• Anthropologie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Vorlesung

    Blick und Gegenblick

    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.
    Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Jean Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts eine Blickanalyse vorgeführt, die das Erblicken und das Erblicktwerden zur Darstellung bringt und dabei demonstriert, wie der Blick auf den Anderen diesen zum Objekt degradiert, selbst wenn das womöglich gar nicht beabsichtigt ist.

    Das ist wieder einer dieser konstitutiven Brüche, die mit dem Bewußtsein in die Welt gekommen sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir werden nicht nur gesehen, sondern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt geworden ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt worden sind.

    Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn gleichzeitig als einen Gegenstand und als einen Menschen. Was bedeutet das? Was will ich sagen, wenn ich von diesem Gegenstand behaupte, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Hamburg 1993.  S. 457.)

    Der Blick, der den anderen erfaßt, ist weit mehr als nur einfaches Sehen, denn er nimmt dem Anderen die Eigenheit, seine Subjektivität und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degradiert den Anderen in seinem Subjektstatus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begehrenden oder taxierenden Blick geht, denn dann ist es ein abschätzender, vielleicht auch abschätziger Blick. Interessanterweise geschieht das mit jedem Blick, der unbedacht auf Jemanden fällt, der vielleicht in diesem Augenblick selbst unbedacht sein mag. Sobald dieser Blick aber selbst wiederum erblickt und mit einem Gegenblick erwidert wird, sobald das Sehen als Gesehenwerden gewahr wird, als Erblicken des Erblicktwordenseins, geschieht diese seltsame Überwältigung: Das vormalige Subjekt des Blicks wird vom vormaligen Objekt nunmehr selbst zum Objekt eines weiteren Blicks. Nicht nur unsere Sprache hat daher Magie, sondern auch unser Blick hat irgendeine seltsame magische Macht.

    Kulturen geben sich viel Mühe, diese Kraft, die im Blick liegt, zu zähmen, um die Kräfte auf ihre Mühlen zu lenken. Blicke werden geführt, gelenkt, gerichtet und sie werden wiederum gedemütigt, umerzogen oder auch abgelenkt. Der Blick, der bezeichnende Ausdruck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Politik, ohne daß überhaupt irgendetwas gesagt werden müßte. — Kultur politisiert jeden Blick, denn sie legt es darauf an, vorzuschreiben, wer gewisse Einblicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Verdacht, daß es neben der exoterischen– noch eine esoterische Lehre geben müssen, daß es eben Wahrheit gibt, die nicht für die Allgemeinheit, sondern die nur für Auserwählte bestimmt sind.

    Dabei bringen Taschenspieler, Zauberkünstler, eben ›Illusionisten‹ genau diese Wahrheit stets wieder aufs Neue hervor. Blicke lassen sich lenken, führen, verführen, ablenken und völlig verwirren. Also werden nicht selten freimütig Einblicke gewährt, nicht selten um zu verbergen und zu verschleiern, was nicht gesehen werden soll, was andere nicht nur nicht begehren, sondern gar nicht erst zu Gesicht bekommen sollen. — Die vielen und nicht selten mit drastischen Strafen belegten Blickverbote, den Gottkönigen und Priestergöttern, insbesondere aber den Göttern gegenüber, zeugen davon, daß man immer schon versucht war, die ungebändigte Magie des freien, ungezwungenen, ungezügelten und vielleicht auch begehrlichen Blicks zu  bezähmen.

    Wenn jeder Blick mit dieser seltsamen magischen Kraft ausgestattet ist, das Erblickte zum Objekt zu degradieren, dann wären in der Tat auch Kaiser, Heilige und sogar Götter nicht davor gefeit. Also steht darauf der Tod, wie bei der Jagdgöttin Diana, die von Aktaion rein zufällig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nymphen beim Baden erfreut. — Die Göttin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jungen Mann ihre Blöße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so manche andere unter den einschlägigen Göttinnen eiserne Jungfrau. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die Selbständigkeit einer Frau zu diesen Zeiten nur dann überhaupt vorstellbar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

    Die Göttin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will partout keine Liebes–Erfahrungen mit Männern. Der begehrliche Blick des Aktaion macht sie jedoch in einem einzigen Augenblick zum Objekt seiner Begierde. Aber gerade Diana steht dafür ein, Jungfrau zu sein und es auch zu bleiben. Überrascht und überrumpelt versucht sie sich dem begehrlichen Blick zu entziehen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voyeur mit Wasser, worauf diesem augenblicklich ein Hirschgeweih wächst, das Symbol der  Jagdgöttin.

