiederkehrende Wunsch nach Begegnungen mit dem Heiligen. In dieser Tradition, in diesen Diensten stehen die Künste von Anfang an.

    Je weiter der Prozeß der Zivilisation voranschreitet, umso weiter kommt es zur Entzauberung der Welt. Umso mehr brauchen wir die Künste, weil sie etwas bewahren, was Zivilisationsmenschen aufgeben, weil es jenseits der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis liegt.

    Insofern sind Künstler ganz besondere, nicht selten eigenartige Menschen, die gern über den Zaun schauen. Insofern ist es die Aufgabe von Kunstwerken, daß sich Geheimnisse aufdecken.  Auf diese besonderen Begegnungen mit dem Geheimnisvollen kommt es an. Daher sind solche Soziotope von immenser Bedeutung.

    Aber unserer Gesellschaft fehlt inzwischen bereits sehr viel mehr. Eine Welt, die nur auf Geld aus ist und glaubt, sich Seelenheil erkaufen zu können durch Selbstinszenierungen, die ohne Herz und Seele sind, ist kaum mehr zu retten und eigentlich auch nicht der Rettung wert.  Was die Kunst als Arbeits- und Lebenswelt vor Augen führt, ist das gerade Gegenteil der Aufspaltung in Lebenswelt und Arbeitswelt, in Leben und Gegenleben.

    Die Arbeits– und Lebenswelten sind offenbar nur erträglich, wenn es immer wieder „Urlaub“ von alledem gibt. Nur ist diese Trennung selbst das Problem. Wir haben Lebenskonzepte, die eigentlich gar nicht zum Leben da sind, sondern dazu, daß wir arbeiten und konsumieren sollen.  Daher ist es so schön, daß es Künstler gibt, die einfach von diesen vorgefertigten Lebenswegen abweichen, die das Ihre tun und der Gesellschaft vorführen, was alles anders sein kann.

     

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    Ist die Aufklärung gescheitert?

    Es läßt sich stets konstatieren, alles sei gescheitert.

    Aber wer sind wir, wenn wir glaubten, das feststellen zu können und dann auch noch ein für alle Male und für immer? Wie absolut soll so ein Befund gelten, ungefähr solange wie der Zorn oberster Götter, wenn sie Sintfluten schicken und danach ihren kindlichen Jähzorn ablegen? Ja, auch Götter haben ihre Entwicklungsphasen.

    William Turner: Der Brand des Parlamentsgebäudes in London 1835.
    Mit der Aufklärung verhält es sich wie mit dem aufrechten Gang. Es bereitet Rückenschmerzen, erschwert die Geburt, weil das Becken zu eng wird.  Aber, es werden die Hände frei als universelle Werkzeuge. Seither können wir Sachen be–greifen.

    Aber die Sprache ist das Werkzeug aller Werkzeuge. Es kommt also darauf an, die richtigen Worte zu kreieren. Es gibt vieles in der Welt, von denen wir die Worte nicht einmal ahnen.  

    Solange aber etwas nicht gesagt und auch noch nicht von mindestens einem Menschen verstanden worden ist, hat der Geist der Menschheit noch erhebliche Lücke genau dort, wo dieses Phänomen eigentlich hingehört, wenn man es „einordnen“ könnte.

    Aufklärung ist wie Laufen, was bedeutet, es wird ständig die Balance aufgegeben. Man destabilisiert die Stellung, neigt sich, stürzt nach vorn und fängt sich dann durch den nächsten Schritt wieder auf.  Nicht anders verhält es sich mit der Psychogenese. Wir sind wie die Kinder uns selbst immer einen Schritt voraus, einen Schritt mehr, als wir beherrschen, verantworten, verstehen können.
     
    So ähnlich vollzieht sich die ganze Menschheitsentwicklung und die Suche nach der Antwort auf die Frage, was denn die ganze Anthropogenese eigentlich soll. – Aber Philosophen arbeiten nicht gern mit Hypothesen wie die vom intelligenten Designer, also rufen sie die Anthropologie zum Zwecke der universellen Beratung.
     
    Die anspruchsvollste Hypothese dabei, Entwicklung zu denken, ist die Annahme, alles hätte sich allmählich entwickelt ohne intelligenten Designer oder sonstwas. Eine der größten intellektuellen Herausforderungen liegt tatsächlich im Nihilismus. Dazu müßte man sich dann aber auch der Herausforderung stellen, einfach zuzugeben, daß der „Sinn des Ganzen“ immer nur von uns selbst kommen kann.
     
    Wir müssen ihn uns also selbst geben und wir sind dann auch völlig frei, uns jeden beliebigen Sinn zu geben. Und das „Ziel“, also dieser „geheime Plan“, den die Natur – nur hypothetische – mit dem Menschheitsprojekt verfolgt, liegt darin, daß die Natur sich selbst in den Blick nehmen möchte.
     