    Dem Jäger werden mehr als nur allegorische Hörner aufgesetzt, sie wachsen ihm wirklich, er wird zum Beutetier seiner eigenen Jagdlust. Ganz im Sinne der Dialektik von Blick und Gegenblick wird der Jäger selbst zum Gejagten. Die eigenen Jagdhunde spüren ihn auf, er will sich ihnen zu erkennen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hirschen und in Ermangelung des Sprachvermögens schwerlich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stelle zerfleischt. Immerhin handelt es sich hier um eine Theophanie. Da muß die Frage aufkommen, nicht nur wie und warum es überhaupt dazu kommt, sondern auch, was eigentlich mit einem Menschen geschieht, der eine solche schicksalhafte Begegnung hat. Wenn wir uns oberflächlich mit dem Märchenhaften dieser Situation abfinden lassen, dann ist es einfach nur eine unglückliche Liebe. Der junge Held verliebt sich eben augenblicklich in die göttliche Schöne, aber er vergeht bereits an und in seiner Liebe. Oder: Die holde Schöne ist so prüde, so eitel, so panisch auf ihre Unberührtheit bedacht, so daß sie einfach alle, die ihr Avancen machen, die womöglich auch noch anzügliche Blicke werfen, augenblicklich töten muß. — Das alles ist viel zu kindlich gedacht, wir wür- den damit lediglich ein wenig auf dem Kamm der märchenhafte Schaumkrone solcher Mythen surfen.

    Der vor allem doch aufgrund seiner erstaunlich modernen Spekulationen über Gott, den Kosmos und über den Menschen, von der Kirche als Ketzer verbrannte Giordano Bruno, gibt nun dieser Begegnung eine sehr viel tiefere Bedeutung. Bei ihm wird alles zur Allegorie: Der Jäger, das ist die Vernunft, die Jagdhunde, das ist der Verstand, die Göttin, das ist, was wir nur zu gern erkennen würden aber nicht wirklich ertragen  könnten.

    Aktaion  steht  hier  für  den  Intellekt,  auf  der  Jagd  nach  göttlicher Weisheit im Augenblick des Erfassens der göttlichen Schönheit. (Giordano Bruno:  Von den heroischen Leidenschaften.  Hamburg  1989.  S. 64.)

    So kommt es dann zu dieser erstaunlichen Wendung, zu einer Allegorese, die sehr viel mehr zu denken gibt, als die Oberflächlichkeiten der märchenhaften Züge dieser Story, wenn Bruno verlauten läßt: Er sah der große Jäger, er begriff, soweit das möglich ist, und ward zur Beute: er ging, um zu jagen und wurde dann selbst die Beute. (Ebd. S. 65.)

    Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in seiner ursprünglichen Vorstellung etwas Besitzergreifendes hat, daß aber, wer den Blick unbedacht schweifen läßt, durchaus auch Gefahr laufen kann, selbst ergriffen zu werden. Wir geben uns hermeneutisch insofern viel zu schnell zufrieden, wenn etwa verlautbart wird,  irgendwer  sei  am  Liebeskummer  zu  Grunde  gegangen,  wir  sollten  uns vielmehr genauer vorstellen, wodurch ein solcher Liebestod  verursacht wird.

    Das Problem ist, daß sich hier ein Mensch unbedachterweise an einer Göttin versucht, was bedeutet, daß ein Intellekt  sich mal eben mit dem Göttlichen mißt. Wir können aber nicht erkennen, wie die Götter, wir müssen alles über einen Intellekt, über die Mühlen einer diskursiven Vernunft, über unser Sprach- vermögen  und qua Empathie  müssen wir dann auch noch alles über unseren Körper als  Medium erst in Erfahrung bringen, was ein Gott eigentlich von einem Moment zum anderen bereits erfaßt haben dürfte.

    Wir müssen uns bei der Empathie, beim Verstehen und ebenso auch beim Verlieben erst in den hermeneutischen Zirkel hineinbegeben und uns anverwandeln, sobald wir uns für Jemanden ernsthaft interessieren. Blick und Gegenblick haben ihre ureigentümliche Dialektik, sie heben sich wechselseitig auf. Die Jagd mag ja eine Allegorie auch für die Liebe sein, aber sie ist eben nicht wechselseitig, wenn schlußendlich dann doch irgendwer der Jäger und irgendwer anderes den Gejagten abgeben muß. — Hier ist es kein menschliches Gegenüber, sondern eine Gottheit, mit der es dieser Jäger aufzunehmen versucht, es ist Diana, die Göttin der Jagd.

    In der Tat hat sie sich überraschen lassen, denn so, wie sie sich sehen lassen muß, so, wie sie Aktaion zu Gesicht bekommt, so wollte sie sich nie einem Mann zeigen und ›ergeben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in dieser Situation eigentlich zur Jagd–Beute geworden, aber sie wird sich ganz gewiß nicht ergeben. — Es fallen keine Worte, was zwischen Göttern und Menschen ohnehin problematisch zu sein scheint. Diana bespritzt Aktaion mit Wasser und sie wirft einen empörten, strafenden Blick auf den Eindringling, der die Idylle beim Baden so nachhaltig stört. Das jedenfalls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stelle verwandelt.

    Es gilt zu verstehen, was da in diesem Moment zwischen Aktaion und Diana eigentlich vor sich geht. Innerhalb von Sekunden muß sich der Jäger unsterblich in die Jagdgöttin verliebt haben. Es genügt ein einziger Blick, so daß er wie an einer offenen Wunde förmlich verblutet, weil ihm alle Energie einfach vergeht, bis eben das Auge erloschen ist, wobei hier die eigenen Jagdhunde dem Drama ein schnelles Ende bereiten.

    Der Jäger wird durch seinen begehrlichen Blick selbst zur Beute. Er wird zum Opfer seines eigenen Willens, seiner viel zu großen Begierde nach diesem vermeintlichen Objekt seiner Sehnsüchte. Angesichts dieser Göttin verliert er als Subjekt augenblicklich seine Position und schon beginnt er damit, sich anzuverwandeln. Aber er schießt weit über das Ziel hinaus, verliert sich selbst und vergeht in dem, was er sieht. Er wird nicht wieder auf sich selbst zurückkommen können, weil er sich mit diesem einzigen Blick selbst aus den Augen verliert. Die Deutungsmöglichkeiten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giordano Bruno vorgeführt werden, liefern tiefere Einsichten in die allegorischen Abgründe und sie bieten dann auch einen interessanteren Schlüssel zum Verständnis einer solchen Szenerie. Die Göttin mag ihn erbost mit Wasser bespritzt haben, worauf ihm dann Hörner wachsen, das Geweih eines Hirschen. Aber diese Anverwandlung ist nur eine Verzauberung in dem Sinne, als daß der Jäger selbst zum Gejagten, zum Objekt einer Verzauberung wird. So zeigt sich, wie einnehmend mitunter gerade empathische Impressionen sein können.

    Zu Ehren der Jagdgöttin wird der Jäger selbst zu einem Hirschen. Das ist beileibe keine Ebenbürtigkeit mehr, stattdessen wird ein Opfer daraus, ein Selbstopfer. Der Jäger wird selbst zur schönen Beute, weil eben der menschliche Intellekt sich die Dinge auf eigene Weise aneignen muß und weil er dabei überlastet werden kann und dann vergehen, ja förmlich verglühen muß:

    Du weißt ja, daß der Intellekt sich die Dinge auf dem Wege des Intellekts aneignet, d. h. gemäß seiner eigenen Weise. Und der Wille  verfolgt  die  Dinge  deren  Natur  nach,  d. h.  gemäß  der  Art,  wie sie in sich selbst sind. So wurde Aktaion durch jene Gedanken, jene Hunde, die außerhalb von ihm das Gute, die Weisheit, die Schön- heit, das wilde Waldestier suchten, und durch die Art, wie er dieser schließlich ansichtig wurde, über soviel Schönheit außer sich geraten, zur Beute. Er sah sich in das verwandelt, was er suchte, und er merkte, daß er seinen Hunden, seinen Gedanken selbst zur ersehnten Beute wurde. Weil er nämlich die Gottheit in sich zusammengezogen hatte, war es nicht mehr notwendig, sie außerhalb seiner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

    Aus: Heinz-Ulrich Nennen: Empathie. (Kapitel: Blick und Gegenblick)