    Aber dazu muß sich das Wesen, das diese Aufgabe leisten soll, erst selbst in den Blick bekommen. Und da gibt es noch sehr viel menschliches Potential zu entfalten, im Guten wie im Bösen, im Vernünftigen wie auch in der Dummheit.
     
    Und jeder neue Schritt im Zuge der Aufklärung bringt nicht nur neue Verunsicherungen mit sich, sondern zunächst immer erst einmal einen neuen Aberglauben. In solchen Zeiten leben ganz offenbar alle stets daneben. Und nur der Phänomenologe bleibt in Sichtweite und auf Abstand zum Schiffbruch, der ja nun den obligatorischen Zuschauer braucht.
     
    Eine Maxime lautet: Wer heilt, hat Recht! – Dieser Tage möchte man fast glauben, es gelte eine neue Maxime: Wer Angst kommuniziert, hat Recht.
     
    Davor, genau davor hat der heilige Niklas (Luhmann) immer gewarnt, vor „Entdifferenzierung“.
    Der Spruch „Werdet wie die Kinder“, ist schließlich auch keine Aufforderung zur heiligen Einfalt.   Gemeint ist tatsächlich eine unvoreingenommene Offenheit, wie sie fast nur Kinder zustande bringen, mit Ausnahme von Phänomenologen versteht sich.
     
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    Geimpfte und Ungeimpfte, das gute und das böse Kind

    Eugenio Lucas Velázquez: English: Autodafé (1853).

    Ketzereien über Ketzerverfolgungswahn

    Bei Alice Miller, einer begnadeten Kinderpsychologin, gibt es den inneren Kampf zwischen dem guten und dem bösen Kind. Das eine ist ebenso desorientiert wie das andere. Während sich das eine fügt, rebelliert das andere und beide fühlen sich selbst dabei irgendwie „gehalten“.

    Aber was ist denn gut an den guten Kindern? Man könnte konstatieren, daß alle, die sich haben impfen lassen, es in Erwartung einer damit aufkommenden Normalität getan haben aber doch weit weniger aus Gründen der Solidarität.

    Wer sich hat impfen lassen, wird sehr viel weniger Achtsamkeit an den Tag legen. Aber inzwischen ist es ein offenes Geheimnis, das der Unterschied zwischen geimpft und ungeimpft allmählich schwindet…

    Reaktionen darauf, daß Corona eine globale Naturkatastrophe ist und ebensowenig zu beherrschen ist wie eine Flut, besteht darin, daß ganze Gesellschaften retardieren. Gesucht werden Sündenböcke und man glaubt, sie unter Andersdenkenden und Ungeimpften gefunden zu haben. – Allen wird letztlich so etwas wie ein Glaubensbekenntnis abverlangt, das Spektrum des Sagbaren ist denkbar eng. So entsteht eine Schweigespirale, die Hälfte aller Deutschen geben zu Protokoll, sich nicht mehr freimütig öffentlich zu äußern. 

    Dabei war von Anfang an klar, daß alle unter Dreißig kaum gefährdet sind. Aber, man wollte ja energisch etwas tun. — Aber warum hat man nicht die vulnerablen Gruppen geschützt und der Jugend die Freiheit gelassen. Warum läßt man es zu, daß die Zahl der Pflegekräfte ständig abgenommen hat?

    Es ist ungeheuer viel Geld verbrannt worden, warum hat es nicht dazu gereicht, die Verhältnisse in den Kliniken durch einem Quantensprung zu heben? – Warum ist man nach allen Maßnahmen, Hoffnungen, Aussichten, Versprechungen und Opfern immer wieder genau da, wo man angefangen hat?

    Die Verhältnisse in dieser Krise sind hyperkomplex. Es ist Hybris zu meinen, eine solche Katastrophe ließe sich beherrschen. Man kann gezielte Schutzmaßnahmen ergreifen, vor allem Klugheit wäre angeraten aber kein Aktionismus. 

    Das Muster ist nur zu bekannt: “So tu doch etwas! — Ja was denn tun? — Tu’ irgendwas!”. Das ist jedoch ein Armutszeugnis für alle, die sich in den Glauben flüchten wie bei der Ketzerverfolgung im Mittelalter. Die ganze Stimmung ist seit Monaten mittelalterlich.

    Ich schreibe seit Februar 2020 an einer philosophischen Studie über diese Sinnkrise, über das Versagen sämtlicher Systeme von Recht, Politik, Medien und Wissenschaft. Es hat sich wieder einmal zeigt, was ich immer wieder zu meinem Entsetzen beobachten mußte: Ausgerechnet dann, wenn es wirklich darauf ankäme, gelassen, cool, fast kaltblütig und vor allem mit sehr viel Sinn und Verstand daran zu gehen, die Perspektive der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen zur Kenntnis zu nehmen, durch Diskurse, die frei sein müssen und offen, immer dann verlieren die meisten den Kopf und die guten, ach so lieben Kinder sind immer ganz vorne. Das hilft nicht.