  • Anthropologie,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Urbanisierung der Seele,  Vorlesung,  Zeitgeist

    Psychodizee

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    Ernst Klimt: Pan tröstet Psyche. Privatbesitz. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Die Rechtfertigung der Gesellschaft und die Belastung des Einzelnen gehen Hand in Hand. Aber das Skandalon bleibt: Die Welt ist schlecht eingerichtet und ungerecht, vor allem, wo sie doch gar nicht mehr von einem Schöpfergott, sondern einzig und allein von Menschen zu verantworten ist. Die Theodizee ist zur Soziodizee geworden und auf diese folgt nun die Psychodizee. Auf die Anklage Gottes und dem Versuch seiner Rechtfertigung, folgte zunächst die Anklage der Gesellschaft und schlußendlich die Belastung der Psyche. — So kehrt die Hölle im Inneren wieder zurück, wir bereiten sie uns fürderhin selbst. Es ist, als habe sich seit Jahrhunderten kaum etwas wirklich verändert in den Tiefen unseres Selbst. Und so zeigt sich dann, warum die Angst vor dem Jüngsten Gericht und vor der Hölle bis in die Gegenwart hinein noch immer eine so große Rolle spielt.

    Die alles entscheidenden Fragen werden inzwischen systematisch übergangen, etwa die, wer uns nach dem Tod Gottes noch unsere ›Sünden‹ vergibt, wenn und wo wir es selbst noch immer nicht können. Das wiederum bringt zunehmende Belastungen für die Psyche mit sich, worauf nun verstärkt mit dem Einsatz von Psychopharmaka reagiert wird. Es ist aber verheerend, über diese Höhen und Tiefen einfach hinwegzugehen, denn dann wird fast schon wie im Märchen auch noch die eigene Seele verkauft. — Wo die eigenen Gefühle systematisch manipuliert werden, dort fallen weitere Anpassungsleistungen bis hin zur Gewissenlosigkeit immer leichter. Ungehemmt kommt dann die für so viele Sparten obligatorische Skrupellosigkeit zum Zuge, als Aushängeschild einer negativen Identität, deren Ethos darin besteht, keines zu haben.

    Es ist bestechend, wie Max Weber mit spekulativen Beschreibungen dieser Tendenzen seinerzeit schon die möglichen Varianten der weiteren Entwicklung einzukreisen verstand. Solche Vorhersagen über langfristige gesellschaftliche Entwicklungen sind sehr wohl möglich und haben nichts mit Prophetie zu tun. Nun hat sich Max Weber dabei auf Nietzsche gestützt, und wir dürften den beiden Denkern daher erscheinen, wie jene letzten Menschen, von denen im Zarathustra die Rede ist. Es ist die schlechteste aller möglichen Entwicklungsvarianten, mit denen nicht nur Nietzsche sondern auch Weber und Freud bereits rechneten.

    Wir werden also dem ›letzten Menschen‹ tatsächlich immer ähnlicher? Eines ist jedenfalls gewiß, wir sind sehr viel näher dran, als es noch in der Epoche von Friedrich Nietzsche, Max Weber und Sigmund Freud möglich gewesen wäre. Manche der Fortschritte dürften daher in Wirklichkeit eher Rückschritte gewesen sein. — Was bei Weber das stählerne Gehäuse der Hörigkeit ausmacht, schildert Nietzsche als Zukunfts–Diagnose im Zarathustra und Freud sieht die Belastungsgrenzen der Psyche voraus.

    Schlußendlich kommt es zum Zynismus und zur Borniertheit dieser ›letzten Menschen‹, die allen Ernstes von sich behaupten, das Glück erfunden zu haben, wohlgemerkt, nicht ge– sondern erfunden, und genauso sieht es dann auch aus, dieses Glück in aller geistigen Bescheidenheit: »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln, heißt es in Zarathustras Vorrede.

    Körper, Psyche, Seele und Geist, alles scheint aufs bequemste zurecht gerückt worden zu sein. Und man möchte glauben, alles sei dasselbe. Da wird dann die Psyche zum störenden Beiwerk, um von Seele und Geist ganz zu schweigen. Wir sind eine rein technisch unverschämt erfolgreiche Spezies von Raubaffen, die inzwischen nur noch das Körperliche gelten lassen. Woher soll da noch der Geist kommen? — Nietzsche rechnet mit dem Zeitgeist der Moderne ab.

    Die ungeheuerliche Prophetie ist längst zum Klassiker geworden, so daß eine jede Zeit, die spät geworden ist, ihr Spiegel– und Zerrbild darin wiederfinden kann:

    Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:

    aber man ehrt die Gesundheit.

    »Wir haben das Glück erfunden« — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

  • Anthropologie,  Melancholie,  Moderne,  Theorien der Kultur,  Vorlesung,  Zivilisation

    »Ich fürchte mich vor der Menschen Wort«

    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus.
    Wilhelm Otto Peters: Nero im Circus. Holzstich, um 1900, koloriert, nach dem Gemälde von Wilhelm Otto Peters. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons. — Der Daumen als Zeichen des Mitgefühls: Mit dem nach unten zeigenden Daumen signalisiert Nero den Gladiatoren in der Arena »kein Mitgefühl« zu zeigen — ganz im Gegensatz zum nach oben gestreckten Daumen, der »Mitgefühl« signalisiert.

    Bewußtsein kommt nur zustande, wenn das, was bewußt werden soll, auf irgendeine Weise auch repräsentiert werden kann. Spiegelzellen machen derweil die eigene Selbstwahrnehmung zum Medium, der Andere wird teilweise gespiegelt in der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Es scheint dann so, als würde der Beobachter zu dem, was eigentlich nur beobachtet wird. Dabei arbeitet das System der Spiegelneuronen ganz offenbar mit Projektionen, die vom motorischen System ausgehen, um dann über das Nervensystem gewisse Wahrnehmungen zu simulieren.
    Emotionen werden dabei auf Bewegungsmuster ›gelegt‹. Das besagt dann auch der Begriff ›Mapping‹, was eben bedeutet, daß etwas auf etwas anderes gelegt wird. So wird das Radiosignal des Senders auf eine Radiowelle gleichsam ›oben‹ zusätzlich noch ›drauf‹ gegeben. Rein technisch werden solche Verfahren als Modulation beschrieben, und in diesem Sinne läßt sich nachvollziehen, wie auch die Spiegelzellen die eigene Wahrnehmung so modulieren, bis sie sich öffnet für die Wahrnehmung Anderer.
    Es ist allerdings bemerkenswert, daß wir oft nur etwas sehen müssen, um es zu verstehen, zu fühlen und zu mitempfinden. So wird dann die Empathie zur Erfahrung am eigenen Leib und wir können uns vorstellen, wie sich etwas anfühlt, auch wenn wir gar nicht selbst betroffen sind. Das alles ist für die Imagination, für das Erzählen und nicht zuletzt auch für das Lernen von ungeheurer Bedeutung, denn wir können auf diese Weise zu Erfahrungen kommen, ohne sie selbst je erleben zu müssen.
    Was in der Hirnforschung als Mapping beschrieben wird, dem entspricht in der Kulturwissenschaft die Metapher , denn auch hier wird ein zumeist ganz konkreter Sinn ›übertragen‹ und etwas anderem beigelegt. Durch die Wahl und den Einsatz einer angemessenen Metaphorik wird das Verstehen und vor allem die Verständigung oft überhaupt erst ermöglicht. Und hier geht es ganz offenbar darum, daß ein ›höheres‹ Bewußtsein die Routinen eines anderen Bewußtseins jeweils mit ganz bestimmten Sinnmustern belegt. So werden dann Bewegungsmuster mit Emotionen verknüpft, die sich dann ihrerseits wiederum als Bewegtheit identifizieren lassen. Dann können wir uns nicht mehr nur vorstellen, wie wir uns bewegen. Wir können darüber hinaus auch Vorstellungen darüber haben, ›bewegt‹ zu werden — eben durch Empathie, durch Emotionen.
    Die Frage, was eigentlich Bewußtsein ist und wie es zustande gebracht wird, bekommt auf diese Weise ihren einschlägigen Modellcharakter. Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas, daher muß erwartet werden, daß dieses Etwas dann auch in Erscheinung tritt und wahr–genommen werden kann. — Aber mit der Ein–Sicht ist das so eine Sache: Vieles ist uns verborgen und dann versagen auch noch die Worte, weil sie immer sofort alles festlegen. Kein Wunder also, daß das Reden gerade dann besonders schwer fällt, wenn, was zu sagen wäre, höchst heikel erscheint, und wenn wir befürchten müssen, gar nicht verstanden zu werden oder uns vorschnell und falsch festzulegen.
    Oft haben wir uns selbst und die Situation noch gar nicht verstanden. Dann fehlen die Worte, so daß es unmöglich erscheint, überhaupt irgendetwas zu sagen, und trotzdem sollen wir uns erklären, bekennen und festlegen. Aber die unterschiedlichsten Motive, Emotionen und Wertvorstellungen liegen im Hader miteinander wie die glücklichen Götter Athens. In ihrer Gesamtheit verkörpern sie die Eigentümlichkeiten der verschiedensten Perspektiven und stehen dafür mit ihrem Charakter ein.
    Die Vielfalt dieser Möglichkeiten, ein– und dieselbe Sache auch ganz anders sehen zu können, macht gelingendes Verstehen so schwierig. Daher ist es nicht einfach, sich selbst zu thematisieren und die Verhältnisse systematisch zu erörtern. Das kann nur gelingen, wenn die unterschiedlichsten Momente zur Sprache gebracht werden, um sich über alle möglichen Motive und Emotionen zu verständigen. — Kultur und Zeitgeist spielen dabei eine ganz große Rolle, denn immerzu herrschen bestimmte Vorbilder, Vorstellungen oder Mustergültigkeiten vor und nicht selten sind Erwartungen oder auch Erwartungserwartungen wie beispielsweise Ideale und Wertvorstellungen im Spiel.
    Erst was zur Sprache gebracht, mitgeteilt und auch verstanden wurde, ist wirklich in der Welt. Alles andere ist und bleibt schemenhaft im Nebel aller Möglichkeiten zurück. Solange die richtigen Worte noch fehlen, besteht noch die Hoffnung, daß sie gefunden und zur Sprache gebracht werden. Wo aber bereits die falschen Worte ausgesprochen worden sind, dort beherrschen Irrtümer die Szenerie wie ein böser Fluch, was oft nicht einmal bemerkt wird. — Dabei ist es geradezu skandalös, was Worte den Phänomenen antun können: Sie spießen die Sachen wie Schmetterlinge auf, kleben ihr Etikett darunter und behaupten, man habe damit wirklich alles im Griff. Tatsächlich ist jedoch das Leben entwichen, die Seele ist nicht mehr vor Ort und nur etwas Totes bleibt dann zurück.

    Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
    Sie sprechen alles so deutlich aus:
    Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

    In diesem Gedicht aus dem Jahre 1897 beschwört Rainer Maria Rilke eine Angst vor dem definitorischen Gebrauch der Wörter, wie ihn nur Poeten und Phänomenologen teilen können. — Worte machen die Dinge verfügbar und verscheuchen den Geist, der uns eigentlich fasziniert. Man glaubt, sich erklären, sich verständlich machen zu müssen und erreicht nicht selten das Gegenteil von alledem, so daß sich Verstehen in Verfehlen verwandelt. — Daher sollte die Empathie im Hintergrund stehen, um zu erfühlen, ob die Worte tatsächlich auch tun, was sie sollen oder ob sie nur eigenmächtig über alles herfallen, was ihnen nicht paßt.
    Während die erste Strophe noch über die Angst spricht, wird in der nächsten die Anklage eröffnet um dann in der dritten den Apell vorzubringen, die Welt der Dinge gegen die Ansprüche des Benennens und Aussprechens in Schutz zu nehmen. — Ohnehin ist die Welt seltsam falsch motiviert durch Wahrnehmungsmuster, die mit der Moderne aufgekommen sind und die seither den Zeitgeist und damit das Sehen, Fühlen und Denken auf seltsame Weise verfälschen, so daß das das Lebendige stumm und das Starre lebendig erscheint.

    Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wissen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

    Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
    Die Dinge singen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Dinge um.

  • Anthropologie,  Motive der Mythen,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele

    Wenn seelenlose Sachen zum Leben erwachen

    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia. Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur. Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.
    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Pygmalion, ein Künstler in Zypern, ist maßlos enttäuscht von den Frauen und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Unbewußt erfüllt er sich seinen Traum durch eine von ihm erschaffene Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht und dabei seinem Ideal entspricht. Das Abbild behandelt er mehr und mehr wie einen echten Menschen und schließlich verliebt er sich in seine Kunstfigur.