    Alles was da so tagtäglich verhandelt wird, hat gar nicht die Kapazität, auf den Boden der Tatsachen zu kommen, die man zur Kenntnis nehmen müßte, wollte man wirklich verstehen, was da gerade vonstatten geht. Es ist eine ungeheure Komplexität, die aber stets auf eines hinausläuft, sie erwischt unsere ach so rechtsstaatlichen, wissenschaftlichen, freiheitlichen, diskursiven und fürsorglichen Ambitionen brachial. Die Moral von der Geschicht‘?

    Mehr Bescheidenheit bitte, nicht behaupten zu wissen, was man nicht wissen kann. Mit dem Nichtwissen arbeiten, also nicht den großen Zampano machen. – Geschaffen wird stattdessen eine fast bürgerkriegsähnliche Atmosphäre, ein Autodafé. Ich habe einen geschätzten Kollegen am Institut, einen Kettenraucher. Und wenn mir das mit der Suche nach den Sündenböcken in den Seminaren zu viel wurde, bei alledem schmierigen Moralin, dann habe ich im Brustton der Überzeugung verkündet: Alle Probleme der Menschheit könnten gelöst sein, wenn nur die Raucher nicht wären. – Nun ja, sie spürten die Ironie dann doch und ahnten, wen ich meinte und sie sahen dann auch in die Hintergründe dieser Bemerkung.

    Die Welt ist zu schwierig für gute Kinder, die doch nur spielen wollen. Wann sollte man den ausscheren, wenn nicht jetzt, wo fast alle den Verstand verlieren? Man merkt es an den Wettervorhersagen, die Lust am Untergang bringt täglich neue Episoden. Neulich hat sich angeblich ein Polarwirbel geteilt, warum hier sibirische Kälte zu erwarten sei. Als ich sah, daß die Meldung vom Potsdam-Institut lanciert worden war, kurz vor der Klimakonferenz, dachte ich über die Berechenbarkeit von Akteuren, die Kampagnen und Wissenschaft seit Jahrzehnten nicht mehr auseinanderhalten.

    Es ist perfide, den Leuten mit großer Kälte zu kommen, das Anschwellen der Küstenlinien verbinden viele ja doch mit Südseefeelings. – Dann wurde ich auch noch auf diese Meldung aufmerksam gemacht, weil bad News nunmal good News sind. Bis mir die Hutschnur riß, ich habe dann einfach nachgeschaut, was denn Jörg Kachelmann, der sich immer so schön aufregen kann über diesen Bockmist sagen würde. – Und richtig! Er schlug auf den “Spiegel” ein und konstatiert, man wüßte überhaupt nichts von diesem Polarwirbel und daß es wohl nur um die Meldung ginge.

    Nicht, daß es nicht noch eine Steigerung gäbe:

    „Der Ablauf eines Inquisitionsprozesses war weder für den Angeklagten noch für seine Angehörigen durchschaubar. Während der Vernehmungen wurden den Verdächtigen einzelne Verhaltensweisen vorgeworfen, die u.U. für sich allein gesehen keine Abweichungen von der kirchlichen Lehre darstellen mußten.

    Diese Taten konnten dann von den Angeklagten entweder zurückgewiesen oder zugegeben und bereut werden. Welche Schlüsse von Seiten des Gerichtes daraus gezogen wurden, war nicht ersichtlich. Der Prozeß fand nicht als zusammenhängende Verhandlung mit der Anwesenheit der Beteiligten oder wenigstens der mit der Urteilsfindung Betrauten statt. Die Dauer des Verfahrens gab keinen Hinweis auf die Bedeutung der Angelegenheit. Das alles führte dazu, daß die Angeklagten bis zum Tag des Autodafés keinerlei Schlüsse auf den Ausgang des Verfahrens ziehen konnten. …

    Die mildeste Art der Sanktion des Verhaltens der Angeklagten durch das Inquisitionsgericht war das Abschwören. Bei einfacheren Vergehen mußte dies nicht in der Öffentlichkeit geschehen, sondern konnte im Gerichtssaal vor dem Tribunal durchgeführt werden. Bei schwerwiegenden Fällen fand auch das Abschwören während einer öffentlichen Urteilsverkündung statt.

    Das Abschwören war gewöhnlich mit Nebenstrafen verbunden. Dies waren Geldbußen, die Verpflichtung, den Sanbenito in der Öffentlichkeit zu tragen, oder die Verbannung.“ („Autodafé“, Wikipedia)