    Zypern ist die Heimat von Venus, daher fleht der Künstler die Göttin der Liebe an ihrem Festtag inbrünstig an, wenn schon seine Statue nicht zum Menschen werden könne, so sei ihm wenigstens vergönnt, daß seine künftige Frau so sei wie diese. — Als er dann aber von den Feierlichkeiten für die Göttin wieder nach Hause zurückkehrt und die Elfenbeinstatue zu liebkosen beginnt, erwacht diese langsam zum Leben.

    ***

    Es ist ausschließlich das Privileg der Götter, dem was leben soll, die Seele einzuhauchen. Im Sinne der magischen Weltauffassung können Seelen allerdings beeinflußt werden. Gleichwohl zielt der hinter alledem verborgene Wunschtraum zielt genau darauf ab, diese Differenzzwischen Vorstellung und Wirklichkeit immer kleiner werden zu lassen. — Bei aller Mühe, erscheint es dann wie ultimatives Künstlerglück, wenn die Werke tatsächlich täuschend echt wirken oder vielleicht sogar zum Leben erwachen.

    Darauf zielen letztlich sowohl die Magie, als auch die Kunst und die Philosophie: Es gilt, das absolute Wort, das ultimative Werk oder die vollkommene Einsicht zu finden, zu schaffen oder zu realisieren. Dieser nicht selten mit Hybris einhergehende Wille zum Werk legt es tatsächlich darauf an, daß sich die Sachen von selbst ›bewegen‹ und tatsächlich zu leben beginnen. Auch der Traum des Phänomenologen steht dem in nichts nach: Mögen die Sachen von sich aus zu sprechen beginnen, so daß wir nicht mehr mit Unterstellungen, Annahmen und Vermutungen arbeiten müssen, sondern einfach nur zuhören, zusehen und miterleben können.

    ean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.
    Jean–Léon Gérôme: Pygmalion et Galatée. Metropolitan Museum of Art, New York. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Hybris, das bedeutet Grenzüberschreitung und zwar in einem überaus magischen Sinne, etwa wenn eine eigentlich unbeseelte Puppe wie Pinocchio, eine Skulptur wie die Galatée des Pygmalion oder wenn ein Kunstwerk wie Das Bildnis des Dorian Gray zum Leben erwacht. Auch das entgegengesetzte Verfahren ist hoch problematisch, etwa wenn die Seele in ihrer emotionalen Bewegbarkeit, in der sie eben ›gerührt‹ werden kann, einfach auszuschalten, wenn sie durch einen kalten Stein ersetzt wird, wie in Das kalte Herz von Wilhelm Hauff — Mit alledem gehen größte Befürchtungen einher, die kosmische Ordnung könnte fundamental gestört und vielleicht sogar zerstört werden. Es sind womöglich bald schon keine Einzelfälle mehr, wenn so etwas auch nur ein einziges Mal ungestraft möglich geworden ist.

    Die Faszination bei der Vorstellung über die Macht magischer Worte verkehrt sich in gerade Gegenteil angesichts der Horrorvorstellungen, die sich sogleich ankündigen, wenn auch nur einen Augenblick daran gedacht wird, so etwas könnte tatsächlich und wirklich möglich sein. Nicht nur die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit wäre dann nicht mehr von Bedeutung. Damit aber würden fundamentale Orientierungsweisen unmöglich gemacht, so daß sich zeigt, worum es bei solchen Horrorvorstellungen wirklich geht: Wo Artefakte lebendig werden, wo Sachen selbst zu sprechen beginnen, wo fundamentale Grenzen nicht mehr gelten, dort würde die Ordnung der Dinge bis in die Fundamente erschüttert.

    Es geht dabei allerdings weit weniger um die Natur der Sachen selbst, als vielmehr um den Bestand der Kultur. Alle relevanten Orientierungsmuster setzen auf solche Unterscheidungen, daher kann es gar nicht denkbar sein, daß die Grenzen zwischen dem Lebenden und dem Toten, dem Unbeseelten und dem Beseelten oder zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen nach Belieben überschritten werden. Das ist dann auch der Grund für das Grauen, den Abscheu aber auch die Faszination und das heimliche Interesse an der Magie als schwarze Wissenschaft oder auch einfach nur als Zauberkunst.

    Auszug aus: https://www.nennen-online.de/empathie/